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Marion Moser versteht es, auf eine humorvolle Art, manchmal voller Selbstironie, aber dann wieder auf tiefsinnige Weise über ihre Pilgerreise vom Norden Deutschlands bis in die Schweiz zu berichten. Ihr Understatement lautet, eigentlich hätte sie nichts Besonderes zu berichten, und tiefere Erkenntnisse könne sie ebenfalls nicht mitteilen. Doch im Alltäglichen und Unscheinbaren verbirgt sich das Besondere. Behutsam spricht sie von eigenen religiösen Erfahrungen. Es geht um die Herausforderungen und die Schönheit des Unterwegsseins, und dann auch wieder um die ganz grossen Fragen, auf die es meistens keine einfache Antwort gibt. Sie ist auf keinem klassischen Pilgerweg unterwegs, aber ihr Weg wird zu einem Erleben mit sich selbst und (im wahrsten Sinn des Wortes) Gott und der Welt.
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Marion Moser, geboren 1982, ist in der französischsprachigen Schweiz aufgewachsen. Sie ist für ihr Studium nach Zürich gezogen und hat dort lange gelebt. Es war schön und gut, aber sie verspürte Wanderlust… So packte sie ihren Rucksack und wanderte durch Deutschland, immer südwärts, bis sie in der Schweiz wieder angekommen ist.
A mes neveux
Eliot, Lionel, Basile, Ethan
et à ma nièce
Clara
ISBN 978-3-87214-631-1
© Erlanger Verlag für Mission und Ökumene
Neuendettelsau 2023
Herstellung: Martin Keiper/ keipertext.com
Druck: Scandinavian Book, Neustadt/Aisch
Hinweis des Verlages: Der Text ist in Schweizer Hochdeutsch verfasst, die Schreibweise wurde unverändert übernommen.
Inhalt
Teil I: Vor der Reise
Was schreiben?
Sehnsucht
Kraftvolle Wut
Auf einer Bank
Geträumte Pläne
Alles gleich und alles anders
Ein leeres Blatt
Das Gewicht der Dinge
Das Wasgij
Alles muss weg!
Teil II: Während der Reise
„Zugschlaf“
Ein griechischer Kohlsalat
Worum ging es im Museum?
Nichts zu sagen
Es war der Gipfel!
Alles anders und alles gleich
Traumhaft hungrig
Postkarten
Leicht
Wie viele Kilometer?
Tee
Rückbesinnung auf den Geschichtsunterricht
Gib uns unsere tägliche Dusche
Noch zwei Tage
Ungeheuer gross
Geplantes Ende
Die so genannten Fotos des Tages
Schlicht
Fassade
Allein
„gruusig“
Wer bin ich?
Sammle Momente!
Wissenschaftliche Tests
Problemchen
Wie wäre es, wenn?
Naiv
Zeit für Nichts
Wissenschaftliche Tests (II)
Bäume
Schritt für Schritt
Die richtige Art, sich zu verlaufen
Sinn-frei
Der Weg
Schon längst gewusst!
Wissenschaftliche Tests (III)
Momente der Ewigkeit
Begegnungen
Stürmisch
Heimat
Locker
Ein Werbeführer oder ein Wanderlügner?
Tourist
Eine wiederkäuende Kuh
Die Wäsche
Ich habe es gesagt!
Sinnesbänke
Ein wieder käuendes Mammut
Pyjama
Jakobsweg
Zivilisation: Technologie, Konsum und Wissenschaft
Frankreich
Beschreibungen
Das verlorene Schaf
Wegsperren
Kontrast
Viel zu sagen
Viel zu lachen
Geborgenheit
Piscine und Sauna
Vertrauen
Elsa
Die Letzten
Ankommen
Teil III: Nach der Reise
„Und? Erzähl!“
Weder wo noch wann
Das Fotoalbum
Bullet Journal
Wortlos
Ausklang
Danke!
Andrea Margot,
du hast mich als Erste ermutigt, dieses Buch zu schreiben. Danke für unsere Freundschaft und unsere inspirierenden Gespräche. Und danke für die Zeit, Geduld, Können und Liebe, die du in die sprachliche Überarbeitung gesteckt hast.
Anne-Claire Roh-Moser,
du bist mir mit Rat und Tat während der ganzen Zeit der Redaktion zur Seite gestanden. Danke für unseren Austausch über den Inhalt des jeweiligen Kapitels. Danke für deinen Humor, deine gute Laune und für die zahlreichen Telefonate, in denen wir unsere Alltagssorgen teilen.
Judith Bennett,
du hast mich nicht nur auf dem Pilgerweg, sondern auch während des Abenteuers des Schreibens begleitet. Danke für dein offenes Ohr, deine Ratschläge und deine ansteckende Lebensfreude.
Anne-Christine Wild,
du warfst deinen frischen Blick auf das Ganze und gabst mir Mut für den Endspurt.
Mirjam Läubli,
danke für dein genaues Durchlesen des fertigen Werkes.
Teil I: Vor der Reise
Was schreiben?
Fühle mich innerlich geführt, ein Tagebuch anzufangen. Eine Art spirituelles Logbuch zur Erbauung künftiger Geschlechter. Höhere Eingebungen und Erkenntnisse werden immer wieder neu aus seinen Zeilen emporstrahlen wie ein Leuchtturm in der Nacht. Weiss nicht, was ich heut schreiben soll.
Adrian Plass
Ich packe einen neuen Stift aus, atme tief ein und lächle. Eine warme Tasse Tee steht auf dem Pult. Die Welt ist also vollkommen in Ordnung. Ich freue mich auf die neue Herausforderung, die ich mir selbst stelle: ein Buch zu schreiben. So bleibe ich unterwegs: nun Wort für Wort, wie vorher Schritt für Schritt. Die letzten vier Monate bin ich nämlich gepilgert.
Man erwartet doch von einer solchen Reise lebensprägende Erfahrungen. Sie solle ein unglaubliches Abenteuer sein, das zu einer sonst nicht zu erreichenden tiefen Weisheit führt. Wandern gebe Zeit zum Nachdenken und zu innerer Reifung. Dies scheint nur theoretisch wahr zu sein, denn ich muss zugeben: Grosse Erkenntnisse lassen bis jetzt auf sich warten. Aber irgendetwas halbwegs Inspirierendes sollte ich schon zu sagen haben.
Was soll ich schreiben? Rettung erhoffe ich mir von meinen Reisenotizen. Jeden Tag nahm ich mir nämlich Zeit, um das Wichtigste in einem kleinen Heft festzuhalten. Darin finde ich sicher Inspiration. Das Gekritzel zeugt leider von einer Armut, die nicht zu übertreffen ist. Tage folgen einander und ähneln sich. Es würde die beharrlichsten Leser ermüden: Ich wandere, esse, schlafe. Das Ganze hätte sich bestenfalls auf eine Reihe von Hotelangaben, Wegbeschreibungen und Menus reduziert, nur dass ich mich beim Schreiben unterwegs nicht mit unnötigen Details aufhalten wollte: „3.8. Gutes Essen und gutes Hotel, 5.8. Gutes Essen und schlechtes Hotel, 10.8. Schlechtes Essen, aber gutes Hotel…“
Fasziniert lese ich dennoch weiter. Diese dürftigen Stichwörter wecken Erinnerungen: Ich weiss genau, was ich gegessen habe, oder wie der Hoteleingang aussah, Wortfetzen fallen mir fast wörtlich wieder ein, die Stimmung, die Gespräche, der Weg, die Aussicht… Nie in meinem Leben habe ich mich so detailreich an etwas erinnert. Es ist, als ob ich diese Zeit mit einer anderen Intensität gelebt hätte. Ich kann alle Tage Revue passieren lassen, und alles ist sehr präsent: die Gedanken, der Geruch, der feuchte Boden, die Gefühle, der Wegweiser, das Wetter, die Bank für die Pause… Meine Notizen sind die Tür zu einem unvermuteten Reichtum. Und plötzlich taucht der traurige Gedanke auf, dass vielleicht irgendwann die Erinnerungen verblassen, und damit verbunden wächst auch der Wunsch, alles genau zu erfassen. Die Erinnerungen sind aber wie Seifenblasen, die zerplatzen, wenn man sie festhalten will. Sie weigern sich, auf Papier gebracht zu werden, sie wollen nicht an die Wand genagelt werden, sie lassen sich nicht in ein Fotoalbum einsperren.
Ich trinke einige Schlückchen und lasse meinen Blick durch das Fenster wandern. Ich fühle mich so reich und habe doch weiterhin nichts zu schreiben. Irgendwie sollte ich mit dem Anfang beginnen. Alles der Reihe nach zu erzählen wäre der beste Weg.
Ich starre auf das leere Blatt. Ich finde den Anfang nicht. Mein Tee ist inzwischen kalt. Wann hat die Pilgerreise begonnen? Am Tag, an dem ich losmarschiert bin? Oder am Vorabend, als ich aufgeregt nicht einschlafen konnte? Sollte ich die Monate vorher, während derer ich alles eingefädelt habe, auch erwähnen? In diesem Falle würde ich als Auftakt das Datum wählen, an dem der Entscheid zur Reise fiel. Das wäre mehr als ein Jahr, bevor ich aufgebrochen bin. Oder suche ich einen noch früheren Zeitpunkt aus, wie z.B. das erste Mal, als ich mit der Idee spielte?
Egal wo ich beginne, bekomme ich das Gefühl, mittendrin anzufangen. Ein Zusammenspiel von verschiedenen Umständen und von Gedanken, die schon lang in mir goren, führten dazu, dass ich am 29. Juni 2020 in Flensburg mit der Absicht, zu Fuss in die Schweiz zu gelangen, startete.
Ich schaue durch das Fenster. Es ist dunkel geworden. „Morgen“ verspreche ich mir… Morgen werde ich mit dem Anfang beginnen.
Sehnsucht
Alles beginnt mit der Sehnsucht.
Nelly sachs
Ich war inzwischen 37 Jahre alt geworden. Das Leben mit seinen vielseitigen, mehr oder weniger unbewussten Entscheidungen und seinen reichen Zufällen hatte mich an einen Punkt gebracht, wo ich zwar nicht unzufrieden war, dennoch eine zunehmende Unsicherheit verspürte, ob ich am richtigen Platz gelandet war. Ich war dort, hätte aber genauso gut woanders sein können. Ich hatte mehrere Lebenswege vor mir gehabt und einen davon genommen. Dieser bot einige Vorteile, einige Nachteile. Es hätte alles anders sein können, nicht besser, nicht schlechter, aber anders. Meine aktuelle Situation kam mir so beliebig vor. Ich mochte meine Arbeit, meine Wohnung. Auch meine persönliche Situation gefiel mir… Und doch, etwas keimte…
Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Grösseres.
Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer auf der Suche gewesen. Ich sehnte mich nach Antworten auf Fragen, die ich mir nicht einmal stellen mochte. Irgendwie war ich zwischen zwei Bibelseiten aufgewachsen, denn meine Eltern engagierten sich stark in der reformierten Kirche. Sie waren dennoch in religiösen Fragen mehr als offen. Später war ich meinen christlichen Wurzeln stets treu geblieben. Geborgenheit und Trost fand ich aber eigentlich eher am Rand dieser Tradition, in der Stille. Die grossen Worte wie Gott, Freiheit oder Liebe schienen mir oft verbraucht, entleert. Wenn aber alles schweigt, wenn ich nicht mehr über Gott nachdenke, wenn das Gebet zu voll von mir und von meinem Leben verstummt, dann… Die Zärtlichkeit der Stille kann man aber eigentlich nur zerreden. Wenn aber alles schweigt, dann… In der zerbrechlichen Kraft des Augenblicks bin ich.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.
Ich mochte die Stille und hielt sie für die Mitte meines Glaubens, aber ein unbestimmtes Verlangen blieb trotzdem ungestillt. Das Yoga, das mir dank der Körperwahrnehmung und einfachen Bewegungen half, präsenter zu sein, öffnete mir dabei neue Türen. Ich empfand es als eine gute Ergänzung zu meiner christlichen Gebetserfahrung. Irgendwie fehlte mir aber weiterhin die Selbstdisziplin, um regelmässig zu meditieren. Mit grossem Eifer hielt ich einige Wochen stille Zeiten ein. Dann versandete meine gute Absicht in meinem Alltag, bevor ich einen neuen Anlauf nahm. Und doch, etwas keimte…
Ich habe mir gestern versprochen, mit dem Anfang zu beginnen. Ich habe nach einem Ereignis, einem Datum, einer möglichen Wende oder einem prägenden Gespräch gesucht – und nichts gefunden. Und zwar aus gutem Grund: Alles begann mit der Sehnsucht.
Kraftvolle Wut
Kein Grund zu bleiben, ist ein guter Grund zu gehen.
Unbekannt
Wir haben eine Sitzung. Wir verteilen die Arbeit um. Ich weise auf das Problem hin. Wir seufzen. Wir sitzen zu viel. Wir besprechen das Problem. Wir haben eine Sitzung. Es wird neu organisiert. Wir haben ein neues Formular. Wir planen es sorgfältig. Es kommt anders. Wir werten es auf. Wir schreiben ein Protokoll. Wir sind flexibel. Wir haben eine Sitzung. Ich frage nach dem Sinn. Wir besprechen es.
„Wenn du im Hamsterrad rennst und nicht vom Fleck kommst, steig aus! Schneller Rennen hilft nicht.“ Ein Blitzgedanke, der mich amüsiert und tröstet. Die Sitzungen nerven zwar, aber ich mag meine Arbeit.
Wir haben eine Sitzung. Der Chef wird pensioniert. Wir haben ein neues Formular. Wir planen es genau. Was machen wir, wenn…? Wir haben eine Sitzung. Das Projekt könnte scheitern. Eine Arbeitsgruppe ist gegründet. Ich weise auf das Problem hin. Wir haben eine Sitzung. Der Kollege hat gekündigt. Wir besprechen es. Der neue Mitarbeiter wird eingeführt. Die Arbeit wird umverteilt. Wir haben eine Sitzung. Ich weise auf das Problem hin. Wir werden spontan reagieren. Ich frage verzweifelt nach dem Sinn. Wir schreiben ein Protokoll.
„Wenn du im Hamsterrad rennst und nicht vom Fleck kommst, steig aus! Schneller Rennen hilft nicht.“ Der Satz lässt mich nicht mehr los. Ich bin des Ganzen langsam überdrüssig. Ich glaubte, dass ich einen sozialen Beruf ausüben würde! Aber blieb mir auch noch Zeit für das Zwischenmenschliche zwischen all den Sitzungen? Mag ich meine Arbeit noch?
Wir haben eine Sitzung. Wir organisieren alles sehr sorgfältig. Das Projekt könnte scheitern. Wir planen es um. Es kommt anders. Wir sind flexibel. Wir haben eine Sitzung. Wir reagieren spontan. Ich weise auf das Problem hin. Es wird geseufzt. Wir verteilen die Arbeit um. Wir sitzen zu viel. Es gibt Personalwechsel. Wir schreiben ein Protokoll. Das Projekt könnte Erfolg haben. Ich frage nicht mehr nach dem Sinn.
„Wenn du im Hamsterrad rennst und nicht vom Fleck kommst, steig aus! Schneller Rennen hilft nicht.“ Die Wut beisst und schreit. Ich weiss nicht, wann sie mich gepackt hat, aber seither kocht sie und zerfrisst mich. Sie nimmt Raum und verlässt mich nicht mehr. Nur in der Wut steckt genug Kraft, um ein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen: Ich werde kündigen – oder nicht.
Auf einer Bank
Du hast meine Füsse auf weiten Raum gestellt.
Psalm 31,9
Es schmeckte wie eine Orange auf der Skipiste.
Warum kam mir in jenem Moment diese Kindheitserinnerung in den Sinn? Wahrscheinlich wegen des Schnees. Es war ein Wintertag wie in einem Bilderbuch. Ich stand in einer sonnigen Landschaft mit überzuckerten Bäumen. Der Weg hatte mich um einen gefrorenen See geführt, teils schneebedeckt, teils tiefschwarz. Ich hätte unter der dünnen Eisschicht hie und da das Wasser erahnen können, wenn ich hingeschaut hätte. Versunken in Gedanken ging ich aber mit forschem und entschlossenem Schritt und nahm die Umgebung kaum wahr. Ich kaute auf meinem Problem herum. Die Zeit verging, die Kilometer auch. Ich dachte nach und ging und ging. Ich verlief mich in der Unterwelt von „vielleicht“, von „wenn noch…“ und von „was soll?“. Und ich war blind für mein Umfeld.
Die Bank tauchte wie aus dem Nichts auf. Erst als ich sie sah, merkte ich, dass ich mich über eine Pause freuen würde. Die Einladung, die darauf stand, durchbrach die Nebel meiner Gedanken.
Ort des Träumens
Sich hinsetzen
Füsse baumeln lassen
Einfach träumen.
Mich hinsetzen. Ich spürte die Nässe durch die Skihose, wusste aber, dass dies nur ein Eindruck war. Ich überlegte, ein Brötchen aus dem Rucksack zu nehmen. Die Luft roch kalt. Ich hätte gern eine Orange gegessen, wie auf der Skipiste. Leider hatte ich keine dabei. Die Erinnerung war aber so präsent, dass ich den erfrischenden Saft in meinem Mund spüren konnte. Das Licht klang märchenhaft.
Ich genoss meine Wanderferien. Ich nahm mir Zeit, um zur Ruhe zu kommen. Ich wollte nicht aus Wut die Türe zuschlagen. Mein Wunsch zu kündigen war zuerst nur ein Impuls gewesen, und ich hatte gehofft, dass er sich wieder legen würde. Schritt für Schritt suchte ich auf meinen Schneewanderungen einen inneren Frieden, der mir immer wieder entglitt. Ich hatte meine berufliche Situation durchdacht, meine Frustration aufgewärmt, verschiedene Möglichkeiten abgewogen.
Füsse baumeln lassen. Die zerbrechliche Kristallstruktur einer Schneeflocke fing meinen Blick. Ein Lehrer hatte einmal einen Schulkollegen, der träumend durchs Fenster guckte, mit folgenden Worten zu seiner Aufgabe zurückgeholt: „Schau auf dein Blatt, es schneit immer wieder.“ Der Schüler hatte geantwortet: „Es schneit aber immer anders!“ Um mich lag eine Vielfalt unterschiedlicher Flocken. Mein inneres Lächeln gab meinem Klassenkameraden rückblickend recht. Ich lehnte mich zurück und spürte, wie der Schnee in meinem Rücken stumpf murmelte, als er durch mein Gewicht zusammengepresst wurde. Drei Bäume in ihren glitzernden Pulvermänteln hielten verzaubert Winterschlaf. Weit, unendlich, frei weidete mein Blick. Wenn die Sehnsucht gestillt wird, bricht sie noch stärker auf…
Ich wusste nicht, was ich vom Leben erwartete, aber eine stumme Unzufriedenheit nagte zunehmend an mir. Vielleicht brauchte ich Zeit, um herauszufinden, was ich wollte. Wie wäre es, wenn ich mir Zeit nehmen würde? Wie wäre es mit einer Auszeit?
Ich atmete grösser. Der kleine Kreis, in dem sich meine Gedanken um meine Kündigung drehten, hatte sich geöffnet. Es gab Weite. Die engen Folgen jeder pragmatischen Erwägung waren gesprengt. Es gab Raum. Gleich holte mich aber das Konkrete ein. Ich dachte an mein Sparkonto. Ich musste es genau überprüfen, aber es schien machbar. Ich konnte mir ein Jahr schenken, ein Sabbatjahr. Wenn ich wollte, konnte ich mir Zeit nehmen, um auf einer Bank zu verweilen. Träumen.
Es hatte etwas Verrücktes, Irreales. Nun konnte ich nicht mehr ruhig sitzen. Mein Körper platzte vor Energie und Freude. Ich sprang auf und lief weiter durch die Schneelandschaft. In meinem ganzen Leben hatte ich nie etwas überstürzt. Ein Kollege hatte mir einmal gesagt: „Du bist so vernünftig, dass es weh tut.“ Ich kannte mich: Ich würde noch darüber nachdenken, sorgfältig alles prüfen, das Ganze hin und her abwägen. Aber im Grunde wusste ich es schon: Ich würde kündigen und eine Auszeit nehmen.
Geträumte Pläne
Wirklich reich ist der, der mehr Träume in seiner Seele hat, als die Wirklichkeit zerstören kann.
Hans Kruppa
Wenn ich Zeit hätte, würde ich…
Meine Wunschliste war lang: Chinesisch lernen, ein Buch schreiben, reisen, basteln, Zeit mit Freunden verbringen und, nicht zu vergessen: auf einer Bank sitzen, um eine Schneelandschaft zu bewundern…
Wenn ich Zeit hätte… Nun war es plötzlich kein Konditional mehr, sondern fest entschieden: Ich würde Zeit haben. Ich würde kündigen und eine Auszeit nehmen. Ich hatte meine finanzielle Situation geklärt und konnte es mir leisten: Ich schenkte mir ein Sabbatjahr. Ich würde Zeit haben. Es gab Raum für alles Mögliche. Es war mir ein wenig schwindlig. Ich hatte nicht wegen eines Projekts oder eines Kindheitstraums gekündigt. Ich hatte keinen konkreten Plan. Das sumpfige undefinierbare Gefühl, dass dies nicht ganz richtig war, schlängelte sich im Hintergrund. War meine Intention nicht moralisch fragwürdig? Die Frage poppte auf wie Werbung auf einer Internetseite. Sie nagte, wie dann, wenn ich überlege, mir ein teures Kleid zu kaufen, und befürchte, es nie zu tragen. Erschreckt über mich selbst fand ich die Idee verrückt. Aber die Wut gab mir Entschlossenheit. Ich hatte meine berufliche Situation einfach zu satt. Die Sehnsucht gab mir Gewissheit.
Wenn ich Zeit hätte… Ich konnte immer noch nicht ganz glauben, dass ich so etwas tun würde. Eine unbeschreibliche Freiheitsfreude floss in mir. Ich hätte vor Glück springen können, die ganze Welt umarmen.
Wenn ich Zeit hätte… Ich packte alle Träume aus. Es begann harmlos. Ich erinnerte mich an ein tief in mir vergrabenes Reiseziel: den Nordpol. Schneelandschaft, Eisbären, Kälte, Abenteuer; innere Bilder erwachten. Ich hatte die Idee jeweils verworfen, bevor sie durchdacht war. Rückblickend fragte ich mich, warum. War es zu teuer, zu weit? Eigentlich hatte ich aufgeben, bevor ich ein konkretes Argument dagegen formuliert hatte. Es hatte nicht mit dem Nordpol zu tun. Es war eine lähmende Lebenseinstellung: Ich hatte Angst, zu wagen. Diesmal wollte ich diesem Traum nachgehen. Ich war es leid, mir Sachen zu verbieten, ohne genau einordnen zu können, weshalb.
Ich hatte Internetseiten durchwühlt, Reiseprospekte und -offerten auf meinem Pult gesammelt, und nun stapelten sich Bücher auf meinem Nachtisch. Meine natürliche Neugier hatte mich vom Einen zum Nächsten geführt: Angefangen hatte es mit konkreten Reisemöglichkeiten. Ich war aber bald auf die sogenannte Eroberung des Nordpoles mit den Abenteuern von Peary und Cook gestossen und war sofort fasziniert. Logischerweise folgte gleich darauf der Südpol mit dem Wettlauf von Scott und Amundsen, und dadurch entdeckte ich auch Nansen, Charcot und Shackleton, weitere Polarforscher. Ich verschlang alle Reiseberichte: Seiten voller Schnee und Kälte reihten sich an Seiten voller Schnee und Kälte. Inmitten einer gnadenlosen Eiswüste verfolgten Menschen ihren Traum, zwischen Not und Hoffnung, zwischen unerschütterlicher Freundschaft und bitterem Kampf… Weitere Bücher voller gnadenloser Winter warteten noch auf mich, unter anderem solche, die von den Erfahrungen aktueller Wissenschaftler berichten, die ein Jahr in der Antarktis verbringen.
Ich vergass aber das konkrete Planen nicht. Mögliche Destinationen wurden unter die Lupe genommen: Island, Grönland, Spitzbergen, Nordpol… Die verschiedenen Anbieter mit ihren unterschiedlichsten Reisearten wurden lustvoll angeschaut: von atemberaubenden Hundeschlittenabenteuern über Kreuzfahrten bis zu Kanu- oder Wandertouren. Es war aber noch zu früh, um etwas definitiv zu buchen. Eins wurde mir dennoch bewusst. Eine Reise würde zwischen 15 und 30 Tagen in Anspruch nehmen. Es bliebe mir somit Zeit für weitere Projekte.
Wenn ich Zeit hätte… Ich hatte schon einige mehrtägige Wanderungen gemacht und sie wirklich genossen. Ein grösserer Treck reizte mich. Ich hatte meinen ersten Impuls, der das Ganze als unvernünftig abtat, ignoriert, und träumte von „Le grand livre du marcher“ mit seinen Vorschlägen für Wanderreisen. Das Buch lag seit Jahren verstaubt in einem Regal bei meinen Eltern. Ich nutzte einen Besuch bei ihnen, um es aufmerksam durchzublättern. Ich fragte mich, was ich gerade da suchte. Ich war nie eine leidenschaftliche Sportlerin gewesen, und ich scheute mich vor Abenteuern. Ich gehörte definitiv zur Kategorie Bücherratte. Der Saar-Hunsrücksteig stach mir ins Auge: er wurde mit wunderbaren Fotos vorgestellt, und mit seinen 410 Kilometern in 27 Etappen schien er mir eine vernünftige Wahl. Alles, was ich danach im Internet über ihn las, bestätigte diesen ersten Eindruck: Die Route läge nicht ausserhalb von Europa, sei gut ausgeschildert, habe eine machbare Länge, es gäbe genügend Hotels unterwegs… Den ängstlichen Fragen: „Kannst du es?“ „Was machst du, wenn…?“ „Wird es dir nicht langweilig?“ konnte ich dadurch mit nüchternen Argumenten begegnen.
„Pourquoi pas?“ (Warum nicht?) so taufte Jean-Baptiste Charcot sein Schiff, mit dem er seine Antarktisreise unternahm. Dies war auch die Antwort, die er schon als Kind allen gab, die seinen Wunsch, Seefahrer zu werden, anzweifelten. Der Legende nach hatte er als kleiner Bub sogar einen mit dem gleichen Namen beschrifteten Holzkübel auf einem kleinen See schwimmen lassen. Der Zuber war sofort versunken. Diese Erfahrung hatte aber den zukünftigen Polarforscher nicht entmutigt. Ich weiss nicht, wieviel Legende darin steckt, aber „warum nicht?“ ist eine inspirierende Lebenseinstellung. Warum nicht? Damit überwand ich die letzten inneren Widerstände. Das zweite Projekt des Jahres stand fest. Somit war auch die Idee geboren: 12 Monate mit 12 Projekten…
Schritt um Schritt wurde alles konkreter. Ich informierte mich über Interrail und lieh Reiseführer über mehrere Grossstädte Europas aus der Bibliothek aus. Das Lesen und das Träumen hatten meinen Wissendurst verstärkt, und Rom, Florenz, Oslo liebäugelten mit mir.
So begann das Planen meines Sabbaticals, und schon entstand das Gefühl, dass ich doch nicht so viel Zeit hatte. Ich brauchte eigentlich nicht ein Jahr, sondern mehrere Leben.
Alles gleich und alles anders
Il suffit de changer de regard pour donner un sens nouveau aux évidences anciennes.
(Ein Blickwechsel genügt, um alten Selbstverständlichkeiten einen neuen Sinn zu geben.)
Jacques Salomé
Noch hatte sich nichts geändert, aber schon war nichts mehr gleich. Der Entscheid zu kündigen, brachte etwas ins Rollen. Da der Alltag aber weiterhin genau gleich ablief, hätte mein Leben wie zuvor weitergehen können. Unsichtbare Unterschiede machten sich dennoch deutlich merkbar.
Primär war mein berufliches Leben betroffen. Ich gedachte zwar erst in 15 Monaten zu gehen, denn ich wollte gewisse Projekte sauber abschliessen und meine Auszeit in aller Ruhe planen, aber sehr früh informierte ich sowohl meinen Chef als auch meine Kolleginnen1. Das Wissen um mein Gehen gab meiner Arbeit sofort eine neue Farbe. Bei der langfristigen Planung war allen bewusst, dass sie mich nicht mehr direkt betreffen würden, sondern meinen Nachfolger. Ich konnte nach Sitzungen besser abschalten, da die empfundene Sinnlosigkeit bald ein Ende nehmen würde. Und was ich an meiner Arbeit mochte, genoss ich in vollen Zügen. Ich schätzte mehr, was ich bald verlieren würde.
Es gab auch Änderungen bei meiner Freizeitgestaltung. Das Planen und das Träumen beeinflussten mich mehr als zuerst vermutet, und ich setzte andere Prioritäten. Einige Aktivitäten bekamen mehr Raum. Ich hockte z.B. seltener vor dem Fernseher, machte grössere Wanderungen, wie eine Art Training für den „Saar-Hunsrück-Steig“, und jede weitere freie Minute las ich. Nicht, dass plötzlich alles anders war, schon vorher waren Bücher und Wanderschuhe meine treuen Begleiter. Vielleicht durchdrang aber meine Tätigkeiten eine besondere Vorfreude, oder ich genoss bewusster, was ich tat.
Unerwartet war, dass sich die Wahrnehmung meines Privatlebens veränderte. Seit vier Jahren lebte ich allein. Zwar hatte ich mich nicht bewusst für ein lediges Dasein entschieden, die Situation belastete mich aber nicht. Die Planung der Auszeit zeigte mir, dass ich mich mit dem Single-Sein nicht nur abgefunden hatte, sondern darin viele Möglichkeiten sah, die ich auch ausloten wollte.
„Das könnte ich nie machen. Ich habe ja Kinder. Ich bin fast neidisch.“ sagte mir eine Kollegin, Mutter von drei lebhaften Jungs. Zeit für sich selbst ist das knappste Gut fast aller Eltern. Und ich? Ich schenkte mir ein ganzes Jahr. „Das kannst du nur machen, weil du keine Bindung hast“, sagte mir ein anderer Bekannter. Versteckte sich in dieser Feststellung eine Kritik oder ein unerfüllter Wunsch? Ich deutete sie positiv: Er wollte nur, dass ich mir meines Glücks bewusstwürde, und ja, das tat ich wirklich.
Im Vergleich zu früher spürte ich, dass sich etwas Tiefgreifendes verändert hatte. Es gab bis dahin einen ungewollt herablassenden Blick auf mein Leben, ein gutgemeintes Mitleid. So vieles ist bei diesem Thema unausgesprochen, schimmert aber trotzdem immer wieder durch. Ich hatte bis jetzt einiges erlebt: Eine Freundin vermied im Gespräch taktvoll das Thema des Valentinstags, um mich nicht daran zu erinnern, dass ich allein war; sie dachte, es wäre verletzend. Nach einer ungeschickten, abschätzigen Bemerkung über eine alte Jungfer, über die ein Kollege sagte, er verstünde, warum sie allein war, versicherte er mir verzweifelt, dass es bei mir natürlich ganz anders sei, ich würde jemanden finden. Was für ein peinlicher Rettungsversuch! Und in frommen Kirchenkreisen wurde mir tröstlich zugesprochen, dass man für mich bete, damit ich einen Mann fände, Kinder kriegen könnte und endlich glücklich würde. Meine wiederholten Versuche, all diese besorgten Menschen zu überzeugen, dass ich mich allein wohlfühlte und mir keine neue Liebesbeziehung wünschte, ernteten unausweichlich die immer gleiche Bemerkung: „Das ist die richtige Haltung: Wenn man nicht sucht, findet man den passenden Mann.“ Darf man fragen, was die richtige Haltung ist, wenn man alleine bleiben will? Anscheinend ist dies eine nicht vorhandene Möglichkeit.
Mit meinem Entscheid, eine Auszeit zu nehmen, hatte sich etwas verändert. Es wäre vielleicht zu viel gesagt, dass ein unausgesprochenes Mitleid einem unterdrückten Neid Platz machte, aber es gab eine Wendung in der Deutung meiner Lebenssituation: Ich war nicht mehr ein bedauernswerter Single, sondern ein Glückspilz, der seinem Traum folgen konnte. Hatte sich diese Wandlung in meinen Augen oder in den Augen der anderen vollzogen? Egal, ich spürte es förmlich: Ich war nicht mehr eine langweilige, brave junge Frau, die leider (noch) keinen Mann gefunden hatte und vielleicht auf Kinder verzichten musste, sondern eine abenteuerlustige Seele, die ihre Freiheit genoss.
Ich führte mein altes Leben: stand auf, arbeitete, genoss meine Freizeit, lebte allein. Doch die Veränderung kündigte sich nicht nur an. Von aussen kaum wahrnehmbar und doch tiefgreifend hatte sich schon ein Umbruch ereignet, ein Blickwechsel auf die bisherige Situation. Alles war gleich und alles war anders.
1Bei Kollektiven (Kollegen, Freunde, Leserinnen, Forscher, Mitarbeiterinnen…) benutzte ich abwechselnd männliche und weibliche Formulierungen. Es sind aber stets alle mitgemeint.
Ein leeres Blatt
Si tes rêves ne te font pas peur, c’est qu’ils ne sont pas assez grands.
(Wenn deine Träume dir keine Angst machen, sind sie nicht gross genug.)
Mike Horn
Ich las dieses Zitat in einem Buch über eine Reise in die Antarktis. Ich vergass es nicht. Es hielt mich gefangen. Wie Ferien, die sich aneinanderreihen, hatte ich mein Sabbatjahr gefüllt: Einen Monat dies, einen Monat jenes. Alles voll. Alles sicher.
„Zufrieden sein mit dem, was man hat“, „nicht zu viel wollen“, „sich der Gegebenheiten anpassen“, „vernünftig sein“, „kein Risiko eingehen“… Waren sich meine Eltern bewusst, welche Werte sie mir vermittelt hatten? Ich fand diese nicht mal schlecht. Aber es kam mir vor, als ob ich mein Leben lang zu klein geträumt hätte. Bequemlichkeit und Bescheidenheit hatten stets Vorrang vor Abenteuer. Und jetzt hatte ich mir ein Jahresprogramm vorbereitet, das ganz und gar meinem üblichen Sicherheitsbedürfnis entsprungen war… Sogar das Abenteuerlichste, das Durchwandern des Saar-Hunsrücks, hatte ich in einer Mischung aus Pragmatismus und Angst ausgewählt.
Ich war in den Ferien und wanderte. Dank Tagebuchschreiben und Meditationszeit wollte ich die Frage, die mir alle stellten, wenn sie von meiner Kündigung erfuhren, definitiv klären: Was willst du machen? Mein Entscheid hatte mein Umfeld nur in begrenztem Mass überrascht. Alle hatten meine latente Frustration gespürt. Eine Auszeit konnten sie gut nachvollziehen. Dass ich auf die Frage, was ich genau und konkret machen würde, keine Antwort hatte, liess aber mehr als einige stutzen. Eine Auszeit ja, aber wofür? Es musste einen Plan geben. Und schnell hatte ich ein beruhigendes Szenario geschrieben.
„Ich wünsche dir den Mut, die Leere auszuhalten.“ Gegen den Strom schwamm ein Kollege mit seinem Rat. Er hatte wahrscheinlich gespürt, dass hinter meiner Kündigung, hinter den oberflächlichen Gründen einer schwierigen Arbeits-situation mehr lag. Man kann kein Wasser in ein volles Glas einschenken. Man kann keine neue Geschichte auf ein bis zum Rande vollgekritzeltes Blatt schreiben. „Man muss manchmal Gott eine Chance geben, sich zu zeigen.“ Ich hatte nicht auf diesen Freund gehört. Voller Vorfreude und Begeisterung hatte ich ein spannendes Programm für jeden Tag des Sabbatjahres ausgesucht. Ich hatte alles gefüllt.
Eine alte Osterpredigt klang in mir nach: „Leer und hoffnungsvoll“ war ihr Thema. Ich wusste nicht mehr, wo ich sie gehört hatte. Es ging aber darum, dass die Erzählung der Auferstehung Jesu mit der Feststellung des leeren Grabes anfängt. Es braucht Raum, Leere, damit etwas Neues entstehen kann. „Ich wünsche dir den Mut, die Leere auszuhalten.“ Nicht grundlos hatte mein Kollege das Wort „Mut“ gebraucht. Leerlassen, offenlassen; das heisst, das Ruder aus der Hand zu geben; aushalten, dass man nicht weiss, was kommen mag; geduldig warten, dass etwas langsam keimt. Ich schaute mein schönes Programm an, durchdacht und durchgeplant. Wollte ich alles im Griff haben oder vertrauen? Ich erstickte an meinen Träumen, die ich soweit verkleinert hatte, bis sie in einen vernünftigen Rahmen passten, bis sie mir keine Angst mehr machten. Ich warf alles weg und fing neu an. Ich entschied mich, gross zu träumen, Raum für Unbekanntes und Überraschung zuzulassen. Ich nahm ein leeres Blatt. Und das Ziel war, dass es am Schluss meiner Ferienwoche… immer noch leer stand.
Vorsichtig und langsam füllte sich aber die erste Zeile mit Worten. Ich fing an, eine grosse Pilgerreise zu planen. Dabei legte ich aber nur den Anfangspunkt definitiv fest. Es waren wie erste Schritte, die aber offenliessen, wohin der Weg gehen würde.
Das Gewicht der Dinge
Viele würden gern ein einfacheres Leben führen, wenn der Weg dahin nicht so kompliziert wäre.
Justus Johannes der Älteste
8 bis 12 Kilos. Dies war das empfohlene Höchstgewicht des Rucksacks bei einer Pilgerreise. Wanderbücher und Pilgerberichte ersetzten meine bisherige Lektüre: Klagen über Rückenschmerzen und das Gefühl, Steine tragen zu müssen, waren nicht selten. Sie wurden gepaart mit Ermutigungen, das Gewicht des Rucksacks so klein wie möglich zu halten. Als Erstes kaufte ich also speziell leichte Hightech-Kleidung und ein E-Book. Ich besass also mehr, bevor die Auseinandersetzung mit dem Weniger anfing.
Zwischen 8 und 12 Kilos. Dazwischen liegen Welten. Im Internet traf ich auf eine sinnvollere Angabe: Statt eine Zahl anzugeben, raten die Autoren, nicht mehr als 10% des eigenen Körpergewichtes zu tragen. Die eigene Kondition und den eigenen Körper zu berücksichtigen, schien mir weiterführender, als eine unpersönliche, abstrakte Regel zu befolgen. Theoretisch gefiel mir also der Ansatz sehr. Fast revidierte ich diese Meinung 30 Sekunden später, als mir bewusstwurde, was dies konkret hiess. 10% meiner 53 Kilos liessen definitiv wenig Spielraum. Mein Leben lang hatte ich mich darüber gefreut, essen zu können, was ich wollte, ohne an Gewicht zuzulegen. Jetzt rächte es sich. Ich dachte kurz darüber nach, und schon hatte ich mich zur nächsten Internetseite geklickt: Gesund zunehmen. Ein wenig Mathematik liess nämlich schnell erkennen: Für jede Tafel Schokolade (100 Gramm), die ich mitnehmen wollte, musste ich 1 Kilo schwerer werden.
In der folgenden Zeit beschäftigte ich mich intensiv mit der Waage. Ich wog die Gegenstände, die ich unbedingt mitnehmen wollte, und sie waren alle schwerer als erhofft. Ich musste mich in Gedanken damit abfinden, mit sehr wenig auszukommen. Und der regelmässige Gang auf die Waage führte auch zu einer traurigen Feststellung: Meine Bemühung, zuzunehmen, brachte nichts.
Nicht nur mit der Waage war ich beim Vorbereiten beschäftigt, sondern auch mit Umzugskisten. Mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit hatte ich mich entschieden, meine Wohnung zu künden. Während des Sabbatjahrs wollte ich unterwegs sein und danach wirklich neu anfangen. Es lag auf der Hand, meinen Besitz irgendwo zu lagern, um die Miete eines Jahres zu sparen. Eine Kollegin bot mir eine Ecke in ihrem Lagerraum an. Es gab nicht extrem viel Platz, aber für einige Kisten sollte es reichen. Es war die erträumte Gelegenheit, Altlast hinter mir zu lassen. Dafür erfüllte ich mir den Wunsch nach einem radikalen Entscheid: 15 Kisten, drei Koffer mit Kleidern und einige Gegenstände (wie u.a. das Bügelbrett) waren alles, was ich behalten wollte. Es klang gut. Ich musste nur noch auswählen, was in die Umzugskartons kam. In der praktischen Durchführung beschäftigte ich mich dann aber eher mit der Auswahl von dem, was ich nicht behalten wollte.
Erleichtert und dennoch mit Gewissensbissen trennte ich mich von Büchern, die mich mit vorwurfsvollem Blick anschauten, entweder weil ich sie nie gelesen oder seit dem Studium nie wieder geöffnet hatte. Angefangene Bastelarbeiten wegzuwerfen, fühlte sich an wie ein Stich ins Herz und gleichzeitig wie eine Befreiung: Die fast fertigen Werke verboten mir seit Jahren, neue anzufangen. Genervt über mich selbst sortierte ich für die Kleidersammlung einen teuren Rock aus, den ich nie getragen hatte, da die Gelegenheit dazu gefehlt hatte und sich vermutlich auch nie anbieten würde. Er fragte anklagend an, jedes Mal, wenn ich den Kleiderschrank öffnete, warum ich ihn gekauft hatte. Nun war ich ihn los.
Viele sagten mir, dass der Weg, den ich einschlug, mutig sei. Ich fand dies nicht. Ich liess mich vom Minimalismus inspirieren. Eine Faustregel desselben lautet: Behalt nur, woran du Freude hast. Es bedeutet, mich von allem, was mich lähmt, traurig stimmt oder einsperrt, zu verabschieden. Eigentlich ist dies sehr schön. Dafür musste ich aber genau hinschauen und mir eingestehen, dass ich mit dem einen oder anderen Gegenstand eher negative Gefühle verbinde. Ich musste vor mir selbst zugeben, dass mir die Konzentration und die Lust, anspruchsvolle Bücher zu lesen, fehlte, dass ich mir bei gewissen Projekten zu viel vorgenommen hatte…
Meine Motivation entstand aber nicht aus einem Pflichtgefühl oder moralischer Einsicht, sondern aus der positiven Erfahrung des Loslassens. Nur was Freude macht, wird behalten. Das Ziel war so klar und das Ergebnis so wohltuend. Nur ab und zu lagen Steine im Weg.
Am meisten haderte ich mit Geschenken. Jemand hatte mir eine Freude machen wollen, aber sein Präsent gefiel mir nicht. Ich konnte mich bis zum Schluss nicht vom unangenehmen Gefühl lösen, dass ich nicht genug dankbar war. Was nützte es aber, ein von mir verabscheutes Dekorationsstück zu behalten? Das mir selbst willkürlich gesetzte Ziel von 15 Kisten kam mir zur Hilfe. Es gab für dieses fragwürdige Geschenk keinen Platz. Es wurde nicht eingepackt… Es fühlte sich gut an.
Fast genau so schwierig war die Trennung von allem, was ich in die Kategorie „schöne Erinnerungen“ einstufte: Fotos, Briefe, Teddybären, Flugtickets, Tagebücher, erste Schulhefte, Kinderspielsachen… Gerne hätte ich das Leitwort des Minimalismus ergänzt: Behalte nur, was dir Freude macht oder machte. Ich hing sehr an der Vergangenheit, was die Anzahl der Kisten widerspiegelte, gnadenlos widerspiegelte. Die Menge der Umzugskartons offenbarte die eigene Realität, die eigene Priorität: Vor dem Sortieren besass ich 2,5 Kisten mit Puzzles, 1,5 mit Büchern, 0,2 Kisten mit DVDs… und 7 Kisten mit „Erinnerungen“. Wollte ich wirklich so viel Platz dem heiligen Museum widmen, in dem ich mein Leben archivierte?
„Es war schön, aber es war.“ Ich ging manchmal mit Genuss, manchmal nostalgisch, manchmal recht amüsiert meine alten Sachen durch. Ich brauchte oft und dringend moralische Unterstützung. Deswegen rief ich hemmungslos Freunde und Familienmitglieder an. Ich habe drei Schwestern, und wir teilen das Hobby des Telefonierens. Die zwei ältesten, Aline und Mireille, haben Kinder und deswegen weniger Zeit, aber Anne-Claire, die jüngste von uns vieren, rufe ich fast täglich an.
In einem Gespräch mit ihr, während dem ich einen sentimentalen Anfall erlitt, wegen Malmaterial, von dem ich mich nicht trennen wollte, führte meine Schwester eine neue Masseinheit ein, um die Not und Dringlichkeit der Lage besser und schneller einzuschätzen: den Pinsel. Damit wird das emotionale Gewicht eines Gegenstandes gemessen, in anderen Worten, wie schwer es einem fällt, ihn wegzuwerfen. Der halb kaputte Apfel-Schäler und -Schneider hatte einen Wert von 8,36 Pinsel, die abgenutzten und dadurch undicht gewordenen Wanderschuhe 11 Pinsel, also ungefähr 34. So wichtige Messungen sollten aber genau vorgenommen werden und lassen sich eigentlich nicht abrunden.
So beschäftigte ich mich vor meiner Reise intensiv mit dem Gewicht der Dinge und war konfrontiert mit verschiedenen Masseinheiten: Kilos, Kisten oder Pinsel. Bei dieser schwierigen Arbeit, bei der die Waage und ich ein unfreundliches Verhältnis entwickelten, kam die Vermutung auf, dass der grösste Teil des Abenteuers die Vorbereitung auf die Reise war – nicht das Pilgern selbst. Und mit der Zeit verdichtete sich dieser Verdacht zur Gewissheit.
Das Wasgij
Das Leben ist ein Puzzle-Spiel. Erst wenn wir alle Teile an die richtige Stelle gesetzt haben, können wir es verstehen.
Gerhard Strobel
Ein Wasgij entdeckte ich tief unten in einem Schrank, als ich meine Sachen sichtete. Ich hatte nicht mehr gewusst, dass ich es besass. Um mich würdig von ihm zu verabschieden, musste ich es nochmals zusammensetzen. Ein Wasgij ist nämlich eine Art Puzzle mit einem grossen Unterschied: Auf der Schachtel sieht man nicht, welches Bild entstehen wird. Es gibt eine gewisse Spannung. Ein Haufen Stückchen, und man weiss nicht, ob man eine Landschaft zusammenlegt oder einen Menschen, eine Stadt oder ein Liebespaar. Beim Aussortieren entdeckte ich das Wunderspiel wieder, und es reizte mich sofort, noch einmal herauszufinden, was darauf stand. Ich mache sowieso gerne Puzzles, es lässt Zeit zum Nachdenken.
Zerteilt und rätselhaft wie ein Wasgij kam mir mein bisheriges Leben vor. Viele Umzüge, Umbrüche, Kurswechsel. Ich suchte das Bild, einen Sinn, wollte die verschiedenen Stücke, Lebensabschnitte, Begegnungen, Erfahrungen in ein farbiges Ganzes einordnen. Ich ahnte ein Bild oder einen roten Faden, und doch entglitt mir beides immer wieder.
Ich fing mit blauen Stücken an, überzeugt, dass sie den Himmel bilden würden. Und ich wollte sie ganz oben hinlegen… aber dies erwies sich schnell als falsch, dieses Blau schien ein Kleid zu sein, das Kleid eines Clowns… Ich war begeistert und vermutete, dass die zehn kleinen Stückchen, die zusammen einen kleinen roten Kreis bildeten, seine Nase waren. Aber wiederum lag ich daneben: Es war das Zentrum einer Blume, die der Clown in seiner Hand hielt,…