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»Egal, was passiert, es geht immer weiter: das beweisen die Menschen, von denen uns Steffi Neu hier berichtet. Ein Buch voller Lebensweisheit — ehrlich, sympathisch und überaus tröstlich.« Tamina Kallert, Bestsellerautorin und Moderatorin
Steffi Neu ist beliebte Radiomoderatorin und für ihre bodenständige, fröhliche und direkte Art bekannt. Doch auch sie hat Situationen erlebt, in denen es einem den Boden unter den Füßen wegzureißen droht. Nach dem Tod eines engen Freundes begann sie, nach Menschen zu suchen, die Schicksalsschläge erlebt und überwunden, die nach Krisen wieder Hoffnung gefunden haben. Wie macht man das? Was hilft dabei? Und kann man aus diesen Geschichten etwas für das eigene Leben lernen?
In diesem Buch erzählt Steffi Neu von ihren Mutmachern, von Begegnungen, die sie besonders beeindruckt haben. Es sind Geschichten von Menschen, die gegen alle Widerstände Dinge bewegt haben, ihren eigenen Weg durch schwere Lebensphasen gegangen sind. Ein Buch voller Hoffnung, guter Ideen und echter Gefühle.
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2023
Steffi Neu ist beliebte Radiomoderatorin und für ihre bodenständige, fröhliche und direkte Art bekannt. Doch auch sie hat Situationen erlebt, in denen es einem den Boden unter den Füßen wegzureißen droht.
Nach dem Tod eines engen Freundes begann sie, nach Menschen zu suchen, die Schicksalsschläge erlebt und überwunden, die nach Krisen wieder Hoffnung gefunden haben. Wie macht man das? Was hilft dabei? Und kann man aus ihren Berichten etwas für das eigene Leben lernen?
In diesem Buch erzählt Steffi Neu von ihren Mutmachern. Das sind wahre Geschichten, die uns zeigen, dass wir wirklich jede Krise überwinden können.
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Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Konzept- und Textberatung: Dr. Bettina Burchardt
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © WDR/Annika Fußwinkel
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-29964-4V002
www.koesel.de
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Wenn ein guter Freund gehen muss
Über Olaf und die Trauer
2 Absturz in den Alkohol
Marianne besiegt ihre Sucht
3 Demenz mit Fünfzig
Guido bleibt seiner Frau treu
4 Ein schwarzer Hund namens Depression
Willibert kommt wieder auf die Füße
5 Wenn die Liebe Schwindel ist
Heike verliert alles und fängt neu an
6 Plötzlich blind mit 38
Martin macht trotzdem sein Ding
7 Unerfüllter Kinderwunsch
Sandra und André finden das Glück mit ihren Pflegekindern
8 Endlich im Reinen mit dem eigenen Körper
Marcus verliert 52 Kilo
9 Wenn Lesen und Schreiben ein Problem ist
Klaudia überwindet ihre Scham
10 Tod in Afghanistan
Otto kann nichts mehr erschüttern
Dank
Einleitung
Ich bin Steffi Neu. Ich finde, mein Name klingt so, wie ich bin: flott, unkompliziert, ohne Schnickschnack. In Nordrhein-Westfalen kennen mich viele, weil ich mein halbes Leben beim WDR verbracht habe, davon Tausende Stunden als Radio-Moderatorin bei WDR 2. Morgens, vormittags, mittags, abends, draußen, drinnen, im Vier-Augen-Gespräch und auf der großen Bühne. Für mich ist mein Beruf ein Geschenk, das mich im tiefsten Herzen glücklich macht. Wo sonst könnte ich so viele interessante Leute kennenlernen? Offen auf Menschen zuzugehen und von ihren Highlights, Wünschen und Sorgen zu erfahren, ist meine Leidenschaft. Für mich gibt es keine guten und keine schlechten Lebensmodelle. Nur ein innerliches »Ach so!« und »Oh je!«. Manchmal auch ein »Wow!« oder ein »Könnte ich so nicht!«.
Dass jeder Mensch sein ganz eigenes Päckchen zu tragen hat, gehört zum Leben dazu. Manche meiner Gesprächspartner und -partnerinnen haben Wunden aller Art, die noch nicht verheilt sind, andere reiben sich für ihre Lieben auf oder arbeiten hart daran, mit Schicksalsschlägen zurechtzukommen. Natürlich gab es auch bei mir Zeiten voller Zweifel und »Ich kann nicht mehr!«. Aber dann ging es eben doch. Jedes Tief, aus dem ich mich wieder hochgerappelt habe, hat meine Überzeugung bestätigt, dass es nicht zu Ende ist, wenn es noch nicht gut ist. Und dass es jemanden da oben gibt, der uns liebt und uns nicht hängenlässt. Ich habe die 50 Lebensjahre gerissen und bin mit mir im Reinen, im Feinen. Wer weiß, ob da noch der eine oder andere dicke Stolperstein kommt. Es wäre ein Wunder, wenn nicht. Aber eines weiß ich genau: Ich will nie das Lächeln, das Lachen verlieren. Das ist sehr wichtig für mich, das gehört zu mir.
Für meinen Mutmacher-Podcast spreche ich mit Menschen, deren Haltung und Standhaftigkeit, mit denen sie ihre Kämpfe ausgetragen haben, uns inspirieren können. Die Gespräche mit ihnen machen Mut. Mut bedeutet, dass du dich nicht unterkriegen lässt. Er schenkt dir die Gewissheit, dass du es irgendwie schaffen wirst. Dass schlechte Zeiten irgendwann auch wieder vorbei sein werden. Und dass es weitergeht. Genau davon erzählt dieses Buch. Von Leid und Tränen, aber auch von Lichtblicken und guten Wendungen.
Bei fast allen der folgenden Geschichten bin ich nur die Mittlerin. Eine Mutmacherin auf kleiner Flamme sozusagen. Nur im ersten Kapitel, das von meinem Freund Olaf erzählt, geht es auch um mich persönlich. Marianne und Willibert, Marcus, Heike und all die anderen haben ganz andere Geschichten zu berichten, die sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht und die sie doch gemeistert haben. Es sind Menschen, die das Schicksal knüppeldick getroffen hat. Die trotzdem nie aufgegeben haben. Und die genau deswegen ihren Frieden gefunden haben – oder auf dem Weg dorthin sind. Sie sind Mutmacher erster Klasse.
1
Wenn ein guter Freund gehen muss
Über Olaf und die Trauer
Ich möchte von Olaf erzählen. Olaf ist tot. Das zu schreiben, dieses Geschriebene zu lesen, tut unfassbar weh. Hätte ich nicht gedacht. Ist drei Jahre her.
Olaf war mein Kumpel, mein Partner, mein kreativer Inputter, mein Berater, Mut- und Lachenmacher. Es gibt diese Menschen: Die siehst du, hörst du, liest was von ihnen auf dem Handy – und die Sonne geht auf. Witzig und originell und leicht, das war Olaf. So ist er bis heute in meinem Handy-Verlauf.
Kennengelernt haben wir uns vor vielen Jahren bei 1LIVE, dem jungen Radiosender vom WDR. Er hat Comedy gemacht, ich war Redakteurin, also für die Programmplanung verantwortlich. Ein loser Kontakt, ein Mögen, dann haben wir uns Jahre nicht gesehen. Bis im Sommer 2016 eine SMS kommt: »Hast du Lust, beim wilden alternativen Karneval die Präsidentin zu sein? Mit mir. Ich bin der Präsident.« Alternativer Karneval, das ist doch das, wo jeder das macht, was er will? Wo es die Regeln nicht gibt, die ich aus meinem konventionellen Dorfkarneval kenne?
Ich bin neugierig, wir treffen uns. Und mögen uns wieder. Er erzählt voller Leidenschaft von »Deine Sitzung«, so heißt das Projekt. Dass Carolin Kebekus, die das normalerweise macht, eine Auszeit nimmt. Dass Mirja Boes mit dabei ist. Diese Namen! Diese Frauen! Und dann meine Füße in diesen Fußstapfen? Olaf hat null Zweifel, dass ich das hinkriege. Sein Vertrauen zu mir haut mich um. Ach ja, eine Band mit ’nem Haufen Musiker sei auch dabei. Ein bisschen singen soll ich auch und Stand-up-Comedy machen.
Das wird für mich der blanke Stress werden, das ist klar. Denn auf der Bühne sind alle Augen auf dich gerichtet und du musst liefern, die Leute haben schließlich Eintritt bezahlt. Im Radio schaut dich niemand an, da kannst du auch nicht tiefer fallen als bis zur nächsten Musik. Wenn du einen Aussetzer hast oder merkst, dass du dich ins Abseits verplappert hast, drückst du einfach die Not-Aus-Taste. Du musst gar nichts sagen, drückst den Knopf, Musik kommt, und du hast Zeit, wieder in die Spur zu kommen. Aber was, wenn mir das auf der Bühne passiert?
Olaf guckt mich mit seinen großen blauen Augen an und fragt: »Und? Oder willste dich erst mit deinem Anwalt besprechen?« Ich muss lachen. »Wenn du mir hilfst, bin ich dabei.« Niemals hätte ich mich das getraut ohne Olaf.
Je näher der Auftritt rückt, desto nervöser werde ich. Kurz vor der Premiere schreibe ich Mirja Boes, dass ich Riesenrespekt habe. Da kommt sie grinsend mit einer großen Tasche in die WDR 2-Redaktion und sagt: »Ich habe dir Respektlosigkeit mitgebracht.« Da hat diese Frau mein Herz gewonnen. Weil sie selbst so ein großes hat. Eine echte Mutmacherin. Nicht auf den anderen einreden, sondern: kleine Geste, großer Effekt. Merken.
»Deine Sitzung« ist für mich ein Urknall. Nach dem Karneval ist mir klar: Ich will mehr davon. Ich will ein Bühnenprogramm machen. Will singen vor Menschen, sie bodenständig und interaktiv unterhalten. Jetzt erst merke ich, dass das, wovor ich am meisten Angst gehabt hatte, schon immer ein tiefer Wunsch in mir gewesen ist. Sofort ist in meinem Kopf ein Gefühl, wie es sein soll: keine großen, unpersönlichen Hallen, sondern kleine Dorfsäle, wie ich sie seit meiner Kindheit kenne. Mit ihnen bin ich aufgewachsen.
In einer Dorfgemeinschaft ist der Dorfsaal der wichtigste place to be. Hier wird gelacht und geweint. Hier werden Hochzeiten gefeiert und Beerdigungskaffees gehalten. Jeder Dorfsaal hat seine Dorfgeschichte, seinen eigenen Geruch, seine eigene Patina. Und vor allem: Die Gäste sind dort zu Hause – oder sie kommen aus dem Nachbardorf. Im besten Fall stehen da mehr Fahrräder als Autos vor der Tür.
In einer Tour über Land, von Dorfsaal zu Dorfsaal, steckt viel Organisation und Logistik drin. Allein kann ich das nicht. Und wieder weiß ich: Ohne Olaf geht es nicht, er ist die perfekte Ergänzung. Er ist Schauspieler, Comedian, Autor, er ist unglaublich witzig und hat ein Lachen, bei dem jeder mit muss. Für ihn gibt es nichts, was nicht geht. Je verrückter, desto besser. Ich frage ihn und er ist sehr angetan von der Idee. Von da an sind wir Buddies.
So wird »Steffis Kneipenquiz« geboren: Teams aus dem Publikum kämpfen um den Ehrenpokal des Abends. Noch im gleichen Jahr starten wir, mit kleiner Live-Band, Talk-Gästen und freiwilligen Helfern aus meinem Freundeskreis, präsentiert von WDR 2. Ein Showprogramm, das wir über hundert Mal gespielt haben – Stand Anfang 2023.
Zu viele davon ohne Olaf.
***
Nach der ersten erfolgreichen Tour in ausschließlich ausverkauften Dorfkneipen starten wir im Sommer 2018 die Besichtigungsreise für die nächste Tour. Alle Veranstaltungssäle werden von Olaf und mir persönlich ausgesucht. Keine Blindflüge. Ich bin offen und nahbar, und es ist mir wichtig, auch auf der Bühne so sein zu dürfen. Dazu braucht es den richtigen Ort. Die aufwendige Suche danach ist für die einen ein nerviger Tick, für die anderen eine Haltung. Ich nehme das Letztere.
Eines Tages fahren Olaf und ich zum Dorfkneipen-Gucken nach Vettweiß bei Aachen. Olaf hat Kopfschmerzen und fragt, ob ich fahren könne. Klar, kann ich. Im Auto reden wir, Olaf mit Bleistift im Mund. So eine Art Zähnezusammenbeißen, sehr unpraktisch beim Sprechen. Ich beobachte das vom Fahrersitz aus und wundere mich. Sage es ihm. Er lacht und nimmt den Bleistift raus.
Zwei Wochen später frage ich ihn am Telefon, was aus seinem Kopfschmerz geworden ist. Er erzählt, dass er beim Arzt war. Olaf hatte auf einen beginnenden Burn-out getippt, doch der Doc hatte ihn gleich an eine neurologische Abteilung überwiesen. Ein paar Tage darauf erfahre ich von einer Freundin, dass Olaf einen Tumor im Kopf hat und operiert werden soll. Ich bin schockiert, will was sagen. Und während ich noch nach Worten suche, weiß ich doch, dass ich keine Ahnung habe, was man in so einer Situation sagen kann.
Was dann folgt, ist eine Achterbahn. Zuerst heißt es: »Die OP ist gut gelaufen. Er lacht schon wieder.« Später sagt mir Olaf, dass es ein Tumor ist, der gerne wiederkommt. Er will das mit ein paar Witzen überspielen, und wieder bin ich überfordert: »Hör mal auf zu lachen!«, pampe ich ihn an. »Es ist doch gerade Scheiße!« Die absolute Hilflosigkeit.
Du kennst solche Momente: zu viele Informationen, Gefühle, Gedanken, und am Ende bringt man nur Schrott raus. Was sagst du zu Eltern, deren Kind vom Auto angefahren wurde und schwer verletzt im Krankenhaus liegt? Was sagst du zu einem Menschen, dessen Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt wird und der nicht weiß, ob er jemals wieder Boden unter die Füße bekommen wird? »Wird schon wieder«? Oder: »Die Ärzte kriegen das in den Griff«? Manchmal stimmt das, manchmal aber auch nicht. Und ab wann macht Mitgefühl die Sache nur noch schlimmer?
Auch Olaf hat keine Ahnung, wie er mit der Situation umgehen soll. Also lassen wir das mit dem Reden über den Tumor. Konzentrieren uns lieber auf unser Projekt, das wir mit Leidenschaft und Freude weitermachen wollen. Aber das heißt noch lange nicht, dass seine Krankheit vergessen und verdrängt ist. Wir sind mitten in der Tour und ständig laufen bei mir die stillen Fragen mit: Was kann ich ihm abnehmen, ohne ihn auszugrenzen? Was kann ich sagen, ohne ihn zu verletzen? Ganz schwierig. Dazu kommen meine eigenen Ängste: Wie soll ich das alleine hinkriegen, wenn Olaf ausfällt? Ich schäme mich für diesen Gedanken, aber ich kann ihn nicht ausblenden.
Es gibt keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Da ist der Freund, dessen Leben durch einen kleinen Zellhaufen im Kopf aus der Bahn geworfen wird. Und da bin ich, die nicht weiß, wie sie mit ihren Gefühlen und Sorgen umgehen soll, und um die richtigen Worte ringt. Es ist wirklich eine sauschwere Zeit, aber wir schaffen die Tour. Im Nachgang kann ich sagen: Ich habe es genau richtig gemacht. Ich habe Olaf machen lassen, wie er wollte. Und übernommen, wenn er nicht konnte.
Im August-Urlaub kommt eine SMS: »Es ist ein Glioblastom«. Ich google. Überlebenschance: gegen null. Ich weine, voller Verzweiflung. So viele Tränen! Manche Tumore bedeuten, dass es ein Von-bis gibt. Sechs bis zwölf Monate. Oder: zwei bis fünf Jahre. Dank seines Glioblastoms hat jetzt auch Olaf ein Von-bis. Überlebenszeit etwa ein Jahr.
Er wird noch einmal operiert, das Ding ist raus. Er wird bestrahlt. Er ist fast wieder der Alte. Als ich bei ihm zu Hause bin, um über die nächste Tour zu sprechen, geht er in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Nach 30 Sekunden fragt er, was er eigentlich in der Küche will. So what! Ist nur ’n Kaffee.
Ich schreibe die Lieder, ich schreibe die Quizze, plane die Auftritte der Talk-Gäste, lasse mir bei Verträgen helfen und gründe meine eigene Firma, die das Ganze juristisch auf sichere Beine stellt. Bislang hat Olaf das gemacht mit seiner Firma, aber ich will ihm das abnehmen. Und ehrlich: Ich denke auch an mich. Ich muss sicher sein, dass er nichts vergisst.
Wieder so eine Sache, die einen schier zerreißt. Da wird jemand, der mit dem Tod kämpft, nicht mehr für voll genommen. Seine Lebensleistung langsam von seinen besten Freunden ausgeblendet. Wie soll man damit umgehen? Da hilft nur Offenheit. Ich sage Olaf, dass ich nun viele seiner Aufgaben übernehmen werde. Er guckt traurig, aber er versteht mich. Ob er in diesem Moment denkt, dass ich ihn aufgegeben habe? Damals habe ich die Sache einfach nur praktisch gesehen: Die nächsten Monate müssen dingfest gemacht werden für unser gemeinsames Projekt. Immer noch denke ich: »Wird doch alles gut!« Etwas anderes würde ich gar nicht aushalten.
***
Dass ich Olaf bewusst aufgebe, kommt erst später. Im Skiurlaub in Obertauern. Seit vielen Jahren fahre ich mit meiner Schwägerin eine Woche in den Schnee. Olaf schreibt: »Wieder ein Tumor. Ich möchte weinen und kämpfen, was soll ich machen?« – »Beides ist wichtig!«, antworte ich. Sitze auf der Mankei-Alm in Obertauern und treffe wen? Mirja. Das ist kein Zufall, heute weiß ich das. Wir trinken Marille. Wir weinen, wir halten uns, werden echte Freundinnen, die beide sagen: Wir sind bei ihm. Egal, was kommt.
Wieder wird Olaf operiert, bestrahlt. Er kann sich nicht konzentrieren, sich nicht kreativ einbringen. Ich starte unsere zweite Steffis-Kneipenquiz-Tour allein, weil Olaf sich das grad nicht zutraut. Völlig okay. An einem Abend im Mai ist er zum ersten Mal wieder dabei. Und erfährt eine halbe Stunde vor Showbeginn, dass wieder ein Tumor da ist. Sagt er mir im Vorbeigehen. Der Saal ist voll, die Menschen freuen sich. Bislang haben wir überall tolle Kritiken gehabt. Doch Olaf vergisst Texte, Regeln, Reihenfolgen, ist nicht drin im Thema. In der Pause geht er zur Toilette, nimmt leider die falsche. Freundlich wird er aus dem Damenklo bugsiert.
Ich bin wie erstarrt. Wie soll das werden? Wie werde ich ihm und gleichzeitig den Gästen gerecht? Ein Gefühl, das ich kaum in Worte fassen kann. Egal, was ich mache, es wird schrecklich: Entweder lasse ich Olaf außen vor und ziehe es allein durch – das wäre der ultimative Verrat. Oder ich lasse Olaf weiter freie Hand – und dieser und die nächsten Abende enden im Chaos. Es ist eine Situation ohne Lösung. Olaf macht weiter, die Zeit auf der Bühne ist für mich ein einziger Spagat. Aber die Gäste glauben, alles sei geplant.
Am nächsten Tag fragt mich Olaf per SMS, ob ich zufrieden mit ihm bin. Ich weiß, dass ihm diese Bühnenarbeit noch viel mehr als mir bedeutet. Sie ist buchstäblich sein Leben. Also antworte ich: »Mach dir keine Gedanken, du bist ein bisschen chaotisch, aber anders kenne ich dich nicht.« In Wirklichkeit habe ich einfach nur Angst vor der nächsten Show.
Die kommt eine Woche später. Es läuft prima. Bis der Kneipenwirt in der Pause zu mir kommt und fragt, ob mein Kompagnon ein Alkoholproblem habe, er sei orientierungslos auf der Straße rumgelaufen. Ich frage Olaf, was los ist. Er hat ein Bier getrunken und vermutlich hat ihn die Kombination mit seinen Medikamenten aus der Bahn geworfen. Wir wuppen die zweite Halbzeit, die Gäste sind glücklich. Nach der Show meint Olaf: »Komm, lass uns ein Selfie machen!« Noch nie haben wir ein Selfie gemacht. Es war das einzige und das letzte. Er wusste es. Ich nicht.
Olaf ist am Ende. Ihm werden Bestrahlungsstäbe in den Kopf gesetzt. Im Juni fährt er zu seiner Schwester in die Schweiz, möchte Heilkräuter probieren. Am Bahnsteig vergisst er seine Tasche, seinen Kalender, sein Handy. Oder hat er sich absichtlich von der Welt verabschiedet, in der Termine eine Rolle spielen? Dann ist er auf der Palliativstation in Köln. Ich besuche ihn. Durch unsere gemeinsame Arbeit gehöre ich zum engeren Kreis, der Olaf auf seiner Zielgeraden begleitet. Einmal erzählt Olaf von seinem 50. Geburtstag, und ganz unvermittelt kommt der Satz: »Mein Kumpel, der da DJ war, der soll meine CD-Sammlung bekommen.« Olaf fängt also an, seine irdischen Güter zu verteilen. Sieht so das Ende aus?
Nächste Station: Hospiz. Olaf macht Witze. »Wenn der liebe Gott einen guten Unterhalter braucht, kriegt er bald einen, den er wenigstens bezahlen kann.« Seine Freundin hat eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet, auf der wir uns abstimmen, wer ihn wann besucht. Jeden Abend gibt es im Hospiz Programm für ihn. Er wird von seiner Familie und Freunden getragen. Eine wunderbare Begleitung.
Olaf schickt ein Foto von sich per WhatsApp. Im Rollstuhl, Victory-Zeichen, ein zartes Lächeln. Dünn ist er, das linke Bein ist weggeknickt. Ich besuche ihn, wir reden über dies und das, erinnern uns, lachen. Und weinen. Ich frage mich, warum ein Mensch, der bewusst dem Tod entgegengehen muss, nicht wahnsinnig wird. Heute weiß ich ein bisschen mehr darüber, wie Morphine wirken.
Wieder ist es Sommer, wieder bin ich im Urlaub. Eine WhatsApp kommt: »Olaf hat es geschafft. Wenn ihr etwas tun wollt, zündet eine Kerze an, damit die Seele ihren Weg findet.« Ich weine, ich bete. Noch lange danach breche ich immer wieder in Tränen aus. Wegen Olaf. Und weil sein Sterben mich so brutal mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert hat. Wie intensiv und dramatisch müssen erst seine Freundin, seine Ex-Frau und seine Kinder diese Zeit erlebt haben!
Bis zu Olafs Tod war ich gepampert, was Sterbefälle im engeren Freundeskreis und in der Familie angeht. Aber natürlich gab es immer wieder Leute aus meinem Dorf, die starben. Bei uns am Niederrhein ist es üblich, dass man dann in die Kirche »zum Beten« geht. Halbe Stunde. Danach in die Friedhofshalle, wo man sich am offenen Sarg noch mal verabschieden kann. Wenn man möchte. Die Vorstellung, jemanden da in der Kiste liegen zu sehen, hat mir schon als Kind Angst gemacht. Es war doch immer von der Auferstehung die Rede – wer sagte denn, dass das nicht gerade genau dann passiert, wenn ich in den Sarg reingucke? Ich hatte sowieso die Vorstellung, dass sich ein Gestorbener gleich wieder aufrichtet, und alle haben sich vertan. Auch als Erwachsene brauchte ich diese Geste zum Tschüss-Sagen nicht. Immer schön Abstand halten! Bevor Olaf starb, hatte ich erst einmal in meinem Leben eine Tote gesehen, das war meine Großtante. Sie war von meiner Mutter über Jahre gepflegt worden und mit 95 gestorben. Da war ich 32 und schwanger. Nie vergesse ich diesen Moment an ihrem Sterbebett. Die ganze Zeit dachte ich: Gleich macht sie die Augen auf, gleich erschreckt sie dich.
Ich habe so viele Fragen an Olaf! Ich vermisse ihn so sehr! Auch jetzt beim Schreiben kommen mir die Tränen. Aber Tränen gehören zum Thema Mutmachen dazu. Das werde ich noch öfter merken. Aber am Ende, das habe ich von meinen Mutmachern gelernt, wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende. Diesen Satz habe nicht ich erfunden. Wer immer es war: Er gehört geküsst.
***
Als Radiomoderatorin bin ich eine Frau des Wortes und weiß Gott nicht auf den Mund gefallen. Aber eines hat mir die Zeit mit Olaf klargemacht: Ich war viel zu oft sprachlos. Ich war unsicher: Was kann ich sagen? Was darf ich nicht sagen? Wann ist Reden Gold und wann ist es nur Blei? Im Radio gibt es eine goldene Regel: Wenn du nichts Gescheites zu sagen hast, halt den Mund und spiel Musik. Bei Olaf wäre es zu viel Musik gewesen.
Es sind ja nicht nur die fehlenden Worte. Wohin mit dem Gefühls-Overkill? Wer gibt mir die Antwort auf die Frage: »Mach ich das richtig?« Und was mache ich mit den selbstsüchtigen Gedanken, die ich gar nicht haben will? Ich wollte nie mehr rat- und wortlos sein. Dazu musste ich nicht nur das Leben, sondern auch mich selbst besser kennenlernen.
Wer weiß, ohne Corona wären all diese Gedanken vielleicht wieder in der Versenkung verschwunden. Doch während der Lockdowns konnten meine Live-Formate nicht mehr stattfinden, und in meinem Leben war auf einmal genug Raum, um mich diesen Fragen ausgiebig zuzuwenden. Ich fand einen Menschen, mit dem ich viele Gespräche über diese Themen führte – und es heute noch tue.
Günter Hallstein ist das lebende Beispiel dafür, wie verrückt und vielfältig das Leben ist. Er war Polizist und Personenschützer, ging dann einen ganz anderen Weg und studierte Theologie. Eine Ausbildung zum Therapeuten hat er auch noch gemacht. Ich bin gerne bei Günter, der sich selbst »Menschenförderer« nennt. Dabei können die Stunden mit ihm richtig anstrengend sein. Denn er gibt mir nicht nur Antworten, er erwartet auch welche von mir. Befragt zu werden, ist nicht so mein Ding.
Bei Günter lerne ich viel über das Menschsein, über Angst, Tod, Sprachlosigkeit – und über meine leise Seite. In meiner Erinnerung an Olaf habe ich nicht die Stunden vor Augen, in denen wir wie in einer Wolke des Todes die Tour im freien Fall doch noch zu einem guten Ende brachten. Wenn ich heute an ihn denke, lächle ich. Dass ich ihn in dieser letzten Lebensphase begleiten durfte, schenkt mir eine tiefe Freude.
Seine Arbeit war für ihn seine Lebensaufgabe, seine Lebensfreude. Sie hat ihm eine Zeit lang über schwere Stunden hinweggeholfen und ihm eine Perspektive geschenkt. Ich hätte die Letzte sein wollen, die ihm das nimmt. Also habe ich den Druck einfach ausgehalten und gesagt: »Solange du möchtest, bist du dabei.« Es gab ja keine Alternative. Ich spüre immer noch tiefe Befriedigung und Glück, dass ich ihn bis zum Schluss mitgenommen habe und nie den kurzen Versuchungen nachgegeben habe, zu sagen: »Ich kann nicht mehr. Du darfst nicht mehr mit auf Tour.« Hätte ich sowieso nie gekonnt. Heute weiß ich, dass mich genau dieses Aushalten stark gemacht hat. Danke, Olaf!
Sozusagen im Gegenzug war Olaf gleich an zwei der wichtigsten Weichenstellungen in meinem Leben beteiligt. Ohne seine Einladung zu »Deine Sitzung« hätte ich bestimmt noch Jahre gebraucht, bis ich meine Liebe zur Bühne entdeckt hätte. Wenn überhaupt. Aber das letzte Jahr mit ihm schenkte meinem Leben noch einen weiteren Impuls: Ich wollte Menschen ein Stück weit begleiten. Mehr erfahren über ihr Krisenmanagement, ihre Resilienz, ihre Empathie, ihren Pragmatismus. In diesem Kennenlernen steckt auch Eigennutz. Denn erst, wenn ich mein Leben, meine Erlebnisse, meine Reaktionen auf Schicksalsschläge mit anderen abgleiche, weiß ich: Mit welchen Fähigkeiten bin ich ausgestattet? Was können andere besser als ich? Wo ist bei mir noch Luft nach oben?
Zu diesem Gedanken gab es noch einen Spin-off. Im Frühjahr 2021 entstand die Idee, einen Radio-Podcast zu machen. Aber nicht mit den üblichen Zweieinhalb-Minuten-Beiträgen. In dieser kurzen Zeitspanne gilt es, möglichst viel vom Gesprächspartner zu erfahren. Das kann ich gut. Darin bin ich geschult. Und dachte oft nach so einem Gespräch: Schade, da ist allerhand zu kurz gekommen. Da hätte ich gerne mehr gewusst.
Ich wollte in die Tiefe gehen, nachfragen, das Gesagte wirken lassen. Mehr Zeit erlaubt mehr Intensität. Neben dem Zeitfaktor würde auch der Ort des Geschehens eine große Rolle spielen. Sehr persönliche Gespräche brauchen einen geschützten Raum. Deshalb wollte ich die Menschen, die mir ihre Geschichte anvertrauen, bei ihnen zu Hause treffen. Aber wie sollte diese kleine Reihe heißen? Als der Name Steffis Mutmacher fiel, ging in mir gleich eine Sonne auf. Ich wusste sofort: Ja, das ist es. Ich möchte Geschichten von ganz normalen Leuten hören. Menschen, die in ihrem Leben Hindernisse überwunden haben, Besonderes leisten und Stärke zeigen. Vorbilder auf den zweiten Blick. Sie zeigen den Zuhörern: Und wenn es noch so knüppeldick kommt – es geht irgendwie weiter. Echte Mutmacher eben. Einige von ihnen lernst du in diesem Buch kennen.
Eine meiner Gesprächspartnerinnen hatte genau das, was mir in meinem Miteinander mit Olaf gefehlt hatte: Übung im Umgang mit Menschen, die ihr Ende vor Augen haben.
***
Martina Zimmer strahlt Liebe aus. Das gibt es. Es gibt Menschen, die sind das Licht. Einfach durch ihr Dasein, durch ihr Lächeln, durch ihre Stimme. Martina ist unauffällig und bleibt doch in Erinnerung. Sie ist Anfang 50, verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder. Ein toller Mensch, der mich auf Anhieb beeindruckt. Sie lacht voller Liebe, der Blick ist zugewandt. Alles an ihr ist warm und lieb. So fühlt es sich an.
Martina ist Sterbebegleiterin im ambulanten Hospizdienst. Sie hält Hände, hört zu, beantwortet all die Fragen der Sterbenden und ihrer Angehörigen. Sie steht den Menschen aber auch physisch bei. Einen hilflosen Menschen zu versorgen, ihn zu waschen, seine Gerüche wahrzunehmen, Urin, Kot, Schweiß, Spucke, alles, was beim menschlichen Körper mit dabei ist, anzunehmen, hinzunehmen – das ist eine ganz große Aufgabe. Fremde Menschen anfassen, waschen, anziehen, also, ich könnte das nicht. Doch wenn ich darüber nachdenke, merke ich schnell, dass es gar nicht ums Können geht, sondern ums Mögen. Klar könnte ich das, wenn ich müsste. Aber niemals würde ich daraus einen Beruf machen wollen. Darf man das so sagen? Das klingt so nach: Nehmen, wenn du’s brauchst. Aber nicht geben.
Martina ist Krankenschwester. Heißt für mich gleich: Den Menschen zugewandt sein ist ihr Ding. Das könnte ich zwar auch von mir behaupten, aber sobald es unappetitlich wird, ist es mit der Zugewandtheit auch schon wieder vorbei. Ich denke, das geht vielen so. Dabei waren wir alle schon mal im Krankenhaus und dankbar, dass es Menschen gibt, die uns zum Klo bringen und uns bei Schmerzen über die Wange streicheln. Erst im Krankenbett wissen wir zu schätzen, was Menschen wie Martina jeden Tag leisten.
Das Erste, was sie mir mit auf den Weg gibt: »Ich habe als Sterbebegleiterin viel mehr mit dem Leben zu tun als mit dem Tod.« Punkt. Das sitzt. Und macht mich neugierig: Der Tod ist doch das Ende vom Leben! Das lässt sich doch nicht weglächeln! Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, muss ich mehr über Martinas Alltag wissen. Also frage ich sie, wohin sie nach unserem Gespräch fahren wird. Zu einem sterbenden 83-Jährigen. Vor acht Jahren hat er noch seinen Doktortitel gemacht. Aber jetzt: Demenz, Lungenentzündung. Seine Frau betreut ihn zu Hause und hat Martina gebeten, zu kommen. Es gibt zwar eine palliativmedizinische Betreuung, aber keinen Pflegedienst. Die Frau ist allein. Sie ist besorgt, weil die Atmung ihres Mannes manchmal anders ist und sie nicht weiß, was sie dann tun soll. Es gibt auch noch mehr, als nur die rein praktischen Dinge zu klären. Sie fragt sich, wie sie ihre große Liebe in dieser letzten Phase seines Lebens am besten begleiten kann.
Zwei Dinge finde ich wunderbar an dieser Geschichte. Das erste: Was für ein starker Traum muss das gewesen sein, wenn jemand mit 75 den Doktor macht! Ich bewundere die kognitive Höchstform und den Mut dieses Mannes, sich für seinen Traum zu entscheiden und statt dem Gartenstuhl den Schreibtisch und das Bücherwälzen zu wählen.
Und das zweite Wunder: der bedingungslose Beistand, den seine Frau ihm am Ende des Lebens schenkt. Wie toll ist das denn? Davon träumt doch jeder: Die Liebe des Lebens zu finden, mit der zusammen man alle Krisen übersteht. Zwei Menschen, die füreinander immer an erster Stelle stehen. Aufruf an alle Liebenden: Lasst uns wahrnehmen und wertschätzen, was wir haben! Auch wenn es zwischendurch auf der anderen Straßenseite glitzert.
Martina und ich sprechen über ihren aktuellen Patienten – oder in ihrer Fachsprache: ihre aktuelle Begleitung. Ist es für sie leichter, wenn jemand mit weit über 80 sterben muss? Martina meint: »Menschen leben gerne. Auch ältere Menschen leben gerne.« Man könnte es auch so sagen: Je länger du lebst, umso mehr liebst du das Leben.
Trotzdem schmerzt es besonders, wenn ein Kind gehen muss. Schon der Gedanke daran tut unfassbar weh. Martina hat da einen Begriff, der den Schmerz offenbar auf Abstand halten soll: Die Kinder sind »lebensverkürzend erkrankt«. Ich würde es anders ausdrücken: Scheiße ist das, schlimm und nicht auszuhalten. Aber auch in solchen Fällen kommen die engelsgleichen Martinas dieser Welt und bieten Hilfe. »Ab Diagnosestellung dürfen Familien einen Hospizdienst beanspruchen«, erklärt sie mir. Manchmal gibt es dann längere Pausen in der Betreuung, denn oft leiden Kinder unter genetischen und Stoffwechselerkrankungen, bei denen es ihnen zwischendurch besser geht.
Martina hat die Situation immer als Ganzes im Blick: »Wir begleiten das erkrankte Kind und das Geschwisterkind, das oft ja auch ein bisschen in den Schatten gestellt wird, weil die Erkrankung einen so großen Raum einnimmt.« Ich denke an die Zeit mit Olaf und daran, wie auch andere Menschen, die ihn gar nicht kannten, in den Strudel mit reingezogen wurden. Für meinen Mann war es unglaublich anstrengend, weil ich so lange Zeit monothematisch unterwegs war. Ich bin ihm dankbar, dass er auf mich gewartet hat, bis ich aus dem Tunnel wieder ins Freie kam.
***
Als Sterbebegleiterin weiß Martina, dass Angehörige das Gefühl brauchen, alles richtig zu machen. Aber eigentlich, versichert Martina mir, kann man gar nichts falsch machen. Das zu wissen, tut gut. Alle wollen etwas Gutes tun – darauf kommt es an. Schmerzfreiheit ist wichtig, dafür liegen die Medikamente parat. Aber das Wichtigste ist, jemanden an der Seite zu haben. Alles andere ist zweitrangig. Ich weiß von der intensiven Zeit mit Olaf im Hospiz, wie das ist. Viel Lachen. Viele Erinnerungen. Viel Dankbarkeit. Und viel Trauer und Schmerz. Eine Freundin sagte mir einmal, ihre Trauer sei da, aber diese fühle sich friedlich an. Und aufgeräumt.
Martina weiß: »Beziehungen sind das A und O. Das ist ein ganz großes Bedürfnis.« Ganz besonders am Lebensende. Sie erzählt mir von einem Fall, da hatte die Tochter Streit mit der Familie, es gab keinen Kontakt mehr. Nach zehn Jahren – die Mutter lag im Sterben – kam die Tochter wieder nach Hause. Genau in diesem Moment sei die alte Dame verstorben. Martina ist sich sicher: »Das hat sie noch mitbekommen: Meine Tochter ist da.«
Ob sich ein Mensch aussuchen kann, wann er stirbt? Offenbar geht Loslassen leichter, wenn sich ein emotionaler Knoten löst. »Aussuchen glaube ich nicht«, sagt Martina. »Aber ich glaube, dass Menschen am Lebensende solche Kraft entwickeln können, dass sie wirklich noch auf etwas warten. Eine Erleichterung, oder eben der Sohn, der noch aus Amerika einfliegen muss. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es manchen gelingt.«
Es gibt aber auch Brüche im Leben, die selbst im Angesicht des Todes nicht gekittet werden können. Ich denke wieder an Olaf. Ich hatte ihn einmal gefragt, ob er mit allen Menschen gut ist. Nein, mit einem Menschen sei er nicht gut, hatte er gesagt. Und dass er auch nicht wisse, ob er das will. »Es ist schon ein sehr großes Bedürfnis nach Frieden«, sagt Martina. »Manchmal gelingt es nicht, dann müssen wir halt die Brüche des Lebens aushalten.«
Manche Momente kann auch Martina nicht aushalten. »Dann darf ich auch mal weinen und sagen: Das nimmt mich jetzt auch mit und ich bin so traurig«, sagt sie. Schwer werde es vor allem, wenn sie Familien längere Zeit begleitet hat. »Dann weiß ich aber auch: So ist das Leben.« Der Gedanke, dass es für die Menschen vielleicht ein kleines bisschen leichter war, weil der Hospizdienst sie unterstützt hat, gibt Martina Trost.
Ich bin fasziniert von dieser Frau – und fühle mich sehr klein. Die Martinas dieser Welt stellen ihr persönliches Leid hinter das Leid der Familien. Überhaupt geht es ihnen nicht um die eigenen Vorstellungen und Überzeugungen, sondern allein um die der Menschen, die betreut werden. Das gilt auch für den Glauben. Martina erzählt mir lachend, dass sie einmal eine Buddhistin begleitet habe und auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner erst einmal googeln musste. »Ich habe sie gefragt: Können Sie sich vorstellen, dass Sie aufgefangen sind in Liebe? Sie konnte nicht sprechen, sie hat mir aber mit den Augen Zeichen gegeben. Als dann ihre Lieblings-Ehrenamtliche kam, ist sie gestorben. Aufgefangen in Liebe.« Als Martina das erzählt, mag ich gar nichts mehr sagen. Weil das so wunderbar friedlich klingt.
Nicht nur für die Sterbenden geht es um Lebensqualität. Angehörigen und Freunden fällt der Umgang mit ihrer Trauer leichter, wenn sie den Prozess des Sterbens mitgestalten. Wenn sie noch einmal etwas für den geliebten Menschen tun können. Die ständige Überlegung, was er gerade braucht, führt ganz automatisch zu einer weiteren Frage: Wie sieht es eigentlich mit meiner eigenen Lebensqualität aus? Martina hilft den Menschen, auch auf diese Frage eine Antwort zu finden. Sie selbst wird immer wieder beflügelt, ihre eigene Lebenszufriedenheit auf den Prüfstand zu stellen. »Das ist das, was wir Haupt- und auch die Ehrenamtlichen mitnehmen in unser eigenes Leben. Das springt auf uns und unsere Haltung über«, sagt Martina und lächelt. Wie ein Engel irgendwie, mit ihrem blond gelockten Haar.
Als Sterbebegleiterin kann sich die gelernte Krankenschwester Zeit nehmen und anders als in ihrem ursprünglichen Beruf echte Fürsorge leisten. Auch im Ehrenamt kann man diese Tätigkeit ausüben. Eine intensive Ausbildung ist selbstverständlich – 120 Stunden kommen da zusammen, in denen es neben der bewussten Auseinandersetzung mit lebensendlichen Themen auch sehr viel um Selbstreflexion geht. »Gerade haben wir einen Kurs beendet«, sagt Martina. Die neuen Ehrenamtlichen waren durchweg begeistert: »Wir haben schon viele Fortbildungen gemacht, aber das war wirklich etwas, das unser Leben bereichert.«
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Nicht zuletzt müssen auch die juristischen Grundlagen klar sein. Jetzt sind Martina und ich mal kurz weg vom Emotionalen. Ein Testament erspart Angehörigen und Freunden viel Ärger. Martina macht Mut, sich auch um lästige und unangenehm zu regelnde Dinge wie die Patientenverfügung zu kümmern. »Sterbende können so viel gestalten! Und keine Sorge: Nur weil man eine Patientenverfügung macht, stirbt man keinen Tag eher!« Da ist sie wieder: Martinas positive, empathische und gleichzeitig praktische Haltung.
Auch ich habe das lange vor mir hergeschoben. »Jaja«, dachte ich oft, »irgendwann kümmere ich mich darum.« Als mein Mann und ich vor ein paar Jahren gemeinsam nach Afrika flogen, haben wir es endlich durchgezogen. Mit zwei kleinen Kindern zu Hause war das wichtig. Am Tisch zu sitzen und daran zu denken, wer welche Entscheidungen treffen soll, wenn wir selbst es nicht mehr können, war nicht schön. Aber danach hatten wir’s aus den Füßen. Und das war wiederum ein gutes Gefühl.
Warum scheuen wir uns eigentlich so sehr, mitten im Leben an den Tod zu denken? Besser wäre es, schon in frühen Jahren den Tod als Teil des Lebens zu begreifen und ihm so den Schrecken zu nehmen. Als Martina und ich darüber sprechen, dass manche Kinder ferngehalten werden, wenn Opa oder Oma gestorben sind, wird sie ungewöhnlich energisch: »Ja, wie traurig ist das denn? Wir feiern ja auch Geburtstag zusammen. Und der Abschied gehört doch auch zum Leben dazu!« Viele Menschen wollen nicht, dass die Kinder ihre Tränen sehen. Martina hat da eine klare Empfehlung: »Es ist gut, Gefühle zu zeigen. Es wäre doch traurig, wenn auf einer Beerdigung keiner weinen würde.«
Martina gibt gleich noch einen Tipp mit: Wer sich nicht sicher ist, ob er sich auf der Beerdigung gut um sein Kind kümmern kann, fragt einfach die Freundin oder die Patentante, ob sie es an die Hand nehmen kann. Ihrer Erfahrung nach hilft es auch sehr, im Vorfeld mit dem Kind eine Kerze zu gestalten, die dann bei der Trauerfeier entzündet wird.
Später überlege ich, auf welcher Beerdigung ich als Kind war. Von Oma, von Opa. Den eigenen Vater bitterlich weinen zu sehen, das hat mir als kleines Mädchen schon zugesetzt, daran erinnere ich mich gut. Aber das war gar nicht so schlimm. Viel eindrücklicher war meine Vorstellung, dass da jemand begraben wird. Der kriegt doch keine Luft mehr! Ob der wirklich tot ist, wenn Erde über ihn geschüttet wird? Ich hab bis heute Beklemmungen, wenn ich in enge, dunkle Räume gehen soll. Höhlenwanderung? Niemals! In Keller runterzugehen überleg ich mir dreimal, es sei denn, es ist ein Partykeller. Wie oft bin ich schon eingeladen worden, eine Fahrt unter Tage mitzumachen! »Das letzte Mal Zeche Zollverein« und so … Nie mitgemacht.
Blöde Idee, sich begraben zu lassen. Aber sich verbrennen lassen ist auch scheiße. Egal, wie du’s machst, es ist verkehrt. Gut, dass ich gläubig bin. Also vertraue ich darauf, dass sich nach dem Tod schon jemand kümmern wird. Was vor dem Tod geschieht und wie wir uns um Sterbende kümmern, liegt dagegen in unserer Verantwortung.
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Martinas Aufgabe als Sterbebegleiterin ist mit dem Tod nicht gleich vorbei. Oft wird der Hospizdienst angerufen und die Familie fragt: »Was machen wir denn jetzt?« Dann antwortet Martina meist als Erstes: »Möchten Sie beten?« Manche wollen und können das, manche nicht. Es geht darum, sich auch nach dem Tod des geliebten Menschen die Zeit zu nehmen, sich zu verabschieden. Es gibt so vieles, womit wir unsere Verbundenheit ausdrücken können. Das kann einfach nur ein bewusst ausgesprochener Satz sein, den du dem oder der Verstorbenen mit auf den Weg gibst. Die Fürsorge zeigt sich auch in dem Liebesdienst, für ihn oder sie eine besondere Kleidung auszuwählen. Ich halte beim Schreiben inne, gucke aus dem Fenster in die Sonne und überlege, was ich gerne tragen würde. Etwas Bequemes. Denn da liegt man ja länger. Muss lachen. Fertig.
Wen glaube ich zu treffen, wenn ich tot bin? Ich würde total gerne meinen Kumpel Olaf wiedersehen. Wenn er da oben schon meine Freundin Miri kennengelernt hätte, hätten sie bestimmt viel Spaß miteinander. Und wenn beide Rückenschmerzen haben, sollen sie Josef besuchen, der war mein Heilpraktiker. Alle viel zu früh gestorben. Aber der Gedanke, dass diese drei sich kennenlernen und mögen, der ist schön. Es werden jedes Jahr mehr, auf die ich mich freue. Wen willst du wiedersehen? Hast du mal darüber nachgedacht?
Nach meiner Begegnung mit Martina bin ich leicht, fühle mich erleichtert – dabei hat es sich im Vorfeld so schwer angefühlt. Sie hat ganz unkompliziert vieles gesagt, was mir schwergefallen wäre. Das Gespräch mit ihr hat mich noch mal bestätigt. Ich will mich mehr um mich kümmern. Nicht so vieles auf später verschieben. Meine privaten Beziehungen pflegen. Von Berufs wegen habe ich dauernd mit Menschen zu tun, darüber vergesse ich manchmal, dass ich auch einen eigenen Freundeskreis habe. Niemand sagt am Ende seines Lebens: »Hätte ich mal weniger Zeit mit meinen Freunden verbracht!« Genau andersherum ist es. Wahrscheinlich könnte auf jedem zweiten Grabstein stehen: »Hätte ich mal nicht so viel gearbeitet!«
Olaf hat es richtig gemacht. Er hat seine Arbeit geliebt. Aber er hat es irgendwie auch geschafft, dass er am Ende von einer ganzen Reihe Menschen liebevoll gehalten wurde. Das hat er gemerkt. Einmal sagte er voller Dankbarkeit in die Runde: »Die Engel hab ich schon auf Erden gehabt.«