Meine Freundin, die Nonne - Ilka Piepgras - E-Book
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Meine Freundin, die Nonne E-Book

Ilka Piepgras

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Beschreibung

Die Geschichte einer Freundschaft Als junge Mädchen waren sie beste Freundinnen – heute führen sie Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Ilka ist Journalistin und Mutter. Und Diodora leitet als Äbtissin drei Klöster in Griechenland. Zwanzig Jahre nach ihrer letzten Begegnung begibt sich Ilka auf den Weg zu ihrer Freundin. Es wird eine Reise in die Vergangenheit und zugleich eine Suche nach Spiritualität in der heutigen Zeit. Meine Freundin, die Nonne von Ilka Piepgras: im eBook erhältlich!

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Seitenzahl: 327

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Ilka Piepgras

Meine Freundin, die Nonne

Knaur e-books

Über dieses Buch

In den siebziger Jahren begegneten sie sich im saarländischen Homburg und wurden schnell beste Freundinnen: saßen in der Schule nebeneinander, gingen nachmittags zum Ballett und besuchten zusammen den Konfirmandenunterricht. Fünf Jahre lang waren sie unzertrennlich. Dann entfernten sie sich voneinander. Ilka Piepgras schlägt die Journalistenlaufbahn ein, Charlotte wird an der Kunsthochschule aufgenommen. Doch ein Studienaufenthalt in Naxos verändert Charlottes Leben radikal. Tief beeindruckt von der Begegnung mit einem Priestermönch vom Berg Athos beschließt sie, sich orthodox taufen zu lassen und in ein griechisches Kloster einzutreten. Ihren alten Namen legt sie ab, fortan heißt sie Diodora. Ihre Familie und ihre Freunde sind fassungslos. Zwanzig Jahre nach der letzten Begegnung mit der Freundin macht sich Ilka Piepgras auf den Weg nach Griechenland zu ihrer Freundin, die mittlerweile als Äbtissin die Verantwortung für rund fünfzig Nonnen trägt. Sie taucht ein in das klösterliche Leben, besucht orthodoxe Gottesdienste, die ihr seltsam fremd sind und die sie zugleich faszinieren. Und sie führt lange Gespräche mit Diodora, um ihre Entscheidung von damals und ihr Leben heute zu verstehen. Ein Leben, das fordernd und entbehrungsreich ist, aber auch erfüllt und voller Gottvertrauen. Am Ende ihrer Reise stellt Ilka Piepgras fest: Die alte Freundin gibt es nicht mehr – aber sie hat eine neue gewonnen. Und nicht nur das: Sie erkennt, dass der Besuch im Kloster ihren Blick auf die Welt unmerklich verändert hat.

Inhaltsübersicht

Für meine ElternCharlotte auf NaxosAuf der SucheUmzug nach AthenDas WiedersehenTaufeFamilienbandeLehrjahreKinderglaubeEndlich NonneVespergottesdienstAufbaujahreFreundinnenReifeprüfungenBesuch in OrmyliaIm Zentrum der MystikKlosteralltagBei den Mönchen in PetraRund um die Rote KircheIm GeorgsklosterBegegnung mit GerondaAbschiedDankLeseprobe »Wie ich einmal auszog, den Tod kennenzulernen, und eine Menge über das Leben erfuhr«
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Für meine Eltern

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Charlotte auf Naxos

Charlotte springt aus dem Bett und öffnet wie stets als Erstes das Fenster. Sie muss blinzeln, so scharf heben sich die kalkweißen Häuser der Insel Naxos vor der tiefblauen Ägäis und dem wolkenlosen Himmel ab. Ihre Augen suchen das nahe Chrysostomos-Kloster, ein mächtiges Gebäude, das sich in einen Felsen schmiegt. Wie eine weiße Ritterburg liegt es da. Seit sie bei einem nachmittäglichen Spaziergang das Kloster entdeckt hat, reizt es sie, hineinzugehen. Doch bislang stand sie nur vor einem verschlossenen Tor und spähte durch die Gitterstäbe in den Hof hinein. Wie gerne würde sie sich die kleine Felsenkapelle anschauen. Charlotte hat das Gefühl, darin etwas Schönes entdecken zu können. Doch auf einem Schild steht: »No entry for tourists«. Touristen sind im Kloster nicht erwünscht.

Das Verbot verstärkt die Anziehungskraft des geheimnisvollen Ortes auf Charlotte. Gestern nun hatte sie einen Gärtner angesprochen, der im Klostergarten arbeitete. Radebrechend machte sie dem Griechen klar, dass sie gerne hineinwolle. Am nächsten Tag um elf Uhr gäbe es eine Möglichkeit, bedeutete ihr der Mann. Dann stehe ihr die Kirche offen. Heute ist es also so weit: Wenn der Gärtner sich an seine Abmachung hält, kann Charlotte die Klosterkirche besuchen.

Charlotte ist 23 Jahre alt und studiert an der Hochschule der Künste in Berlin Bildhauerei. Sie gilt als sehr gute Studentin und wurde für ein Arbeitsstipendium auf Naxos ausgewählt. Einen Monat lang verbringt sie mit ihrer Hochschulgruppe zum intensiven Arbeiten auf der Insel. Hier können sich die Studenten ungestört auf ihre Projekte konzentrieren. Dicke Steinmauern halten die auch im September noch brennend starke Sonne aus den Übungsräumen fern.

An diesem 26. September 1987 trägt Charlotte Rock und T-Shirt, nichts Auffälliges. Sie sieht ungekünstelt aus. Wie der Gärtner es vorausgesagt hatte, ist das Tor jetzt aufgeschlossen. In der Kirche ist es angenehm still – eine Wohltat im Vergleich zur sonstigen Geschäftigkeit der Touristeninsel Naxos. Charlotte überkommt ein Gefühl der Frische in dem kühlen Kirchenraum, sie fühlt sich auf Anhieb wohl. Wände und Decken sind üppig mit Fresken bemalt. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit des fast fensterlosen Raumes gewöhnt haben, betrachtet sie die von prachtvollen Schnitzereien umgebenen Heiligenbilder auf der Ikonenwand. Die Wand trennt in der orthodoxen Kirche den Gemeinderaum vom Heiligtum, symbolisch die Erde vom Himmel. Der Bilderreichtum in der Kirche überwältigt die Studentin. Was für ein Unterschied zu den nüchternen protestantischen Kirchen zu Hause! Warum ist das so und was hat es zu bedeuten? Viele Fragen tun sich auf.

Als sie aus der Kirche in den Innenhof tritt, blickt Charlotte vom grellen Sonnenlicht geblendet nach oben in den Himmel. Wie ein abstraktes Kunstwerk füllt das leuchtende Blau den Ausschnitt über dem weißen Gemäuer des Innenhofes aus. Irgendwie modern, denkt Charlotte, und nimmt dankend Wasser und eine Süßigkeit an, die ihr jemand aus dem Kloster reicht.

Plötzlich laufen ein Mönch und ein junges Paar auf die Kirche zu. Der Mönch ist kaum älter als Mitte dreißig. Die Frau weint. Als die drei kurze Zeit später wieder aus der Kirche kommen, wirkt die Frau erleichtert.

Der Mönch bleibt im Klosterhof stehen, als er Charlotte sieht. Er fragt:

What’s your name and where are you from?

Sie gibt Auskunft über Namen und Herkunft.

Do you want to make your heart a church of Christ?

Yes, antwortet Charlotte, ohne eine Sekunde zu zögern. Dann fragt sie, ob das nicht schwierig sei.

It is difficult. But very sweet.

Sekunden später ist der Mönch fort, verschwunden hinter dem Klostertor. Charlotte stutzt. Was hat sie da eben, ohne nachzudenken, bejaht? Dass sie aus ihrem Herzen eine Kirche Gottes machen wolle? Wie ungewöhnlich, dass ihr ausgerechnet ein Mensch, den sie nie zuvor gesehen hat, so eine tiefgehende Frage stellt. Gedankenverloren verlässt sie das Kloster. Kaum hat der Gärtner hinter ihr das Tor verschlossen, begreift Charlotte, dass ihr gerade eine enorme Chance entgeht. Dieser Mönch spricht Englisch, er wirkt zugänglich und könnte ihre Fragen beantworten. Charlotte wendet sich zurück, doch der Gärtner ist weg.

Am nächsten Morgen, einem Sonntag, beschließt Charlotte, den Mönch zu suchen. Sie geht geradewegs zur größten öffentlichen Kirche auf der Insel. Wenn der Mönch an einem Gottesdienst teilnimmt, wird er es vermutlich hier tun. Punkt zehn Uhr, wenn in Deutschland gewöhnlich die Gottesdienste beginnen, steht sie am Kirchenportal. Doch aus diesem strömen die Leute hinaus, der Gottesdienst ist gerade zu Ende, denn in Griechenland beginnt er früh. Dann entdeckt Charlotte im Kirchenraum den Mönch vom Vortag, sie hat ihn ohne Mühe wiedergefunden. Er sitzt auf einem Stuhl und empfängt der Reihe nach Menschen, die gekommen sind, um mit ihm zu sprechen. Freundlich und konzentriert widmet er sich den Männern und Frauen, für jeden Einzelnen nimmt er sich Zeit. Charlotte reiht sich bei den Wartenden ein. Als sie endlich vor dem Mönch steht, fragt sie: »Ich habe viele Fragen. Hätten Sie vielleicht ein bisschen Zeit für mich?« Der Mönch lächelt und nickt. Sie solle mitkommen zu Freunden, die in der Nähe der Kirche wohnen.

Im Haus empfängt man Charlotte herzlich, obwohl sie fremd und unangemeldet ist. Man serviert den Besuchern ein spätes Frühstück. Nach dem Essen deutet der Mönch auf ein Klavier, das im Zimmer steht. »Kannst du spielen?«, fragt er. Charlotte zögert. Sie beherrscht das Instrument gut, ist es aber gewohnt, mit Noten zu spielen. Abzulehnen erschiene ihr unhöflich, also setzt sie sich hin und spielt ein Nocturne von Chopin. Obwohl sie ein paar Mal stecken bleibt und ziemlich hudelt, ist ihr Zuhörer begeistert.

Dann führt der Mönch das Mädchen auf eine Veranda, wo sie ungestört reden können. Charlotte erfährt, dass er Vater Dionysios heißt und ein Priestermönch ist, also als Mönch die Priesterweihe empfangen hat. Er stammt aus Trikala in Zentralgriechenland und lebt seit fast vierzehn Jahren im Kloster Simonos Petras auf dem Heiligen Berg Athos – einer zerklüfteten Halbinsel im Norden Griechenlands, wo es nur Männerklöster gibt. Sein Abt hat ihn an diesem Septemberwochenende heruntergeschickt, damit er einen Gedenkgottesdienst feiert. Auf Naxos macht er kurz Station, weil das junge Paar vom Vortag und viele andere Gläubige bei ihm beichten wollen.

»Was bedeutet Beichte?«, fragt Charlotte neugierig.

»Ohne die Beichte verkümmert die Seele. Die Seele ist wie ein Haus, das man von Zeit zu Zeit renovieren muss. Man trennt sich von allem Schlechten«, antwortet der Priestermönch.

Charlotte findet das ziemlich rätselhaft, aber sie fühlt sich angesprochen. Sie will herausfinden, warum sie die griechischen Kirchen so anziehend findet, und fragt nach den Unterschieden von Katholizismus und Orthodoxie. Der Priestermönch antwortet abstrakt und allgemein, er spricht sehr symbolisch und fällt kein Werturteil, weder über die eine, noch über die andere Konfession. Er stellt Charlotte ebenfalls viele Fragen – über ihre Familie, ihr Studium und ihre Gewohnheiten. Ihn scheint Alltägliches zu interessieren, Menschliches. Seine Feinfühligkeit beeindruckt Charlotte, auch seine Bescheidenheit. Der Priestermönch erscheint ihr zutiefst ehrlich. Sie hat das Gefühl, in seiner Person Zugang zu einer geheimnisvollen Welt zu finden – wenn sie es nur zulässt, sich von ihm führen zu lassen.

»Können Sie mir ein Frauenkloster empfehlen, in dem ich mich eine Zeit lang umschauen kann?«, fragt sie.

»Fahr mit dem Bus nach Thessaloniki. Dort in der Nähe ist das Kloster Ormylia. Frag dort nach Schwester Aemiliani. Sie ist Novizin und spricht Englisch.«

Dann verabschiedet sich der Priestermönch. Charlotte weiß in diesem Moment nicht, ob sie ihn wiedersehen wird, aber die Frage danach erschiene ihr jetzt unpassend, sie kennt den Mann ja kaum. Seltsam, dass sie sich trotzdem so geborgen fühlt in seiner Gegenwart.

Am nächsten Tag beginnt Charlotte wie gewohnt in ihrem Atelier zu arbeiten. Ein paar Stunden lang zwingt sie sich, mit Papier, Holz und Textilfasern zu experimentieren. Ihre Hände arrangieren mechanisch das Material. Sie kommt nicht weiter. Irgendwann kapituliert Charlotte und packt ihre Sachen. Arbeiten kann sie auch in Berlin, aber die orthodoxe Kirche kann sie nur hier in Griechenland kennenlernen. Hastig stopft sie Kleidung, Waschzeug und Skizzenblock in ihren Rucksack und meldet sich bei ihrem Dozenten ab. Der staunt. Sie will ohne Not diesen herrlich komfortablen Arbeitsaufenthalt, um den sich jedes Jahr zig Studenten bewerben, abbrechen? »Ich will ein Kloster besuchen, um dort zu zeichnen«, begründet Charlotte ihre Entscheidung. Der Dozent lässt sie ziehen. Hinter Charlottes Rücken spotten die Studenten über das Mädchen, das es in die Kirche zieht.

Am Montagabend besteigt sie die Fähre nach Athen. Über die Familie, bei der sie mit Vater Dionysios auf Naxos zu Gast war, hat sich ein Kontakt zu einer Griechin ergeben, bei der sie übernachten kann. Offenbar hat der Geistliche ein dichtes Netzwerk an hilfsbereiten Menschen gewoben. Es gefällt Charlotte, dass in diesem Land nicht viele Umstände gemacht werden. Wie förmlich wirkt dagegen der Umgangston in Deutschland, wie unpersönlich das Leben dort. Frau Joanna, so heißt ihre Gastgeberin in Athen, wartet bereits vor dem Haus, als Charlotte eintrifft. Sie spricht ein wenig Englisch und hilft ihr, die Busfahrt nach Thessaloniki und von dort ins Kloster Ormylia zu organisieren.

Der Weg nach Ormylia führt durch fruchtbare Landschaften, vorbei an Olivenbäumen, Zypressen und Ziegen. Die letzten Kilometer läuft Charlotte auf einem steinigen Feldweg zu Fuß. Den schweren Rucksack geschultert, fühlt sie sich wie ein neuzeitlicher Pilger. Die Spannung wächst mit jedem Schritt. Wie wird man ihr im Kloster begegnen? In Charlottes Kopf formt sich das Bild von buckligen Frauen in schwarzen Gewändern, deren Gesichter verhärtet sind. Ein bisschen fürchtet sie sich davor, kühl empfangen oder sogar abgewiesen zu werden. Ob sie als deutsche Protestantin überhaupt willkommen ist?

Dann erkennt sie in der Ferne eine Kirche und ein paar Steingebäude, die sich einsam in die Landschaft schmiegen – das Kloster Ormylia. Charlotte hört ihre Schritte auf dem Feldweg knirschen, unwirklich laut durchbrechen sie die Stille. Als sie den Klosterhof betritt, sieht sie eine Gruppe von Nonnen neben der Kirche stehen. Alle sind in bodenlange schwarze Gewänder gehüllt, denn Schwarz symbolisiert die Abkehr von der Welt und den Tod. Die Gesichter der Frauen werden durch eng anliegende Schleier umrahmt wie Zeichnungen von ihren Passepartouts. Die Nonnen lächeln den Gast aus Deutschland freundlich an, überrascht blickt Charlotte in ihre fröhlichen Gesichter. Viele der Frauen sind auffallend jung, einige von ihnen höchstens Anfang zwanzig. Nonnen, die jünger sind als sie selbst – damit hat Charlotte nicht gerechnet. Sie spürt, wie ihr Herz klopft. Offenbar berührt sie dieser Ort mehr, als sie erwartet hat.

Ein paar Tage lang darf Charlotte als Gast im Kloster bleiben. Die Äbtissin lässt sie Staub wischen und andere kleine Hausarbeiten verrichten, damit sie sich nicht nutzlos fühlt. Charlotte geht viel spazieren oder stöbert in den Büchern der Bibliothek nach Erklärungen über die Orthodoxie. Mit seinen rund 80 Frauen ist Ormylia ein großes Kloster. Jede Nonne geht zielstrebig einer Tätigkeit nach. Der Alltag scheint so straff durchorganisiert wie auf einer Militärbasis, was auf Charlotte zunächst wenig einladend wirkt.

Wann immer es geht, sitzt Charlotte in der Kirche. Umgeben von Fresken und Ikonen fühlt sie sich ein bisschen wie in einer Galerie. Aufmerksam studiert sie die Wandbilder, die von einer feinen Schicht aus Ruß von Kerzenflammen und Weihrauch überzogen sind. Der dunkle Firnis lässt die Bilder viel älter erscheinen, als sie sind. Einen Moment lang meint Charlotte, in diesem von kaltem Weihrauch durchtränkten Kirchenraum so etwas wie Ewigkeit zu spüren. Eine der Ikonen steht herausgehoben auf einem Gestell vor einer Säule. Das Heiligenbild stellt die Panaghia dar, die Mutter Gottes. Jemand hat einen Blumenkranz über den Glasrahmen gelegt. Charlotte fühlt sich von der Ikone unmittelbar angesprochen, sie ist fasziniert von ihrer Zeitlosigkeit und von der Abwesenheit jeglichen künstlerischen Ausdrucks. Es beeindruckt sie, dass die sakrale Kunst des Ostens vollkommen ohne stilistische Moden auskommt. Alle Bilder scheinen der gleichen Schule zu entspringen und verzichten bewusst auf die räumliche Dimension von Tiefe. Verglichen mit den vielschichtigen Renaissance-Bildern großer Meister wirken die flächigen Ikonen schlicht und schematisch. Doch Charlotte spürt, dass es hier um etwas geht, was über das sinnlich Wahrnehmbare hinausweist. Nicht die Tiefe der Bilder ist entscheidend, sondern die Welt dahinter. Ikonen sind weit mehr als nur ein Bild, sie gehen vielmehr eine Beziehung zu ihrem Betrachter ein und helfen ihm, eine Verbindung zum Metaphysischen herzustellen. Charlotte beobachtet aufmerksam, wie die Nonnen die Ikonen küssen, sich vor ihnen verbeugen und das Weihrauchfass in ihre Richtung schwenken. Diese rituelle Verehrung scheint die Distanz zwischen Irdischem und Himmlischem aufheben zu wollen. Die Ikonen machen für den Gläubigen eine unsichtbare Welt zugänglich, sie sind Hilfsmittel, um das Göttliche zu erspüren. Charlotte drängt es, die Ikonen mit den Lippen zu berühren. Doch sie weiß, dass sie erst noch eine Menge verstehen und durchdringen muss, bevor ihr das gestattet ist. Als Protestantin ist sie fasziniert davon, wie viel die orthodoxen Gläubigen von sich selbst geben, wie aktiv der Ritus sie einbezieht.

 

Wie von Vater Dionysios angeregt, spricht Charlotte mit Schwester Aemiliani, jener Novizin aus den USA. Aemiliani ist rund zehn Jahre älter als Charlotte und war früher ebenfalls Protestantin. Sie hieß einmal Melanie Hanson und hat mit einer Arbeit über Verhaltenspsychologie in Harvard promoviert. Die junge Frau wirkt dynamisch, doch Charlotte fällt auf, dass sie sich schwertut, zu gehen. Offenbar schmerzt jeder Schritt. Mit robuster Herzlichkeit erzählt Aemiliani Charlotte ihre Geschichte: »In Harvard wollte ich herausfinden, wie und wodurch der Mensch zur Vollkommenheit erzogen werden kann. Bis ich merkte, dass ich am falschen Ort suche, hat es eine Weile gedauert. Ich glaubte an Gott, aber ich wusste nicht, wie ich eine Beziehung mit ihm eingehen könnte«, sagt sie und lacht ihr kräftiges Lachen. Während des Studiums habe sie alle möglichen Denkrichtungen ausprobiert, auch den Feminismus. »Nichts davon hat mich frei gemacht, im Gegenteil.« Dann lernte sie über eine Freundin die orthodoxe Kirche kennen und fühlte sich dort binnen kürzester Zeit heimisch. »Die Orthodoxen verstehen etwas von der Verbindung zwischen Körper und Seele – im Gegensatz zum Westen, der beides voneinander trennt. Mir wurde klar, dass ich nur von einer Person beten lernen kann, nicht aus Büchern. Ich bat Gott um Hilfe bei der Suche nach einer solchen Person.« Gott antwortete auf seine eigene Art. Als Melanie Hanson im Juli 1981 in einem großen Hotel in Kansas City ein Jazzkonzert besuchte, wurde sie Opfer einer Katastrophe. »Mir fiel das Gebäude auf den Kopf«, umschreibt Aemiliani Charlotte lakonisch das Unglück, bei dem wegen eines Konstruktionsfehlers des Architekten 114 Menschen ums Leben kamen. Melanie überlebte wie durch ein Wunder. Zunächst wähnten die Helfer sie für tot, dann prophezeiten ihr die Ärzte, sie bliebe wegen einer schweren Rückenverletzung ihr Leben lang querschnittsgelähmt. Doch entgegen aller Prognosen konnte Melanie das Krankenhaus bereits nach drei Monaten, gestützt durch ein Korsett, auf Krücken verlassen.

Wenig später lernte sie an der Griechisch-Orthodoxen Hochschule für Theologie in Boston Vater Dionysios kennen, der dort intensiven Kontakt zu den Studenten hält und regelmäßig die Beichte abnimmt. In dem Moment, als Melanie den Priestermönch zum ersten Mal reden hörte, wusste sie, dass sich ihr Wunsch erfüllt hatte – dies war der Mann, von dem sie beten lernen würde. Sie folgte ihm nach Griechenland und wurde Novizin in Ormylia. Zu dem Kloster hat Vater Dionysios eine besondere Verbindung, denn er war dort einige Jahre Kaplan. Sein eigener Abt, ebenfalls ein Athos-Mönch, hat das Kloster Ormylia gegründet.

Schwester Aemiliani fühlt sich von Charlotte an die eigenen Anfänge in Griechenland erinnert, die sechs Jahre zurückliegen. Charlottes ernsthafter Gesichtsausdruck, ihre Ergriffenheit rufen jenes Gefühl in Aemiliani wach, das sie damals selbst empfunden hat – das überwältigende Gefühl, endlich dort angekommen zu sein, wo man hingehört.

»Was willst du jetzt tun?«, fragt Schwester Aemiliani, als Charlotte ihr berichtet, wie sie Vater Dionysios kennengelernt hat und nach Ormylia gekommen ist. »Willst du ihm folgen?«

»Keine Ahnung. Kann ich mit ihm Kontakt halten, auch wenn ich keine Nonne bin?«

»Na klar. Er liebt jeden. Aber du kannst es nur spüren, wenn du dein Herz öffnest.«

Charlotte schaut skeptisch. Wie soll denn das gehen?

Dreimal täglich ruft ein hölzernes Klangbrett die Schwestern in Ormylia zum Gebet in die Kirche. Charlotte lässt keinen der Gottesdienste aus, gierig saugt sie jedes Detail der Liturgie auf. Auch nachts wird gebetet. Als Charlotte sich zum ersten Mal im Schein von Kerzenlicht ihren Platz in der dunklen Kapelle sucht, eben aus dem Schlaf gerissen und noch ziemlich benommen, beginnt sie zu weinen, als die Schwestern zu singen beginnen, und hört erst wieder auf, als der letzte Ton der byzantinischen Gesänge verstummt ist. Merkwürdig schmerz- und reizvoll klingt dieser Gesang – ein Sprechgesang, klagend und jubelnd zugleich. Drei Stunden lang laufen Charlotte Tränen übers Gesicht, und wie sie da steht, den Blick nach vorne auf die Ikonenwand gerichtet, zieht sie innerlich Bilanz. Trennt Dinge, die sie in ihrem Leben plötzlich überflüssig findet, von denen, die sie vertiefen will. Sie nimmt sich vor, Menschen künftig nicht mehr danach zu beurteilen, was sie machen oder leisten. Ab jetzt zählen Werte und Ideale mehr als alles andere, ab jetzt, das spürt sie, ist ihre innere Haltung entscheidend für ihr Leben.

Keinen Moment mehr will sie sich künftig damit aufhalten, was andere von ihr denken oder wie sie nach außen wirkt. Keinen Gedanken mehr daran vergeuden, welchen Stil sie darstellt – weder in Kleidungsfragen noch in der Kunst. Nichts Modisches verkörpern, sondern stattdessen das Normale zum Maßstab machen. Sie sieht das Bild der Frau, die sie sein will, genau vor sich: Die Haare lang wachsen lassen und zusammengebunden tragen. Längere Röcke anziehen und schlichte Blusen. Einfach will sie sein und trotzdem schön.

Charlotte beschließt, ihr Leben fundamental zu ändern und sich auf ihr Inneres zu konzentrieren. Sie fühlt sich gefestigt und selbstbewusst wie nie. Noch weiß sie nicht, wie sie zum Ziel kommen wird. Sie steht am Anfang.

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Auf der Suche

Sehr geehrter, lieber Vater Dionysios. Ich bin eine alte Freundin von Gerondissa Diodora, wir kennen uns seit Kindertagen. Als Diodora nach Griechenland ging, haben wir uns aus den Augen verloren, den Kontakt jedoch nie vollständig abreißen lassen. Über zwanzig Jahre lang haben wir uns nicht gesehen, und nun bin ich zu Besuch ins Kloster gekommen. Ich möchte verstehen, warum meine beste Freundin damals diese radikale Entscheidung getroffen und sich von allem gelöst hat, was bis dahin ihr Leben ausmachte. Weil Sie, verehrter Vater Dionysios, mir als der Schlüssel zum tiefen Verständnis erscheinen, würde ich Sie gerne kennenlernen. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir Gelegenheit für ein Gespräch geben würden.

Es grüßt Sie herzlich,

Ihre Ilka Piepgras

Unmittelbar nachdem ich den Brief geschrieben habe, zerreiße ich ihn. Er ist zu förmlich, finde ich. Oder nicht förmlich genug? Schließlich ist Vater Dionysios inzwischen weit mehr als der junge Priestermönch vom Berg Athos, den Charlotte damals auf Naxos kennengelernt hatte. Er gilt als einer der ganz großen Weisen der griechischen Orthodoxie und trägt den Ehrentitel »Archimandrit«. Auf der ganzen Welt wird er zu Vorträgen eingeladen, und er hat alle möglichen Menschen zum Glauben inspiriert. Von Griechenland über Israel und Europa bis in die USA leben die Mitglieder seiner geistlichen Familie verstreut. Meine Freundin und ihre Schwestern nennen ihn »unseren Geronda«. Geronda ist die griechische Bezeichnung für »Abt« und bedeutet wörtlich »der Ältere«, man spricht es Jeronda aus. Es klingt zärtlich und ehrfürchtig, wenn die Nonnen von ihm sprechen, er muss eine ungeheure Ausstrahlung haben. Überall ihm Kloster stoße ich auf Fotos von ihm, er ist mir vertraut, aber ich kenne ihn nicht. Wie soll ich ihn also ansprechen? »Dear Archimandrite«? »Verehrter Abt«? »Lieber Geronda«? Ich werde meine Freundin bitten, ein Gespräch mit Geronda zu vermitteln. Mal sehen, wie sie reagiert.

Ich sitze im Gästezimmer des Klosters in Karditsa, dem meine Freundin Charlotte heute als »Gerondissa«, als geistige Mutter, vorsteht. Die Kleinstadt Karditsa liegt mitten in Griechenland in der Region Thessalien. Mein Zimmer ist geräumig, zwei schmale Betten finden darin Platz, eine Sitzgruppe mit Couchtisch und ein großer Einbauschrank. Ich gebe ihm den Namen »Präsidentensuite«, denn im Vergleich zu den übrigen Besucher-Zellen wirkt es sehr feudal. Draußen kläffen von morgens bis abends Hunde, die Hunde von Karditsa.

Zwanzig Jahre hat mir der Mut für diese Reise gefehlt. Warum habe ich mich eigentlich so lange vor dem Wiedersehen gedrückt? Was habe ich gefürchtet? Ich fand den Gedanken, meine Freundin als Nonne zu sehen, abstoßend und anziehend zugleich. Wer in ein Kloster geht, dachte ich, ist im »richtigen« Leben gescheitert. Nur schwache Frauen gehen ins Kloster, so die Klischeevorstellung in meinem Kopf. Schlichte Gemüter, die das Glaubensbekenntnis zur Grundlage ihres Lebens machen, weil sie sonst nicht viel haben. Doch Charlotte war weder ein schlichtes Gemüt noch ein schwaches graues Mäuschen. Sie war von der Sorte, der alles zufliegt. Ein Gewinnertyp. Die Jungs buhlten um ihre Aufmerksamkeit, und die Mädchen wollten sein wie sie: klug, zielstrebig und schön.

Es gibt diese Dinge im Leben, die man lange hinausschiebt – in der Gewissheit, sie irgendwann zu tun. So ging es mir mit Charlotte. Meine Neugierde, das Geheimnis ihrer Verwandlung zu lüften, war all die Jahre groß. Ich hätte hinfahren und Fragen stellen können, wich der Begegnung jedoch aus. Ich wollte den Eindruck, den ich von ihr als Jugendfreundin hatte, noch eine Weile mit mir herumtragen. Lieber das alte Bild bewahren, als ein neues zu bekommen, welches mich möglicherweise abstieß. Ich wollte meine Charlotte nicht verlieren.

Als junge Journalistin machte ich den Versuch zu verstehen, indem ich stellvertretend für Charlotte eine deutsche Nonne interviewte. Einen halben Nachmittag lang sprach ich im Garten eines süddeutschen Benediktinerinnenklosters mit einer jungen Schwester und war am Ende ratloser als zuvor. Es war ein Missverständnis. Ich hatte meine schöne, begabte, temperamentvolle Charlotte gesucht und stattdessen eine blasse, unsichere Frau gefunden, bei der »etwas ins Schwingen gerät«, wenn sie an Gott denkt. Das überzeugte mich nicht.

Vielleicht ging ich Charlotte all die Jahre aus dem Weg, weil ich mich davor fürchtete, sie nicht zu verstehen. Vielleicht war es auch die Angst vor einem Streit, die mich so lange von einem Besuch abgehalten hat, denn anfangs war ich wütend, dass sie so abrupt aus meinem Leben verschwand und es nicht für nötig hielt, ihren Schritt zu erklären oder gar zu diskutieren. Irgendwann, es muss Ende 1988 gewesen sein, schickte sie eine Postkarte aus Griechenland, die mit den Worten Liebe Ilka – Christus ist auferstanden begann und ihre Sehnsucht beschrieb, der tiefen Liebe zu folgen, der Liebe zu Christus. Ich erkannte kaum die Schrift meiner Freundin wieder, so fremd war die starre Druckschrift der Karte im Vergleich zu ihren ehemals schwungvoll miteinander verbundenen Buchstaben. Unterschrieben war die Karte mit Dionyssia-Charlotte. Den Namen Dionyssia trug Charlotte von ihrem Übertritt zur Orthodoxie bis zu ihrer Einkleidung als Nonne. Ein Übergangsname für einen Übergangszeitraum.

Ich hielt meine Freundin für verrückt, erklärte sie für verloren und stopfte die Karte in den hintersten Winkel meines Schreibtisches. Ich vermisste die Freundin, meine Vertraute, doch insgeheim bewunderte ich sie für ihren radikalen Entschluss. Schon immer hatte ich eine Schwäche für Aussteiger gehabt, und nun führte mir ausgerechnet das Musterkind Charlotte vor, wie das geht. Niemand aus unserem Freundeskreis hatte einen vergleichbar drastischen Schritt gewagt – weder damals noch später. Die meisten wurden genau das, was bereits als Teenager in ihnen angelegt schien und was die Eltern vorlebten. Der bequeme F. übernahm die Praxis seines Vaters, die schlaue S. wurde Unternehmensberaterin, K. folgte seinem Vater in die Versicherungsbranche und C. führte ein Leben als wohlhabende Gattin. Niemand brach aus, kaum einer überraschte, allenfalls wurde mal jemand Schauspieler oder outete sich als Schwuler.

Mich faszinierte die Kompromisslosigkeit, mit der sich meine Freundin von ihrem alten Leben löste. Sie kappte ihre Wurzeln ohne Not. Woher nahm sie die Kraft für diese rigorose Entscheidung? Was sie gefunden hatte, musste wahrhaft groß sein – so groß, dass sie eine Existenz dafür aufgab, die ich beneidenswert schön fand.

Als Charlottes inhaltsschwere Postkarte eintraf, studierte ich in München Politische Wissenschaften, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Ich brannte darauf, Journalistin zu werden, und das Studium erschien mir notwendig auf dem Weg zum Ziel. Die Fächer hatte ich gewählt, weil ich weder von Politik noch von Wirtschaft viel verstand. Als Journalistin, hörte ich, braucht man Allgemeinwissen, und ich hoffte, so meine Lücken zu schließen. Nichts an meinem Studium interessierte mich dringlich.

An der Universität machten Charlotte und ich ähnliche Erfahrungen. Beide fühlten wir uns unter den Studenten als Außenseiter. »Du musst versuchen, dich von der Masse abzuheben«, hatte mir mein Vater, ein Hochschulprofessor, geraten, und ich legte seinen Rat sehr wörtlich aus: Nur zwei Mal in fünf Jahren betrat ich die Mensa, diesen Ort der Massenspeisung. Ich hob mich ab, indem ich mich entzog. Ich hielt mich fern von den Studenten und verordnete mir eine Art »Erziehung der Härte«. Ich wollte möglichst viel Lebenserfahrung sammeln, so praktisch und konkret wie möglich. In den Semesterferien hangelte ich mich von Zeitungspraktikum zu Zeitungspraktikum und arbeitete als freie Mitarbeiterin diverser Redaktionen. Ich hetzte durchs Studentenleben und träumte von einem unabhängigen Dasein. Ich wollte möglichst schnell selbständig sein oder zumindest das, was ich damals für frei und selbständig hielt.

Charlotte in ihren Studienjahren an der Berliner Kunsthochschule

Charlotte hatte sich für ein Kunststudium in Berlin entschieden. Doch sie vermisste Teamgeist unter den Studenten und klagte über die »Ellbogenpolitik« an der Kunsthochschule. Dort wetteiferte man um die besten Ideen und sah in jedem Mitstudenten einen Konkurrenten. »Die Studenten sind betont selbstbewusst und egozentrisch, sie geben sich extravagant. An die meisten komme ich schwer heran, denn ich kann die Person hinter der gespielten Rolle schwer erkennen«, schrieb sie mir. Damals trug sie vorzugsweise Jeans und selbstgestrickte Pullover, die Haare kurz. Ihr Stil war sportlich und praktisch. An der Kunsthochschule stach so viel Normalität heraus – aus der Perspektive der Studenten wirkte Charlotte sehr konventionell, sie schien ihnen als Künstlerpersönlichkeit fragwürdig. Den selbstdarstellerischen Part des Künstlerlebens würde sie nie überzeugend spielen können, dazu war sie viel zu natürlich. Sie hasste Show, Eitelkeit und Arroganz.

Auf Charlotte wirkte das Klima an der Kunstakademie kalt und unpersönlich, weil sie zuvor das komplette Gegenteil kennengelernt hatte – als Schülerin des United World College of the Atlantic, einer von dem berühmten Reformpädagogen Kurt Hahn gegründeten Eliteschule im britischen Wales. Jugendliche aus aller Welt können dort die letzten zwei Schuljahre verbringen und das International Baccalaureate, das internationale Abitur, erwerben – vorausgesetzt, sie meistern das komplexe Auswahlverfahren. Gesucht werden gescheite Jugendliche mit einem starken Interesse für die sozialen Unterschiede auf dieser Welt. Im College treffen die unterschiedlichsten Lebenserfahrungen und Kulturen aufeinander.

Charlotte beeindruckte das Auswahlkomitee mit einem Referat über »Kitsch und Kunst« und zog als eine von sechs Deutschen ins College. Ihr Zimmer teilte sie mit Schülerinnen aus Simbabwe und Japan, ihr Wohnhaus mit Jugendlichen unter anderem aus Indien, Frankreich, Südafrika, Venezuela und dem Sudan. Als Teil dieses bunten Völkergemischs lernte sie, in jedem Mitschüler das Besondere zu sehen und sich vor kulturellen Klischeevorstellungen zu schützen.

Das College verfolgt hohe humanistische Ideale. Jeder Schüler verpflichtet sich für einen sozialen Dienst in der Freizeit – beispielsweise in Altersheimen oder Blindenschulen der Umgebung. Charlotte wählte »Beach Rescue« – einen Rettungsdienst am Strand. Über Monate hinweg wurde sie dazu ausgebildet, an der rauen und unberechenbaren Atlantikküste Leben zu retten.

Neben dem sozialen Engagement fordert das College von den Schülern einen hohen akademischen Einsatz. Ständig gibt es Referate zu halten, Projektwochen zu gestalten oder ausführliche Essays zu schreiben. Für jedes Fach müssen umfangreiche reading lists abgearbeitet werden, alles natürlich auf Englisch. Wenn sich die Schüler nach zwei Jahren Intensivtraining in Völkerverständigung, Selbstdisziplin und sozialem Engagement wieder in alle Winde verstreuen, nehmen sie ein Netzwerk von internationalen Kontakten mit. Und sie wollen eher führen, als sich unterzuordnen – denn nur als leader kann man gestalten und die Welt verbessern.

Der Umzug ins College war ein kleiner Schock für Charlotte. Sie kam aus einer sehr großen und sehr intakten Familie: Sechs Kinder prägten das Leben der Familie Stapenhorst, und Charlotte war es als mittleres Kind gewohnt, von älteren und jüngeren Geschwistern umgeben zu sein. Sie vermisste die Geborgenheit und Vertrautheit der Familie. Ihre Briefe klangen verhalten. »Ich weiß nicht, ob ich hier glücklich bin«, schrieb sie mir. »Ich weiß nur, dass ich morgens mit einem guten Gefühl aufwache und mich auf den Tag freue. Vielleicht ist das glücklich sein.« Allmählich überwand sie das Heimweh, doch eine gewisse Melancholie blieb bis zum Schluss. Eine Mitschülerin schrieb ihr als Abschiedsgruß ins Jahrbuch: »Der lebhafte Vogel fliegt manchmal zu hoch für die anderen, aber wenn es gelingt, ihn einzuholen, entdeckt man, wie schön er ist. Fliegt der Vogel nach Süden, um Wärme zu finden?« Wie hellsichtig dieser Abschiedsgruß war, zeigte sich ein paar Jahre später, als Charlotte tatsächlich von der Wärme des Südens angezogen wurde.

 

Wie Charlotte verbrachte ich meine letzten Schuljahre im Internat – dem »Birklehof« im Schwarzwald. Anders als in Charlottes College gab es an dieser in einem heilklimatischen Kurort angesiedelten Privatschule kein Auswahlverfahren, allein das Schulgeld zählte. Auf dem Papier stellte sich der Birklehof als pädagogisches Paradies dar – als geschützter Lebensraum, in dem Jugendliche in einem toleranten Klima zu umfassenden Persönlichkeiten heranreifen. Neben der Schulausbildung würden »Kopf, Herz und Hand« durch musische, handwerkliche und sportliche Angebote ganzheitlich zusammengeführt, versprach der Prospekt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Religionsphilosoph Georg Picht den Birklehof als Schulleiter lange Jahre idealistisch geprägt. Damals wurden hohe geistige und moralische Standards gesetzt. Als ich dort einzog, hatte die Schule ihre besten Zeiten allerdings längst hinter sich. Zu meiner Zeit ging es den tonangebenden Schülern vor allem darum, wo man am besten saufen, kiffen oder die Zeit sonst wie totschlagen konnte. Zwei Jahre lang konnte ich erfolgreich jeder Art von Engagement aus dem Weg gehen – ohne dass sich einer der anwesenden Reformpädagogen daran gestört hätte, dass »Kopf, Herz und Hand« bei mir nur unzulänglich zusammengeführt wurden.

Obwohl sich meine Internatserfahrungen grundlegend von denen Charlottes unterschieden, teilten wir nach dem Abschluss das Gefühl, einer eingeschworenen Gemeinschaft angehört zu haben. Beide taten wir uns schwer, uns von der Insel der Seligen zu lösen und das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Zwei Jahre lang waren wir in festen Tagesabläufen und Strukturen aufgehoben gewesen, nun folgte schlagartig die Selbstverantwortung. »Ich finde es ganz schlimm, so in der Luft zu hängen«, schrieb mir Charlotte kurz nach dem Abschied vom Atlantic College, »es ist das erste Mal, dass ich mich so fühle, und vielleicht fühle ich es doppelt stark, weil ich mir die letzten zwei Jahre ›im Paradies‹ keine Sorgen gemacht habe. Die Welt schien mir so klein, und man wird, abgeschnitten von der Realität, viel zu idealistisch.«

Beide füllten wir, jede auf ihre Art, das durch den Schulabschluss entstandene Vakuum im Ausland. Charlotte jobbte einen Winter lang als Skilehrerin in Österreich – sie fuhr meisterhaft Ski und hatte eine Lizenz zum Unterrichten. Mit dem verdienten Geld reiste sie danach mehrere Monate lang durch die USA. Zurück in Europa setzte sie noch einen Sprachkurs in Italien drauf. Ihre »italienische Seite« hatte Charlotte im College entdeckt, wo sie sich mit einer Clique italienischer Schüler und Schülerinnen anfreundete, deren Warmherzigkeit, Temperament und Bodenständigkeit sie ansprachen. Den Italienern gefiel Charlottes Natürlichkeit und Unbekümmertheit – sie alberte gern herum, anstatt sich, wie viele ihrer deutschen Mitschüler, in schwermütigen Diskussionen über den Lauf der Welt zu verlieren. Italien, wird Charlotte später sagen, war die Vorstufe zu Griechenland. In beiden Ländern fühlte sie sich instinktiv wohl.

 

Mein Auslandsjahr begann in Paris, wo ich an der Sorbonne Französisch lernte und Kurse über die »Civilisation Française« belegte. Ich hatte Glück und fand mitten in der Stadt ein erschwingliches Studio, das ich allein bewohnte. Aus dem Fenster der winzigen Wohnung schaute ich direkt auf die Kathedrale Notre Dame, und nachts tanzten die bunten Lichter der Ausflugsdampfer auf der Seine an meiner Zimmerdecke. Auf ausgedehnten Spaziergängen lernte ich die Stadt kennen, aber nicht ihre Bewohner. Ich war gerade 19 geworden und einsam, die grenzenlose neue Freiheit überforderte mich. Zwei Wochen nach meiner Ankunft schrieb ich ungeduldig: »Ich frage mich, was mir das Leben hier im Nachhinein gebracht haben wird.« Anstatt die Gegenwart auszukosten, lebte ich in der Zukunft, der Realität in Gedanken immer einen Schritt voraus. Als ich an der Sorbonne nur unzulänglich Französisch lernte und mich auch nach einem halben Jahr noch schlecht im Alltag verständigen konnte, suchte ich mir einen Sommerjob. Ich heuerte als Animateurin im Club Méditerranée an. Der Job versprach die erhoffte Sprachpraxis, hinzu kamen Auslandserfahrung, Strandvergnügen und ein bisschen Geld. Leichtherzig brach ich meinen Aufenthalt in Paris ab und landete im Clubdorf auf der griechischen Insel Kos. Dort war ich als Reisebegleitung für Tagesausflüge auf die umliegenden Inseln zuständig. Eine dieser Exkursionen führte auf die Insel Patmos. Dort befindet sich die Grotte, in der dem Evangelisten Johannes die Apokalypse offenbart wurde. Zwanzig Jahre bevor ich meine Freundin im Kloster besuche, habe ich regelmäßig Touristen an einen der heiligsten Orte der orthodoxen Kirche geführt. Damals war ich vollauf damit beschäftigt, die Gruppe zusammenzuhalten und rechtzeitig zum Mittagessen in die Taverne unterhalb der Höhle zu bringen. Die Mystik des Ortes nahm ich kaum wahr.

Zu meinen Aufgaben im Club gehörte eine Art ständiger Bereitschaftsdienst, um die Gäste bei Laune zu halten. Das reichte vom Koffertragen über Tischgespräche bei den Mahlzeiten bis hin zu Showeinlagen zur Abendunterhaltung. Letzteres widerstrebte mir kolossal – wie Charlotte war mir jede Art von Selbstdarstellung zuwider, und mir fehlte auf der Bühne jegliches Talent. Ich hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, und nun imitierte ich vor Publikum in einem hautengen Stretchkleid Marlene Dietrich. Aus Sicht meiner Vorgesetzten taugte ich weder als Marlene noch als Exkursionsbegleitung viel. Man ermahnte mich regelmäßig, ich müsse mehr aus mir herausgehen. Munterer solle ich werden, unbeschwerter und weniger ernst – im Grunde eine andere Person.

Immerhin lernte ich im Clubdorf besser Französisch als in Paris. In meiner freien Zeit las ich sämtliche Romane von Françoise Sagan – sentimentale Bücher, die alle das Thema des gelangweilten Großbürgerlichen variieren, der sich, früh ernüchtert von der vermeintlichen Sinnlosigkeit des Lebens, in schnelle Autos, Glücksspiel, leidenschaftliche Affären und Drogen flüchtet. Ich fühlte mich geborgen in Sagans dekadenter Welt. Ihre Figuren zerstreuen das Gefühl innerer Leere, indem sie die Grenzen des gesellschaftlich Erlaubten überschreiten. Sie wirken rebellisch, frei und extravagant, sind im Grunde jedoch zutiefst bedürftig. Alle Figuren verbindet die elementare bürgerliche Sehnsucht, aus dem eigenen Leben etwas Besonderes zu machen. Dieselbe Sehnsucht trieb Charlotte und mich. Wir wollten alles Konventionelle sprengen und strebten hinaus aus der Familientradition – allerdings hatten wir keinen Plan, wohin.

 

Nach dem Ende unseres Lehr- und Wanderjahrs begannen Charlotte und ich hochmotiviert unsere Studienzeit. Wir waren wissensdurstig und bereit, viel zu leisten. Voller Ehrgeiz betraten wir die Universität – und waren schnell ernüchtert von dem, was sie bot. Wir erhofften uns konkreten Austausch mit Professoren, stattdessen saßen wir einsam grübelnd über Lehrbüchern beziehungsweise im Atelier. Beide empfanden wir die Anforderungen als unstrukturiert. »Ich vermisse wirkliche Persönlichkeiten und habe Schwierigkeiten, einen eigenen Arbeitsrhythmus zu finden. Teilweise arbeite ich sehr ineffektiv und schlecht. Täglich wird man hier in seinen Vorstellungen und Gedanken über die eigene Arbeit verunsichert bzw. mit anderen Meinungen konfrontiert. Man ist ständig am Zweifeln«, schrieb mir Charlotte.

Wir suchten nach absoluter Wahrheit und steckten voller Idealismus, doch wir verhedderten uns in der akademischen Freiheit. Unsere Sehnsucht galt einem Mentor, der uns geistig führte. Es fehlten Vorbilder zur Orientierung, vor allem aufseiten der Frauen. Zwar begann man damals an den deutschen Universitäten unter dem Einfluss der amerikanischen Women’s Studies weibliche Lebenserfahrung als Grundlage der Wissenschaft zu nutzen – doch die einflussreichen Positionen waren im akademischen Leben Mitte der achtziger Jahre nach wie vor von Männern besetzt. Auch außerhalb der Universität kannten wir kaum erfolgreiche Frauen in jenen Berufen, die wir ansteuerten. Unsere Mütter hatten beide nicht studiert und waren – wie fast alle Frauen im Umfeld unserer Eltern – Hausfrauen. Zum Teil, das wussten wir beide instinktiv, würden wir später auch einmal Hausfrauen sein. Ehe und Familie blieben für uns zwar ferne, aber unerschütterliche Ideale. Nichtsdestotrotz würden wir beide auch versuchen, uns im Beruf zu verwirklichen, auch davon waren wir überzeugt. Wir würden unabhängig sein und uns selbst versorgen können, so viel war klar. Von dieser Sorte Frau, die Familie und Freiheit miteinander verband, kannten wir allerdings keine. Wir sahen allenfalls Extreme – wie zum Beispiel meine Tante Karin.

Karin studierte in den sechziger Jahren Soziologie und war ein echtes Kind der 68er-Bewegung. Feminismus, APO, Hippiekultur, Black Power – alles nahm sie mit. Ich liebte die Geschichten, die sie erzählte – etwa, wie sie barfuß in München für Mao auf die Straße ging. Einmal schenkte sie mir einen lila Filzhut, den sie von Alice Schwarzer, einer Freundin, bekommen hatte und der fortan bedeutungsschwer an einem Haken in meinem Jugendzimmer hing. Manchmal gab sie mir Bücher zu lesen, zum Beispiel Das rosarote Mädchenbuch oder Ich schau in den Spiegel und sehe meine Mutter. Ich verstand nicht recht, worum es ging, aber stellte die Bücher stolz ins Regal. Karin wurde Journalistin und moderierte im Fernsehen Jugendsendungen, die »Drum« und »Raus damit« hießen. Später ging sie in die USA und fing noch mal von vorne an. Sie studierte Film und arbeitete als Drehbuchautorin und Regisseurin. Einmal schenkte sie ihrem Mann, der gerne Autorennen fuhr, einen Rennwagen. Einfach so, um ihm eine Freude zu machen. Von all ihren großartigen Geschichten beeindruckte mich diese am meisten. Eine Frau, die Autos verschenken kann, dachte ich, hat es weit gebracht.

Doch Charlotte und ich wollten beides haben, Familie und Beruf. Charlotte orientierte sich eine Zeit lang am Lebensmodell einer Töpfermeisterin, bei der sie einmal pro Woche Töpfern lernte. Die mehrfache Mutter hatte sich ein Atelier im Haus eingerichtet und verband mühelos die Arbeit mit der großen Familie. Charlotte fühlte sich der warmherzigen und freigeistigen Atmosphäre im Haus der Künstlerin sehr verbunden. Noch Jahre, nachdem sie dort ein Teegeschirr und filigrane Schachfiguren aus Ton gestaltet hatte, ging sie dorthin zu Besuch.

Charlotte erkannte früh, dass Freiheit und Geld irgendwie zusammenhängen. Nach dem Abitur überlegte sie, eine halbjährige Ausbildung zur Wochenpflegerin zu machen. Die kurze Ausbildung könnte sie später gut nutzen, um in den Semesterferien Geld zu verdienen.