Meine Mutter hätte es Krieg genannt - Vera Politkowskaja - E-Book

Meine Mutter hätte es Krieg genannt E-Book

Vera Politkowskaja

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Beschreibung

»Der Fall Politkowskaja steht symbolhaft für die Pressefreiheit« Angela Merkel Nach ihrer Ermordung am 7. Oktober 2006 wird die Journalistin Anna Politkowskaja auf einen Schlag zur weltweiten Symbolfigur für den Kampf um Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit. Bis heute gilt sie als eine der wichtigsten Kritikerinnen von Putins Russland. In diesem Buch erzählt ihre Tochter zusammen mit der Journalistin Sara Giudice erstmals die Geschichte ihrer Mutter: persönlich, bewegend und erschreckend aktuell. Als Anna Politkowskaja starb, war ihre Tochter Vera 26 Jahre alt. Mit diesem Buch setzt sie dem Vermächtnis ihrer Mutter ein Denkmal. Sie zeigt, wie deren kompromissloser politischer Kampf bis in die innersten Familienstrukturen hineinreichte, und auch, welche Schatten er warf. Vera Politkowskaja seziert die Mechanismen des russischen Machtapparates und rückt unsere aktuellen politischen Debatten in ein neues Licht. Indem sie einen Blick zurück auf den letzten großen Russischen Krieg in Tschetschenien wirft, ergründet sie auch den Krieg unserer Tage. Dieses Buch ist ein Plädoyer für die Kraft der Wahrheit. Vera Politkowskaja erzählt eindrücklich von ihrer Mutter als einem Vorbild, als einer Frau, die sich nicht einschüchtern ließ, als einer Frau, die »es Krieg genannt hätte«. Ein bewegendes Porträt und ein kämpferisches Manifest. »Ein schwarzer Blick in die Zukunft. Schwarz wie die Farbe des russischen Öls, mit dem hierzulande die Wohnzimmer geheizt werden. Es scheint höchste Zeit, einmal genauer nachzufragen, was für ein Land das eigentlich ist, aus dem es kommt.« WDR »Bis zu ihrer Ermordung am 07.10.2006 kannten nur diejenigen, die sich mit dem Tschetschenienkrieg befasst hatten, den Namen dieser mutigen Journalistin. Von einem Tag auf den anderen wurde ihr stets traurig-entschlossenes Gesicht zum Symbol für die Meinungsfreiheit.« Emmanuel Carrère »Anna Politkowskajas mahnender Aufschrei ist noch immer zu hören. Wie ein Schlag in die Magengrube, raubt er einem die Luft, erschüttert das Gewissen.«  Roberto Saviano

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Cover for EPUB

Vera Politkowskaja mit Sara Giudice

Meine Mutter hätte es Krieg genannt

Aus dem Italienischen übersetzt von Amelie Thoma und Christian Försch

TROPEN SACHBUCH

Impressum

Die abgebildeten Fotos sind Eigentum von Vera Politkowskaja.

Das Zitat auf Seite 78 entstammt Anna Politkowskaja: In Putins Russland. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme. DuMont Buchverlag, Köln 2005, Neuauflage 2022, S. 319.

Das Zitat auf den Seiten 69 und 70 entstammt Anna Politkowskaja: Tschetschenien: Die Wahrheit über den Krieg. Übersetzt von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme. DuMont Buchverlag, Köln 2003, S. 7. und S. 291.

Vielen Dank an Marco Clementi, der für das Entstehen des italienischen Originalbuches in seiner Funktion als Russischübersetzer sehr wertvoll war.

Einen herzlichen Dank auch an Norbert Juraschitz für seine beratende Hilfe bei der komplexen Frage der Transkription russischer, ukrainischer und tschetschenischer Namen ins Deutsche.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2023 Mondadori Libri S. p. A., originally published by Rizzoli, Milano, Italy

Published by arrangement with Lorem Ipsum | Agenzia Editoriale, Milano

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: © Zero-Media.net, München

Foto: © gettyimages/Mariana Eliano/Kontributor

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH

ISBN 978-3-608-50195-7

E-Book ISBN 978-3-608-12205-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

Der Klang der Wehmut

1

 »Die schlaflosen Augen«

2

 Mein Vater

3

 Der Staatsstreich

4

 Putins Reich

5

 Wie man die Zensur überlebt

6

 Meine Mutter hätte es Krieg genannt

7

 Der Krieg der Armen

8

 Die Flucht

9

 Das Versprechen

10

 »Ich will nicht, dass das noch einmal passiert.«

11

 Die Irre von Moskau

12

 Es hätte auch mich treffen können

13

 Mein Bruder und unsere Erinnerungen

14

 Putins Gift

15

 Das Glück ist eine Kokospraline

16

 Martin und Van Gogh

17

 Der Hinterhalt

18

 Alles umsonst

19

 Die letzte Recherche

20

 Ein Gespenst in einem freien Land

21

 Die Häuser gehen in Flammen auf, die Brücken brennen

Prolog

Der Klang der Wehmut

Russland steht davor, in einen von Putin und seiner politischen Kurzsichtigkeit gegrabenen Abgrund zu stürzen.

Anna Politkowskaja, 2004

Meine Mutter war nie bequem. Weder für die russischen Behörden noch für den Durchschnittsbürger, der in einer Zeitung blättert und die Artikel liest. Leider glaubt die Mehrheit der russischen Bevölkerung an das, was ihnen die Bildschirme der Staatssender präsentieren: eine virtuelle, von der Propaganda erschaffene Welt, in der im Großen und Ganzen alles prima läuft. Eine Welt, in der die Probleme, die der Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit demonstriert werden, ursächlich aus den westlichen Staaten stammen. Oder, wie man in Russland mit wissendem Lächeln sagt, »dem im Zerfall befindlichen Westen«.

Meine Mutter sprach in ihren Artikeln selten von angenehmen Dingen, sie war fast immer Überbringerin schlechter Nachrichten. Sie schrieb die Wahrheit, nackt und ungeschminkt, über Soldaten, Banditen und gewöhnliche Menschen, die im Fleischwolf des Krieges gelandet waren. Sie sprach von Schmerz, Blut, Tod, zerfetzten Körpern und zerstörten Existenzen.

Am 7. Oktober 2006, dem Tag, an dem sie umgebracht wurde und Wladimir Putin Geburtstag hatte, war ich 26 Jahre alt und selbst im Begriff, Mutter zu werden. Bis dahin hatte ich mir eingeredet, dass ihre Popularität im Westen sie in gewisser Weise vor möglichen Gefahren oder einem gewaltsamen Tod schützen würde. Ich hatte mich geirrt.

Diktatoren müssen Menschenopfer darbringen, um ihre Macht zu festigen. Der einzige Weg, die Freiheit zu schützen, ist, die Lüge zu bekämpfen und die Wahrheit auszusprechen. In Russland mangelt es an Freiheit, und doch hätte ich niemals gehen wollen. Das Land, das die Mörder meiner Mutter hervorgebracht hatte, war gleichzeitig das Land, in dem ich leben und arbeiten wollte.

In Russland hat man Anna Politkowskaja schnell vergessen, vor allem die Leute, die das Sagen haben, denn das Andenken von Menschen wie meiner Mutter zu bewahren, ist gefährlich. Weitaus bequemer ist es, ihre Spuren zu tilgen und ihre Wahrheit zu vergessen.

Im Westen kann man auf den Namen Politkowskaja stolz sein. Nach meiner Mutter benennt man Plätze und Straßen, ihre journalistischen Arbeiten werden an den Universitäten analysiert, ihre Bücher weltweit verkauft. In Russland liegt über diesem Namen der Mantel des Schweigens. Tschetschenien, zentrales Thema ihrer wichtigsten Berichte, ist jetzt befriedet, und die Machtverhältnisse in der Republik haben sich stabilisiert. Es herrscht Ramsan Kadyrow, der seinen Hass gegen meine Mutter immer offen gezeigt hat.

Der Krieg in der Ukraine hat unser Leben aus der Bahn geworfen. Nach dem 24. Februar 2022 hat unser Nachname wieder an Bedeutung gewonnen, ist erneut Adressat von Drohungen geworden. Morddrohungen, diesmal gegen meine Tochter, die noch minderjährig ist. Seit man in der Schule angefangen hatte, über den Konflikt in der Ukraine zu reden, war sie den Anfeindungen ihrer Klassenkameraden ausgesetzt. Heftigen Anfeindungen. Deshalb haben wir uns für ein freiwilliges Exil entschieden, für die Flucht in ein anderes Land. Von einem Tag auf den nächsten haben wir die Koffer gepackt und sind aus Moskau weggegangen, aus der Stadt, die uns schon so viel genommen hatte. Mir die Mutter, meiner Tochter die Großmutter.

Ich habe beschlossen, dieses Buch zu schreiben, um an die Lektion zu erinnern, die meine Mutter uns gelehrt hat: Seid mutig und nennt die Dinge immer beim Namen, Diktatoren eingeschlossen.

Anna und Vera in Moskau, Juli 2005.

1

»Die schlaflosen Augen«

Klack-klack-klack-klack. Absatz, neue Zeile und wieder Klack-klack-klack-klack. Und ewig so weiter.

Es war keines dieser Hintergrundgeräusche, die man irgendwann nicht mehr wahrnimmt. Es war die Tonspur meines Lebens. Mein allabendliches Gute-Nacht-Lied.

Wenn der Tag zu Ende ging – alle waren mit dem Essen fertig, der Hund war vor die Tür gebracht worden, wir Kinder hatten die Hausaufgaben vorgezeigt und waren ins Bett gegangen –, setzte das Klack-klack-klack-klack ein. Meine Mutter war konzentriert, ihre Miene ernst hinter dem Brillengestell. Nicht einen Moment wandte sie den Blick von der Schreibmaschine ab, ganz so, als säße sie an der wichtigsten Arbeit ihres Lebens. Wenn sie merkte, dass mein zwei Jahre älterer Bruder und ich bei ihr standen und sie beobachteten, fragte sie: »Nanu? Warum schlaft ihr nicht? Was lauft ihr schon wieder hier herum? Ins Bett, aber schnell!« Klack-klack-klack-klack.

Mama wurde in New York geboren, während einer Auslandsmission ihrer Eltern. Ihr Vater, mein Opa, Stepan Fjedorowitsch Masepa, war Ukrainer und arbeitete bei der ukrainischen Vertretung der Vereinten Nationen. Meine Großmutter, Raisa Alexandrowna Masepa, halb Russin, halb Ukrainerin, war ihrem Mann dorthin gefolgt, auch wenn sie nicht zum diplomatischen Korps gehörte. Zu Sowjetzeiten durften Diplomaten jedoch ohne den Ehepartner keine längeren Auslandsreisen unternehmen. Was meine Großeltern mir über meine Mutter als Kind erzählt haben, erinnert mich sehr an das, was ich heute in meiner Tochter sehe. Dieselbe Entschlossenheit, dieselbe Freiheitsliebe. Meine Mutter glaubte an Freiheit und Gerechtigkeit für alle.

Sie träumte davon, Journalistin zu werden, lange bevor ich geboren wurde, und sie hat nie auch nur einen Moment daran gezweifelt. Es gab keinen »Plan B«. Ich war gerade mal einen Monat alt, als sie an der Moskauer Universität ihr Journalismusstudium abschloss. Es war das Jahr 1980 und in unserem Land fanden die Olympischen Sommerspiele statt. Jene Olympiade, die aus Protest gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan von 65 Staaten boykottiert wurde.

Es vergingen einige Jahre, und das Land trat in die freiheitlichste Phase ein, die es je in seiner Geschichte erlebt hat. Perestroika, »Umgestaltung«, wurde in der ganzen Welt zu einem Begriff, zu einem Schlagwort, das wirklich Gehalt hatte, unter dem sich der allmähliche Abbau der Zensur und die daraus resultierende Liberalisierung der Medien vollzog. Nach und nach normalisierten sich auch die Beziehungen zum Westen. Wir waren keine Feinde mehr, wir begannen zu kooperieren.

Anna Politkowskaja reifte genau in der Phase der Perestroika zur Journalistin. Sie verkörperte deren Geist vollkommen, den Wunsch nach Veränderung: Sie träumte von einer vollgültigen Demokratie, und sie träumte davon, ihren Beruf in einem freien Land auszuüben – wie es sein sollte, und wie es fast nirgendwo auf der Welt der Fall ist.

Meine Eltern lernten sich sehr früh kennen. Meine Mutter war damals 17 und besuchte die letzte Klasse des Gymnasiums; mein Vater, Alexander Politkowski, studierte bereits Journalismus. Er platzte während eines Festes bei ihr zu Hause herein und krempelte ihr Leben um. Drei Jahre später, 1978, heirateten sie. Am Tag der Hochzeit tauchte mein Vater bei seinen zukünftigen Schwiegereltern auf – eine Mütze auf dem Kopf, Schwarzbrot und Wodka in der Umhängetasche – und verkündete, er sei gekommen, um die Braut zu holen. Meine Großeltern jedoch hatten keinen Sinn für seinen studentischen Humor. Die Feier fand in einer Wohnung von 19 Quadratmetern statt, in der noch im selben Jahr mein Bruder Ilja zur Welt kommen sollte.

Anna am Tag ihrer Hochzeit, mit Alexander und ihren beiden Kindheitsfreundinnen Maria (links) und Jelena (rechts).

Meine Mutter schrieb ihre Abschlussarbeit über Leben und Werk der russischen Dichterin Marina Zwetajewa. Mutter mochte sie sehr, und ich erinnere mich, dass sie stets einen ihrer Lyrik- oder Prosabände auf dem Tisch liegen hatte. Wieder und wieder las sie ihre Werke. Marina Zwetajewa hatte ein tragisches Schicksal gehabt, ihr Leben war furchtbar. Und in ihren ehrlichen und sehr persönlichen Versen werden der Schmerz und das Leid, die sie gezeichnet haben, erfahrbar. Der Schlussakt ihrer Biografie war ihr Selbstmord mit 48 Jahren. Dasselbe Alter wie meine Mutter, als sie umgebracht wurde. Nach ihrer Ermordung sah ich das Interesse, das sie stets an dieser Autorin gezeigt hatte, in einem anderen Licht. Plötzlich schien es mir mehr zu sein als eine gewöhnliche Vorliebe, die jeder von uns für den einen oder anderen Dichter oder Schriftsteller empfinden mag.

Ich war dabei an dem Tag, als meine Mutter ihren Studienabschluss machte. Da ich noch ein Säugling war, kann ich mich natürlich an nichts erinnern. Sie hatte mich nur mitgenommen, weil sie nicht wusste, wohin mit mir. Aber mir gefällt der Gedanke, dass das kein Zufall war. Es ist merkwürdig, dass ich mich im Alter von einem Monat in der Fakultät für Journalismus der Moskauer Universität befand und dass mich das Schicksal, nach einem langen Zwischenspiel als Musikerin, genau wieder zu diesem Beruf zurückgeführt hat. Gerne würde ich heute Mutters Vortrag vor der Prüfungskommission hören, ihre Gesten sehen, den Ausdruck auf ihrem Gesicht.

Während sie lernte, schrieb und sich darauf vorbereitete, die Journalistin zu werden, die heute in der ganzen Welt bekannt ist, war ich schon da. Einerseits stellten mein Bruder und ich für ihre Laufbahn unweigerlich einen Ballast dar, andererseits waren wir ihr Ansporn für die Zukunft. Der Motor, den sie brauchte, um nicht aufzugeben.

Familienfoto: Anna mit Alexander, Ilja und der kleinen Vera auf dem Schoß.

Kaum mit dem Studium fertig, fing sie an zu arbeiten, wenn auch nicht in Vollzeit. Mit zwei kleinen Kindern konnte sich das damals kaum eine Frau erlauben. Ihr erster Job war ziemlich seltsam. Sie kümmerte sich um die Zuschriften an eine Zeitungsredaktion, deren Sitz nicht weit von unserer Wohnung entfernt lag. Dazu brachte sie säckeweise Briefe nach Hause, öffnete sie, holte sie aus den Kuverts und ordnete sie nach den Journalistinnen und Journalisten, an die sie gerichtet waren. Dann trug sie sie zurück in die Redaktion und stapelte sie den jeweiligen Empfängern auf den Schreibtisch. Nach einiger Zeit fand sie eine interessantere Arbeit. Von 1982 bis 1993 schrieb sie für die Zeitungen Iswestija, Wosduschny Transport und Megapolis-Express, für die Agentur Eskart und den Paritet-Verlag. 1994 begann sie, für die Obschtschaja Gaseta, ein zur damaligen Zeit sehr populäres Wochenblatt, Rezensionen zu schreiben. Damals waren mein Bruder und ich schon relativ groß, und so konnte sie sich ihrer Berufung endlich in Vollzeit widmen.

Anna mit ihren beiden Kindern.

Die Obschtschaja Gaseta befasste sich mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, veröffentlichte Enthüllungsberichte zu hochaktuellen Themen und Interviews mit wichtigen Persönlichkeiten: Politikern, Politikerinnen, Kultur- und Medienschaffenden. Sie verfolgte auch die Umsetzung des Privatisierungsprogramms großer staatlicher Unternehmen, das zu jener Zeit in vollem Gange war. Dort fing meine Mutter an, über brisante und gesellschaftlich relevante Themen zu schreiben.

Aufgrund ihres wenig entgegenkommenden Wesens, um einen Euphemismus zu gebrauchen, war ihre berufliche Tätigkeit von permanenten Spannungen mit Kollegen und Redakteuren geprägt. Es war nicht einfach, mit ihr zu arbeiten. Einmal sagte sie dem Leiter der Zeitung, Jegor Jakowlew, dass sie ihr Material wegen familiärer Probleme nicht termingerecht würde abgeben können. Er antwortete, das interessiere ihn nicht. »Das ist deine Privatangelegenheit.« Kurz, die Arbeit dürfe niemals an zweiter Stelle kommen, unabhängig von privaten Schwierigkeiten. Meine Mutter mag sich bei jener Gelegenheit mit ihm angelegt haben, aber im Grunde teilte sie seine Ansicht, wie sie ihr ganzes Leben über unter Beweis stellte, denn sie arbeitete wie besessen.

Für Jakowlews Zeitschrift befasste sie sich mit einem besonderen Aspekt der Privatisierung: die Mitte der Neunzigerjahre fast überall stattfindende Vergabe von Krediten zum Aktienerwerb, die der Staat anfangs allen Bürgern einräumte. Dank eines von Aktiengroßeinkäufern ersonnenen Mechanismus wurden die öffentlichen Unternehmen zum Schleuderpreis an Privatunternehmer veräußert.

In diesem Zusammenhang stellte meine Mutter eine Hintergrundrecherche an, die sich mit den Geschäftsinteressen des Oligarchen Wladimir Gussinski befasste. Er war ein sehr einflussreicher Mann, Eigentümer von NTW, dem damals größten privaten Fernsehsender des Landes, und er goutierte ihre Einmischung nicht. Er ließ sie anrufen und bestellte sie zu einem Treffen ein, bei dem er ihr ein Dossier über sie und jedes ihrer Familienmitglieder vorlegte: Vater und uns zwei Kinder. Zu jener Zeit, in den »wilden Neunzigern«, war es gängige Praxis, dass man gegen potenzielle Widersacher Informationen zusammentrug; wer an der Macht war, tat das permanent. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht recht, was er mit diesem Dossier bei ihr erreichen wollte. Ich weiß nur, dass meine Mutter erschrocken und verstört nach Hause kam und dass anschließend nie wieder darüber gesprochen wurde.

Anna nahm sich für die Zeitung eines weiteren sehr heiklen Themas an: das der Sekten oder sektenähnlichen Gemeinschaften, die nach dem Ende der UDSSR überall im Land wie Pilze aus dem Boden schossen. Heute ist deren Aktivität in Russland verboten, aber zu jener Zeit hatte die Regierung andere Sorgen, und so florierten diese Sekten. Meine Mutter sammelte reichlich Material über die Methoden, mit denen die Sektenführer ihre Anhänger rekrutierten. Sie fand heraus, dass diese hypnotisiert oder mit verschiedenen psychologischen Techniken unter Druck gesetzt wurden. Die so gewonnenen »Opfer« wurden gezwungen, all ihr Hab und Gut zu verkaufen, ihre Familien für immer zu verlassen und jeglichen Kontakt zu ihnen abzubrechen. Sie traf jene Verwandten, protokollierte ihre Hilferufe und Ängste und versuchte, etwas gegen dieses Phänomen zu unternehmen, indem sie es zumindest öffentlich anprangerte.

Und doch war, wie ihre damaligen Kollegen meinen, das greifbarste Ergebnis ihrer fünfjährigen Tätigkeit für die Obschtschaja Gaseta ein praktisch unlösbarer Dauerclinch mit ihrem Chef Jegor Jakowlew.

2

Mein Vater

Die Beziehung meiner Eltern war immer schon explosiv. Sprich, sie waren nicht gerade ein ruhiges und ausgeglichenes Paar.

Der Alltag mit meiner Mutter war schwierig. Die Organisation des Familienlebens, der Wunsch, uns nur das Beste zu bieten, und dazu ihre scharfe Wahrnehmung all dessen, was um uns herum geschah, zehrten an ihren Kräften. Wenn ich jetzt daran denke, dann glaube ich, dass sie zu früh die Verantwortung für eine Familie übernehmen musste.

Eine meiner ersten klaren Erinnerungen ist ein Krach zwischen meinen Eltern. Mein Bruder Ilja und ich waren in unserem Zimmer, unsere Eltern in ihrem. Es war Wochenende, und Papa wollte raus, zum Angeln oder wer weiß wohin. Mama stellte sich quer. Sie wollte ihn nicht aus der Wohnung lassen. Sie stritten heftig. Mein Bruder versuchte so zu tun, als wäre nichts, ich dagegen setzte mich aufs Bett und wartete ab, wie die Sache ausgehen würde.

Plötzlich kamen aus dem Zimmer unserer Eltern seltsame Geräusche, als würden Möbel umfallen. Vater schrie, Mutter schrie zurück, dann hörte ich sie weinen. Das Gebrüll wurde lauter, als sie ihr Zimmer verließen und an unserem vorbeigingen. Durch das Glas in der Tür sah ich sie im Flur, dann polterte mein Vater wütend hinaus.

Alexander Politkowski war damals bereits ein bekannter Journalist. Es waren die Jahre, in denen die Kommunistische Partei endgültig den Rückhalt in der Bevölkerung verlor. Die Gesellschaft veränderte sich, und von dieser Aufbruchsstimmung getragen, stürzte sich die junge Journalistengeneration mit Leib und Seele in ihren Beruf, der sich bis dahin darauf beschränkt hatte, den banalen Besuch eines Generalsekretärs bei irgendeiner Kolchose zum Aufmacher des Tages zu stilisieren.

Die ersten privaten Radiosender entstanden, die Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 den Friedensnobelpreis erhalten sollte, wurde gegründet, und der Physiker Andrej Sacharow verließ sein Exil in Gorki, um nach Moskau zurückzukehren. Alles kam wieder in Bewegung, alles erschien in einem neuen Licht.

Meine Eltern waren Teil dieser Welle, die bald nicht mehr aufzuhalten war. Mein Vater war eines der Gesichter des Fernsehmagazins Wsgljad