Meine Seele weint - Monika Habicher - E-Book

Meine Seele weint E-Book

Monika Habicher

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Beschreibung

In ergreifend und beeindruckend direkter Art beschreibt ein Mädchen, was sich in seinem Inneren abspielt, während es über Jahre hinweg Gewalt in seiner Familie erfährt. Die Last, die Sorge und der Schmerz sind enorm. Psychischer Stress und die Absenz von Schutz und Liebe wirken sich traumatisierend auf die Entwicklung des Kindes aus. Dennoch wird klar, dass es in seiner Natur liegt, seine Eltern zu lieben und loyal zu sein, egal was passiert. Dass dies einen großen Preis vom Kinde abverlangt, zeigt sich darin, dass Bewältigungsstrategien und Schutzmechanismen im Laufe der Zeit in ernsthafte psychische Störungen auszuarten drohen …

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Menschen werden in der eigenen Familie misshandelt, doch von der Gesellschaft vernachlässigt!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Vorwort

Einleitung

Erstens

Zweitens

Drittens

Viertens

Fünftens

Sechstens

Epilog

Stimmen zum Buch

Prolog

In meiner Arbeit als Sozialpädagogin treffe ich jeden Tag auf Kinder und Jugendliche in Krisensituationen: emotionale Störung, Bindungsstörung, verschiedene Formen von aggressivem oder autoaggressivem Verhalten bis hin zum kompletten Kontrollverlust. Viele von ihnen können nicht mit Worten beschreiben, was in ihnen vor sich geht, was sie dazu führt, Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die sie vielleicht gar nicht ausführen möchten. Zu diesem Thema nehme ich des Öfteren Unverständnis in der Gesellschaft wahr. „Das ist doch kein Benehmen“, oder, „Denen geht es einfach viel zu gut!“ Solche und ähnliche Sätze kommen mir zu Ohren. Aber viele Menschen wissen nicht, wie es überhaupt zu Auffälligkeiten dieser Art kommt. Sie können nicht verstehen, welche Geschichten und welcher Leidensweg hinter bestimmten Verhaltensformen stecken könnten. Und Unverständnis führt nicht selten zu einer Verstärkung des Problems, da der Betroffene sich nicht ernst genommen, aufgefangen oder unterstützt, sondern vielmehr zurückgewiesen fühlt. Kinder sind in ihrer Kommunikation noch sehr eingeschränkt, vor allem aber, wenn der Grund für die Problematik in der eigenen Familie liegt, und das Kind somit vielleicht niemals gelernt hat, über Probleme zu sprechen, oder einfach niemanden hat, der ihm zuhört.

Zu fast jedem psychologischen und pädagogischen Thema gibt es Fachliteratur – meist in Hülle und Fülle. Doch für den Laien, für Menschen ohne spezifische Ausbildung ist diese Literatur oft unverständlich, fast schon eine Art Fremdsprache. Aus diesem Grund möchte ich ihnen ebenso wie fachspezifisch arbeitenden Menschen Einblick in das Seelenleben eines Kindes unter extremen Stresssituationen verschaffen. Ich möchte aufzeigen, wie bestimmte Problematiken entstehen und welche Dynamiken sich daraus entwickeln können. Das Positive ist, dass es verschiedene Therapieformen gibt, aber ich möchte nicht verheimlichen, dass es eine Knochenarbeit ist, die Seele nach traumatischen Erfahrungen „neu zu programmieren“.

Gewalt ist ein Thema, das zwar immer wieder in den Medien präsent ist, aber ich habe manchmal das Gefühl, dass es dennoch nicht ganz bis ins Bewusstsein der Menschen durchdringt. Es werden Zahlen genannt, Statistiken angeführt, aber es berührt uns nicht wirklich. In der Oberschule wurde ich einmal von einem Mitschüler ausgelacht, weil ich behauptet hatte, dass es in Südtirol viele Familien gibt, in denen der Umgang miteinander gewalttätig ist, in denen einzelne Familienmitglieder unterdrückt werden. Er meinte, ich hätte wohl zu viel ferngesehen.

Zahlen relativieren sich. Das Problem ist, dass vor allem in Südtirol die Scham, Probleme anzusprechen – und vor allem interfamiliäre Probleme – noch immer sehr groß ist. Ich finde es falsch, dass es in unserer Gesellschaft als wohlerzogen gilt, sich nicht in die Angelegenheiten anderer „einzumischen“. So kommt es, dass Gewalt, sowohl in psychischer, physischer als auch sexueller oder finanzieller Form immer weiter unter den Tisch gefegt werden kann, dass Täter immer weiter gedeckt werden, ja schon fast einen Freifahrschein für ihr Handeln erhalten. Wenn etwas ganz Schlimmes öffentlich wird, dann werden Stimmen laut, die erklären, dass sie es „immer schon wussten“. Da stellt sich mir die Frage – und ich bin voller Trauer –, warum hat denn niemand eingegriffen? Aufklärungskampagnen sind neutral gestaltet: ein Slogan, der aufrütteln soll, Zahlen und Fakten, die die Dringlichkeit zu handeln untermauern. Aber Zahlen verschwinden wieder aus unserem Kopf und Zahlen berühren meist nicht unser Herz. Doch dies ist notwendig, um eine Änderung zu bewirken.

Welche Chance hat ein Mensch, dessen Urvertrauen bereits von Anfang an zerstört wurde? Wie kann jemand Beziehung aufbauen, glücklich und entspannt leben, vertrauen, wenn er in seiner eigenen Familie, wo er Schutz und Geborgenheit erfahren sollte, tief in seiner Seele für immer verstümmelt wurde? Es ist eine Art der Verstümmelung. Die langfristigen Folgen sind für Betroffene katastrophal. Wunden heilen, doch es gibt emotionale Verletzungen, die nie wieder rückgängig gemacht werden können.

Ein weiterer Punkt, der sehr oft vernachlässigt wird: Auch wenn körperliche Gewalt nur ein Familienmitglied betrifft (Gewalt unter Ehepartnern o. Ä.), ist der psychische Druck auch für den Rest der Familie meist immens. Die Belastung, gerade für Kinder, wenn sie Zeugen von aktiver oder passiver Gewalt werden, wurde lange Zeit auch von Fachstellen nicht richtig erkannt und wahrgenommen. Die Kursleiterin einer Fachtagung für Frauenhäuser hat einmal angeführt, dass eine der grausamsten Foltermethoden im Krieg diejenige war, bei der Misshandlung einer geliebten Person zusehen zu müssen. In Anbetracht dessen bedenke man die Situation eines Kindes, das Gewalt zwischen den Eltern – vielleicht sogar regelmäßig – miterleben muss.

Aus diesen genannten Gründen möchte ich nun eine Geschichte aufzeigen, die nicht neutral ist. Es steht eine Person dahinter, ein konkretes Gesicht, ein Kind, ein Mensch. Ich möchte diesen Schritt wagen, um interfamiliäre Gewalt konkret darzustellen. Es ist Tatsache, dass in Südtirol, so wie in der ganzen Welt, für viele Menschen Gewalt noch auf der Tagesordnung steht. Es ist Fakt, dass – obwohl die sozialen Dienste sehr aktiv sind und vielen Kindern und Erwachsenen Unterstützung bieten – noch immer viele Schicksale in der Dunkelheit bleiben, Menschen in der Familie misshandelt, aber von der Gesellschaft vernachlässigt werden.

Dies Buch erhebt keinen Anspruch auf eine reelle Wiedergabe der darin beschriebenen Ereignisse, denn es könnte sein, dass die zeitliche Einordnung in der folgenden Erzählung nicht zu einhundert Prozent mit den realen Abläufen übereinstimmt, es fehlen mir Belege dafür. Ebenso kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob Erinnerungen aus der frühesten Kindheit nicht mit Erzählungen von anderen vermischt wurden. Dennoch habe ich mich dafür entschieden, durchgehend aus der Perspektive der eigenen Wahrnehmung zu berichten, denn die Gefühle und die daraus resultierenden persönlichen Folgen waren real, von Anfang an.

Vorwort

Nichts und niemand kann jemals Männergewalt gegenüber Frauen und Kindern rechtfertigen, weder in der Öffentlichkeit noch in den eigenen vier Wänden!

Das psychische Trauma, die Wunden, die einer Kinderseele durch Gewalt oder Missbrauch zugefügt werden, sind unheilbar. Die Verletzungen können geschlossen, überwunden, aufgearbeitet werden durch intensive Therapien, doch heilen können sie nie. Die Caritas-Männerberatung hat vor einigen Jahren begonnen, sich mit diesem Thema aus einer anderen Perspektive auseinanderzusetzen, und zwar aus der Perspektive des Mannes.

Dies ist keineswegs ein Beitrag zur Rechtfertigung oder Verharmlosung des Verhaltens von gewalttätigen Männern. Es ist vielmehr der Versuch, betroffenen Männern die Möglichkeit zu geben, sich ihren Problemen und der Unfähigkeit, Aggressionen zu bewältigen, zu stellen. Das Ziel des Anti-Gewalt-Trainings, das 2011 ins Leben gerufen wurde, ist es, Männern die Möglichkeit und Unterstützung zu geben, über ihr Verhalten nachzudenken, schlussendlich die Verantwortung dafür zu übernehmen und ein Bewusstsein für ihr Handeln zu entwickeln. In den Beratungsgesprächen stelle ich sehr oft fest, dass gewalttätige Männer eine sehr distanzierte Wahrnehmung zu den von mir angesprochenen Themen der Gewalt haben, so, als würde es sie gar nicht betreffen.

Sich mit gewalttätigen Männern zu befassen, jene aufzufangen, die aggressiv handeln, bedeutet für uns zu versuchen, betroffene Kinder und Frauen besser zu schützen. Mit diesen Männern zu arbeiten, bedeutet auch, zu verhindern, dass sie weiterhin gewaltsam im Umgang mit Kindern und Frauen agieren. Dafür ist es zwingend notwendig, gewalttätige Männer nicht nur als Täter abzustempeln – wie es viele gerne würden – sondern zu erkennen, dass diese Männer dringend Hilfe benötigen. Dies ist eine Voraussetzung, um aus dem Kreislauf der Gewalt herauszukommen.

Dieses Buch unterstreicht die Notwendigkeit, über erlebte Gewalt zu sprechen und diese auch öffentlich anzuprangern. Dem Beispiel von Monika, ihrem mutigen Vorangehen, sollten wir folgen, um eine Veränderung zu ermöglichen. Durch ihre Erzählung kann nun jeder nachvollziehen, warum es so wichtig ist, erlebte Gewalt anzuklagen und sein eigenes Recht auf aktives Handeln und sein Recht auf Leben laut hinaus zu schreien.

Doch dieses Buch ist auch hilfreich für gewalttätige Männer, die so vielleicht nachvollziehen können, welche immensen Verletzungen durch Gewalt und Missbrauch entstehen. Es könnte ein erster Schritt sein, um zu erkennen, dass es nicht nur möglich, sondern notwendig ist, aus der Spirale der Gewalt auszusteigen.

Dieses Buch hat meine persönliche Motivation, mit gewalttätigen Männern zu arbeiten, noch größer werden lassen – und dafür möchte ich Monika danken!

Dr. Massimo Mery

Psychologe und Psychotherapeut der Caritas-Männerberatung

Einleitung

Wie von der Tarantel gestochen schrecke ich aus dem Schlaf und setze mich kerzengerade im Bett auf. Mein Herz rast, es pocht so heftig gegen meine Brust, als wolle es sich schmerzhaft einen Weg aus meinem Körper bahnen. Ich spüre, wie meine Ohren sich anspannen, um jeden Lufthauch wahrzunehmen, höre mein Blut in den Adern rauschen. Ich wage es nicht, zu atmen, halte die Luft an. Verdammt! Ich drücke beide Hände gegen meine Brust, als könnte ich so das laute Hämmern zum Verstummen bringen. Die Augen weit aufgerissen, hilflos versuchen sie, in der pechschwarzen Nacht zu sehen. Muss ich zu Hilfe eilen? Was passiert? Als ich ganz langsam, um unnötige Geräusche zu vermeiden, die Luft aus meinem Mund entweichen lasse, merke ich, dass meine Hände zittern. „Reiß dich am Riemen!“, ermahne ich mich in Gedanken, und mein Körper spannt sich noch mehr an. Irgendwann habe ich mich so an die Stille gewöhnt, dass ich gleichmäßige Atemzüge aus dem Nebenzimmer wahrnehmen kann. Sie scheint zu schlafen. Und sie ist am Leben. Dann höre ich einen tiefen, schweren Atemzug, ein rasselndes Ausatmen. Er schläft auch. Kaum merklich lässt die Anspannung in meinem Körper nach. Ich bin so müde. Mein Oberkörper neigt sich langsam gegen das Kissen, nicht ohne noch zweimal emporzuschnellen – um mich zu vergewissern, dass auch wirklich alles ruhig ist. Erst jetzt bemerke ich, dass mein Rücken schmerzt. Ich sinke ins Bett, die Augen schließen sich, und schon bald zucken und rasen sie unter geschlossenen Lidern unruhig durch einen bösen Traum. Die Ohren aber bleiben angespannt bis zum Morgen, jederzeit bereit, mich erneut zu warnen und aus dem Schlaf zu reißen.

Für alle, die immer für mich da waren,

auch als ich es nicht spüren konnte.

Vor allem für meine Patin und für Mama

Erstens

„Warum weinst du, Mama?“ Ich stehe im Türrahmen, muss mich nach oben strecken, um die Türklinke mit meiner Hand fest umklammern zu können, meine Augen weiten sich entsetzt. Mama steht mit dem Rücken an den Herd gelehnt da und weint. Schnell verdeckt sie ihr Gesicht hinter den Handflächen. „Es ist nichts“, sagt sie mit klammer Stimme: „Alles gut!“ Aber warum weint sie dann? Ich fühle mich unwohl. Mama hat noch nie geweint. Mein Blick wandert zu Papa, der einen Schritt zurückgetreten ist, dann wieder zu Mama. Sekunden vergehen. Papa geht auf Mama zu, umarmt sie kurz und sagt leise: „Es tut mir leid! Es wird nie wieder vorkommen.“ Dann geht er aus dem Raum.

Mama dreht sich um und rührt in einem Topf. Ein bedrückendes Gefühl erfüllt meine Brust, aber ich verstehe nicht. Mama hat gesagt, dass alles gut ist. Ich versuche langsam, mich aus der Situation zu lösen. Versuche, meine Füße zu bewegen, meinen Blick abzuwenden. Ich drehe mich um, hole meine Puppe aus dem Schlafzimmer. Die braucht mich jetzt bestimmt, ich glaube sie ist traurig. Tröstend nehme ich sie in den Arm, drücke sie an meine Brust. „Schhhhh …“, flüstere ich ihr zu. „Du brauchst doch keine Angst zu haben, alles ist gut.“ Vorsichtig schaukle ich das Baby hin und her, hauche ihm Küsschen auf die Stirn, brabble weiter vor mich hin. Mit meiner Wange streiche ich sanft über ihr Gesicht, während meine kleinen Arme sie schützend halten. Ich vertiefe mich in mein Spiel – das eigentlich keines ist. Kümmere mich gut um meine Puppe. Sie scheint sich langsam zu beruhigen. Sie freut sich bestimmt, dass sie mich hat. Das unangenehme Gefühl verschwindet langsam, ebenso die Gedanken an die seltsame Situation. Die nächsten Wochen verlaufen wieder normal, alles ist gut.

*

Plötzlich ist mein kleines Brüderlein tot. Ich verstehe nicht, was tot heißt. Ich bemerke nur, dass viele Menschen hektisch durch unser Haus laufen. Nachbarn, Verwandte. Ein paar von ihnen weinen, alle schauen ganz traurig. Niemand lacht. Als ich mich auch zum Baby durchdränge, finde ich es seltsam, dass es sich nicht bewegt. Es sieht irgendwie anders aus als sonst. Vermutlich schläft es nur, denke ich. Die Großen übertreiben mal wieder mit ihrem Getue. Ich werde weggedrängt, von den vielen Menschen zurückgeschoben und beschließe, mich aus dem Staub zu machen.

Ich verstehe noch nicht, dass ich nie wieder mit dem Baby spielen werde. Ich bin erst zwei Jahre alt. Deshalb kann ich auch in den darauf folgenden Tagen absolut nicht verstehen, wo denn das Baby plötzlich ist. Es ist so still im Haus. Klar nervt es, wenn das Baby weint, und Mama sich dann um den Kleinen kümmert, aber so ganz ohne, ist auch doof. Außerdem ist mir langweilig; ich fühle mich sehr einsam. Und ganz tief in mir drin bin ich traurig; das verrate ich aber niemandem. Immer wieder höre ich etwas von einem „plötzlichen Kindstod“, kann mir aber nicht erklären, was das bedeutet. Papa ist sauer auf Mama, seine Stimme klingt manchmal böse, wenn er mit ihr spricht. Hat sie vielleicht das Baby versteckt?

Ich verstehe nicht, aber ich machte mich auf den Weg. Meine großen Brüder sind im Kindergarten, der liegt ganz in der Nähe von unserem Haus; man muss nur quer über eine Wiese laufen. Ich überlege mir, auch dort hinzugehen, vielleicht darf ich ja mitspielen. In meinem Eifer bemerke ich gar nicht, dass ich bloß eine Windel trage. Das fällt mir erst auf, als mich im Kindergarten alle komisch anschauen. „Was willst du denn hier?“, rufen meine Brüder erstaunt. Die scheinen gar nicht sonderlich erfreut darüber, mich zu sehen. „Wo ist denn deine Mama?“, fragt mich die Kindergartentante. „Ich bin jetzt auch da zum Spielen“, verkünde ich stolz und froh, nicht mehr alleine zu sein. Schnell laufe ich in den Raum, zu den Bauklötzen und beginne zu spielen.

Es macht wirklich Spaß unter all den Kindern. Doch bald steht Mama im Raum. „Da bist du ja, Mensch!“, ruft sie erleichtert. Wo sollte ich denn bitte sonst sein? Immer diese Spaßverderber, ich bin doch so schön am Spielen. Aber Mama will, dass ich mit nach Hause komme. Da hat sich doch vorher auch niemand um mich gekümmert, was soll ich denn da …? In den darauf folgenden Tagen starte ich noch weitere Versuche, um der Einsamkeit zu entfliehen. Mal laufe ich die Straße entlang durch das Dorf zum Brunnen, mal versuche ich erneut, im Kindergarten zu spielen. Aber es endet jedes Mal ohne Erfolg; irgendwann kehre ich immer mehr oder weniger freiwillig nach Hause zurück.

Jetzt, ein Jahr später, hat sich etwas geändert: Wir haben ein neues Baby bekommen. Wahrscheinlich hat Mama das andere nicht wiederfinden können. Das neue Baby ist auch süß. Es ist wieder ein Junge, so wie das alte Baby. Oft schleiche ich mich heimlich in Mamas Schlafzimmer und gucke, wie das Baby schläft. Manchmal rüttle ich dann am Bettchen, und wenn das Baby zufällig wach wird, rufe ich schnell Mama. Zum Glück habe ich auf das Baby aufgepasst, Mama hätte vielleicht gar nicht bemerkt, dass es wach geworden ist. Am liebsten kitzle ich das Baby am Bauch, dann lacht es so lustig. Aber immer nur für einige Zeit, denn wenn ich heftiger kitzle, fängt es an zu weinen. Wie doof, gerade eben hat es ihm doch noch Spaß gemacht. Mama hebt das Baby hoch und drückt es tröstend an ihre Brust. Na super, ich bleibe alleine zurück und setze mich nachdenklich auf Mamas Bett.

*

Mittlerweile darf ich schon in den Kindergarten gehen. Endlich, das wurde aber auch Zeit. Ich bin gerne dort. Ich bastle und zeichne. Dank großer Brüder, von denen ich lernen konnte, bin ich den meisten Kindern in vielen Fähigkeiten voraus. Ich kann auch schon super mit der Schere umgehen, und muss das natürlich sogleich an meinen Haaren demonstrieren. Schnipp, schnapp, die Stirnfransen sind ab. Die „Tante“ ist gar nicht darüber erfreut, die Kinder aber finden es lustig. Ich versuche, unauffällig immer mal wieder die Nähe der Frau zu suchen; ich würde mir wünschen, dass sie sich manchmal ein bisschen Zeit für mich nimmt. Aber andere Kinder sind halt nicht so selbstständig wie ich. Außerdem war ich immer schon die Größte in der Gruppe. Die Kleinen brauchen mehr Fürsorge, Unterstützung und Zuneigung. Nur wenn ich richtig Quatsch mache, kommt die Tante angerannt und schimpft. Aber ich möchte doch, dass sie lieb zu mir spricht. Ist das so schwierig?

Beim „Bienenklatschen“ auf der Wiese vor dem Kindergarten sticht mich eine Biene in die Hand, das tut ziemlich weh. Aber ich sage nichts. Warum denn auch? Es wird schon vorbeigehen, ich bin ja stark. Die anderen Kinder haben es gemerkt und laufen schreiend zur Tante hin. Dann kommen sie wieder zurück, das Schreien ist verstummt. Schulterzuckend erklären sie mir, dass ich gar nicht von einer Biene gestochen worden sein kann, denn sonst würde ich ja weinen. Ihre Gesichter sind sichtlich ratlos, sie hatten selbst gesehen, dass kurz vorher noch der Stachel samt Biene an meiner Hand hing. „Ich weine nicht“, entgegne ich trocken und wende mich wieder meinem Spiel zu, um mich vom pochenden Schmerz in der Hand abzulenken.

*

Inzwischen bin ich vier. Heute will ich mit meinem Papa ins Schwimmbad. Ich bin ganz aufgeregt und freue mich so toll, dass ich kaum still sitzen kann. Endlich soll ich schwimmen lernen. Mein Papa ist der beste Lehrmeister, und es gibt nichts, das ich mehr liebe, als Zeit mit ihm zu verbringen. Er ist wahnsinnig lustig und liebevoll. Und ich bin „sein Mädchen“. Manchmal berührt er mit seiner Nasenspitze die meine, um dann neckend mit den Stoppeln seines Dreitagebartes über meine Wangen zu raspeln. Ich quietsche entzückt auf, winde mich vor Lachen. „Du wirst sehen, vom Bartreiben wächst dir nun auch ein Bart!“ Ich krieg mich kaum noch ein vor Lachen. Ein kleines Mädchen mit einem schwarzen Bart. Die Vorstellung davon ist einfach zu lustig.

Wir fangen an zu raufen und herumzutoben, ich bin schon richtig stark. Ich liebe diese Art der Neckerei. Dann stelle ich mich mit meinen kleinen Füßchen auf die großen Füße von meinem Papa, meine kleinen Hände suchen nach den seinen. Und ohne ein Wort zu sprechen, verstehen wir uns, gemeinsam summen wir die Melodie des Wiener Walzers und Papa schwingt seine Beine im Rhythmus der Melodie. So tanzen wir durch den Flur. Mit strahlenden Augen lächle ich von unten zu ihm auf. Ich bin überglücklich, ich liebe meinen Papa so sehr. „Mein Papa.“

Hungrig und außer Puste setze ich mich nach unserer Tanzeinlage an den Küchentisch und beobachte, wie er geübt und mit flinken Händen einen Pizzateig zubereitet. Es gibt einfach nichts, das er nicht kann. Aus einer Kugel formt sich unter seinen Händen eine Scheibe, blitzschnell wirbelt er diese durch die Luft, wieder und wieder. Rasch aufs Blech damit und im Nu ist die perfekte Pizza garniert. Schon nach kurzer Zeit zieht ein umwerfender Duft durch den Raum, mir läuft bereits das Wasser im Mund zusammen. Während dieses Vorgangs erzählt mir Papa noch eine Geschichte, die er natürlich selbst erlebt hatte. Ein fremder Mann wollte auch einmal versuchen, die Pizza so geschickt in der Luft zu drehen wie er. Als die Pizza nicht wieder aus der Luft zurückkam, schaute der Mann verdutzt. Erst nach einiger Zeit hatte er kapiert, was geschehen war: Die Pizza war an einem aus der Wand stehenden Nagel über seinem Kopf hängen geblieben. Wieder fange ich an zu kichern. Ich liebe es, wenn Papa von spannenden Erlebnissen erzählt. Mit einem Zwinkern fügt er noch hinzu: „Weißt du, es gibt nur noch einen einzigen Mann auf der Welt, der so geschickt ist, wie ich. Der wohnt aber ganz weit weg, bestimmt in China oder in Amerika.“ Voller Liebe und Bewunderung strahle ich ihn an, während er die Pizza in große Stücke schneidet und diese auf unseren Tellern verteilt. Ja, das glaube ich. Mein Papa ist mit Sicherheit der klügste und talentierteste Mann auf der Welt. Er kann und weiß einfach alles. Mit Riesenappetit fangen wir an zu mampfen. Die beste Pizza der Welt. Später sind wir dann tatsächlich noch ins Schwimmbad gefahren. Was für ein supertoller Tag!

Nicht immer klappt das so, wie ausgemacht. Einige Male zuvor konnten wir leider nicht losfahren wie geplant. Obwohl ich schon mit gepackter Tasche auf der obersten Stufe der Treppe vor der Haustür saß, ist Papa nicht aufgetaucht. Er musste kurz vor dem Start noch ganz schnell etwas Wichtiges erledigen – und ist erst Stunden später wiedergekommen. Die ersten Male habe ich ihn noch vorwurfsvoll, megaenttäuscht und richtig traurig empfangen. Doch schnell habe ich gemerkt, dass dies nicht gut bei ihm ankommt. Er wurde nämlich wütend und hat mich dann für einige Zeit ignoriert. Da bin ich lieber still und warte darauf, bis Papa mich wieder auf seinen mächtig starken Armen trägt und wir gemeinsam scherzen, lachen und durch die Räume wirbeln.

Ich liebe meinen Papa über alles. Als einziges Mädchen von vier Kindern hatte ich schon seit jeher eine besonders innige Beziehung zu ihm. Ich darf ihn fast überallhin begleiten, wir machen gemeinsam Sport. Ich bin ein starkes Mädchen und darauf ist Papa besonders stolz. Ich bin mutig und klug, will alles lernen und ausprobieren. Ich habe gehört, dass er jemandem erzählt hat, wie aufmerksam ich bin und wie schnell ich mir selbst Worte in italienischer Sprache merken kann. Ich liebe es, dass Papa stolz auf mich ist.

*

Die erste Schlägerei, die ich miterlebe, schockiert mich zutiefst. Papa war eben nach Hause gekommen, spät abends, wir Kinder waren schon im Bett. Da höre ich, dass sich im unteren Stock etwas Schlimmes anbahnt. Ich höre erst schwere Schritte, ein lautes Poltern, jemand läuft hastig die Treppe hoch zu unserer Eingangstür. Auf den alten Holzstufen ist jeder Tritt laut hörbar, es klingt beängstigend. Es muss sich um eine große, schwere Person handeln, denn jede Bewegung ist durch die alten Mauern gut wahrzunehmen. Ein wildes Hämmern gegen die Tür, ein lautes Brüllen folgt, durchbricht Furcht einflößend die Stille der Nacht. Eine tiefe Männerstimme schreit, dass die Tür geöffnet werden soll.

Meine Angst ist groß. Wer mag das sein? Was geht hier vor? Ich sitze zitternd in meinem Bett und wage es kaum, zu atmen. Die Angst steigert sich ins Unermessliche, als ich einem Albtraum gleich höre, dass die riesige, uralte Eingangstür irgendwann dem tobenden Angriff, dem Druck und den unaufhörlichen Tritten nachgibt. Ein lauter Knall, zerberstendes Holz. Das morsche Eisen des alten Schlosses bricht auf und die Tür donnert gegen die Wand. Dem Eindringling steht nun der Weg frei.

Ich bereue es zutiefst, dass ich mir gewünscht habe, ein Einzelzimmer zu bekommen. Ob meine Geschwister wach sind und dasselbe gehört haben wie ich? Wenn sie doch jetzt bei mir wären. Was soll ich tun? Mein Kopf, mein Herz sind so von Angst erfüllt, dass es mich zu überwältigen droht. Ich kann nicht weinen, nicht schreien, bin der Situation mit all den für mich unerträglichen Gefühlen komplett ausgeliefert.

Ich höre Mamas Stimme, sie versucht anscheinend, die beiden Männer zu beschwichtigen. Doch fast im selben Moment höre ich ein Klatschen, schweres Atmen und Stöhnen. Immer wieder ein Rumpeln, dann ein Stampfen, wieder einen Knall. Papa und der Fremde prügeln sich heftig, ich höre das Geräusch von boxenden Fäusten, von flachen Schlägen, die anscheinend jedes Mal mit voller Wucht treffen. Das schmerzvolle Aufstöhnen vom Getroffenen. Ich höre, dass ein Kopf gegen die Wand donnert, höre das schwere Atmen zweier Männer, die beide krampfhaft versuchen, die Oberhand im Kampf zu gewinnen. Ich höre einen Körper, der mit schwerem Knall zu Boden geht, einen Tritt, ein schmerzhaftes nach Luft schnappen. Dazwischen immer wieder Mamas Stimme, die verzweifelt versucht, die Schlägerei zu beenden.

Ich schleiche mich aus dem Zimmer und kauere, versteckt hinter dem Geländer, am oberen Ende der Treppe. Ich habe solche Furcht. Was passiert denn da und warum ist der Mann so wütend? Ich habe Angst, dass mein Papa verletzt wird, obwohl ich weiß, dass er sehr geübt im Kampfsport ist und mit seiner großen, kräftigen Statur wahrscheinlich stärker als viele andere Männer ist. Ich höre ein Klatschen, jemand ist gegen die Wand gekracht und hat wohl versucht, den Aufprall mit den flachen Händen abzufangen. Meine Brüder schleichen sich auch aus ihren Zimmern, nähern sich meinem Versteck. Wir schauen uns bloß gegenseitig an, auch ihnen ist Panik ins Gesicht geschrieben. Zitternde Hände. Keiner getraut sich, auch nur zu flüstern, aus Angst, dass der Mann uns hört und zu uns kommt.

Ich kann von meinem Platz aus nichts sehen, doch die Minuten und der Kampf scheinen sich endlos weiter hinzuziehen. Ich müsste ganz dringend auf Toilette, doch die liegt am anderen Ende des Ganges und ich wage es nicht, mich zu bewegen. Der Verzweiflung nahe muss ich komplett entgeistert feststellen, wie sich am Boden zwischen meinen Beinen eine Pfütze bildet. „Nein, nein, nein!“ Ich bete zu Gott, dass diese Situation aufhören möge und hoffe insgeheim, dass es einfach nur ein ganz furchtbarer Albtraum ist.

Irgendwann verlässt der fremde Mann fluchtartig das Haus. Ich beuge mich etwas vor und sehe, wie Papa versucht, das Türschloss zu reparieren. Ich sehe nur seinen Rücken, kann nicht erkennen, ob er verletzt ist. Mama kommt die Treppe hoch und trägt mich ins Bett, stumm. Sie sieht sehr erschöpft aus, reicht mir noch eine trockene Hose. Nun weine ich, die Situation war einfach zu viel für mich. Ich habe solche Angst, dass der Mann wiederkommt, vor allem auch, weil ich weiß, dass unsere Haustür nicht mehr abgesperrt werden kann. Klammere mich an Mamas Armen fest. In dieser Nacht kann ich kaum schlafen und werde, so wie auch in den darauf folgenden Nächten von schrecklichen Albträumen geplagt.

*

Wenn meine großen Brüder da sind, dann spielen wir gemeinsam. Wir streiten uns auch ganz oft und hauen uns gegenseitig. Ich verteidige mich dann aus voller Kraft. Am besten kommen wir miteinander klar, wenn nur einer der Jungs da ist, zu zweit spielen ist schön. Ansonsten finden sie es ganz oft blöd, dass ich mitspielen will. „Du doofes Mädchen“, sagen sie, wenn wir uns streiten. Oder: „Du hässliche Kuh, was läufst du uns denn dauernd hinterher?“ Ich kann doch nichts dafür, dass ich ein Mädchen bin, ich wäre liebend gern auch ein Junge. Ebenso habe ich es mir nicht ausgesucht, hässlich zu sein. „Du bist selber hässlich!“, brülle ich zurück und schubse den, der mir am Nahesten steht. Dann erklären die Jungs mir, dass ich doch eh nichts kapieren würde, weil ich doch offensichtlich behindert wäre. Ich bin sehr traurig über die Dinge, die sie mir an den Kopf werfen, aber ich lasse mir nichts anmerken, kontere immer mit einer Gemeinheit meinerseits.

Am meisten hassen es meine Brüder, wenn ich unbedingt mit zu ihren Freunden nach Hause zum Spielen will. „Such dir doch eigene Freunde.“ Aber das würde ich ja gern, es ist bloß gar nicht so einfach. Wenn die Nachbarskinder mich ärgern, bin ich traurig. Ich habe gehört, dass der Papa von einem Mädchen es nicht mag, dass wir gemeinsam spielen. Ich bin wohl nicht gut genug. Deshalb versuche ich eben doch immer wieder, auf den Fersen von meinen Brüdern zu bleiben, auch wenn wir uns gemeine Sachen an den Kopf werfen. Und wenn sie von ihren Freunden oder von deren Eltern etwas geschenkt bekommen, dann rege ich mich so lange lautstark darüber auf, bis ich auch etwas bekomme. Das macht meine Brüder natürlich erneut stinkwütend, und sie schwören mir, dass sie mich nie wieder irgendwohin mitnehmen werden.

Eines Abends dürfen wir noch mit Mama zum Einkaufen gehen. Mama trägt den kleinen Bruder, der gerade ein Jahr alt ist, auf dem Arm; an der anderen Seite halte ich ihre Hand. Die großen Jungs laufen vorneweg. Ich quassle ununterbrochen, nutze die Zeit, um Mama ganz viel zu erzählen. An der Straße müssen wir stehen bleiben, gegenüber sehe ich den Supermarkt, die Jungs stehen bereits davor. Ich hüpfe aufgeregt von einem Bein aufs andere, bin ganz ungeduldig. Mama erklärt mir, dass wir die Straße überqueren können, wenn das Motorrad vorbei gefahren ist. Aber den zweiten Teil vom Satz höre ich nicht mehr, ich bin schon losgelaufen. Es knallt ganz laut. Schreie. Stille.

Im Rettungshubschrauber träume ich, dass ich am Fenster stehe, über Mama hinwegfliege und ihr zuwinke. In meinem Traum bohren Männer in meinen Wunden, und das tut höllisch weh. Mein Kopf schmerzt unbeschreiblich, mein ganzer Körper brennt. Die Schmerzen sind unerträglich. Ich wache auf und muss mich übergeben. Dann wird alles wieder schwarz.

Ich merke gar nicht, dass man mich ins Krankenhaus bringt, merke nicht, dass Ärzte um mein Leben kämpfen. Erst sehr viel später ist auch Mama da, hält meine Hand. Sie erklärt mir, dass ich wohl großes Glück gehabt haben muss. Die Ärzte waren ursprünglich davon ausgegangen, dass ich – wenn überhaupt – nur mit einer Behinderung überleben würde.

Doch ich bin wieder ganz gesund und darf früher als geplant nach Hause. „Du hattest doch immer schon einen Dickschädel“, scherzt Papa, als er mich die Treppe hoch zur Haustür trägt, und ich lächle erschöpft. Mein Kopf lehnt an seiner Brust. Ein schönes Gefühl.

Danach ist alles wieder beim Alten. Ich muss mich zwar etwas schonen, doch schon bald tobe ich wieder herum wie eh und je. Auch die alten Streitigkeiten unter uns Geschwistern sind wieder an der Tagesordnung. Aber in mir hat sich etwas geändert. Als meine Brüder wieder vor ihren Kumpels erklären, dass ich ihre doofe Schwester bin, total behindert eben, setze ich mich erst gegen diese Aussagen zur Wehr, doch langsam schwant mir Schlimmes. Ich erstarre schockiert. Ich erwidere nichts mehr. Also doch. Ich habe vom Unfall eine Behinderung davongetragen. Ich bin schockiert, traurig. Meine großen Brüder wissen doch schon so viel, die sind richtig klug. Wenn das also eine Tatsache ist, dann kann ich nichts mehr entgegenhalten. Von nun an trage ich starke Zweifel und eine große Portion Unsicherheit mit mir herum, wahrscheinlich bin ich nicht ganz richtig im Kopf. Alle scheinen es zu wissen, bloß mir hat man nichts davon gesagt …

*

Die zweite Schlägerei bekomme ich aus nächster Entfernung mit. Ein bekannter, junger Mann sitzt bei uns am Tisch, und wir essen zu Abend. Papa unterhält sich mit ihm, wir Kinder reden untereinander. Ganz leise, denn wir sollen nicht das Gespräch der Erwachsenen stören. Plötzlich springt Papa auf. „Entschuldigung, aber so ist es nun mal“, sagt der Mann. Papa geht drohend auf ihn zu, die Faust erhoben. „Tut mir leid, aber es ist meine Meinung“, sagt der Mann erneut und Papa tritt noch näher. Er sieht unglaublich wütend aus. Meine Kinnlade fällt nach unten. Was ist denn mit den Beiden los, die verstehen sich doch sonst so gut?

Dann geht alles ganz schnell. Papa fasst den Mann am T-Shirt direkt an der Brust. Seine Faust donnert mitten ins Gesicht seines Gegenübers. Das dabei entstehende Geräusch ist das schrecklichste Geräusch, das ich je in meinem bisherigen Leben gehört habe. Papa reißt den Mann aus der Küche, das T-Shirt zerfetzt. Der Mann landet mit seinem Kopf auf einer Kommode, die im Hausflur steht. Ich laufe ein Stück weit hinterher und bleibe in der Tür zwischen Küche und Gang stehen. „Hör doch auf, Papa!“, schreie ich heulend. Ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Mein Bauch tut weh, mein Kopf fühlt sich wie eine schwarze, laut rauschende Leere an, mein Brustkorb brennt. Meine Hände und Knie zittern. Meine Seele kauert am Boden, versteckt ihr Gesicht zwischen den angewinkelten Beinen. Ich aber bleibe aufrecht stehen, starre auf das, was hier vor sich geht. Ich sehe, wie dem Mann Blut über das Gesicht läuft, er wankt wie benommen vor und zurück, für einen Moment lang sieht es so aus, als würde er ohnmächtig werden. Dann läuft er zur Haustür hinaus, Papas Fuß holt gerade zu einem Tritt aus, streift ihn aber nur noch am Oberschenkel. Papa geht ein paar Schritte hinterher, vergewissert sich, dass der Mann weg ist.

Dann kommt er zurück. Ich stehe immer noch wie im Schock zitternd an der Küchentür und weine. Papa sieht mir von oben herab direkt in die Augen und herrscht mich an: „Was fällt dir ein, so ein Theater zu machen? Beherrsche dich gefälligst, du Rotzmädchen!“ Mein Weinen verstummt abrupt, mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Ich bleibe erstarrt und mit offenem Mund stehen, schnappe nach Luft.

Am Boden vor mir sehe ich ein paar Tropfen Blut und einen Ring. Der Ring gehörte bestimmt dem jungen Mann. Ob er schon gemerkt hat, dass er ihn verloren hat?

*

Der Winter ist angebrochen. Unmengen an Schnee fallen vom Himmel: dicke, weiße Flocken, unendlich viele. Manchmal versuche ich, sie zu zählen, muss aber immer nach kurzer Zeit aufgeben. Wie schön sie tanzen. Wenn ich die Zunge rausstrecke, fühlt es sich ganz lustig an. Kribbelig irgendwie. Schneeflocken schmecken fast durchsichtig und nicht immer kalt. Wenn man von einem Schneeball abbeißt, dann schmeckt es ganz anders, als wenn einzelne Flocken auf die Zunge tropfen. Das habe ich selbst erforscht. Irgendwie eigenartig. Schnee ist doch immer Schnee.

Auf der Wiese neben unserem Haus kann man Schlitten fahren, Schneeballschlacht machen und die größten Schneemänner der Welt bauen. Wenn man am oberen Ende des Hanges eine Schneekugel losrollt, dann ist diese riesengroß, wenn sie am unteren Ende ankommt. Wir wiederholen den Vorgang dreimal, denn drei Kugeln braucht man für einen richtigen Schneemann. (Das wissen nur die wenigsten.) Um die zweite Kugel auf die Erste zu heben, müssen mehrere von uns Kindern die ganze Kraft vereinen, denn der Schnee ist sauschwer, vor allem wenn er nass ist. Die dritte Kugel wird dann doch wieder etwas kleiner gemacht, etwas vom Schnee mit der Handfläche abgehackt, erstens, weil der Kopf doch nie gleich groß ist, wie der Bauch, und zweitens würden wir den sonst gar nicht mehr dahin bekommen, wo er hingehört. Knöpfe, Karottennase, Stöcke für die Arme, alles muss perfekt sein. Inzwischen hat es schon so viel geschneit, dass ich fast nicht mehr über die Schneedecke sehen kann, sie reicht jetzt genau bis zu meiner Nasenspitze. Wir bauen uns eine Festung um den Schneemann herum, arbeiten hart mit den großen Schippen. Was für eine Herausforderung. Ich bin zufrieden mit unserem Werk.

Das allerschönste Gefühl ist es aber, anschließend am Kachelofen zu sitzen und die durchgefrorenen Glieder wieder mit Wärme durchfluten zu lassen. Die Augen fallen schon wie von alleine zu. Mama trägt mich in mein Bett.

Direkt in der Nähe unseres Hauses verläuft eine Skipiste mit einem kleinen Bügellift. Dieses Jahr schaffe ich es schon, alleine im Lift zu fahren. Letztes Jahr konnte ich das noch nicht, da hat Papa mich immer mit meinen Skiern zwischen seine Beine gestellt, und so sind wir gemeinsam den Hang hochgesaust und anschließend wieder die Piste entlang runter. Jetzt fährt Papa hinter mir her; der muss sich richtig anstrengen, um nicht den Anschluss zu verlieren, weil ich ganz schön schnell unterwegs bin.

Mama geht mittlerweile wieder arbeiten. Sie ist Kindergärtnerin, aber nicht in unserem Dorf. Ich wollte mit in ihren Kindergarten gehen, doch das darf ich nicht. Somit sind den ganzen Tag fremde Kinder bei meiner Mama, aber nicht ich. Völlig ungerecht. Oft denke ich, dass Mama andere Kinder lieber mag als mich. Sie bereitet sogar Spiele und Geschichten vor für sie. Vor Kurzem wollte sie sogar „MEIN“ Lieblingsbuch mit zu den anderen Kindern nehmen, um es diesen vorzulesen. „Die Schneekönigin“. Von dem Buch kann ich kaum genug bekommen. Die Nachfrage hat mich unglaublich verletzt, empört, aber als Mama dann ohne mein Buch aus meinem Zimmer gegangen ist, und ohne mich, hat mich das seltsamerweise auch sehr traurig gemacht, obwohl ich mich doch erfolgreich durchgesetzt habe. Ihr enttäuschtes Gesicht war schwer für mich zu ertragen und brennt noch für einige Zeit in meiner Seele. Aber warum hat sie denn auch aufgegeben? Ich hätte doch bloß hören wollen, dass ich trotzdem am Allerwichtigsten für sie bin, auch wenn sie anderen Kindern vorliest. Und dass sie mich lieb hat, weil ich doch ihr einziges Mädchen bin. Aber sie hat mich nur enttäuscht angesehen und ist von mir fortgegangen.

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Heute konnte ich die ganze Nacht kaum schlafen und bin schon ganz früh wach. Endlich ist es soweit. Heute ist Weihnachten, das Christkind kommt. Ich bin aufgeregt. Hurtig springe ich aus dem Bett. Auf meinem Nachtkästchen sehe ich die Einzelteile meines Weckers. Es war mein erster Wecker, ein roter, den habe ich von meiner Tante geschenkt bekommen. Obwohl ich die Uhrzeit noch nicht lesen kann, habe ich mich sehr gefreut; das gleichmäßige Ticken hat mir sehr gefallen. Nachdem meine Brüder das Innenleben des Weckers begutachten wollten, hat das Ticken aufgehört. Wehmütig wende ich den Blick ab.

Schon bin ich wieder ganz aufgeregt. Was mir wohl das Christkind heute bringen wird? Eigentlich habe ich mir, wie jedes Jahr, vom Christkind eine Schwester gewünscht. Wenn ich eine Schwester hätte, dann wäre ich nicht mehr so einsam. Dann hätte ich jemanden, der mich versteht und der immer mit mir spielt. Aber ich denke, dass dieser Wunsch auch heute nicht in Erfüllung gehen wird. Somit hoffe ich auf ein tolles Spiel, eine Puppe vielleicht. Der Tag vergeht in Zeitlupe. Wann ist denn endlich Abend?

Als ich am Abend zum Essen in die Küche will, wird die Tür von innen zugehalten. Ich hämmere gegen die Tür und höre die Jungs flüstern. „Lasst mich rein“, rufe ich und haue weiter mit den Fäusten gegen das Holz. „Macht auf!“ Doch die Tür bleibt verschlossen. Verzweifelt fange ich an zu weinen; warum werde ich denn ausgeschlossen? Ich höre Mama reden; warum hilft sie mir denn nicht? Ich setze mich lautstark heulend auf den Boden und fühle mich so einsam, alleine. Es kommt mir ewig vor, bis die Tür sich öffnet und ich endlich in den Raum darf. Was soll das denn? Das ist so gemein. Die Jungs tuscheln und kichern. Endlich essen wir zu Abend. Nudelsuppe mit Würstchen und anschließend Schneemilch, lecker. Aber nur halbherzig genieße ich das Essen; ich will endlich in die Stube, um zu sehen, ob das Christkind Geschenke unter den Christbaum gelegt hat. Mama geht auf Toilette; da erklingt ein Glöckchen. Das Christkind!

Jetzt gibt es kein Halten mehr. Wir laufen ungestüm in die holzgetäfelte Stube. Der Ofen strahlt eine wohlige Wärme aus. Unzählige Kerzen tauchen den Raum in goldenes Licht, Lametta glitzert, es funkelt überall. Unsere Kinderaugen leuchten um die Wette. Ehrfürchtig schaue ich zu Mama und Papa. „Dürfen wir?“ Die Eltern nicken. Ich schnappe mir mein Geschenk und reiße atemlos die Verpackung auf. Ein Karton. Ob es die Puppe ist? Der Karton klemmt; endlich kann ich ihn öffnen und sehe – rote Schuhe. Ich erstarre. Habe ich das richtige Paket erwischt? Mein Herz rutscht in die Hose. Ich gucke erneut in den Karton, drehe und wende ihn, doch weiter finde ich nichts. Tränen steigen in meine Augen. Ich bin so enttäuscht. Hat das Christkind mich denn nicht lieb? Warum schenkt es mir denn Schuhe? Und zu allem Überfluss sind diese Schuhe auch noch rot. Muss denn jeder gleich sehen, dass ich ein Mädchen bin? Wo Mädchen doch so doof sind? Mein Blick schweift in die Runde; ich sehe, dass meine Brüder mit roten Wangen eifrig dabei sind, ihre neuen Spiele zu testen. Da rollt eine Träne lautlos über mein Gesicht.

Am nächsten Morgen spaziere ich unauffällig mit den neuen Schuhen aus dem Haus. Gegenüber steht eine Mülltonne, der Müllwagen biegt soeben um die Ecke. Ich steige auf einen großen Stein und strecke mich. Ein Hops und der eine Schuh fliegt in hohem Bogen in die Tonne. Jetzt kann ich wieder ins Haus zurück. „Ich habe einen Schuh verloren“, rufe ich zu Mama in die Küche. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie die Müllmänner die Tonne in den Wagen kippen und brummend ihre Fahrt wieder aufnehmen. Erleichtert atme ich aus. Das war‘s mit roten Mädchenschuhen.

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Mein fünfter Geburtstag geht vorbei. Es war ein Tag voller gemischter Gefühle. Ich habe Kinder aus dem Kindergarten eingeladen. Drei Jungs und ein Mädchen. Doch die Jungs haben lieber mit meinen Brüdern gespielt, sind über die Couch gehüpft, und ich habe mit aller Kraft versucht, sie zu mir zu ziehen, um sie dazu zu bewegen, mit mir gemeinsam zu spielen. „Das ist mein Geburtstag!“, meine Stimme überschlägt sich vor Wut. Doch ich kann die Situation nicht ändern und versuche, mich irgendwie ins Gerangel der Jungs einzufügen.

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Heute Nacht hat es schon wieder ordentlich geschneit. Die Straße vor unserem Haus wurde bereits vom Schneepflug leer geräumt, aber links und rechts davon liegt der Schnee richtig hoch. Ich bleibe zögernd stehen. Eigentlich gehe ich den Weg zum Kindergarten immer gemeinsam mit dem Nachbarsjungen. Wir dürfen jetzt schon alleine in den Kindergarten, müssen dazu ja nur die Wiese überqueren. Jeden Morgen läute ich an der Tür des Nachbarhauses. Der Junge ist sehr schüchtern, manchmal stottert er beim Sprechen. Dann unterstütze ich ihn immer, und wenn ihn jemand auslacht oder ärgert, weil er stottert, dann beschütze ich ihn mit meiner ganzen Kraft. Jedenfalls muss ich mir heute einen Weg durch den tiefen Schnee bahnen, um zu seiner Haustür zu gelangen. Ich muss meine Füße ganz hoch anheben, Schritt für Schritt wate ich mit voller Kraft durch die kalte Decke, schwer konzentriert. „Sag mal, spinnst du?“ Ich erschrecke mich, stolpere, falle hin. Warum brüllt Papa denn so plötzlich von der Haustür herüber? Ich drehe mich um, wate erstaunt und ängstlich zurück. „Was soll denn das?“ Papa ist sichtlich erzürnt, ich verstehe aber nicht den Grund dafür. Er will, dass ich andere Hosen und Socken anziehe, hilft mir schnell, die Schuhe zu schnüren, und befördert mich dann wieder vor die Tür. „Los, jetzt ab mit dir in den Kindergarten“, knurrt er, immer noch wütend. Klar, denke ich mir. Da wollte ich doch vorhin schon hin. Ich stapfe die Eingangstreppe hinunter und überquere die Straße. Dieses Mal ist es schon etwas einfacher, durch den tiefen Schnee zu waten, die Spuren von vorhin sind noch gut sichtbar. Aber ich komme wieder nicht weit. Dieses Mal höre ich kein Brüllen, aber ich höre ein Schnaufen, und schon spüre ich einen schmerzhaften Ruck an meiner Schulter, ich wirble durch die Luft. Voller Wut schleift Papa mich die Treppe hoch, kaum hinter der Haustür angekommen, trifft mich die flache Hand auf dem Po und gleich darauf im Gesicht. Geschockt starre ich Papa an, ich kann die Welt nicht mehr verstehen. Was ist denn heute los mit ihm? Er schmeißt mir wiederum ein Paar Hosen vor die Füße, ebenso Socken. Mit großem Aufwand schlüpfe ich aus meiner Jeans, die ist klitschnass und klebt an meinen Beinen, meine Haut ist ganz rot von der Kälte. Fast stolpere ich über das eine Hosenbein, spüre, dass mein Gesicht rot anläuft. Ich beeile mich, um Papa nicht noch mehr zu verärgern, aber das ist gar nicht so einfach. Hektisch schlüpfe ich in die neue Hose, meine Hände zittern. In trockenen Klamotten schaue ich ihn fragend an, aber der schiebt mich schon wieder vor die Tür. „Und wehe, wenn du nicht direkt in den Kindergarten gehst.“ Ich stehe auf der Straße, ratlos. Ich wollte doch schon längst in den Kindergarten. Was habe ich denn falsch gemacht? Ich bleibe stehen, überlege was ich machen soll. Da kommt mir auch schon der Nachbarsjunge entgegen. „Warum hat denn dein Papa eben so gebrüllt?“, fragt er mich mit angehobener Augenbraue. „Keine Ahnung“, murmle ich schulterzuckend und greife mir mit der Hand an die Wange, die immer noch leicht brennt. Dass ich einfach nicht in den tiefen Schnee sollte, um trocken in den Kindergarten zu gelangen, hab ich bis zum Schluss nicht kapiert. Wie denn auch, wenn ich nur angebrüllt werde und mir niemand die Situation erklärt. Schon bald vertiefen wir uns in ein Gespräch und planen gemeinsam eifrig, was wir heute im Kindergarten alles verwirklichen wollen.

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Es wird Frühling. Der Schnee zerrinnt, Matsch läuft die Straße entlang. An manchen Stellen erkämpft sich die Wiese ihren Platz vom Schnee zurück; die ersten Krokusse bahnen sich ihren Weg. Sie sind weiß oder lila, einfach wunderschön. Vögel zwitschern. An den Tannenbäumen sprießen die ersten Knospen. Von unserem Schneemann ist noch ein Rest übrig, er wird aber jeden Tag kleiner. Die Karottennase liegt runzelig am Boden, die Astarme sind nicht mehr da. Ui, der arme Schneemann. Ich kann mir kaum noch vorstellen, wie groß er einmal war.

Endlich können wir unsere Fahrräder aus dem Keller holen, leicht verstaubt vom langen Winter. Wie toll doch Fahrradfahren ist. Mit Schwung durch den Schneematsch düsen, links und rechts von den Rädern spritzt das Wasser hoch. Wie lustig. Man muss sich konzentrieren, um nicht auszurutschen und hinzufallen. Ich spreize die Füße links und rechts vom Fahrrad weit ab. Was macht das für einen Spaß, mit wehenden Haaren die Straße runter zu sausen. Manchmal ziehen wir auch Gummistiefel an und springen mitten in die Pfützen, dann platscht das richtig laut und der Matsch fliegt in hohem Bogen durch die Luft.