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Der vorliegende Roman ist zweifellos durch E. T. A. Hoffmann, den Altmeister des Grauens, inspiriert und eine Hommage an seinen umstrittenen Roman Die Elixiere des Teufels. M. G. Scultetus hat Hoffmanns Roman, ohne die Elixiere auch nur ein einziges Mal aufzuschlagen, in eigener moderner Sprache umgestaltet, um das Werk inhaltlich und formal völlig neu zu fassen. Der größte Unterschied zu den Elixieren besteht schon darin, dass er bei durchaus gesteigertem oder gar neuem Grauen dennoch spukfrei ist; scheinbare Spukszenen spielen sich dann auch nur im Inneren des wahnsinnigen Mönchs ab.
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Seitenzahl: 395
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen
Ergänzender Bericht des Abtes Leonardo
Brief der Mutter
Brief des Vaters
(Teil 1)
Der Bericht des Alten Malers
Brief des Vaters
(Teil 2)
Nachwort des Verfassers
Stammbaum der Dynastie
Monographien von Schulz – Scultetus
Es war ein warmer August-Tag, wie er in den südlichen Tälern des gottbegnadeten Schweizerlandes nicht eben selten ist, als das Verhängnis über mich herein brach; ein stiller Tag, zu Beginn des Monats; Mensch und Tier schläfrig; nur die Glocken der Stadtkirche, lang und leise, ließen in weichen Wellen ihren silbrigen Klang über den bezaubernden Fluren schweben.
Der Landmann war noch auf seinen Feldern, um emsig nach der kommenden Ernte Ausschau zu halten; auf der staubigen Landstraße hin und wieder ein knarrendes Fuhrwerk, das nach Süden strebte, ins Land, wo die Zitronen blühen; dann läutete eintönig das Glöckchen unseres Klosters; es erinnerte mich daran, dass es nun an der Zeit sei, mich in den Beichtstuhl zu begeben …
Die kratzige braune Kutte, bei dieser Hitze mein einziges Kleidungsstück, klebte mir wie eine zweite Haut am feuchten Leib; ich holte ein flauschiges Tuch aus dem weiten Ärmel, um mir die Stirn trocken zu reiben, und ich tastete dabei nach der auf der Innenseite angenähten ledernen Scheide, in der ich ein winziges Messer mit mir trug; dabei rutschte der Stoff ein wenig empor; wütend sah ich das feuerrote Muttermal auf dem linken Unterarm, diesen scheußlichen Fleck; ich hasste und verabscheute ihn, schon immer, ohne sagen zu können, warum … oder doch?
Vielleicht lag es an seiner seltsamen Form, die mich immer wieder an ein primitiv geschnitztes Kreuz erinnerte, das Zeichen meiner grausamen Unterjochung.
Jetzt starrte ich missmutig auf die aus rohen Steinen unüberwindlich hoch aufgetürmte Mauer des Konvents, hinter der sich am fernen Horizont die schroffen Gipfel der schneebedeckten Bergriesen abzeichneten, und ich durchmaß gemessenen Schrittes den von ihr eingefriedeten Klostergarten mit seinem im leise singenden Wind wogenden Blumenmeer:
Tausende von schwirrenden Fliegen, von Bienen und Hummeln ließen ihr Sirren und Summen und Brummen in meine Ohren eindringen; getupfte Schmetterlinge gaukelten und schaukelten raschelnd um die Blüten, um flatternd über ihnen oder sich auch auf ihnen niederlassend den langen fein gebogenen Saugrüssel im köstlichen Nektar einer Blume nach der anderen zu versenken; bunte Insekten krabbelten eilig über den gekiesten Weg, hinter denen der goldgrüne Laufkäfer mörderisch her war und hatten noch Glück gehabt, wenn ich sie allesamt nicht zähneknirschend mit den groben Sandalen in den Grund stampfte, denn vom unfernen Städtchen her, der heiß geliebten Heimstatt meiner für immer verlorenen Kindheit und Jugendjahre, dessen Festungen trutzig von Wehrtürmen gekrönt waren, auf denen sich träge die launische Wetterfahne drehte, wehten durch die himmlische Stille störende Geräusche über die düster empor ragenden Klostermauern und zu mir in den Garten hinein, die mich an den Rand des Wahnsinns trieben:
Die jungen Leute hatten nämlich der stickig staubigen Stadt den Rücken gekehrt und sich ans Ufer des Flüssleins begeben, in dem sich das makellose Blau des Himmels spiegelte und welches sich gemächlich daher plätschernd durch unser sonnenverwöhntes Ländchen hindurch dem nicht mehr allzu fernen Italien entgegen schlängelt, um unterwegs noch eilig den Stadtgraben zu füllen, der sich, von Schilf überwuchert und mit lärmenden Fröschen besiedelt, rund um die aus prächtigen Quadern kühn in den Himmel hinauf getürmten steinernen Wälle erstreckt.
Dort hatten sie gewiss wieder einmal all die verschwitzten Kleider abgelegt, um sich in die erfrischenden Fluten zu stürzen und den fröhlichsten Spielen hinzugeben …
Bis zu mir ins Kloster hinein drang jetzt das Geräusch des von Händen geschlagenen Wassers der Schwimmenden und ihr vergnügtes Stimmengewirr, stark gedämpft durch die Entfernung einer Viertelmeile, darunter das silbrige Rufen der Mädchen, manchmal von einem kleinen feinen lustvollen Kreischen unterbrochen, wenn der einen oder anderen von ihnen die begehrlichen Hände eines jungen Mannes zu nahe gekommen waren, und dazu wie eine Antwort darauf die dunkleren Töne dieser liebestollen Burschen; gewiss lagen sie sich, vom erfrischenden Elixier umrauscht, mit sündhafter Begierde in den Armen, um einander zu küssen, und im Geiste war ich mitten unter ihnen …
Nicht nur der steinalte Stadtpfarrer, diese halbe Leiche, nein, auch ich selbst, heuchlerisch, ich, der begnadete, weit und breit berühmte Kanzelredner des Klosters, in dem manche in ihrer Dummheit schon den künftigen Heiligen vermuteten, hatten bereits wiederholt gegen dieses sündige Babylon gewettert, freilich ohne aber den geringsten Erfolg gehabt zu haben:
»Oh, könnte ich doch nur unerkannt oder unsichtbar unter ihnen, könnte ich doch nur einer von ihnen sein und an ihren fröhlichen Spielen teilhaben!«, dachte ich sehnsüchtig und wehmütig, einen tiefen schneidenden Schmerz in der Seele verspürend, eine brennende Sehnsucht, denn mit meinen vierundzwanzig Lenzen gehörte ich doch wohl immer noch zu ihnen, oder war ich über dieses himmlische Alter schon hinaus gewachsen und unversehens ins zahnlose Greisenalter geraten?
Doch rasch ward mir das Vergebliche all dieser insgeheim gehegten Wünsche gewiss, denn mir war ja Solches für immer und ewig verwehrt, seitdem ich vor neun Jahren meine Gelübde abgelegt und mich für ein zurückgezogenes Leben hinter den Mauern des Klosters entschieden hatte, fern von den Verführungen der bunten Welt, fern vor allem der verführerischen Frauen; vor einigen Jahren hatte mich der Erzbischof von Chur dann auch noch zum Priester geweiht und damit das Tor zur Welt krachend hinter mir zugeschlagen, endgültig, für immer und ewig! Oh, mein Gott!
Das abscheuliche Glöckchen bimmelte noch immer misstönend schepprig; ich hätte den Bruder Glöckner verfluchen können, diesen übereifrigen alten Pater, diese halbvermoderte Gestalt, welche zu sonst nichts mehr zu gebrauchen ist, denn nun blieb mir gar nichts anderes mehr übrig, als mich in unsere Kirche zu begeben, dieses den Schweiß und Körpergeruch der Menschen eines Jahrtausends ausatmende dumpfe Gemäuer, welches der Sage nach bereits von Kaiser Karl d. Gr. gegründet wurde …
Durch das eherne, kühn überkuppelte Rundbogen-Portal begab ich mich ins Innere der stummen Kapelle; die Sonne stand schon tief im Westen und schickte ihre feurigen Strahlen durch die mächtige, fast die gesamte Breite der Westfassade einnehmende Fensterrose ins Innere; eine Mischung von flammendem Rot und leuchtendem Blau flackerte durch das Kirchenschiff und brach sich grell an den mächtigen Mauerpfeilern, alles rundum mit unruhig über die Wände wanderndem Licht erfüllend.
Hier also sollte ich mit dem frommen Volk eine Bußandacht halten, um meine Beichtkinder dann nacheinander im Beichtstuhl zu empfangen, aber die Kirche war heute gähnend leer, und ich stand dort mutterseelenallein; wütend dachte ich an den unfernen Fluss und das wilde Treiben dort:
Sobald sich das Wetter verschlechterte, würden sie kommen, scharenweise, mir all ihre pikanten Sünden zu beichten, sonder Ahnung, wie wüst es in meinem eigenen Inneren aussah …
Schon atmete ich auf, wollte mich entfernen und auf meine Zelle gehen, um mich dort irgendeiner Lektüre hinzugeben, da hörte ich gedämpfte Schritte; jemand näherte sich auf samtenen Sohlen:
Aufgrund der Leichtfüßigkeit der Tritte schloss ich zurecht auf den feinen Schuh einer Frau; Männer haben mit ihren genagelten Stiefeln eine ganz andere Art des Gehens und geben sich alle Mühe, recht kraftvoll daher zu stampfen …
Eilig begab ich mich zur rechten Seite des Kirchenschiffs, wo sich der uralte hölzerne Beichtstuhl befindet, dieses widerwärtig wurmstichige schwarz lackierte Ungetüm, welches ich dir, mein über alles geliebter Leser, nun so beschreiben möchte:
Er besteht aus einem großen mittleren Gehäuse, das dem Priester vorbehalten ist; es ist so breit, dass sogar zwei Geistliche darin Platz finden, die dort dann Rücken an Rücken sitzen, was allerdings nur vor hohen Feiertagen wie Ostern oder Pfingsten und bei dem dazu passenden Andrang üblich ist.
Das Fenster in der Tür, dem Zugang zur priesterlichen Kabine, ist von einer feinen Gardine verhangen und lässt nur spärliches Licht in das Inneres ein; links und rechts davon sind zwei nach vorne und zur Seite offene Plätze, mit einer Kniebank versehen, auf welcher sich das Beichtkind niederzulassen hat, bevor es zum flüsternden Gespräch mit dem Priester, dem sogenannten Sündenbekenntnis kommt, sowie oben einem Vorsprung oder Sims zum bequemen Aufstützen der Unterarme und Hände:
Ein breites Sprechgitter aus sich diagonal überkreuzenden Stäben verbindet und trennt zugleich den Geistlichen und den Beichtenden; während der Priester das Beichtkind, so nennen wir alle Leute, ganz gleich, wie alt sie sind, die aus diesem Grunde zu uns, dem Beichtvater, kommen, ziemlich gut sehen kann, besonders an einem hellen Tag, wie dem oben geschilderten, wenn die Kirche von buntem Licht durchflutet ist, hat es das Beichtkind schwerer, den im Halbdunkel sitzenden Priester zu erkennen; dennoch wusste jedermann, welchen Geistlichen er heute vor sich hatte, und dass diesmal ich an der Reihe war: Es war nämlich, wie üblich, durch einen öffentlichen Aushang bekannt gemacht worden.
Die Frau, welche nun durch das Portal schritt, war sich also dessen vollkommen sicher; sie wusste, zu wem sie kam und hatte den Weg unter anderem auch deshalb auf sich genommen, um ausgerechnet mich zu sprechen, Pater Franziskus, den berühmten Prediger und sonst keinen anderen; doch dazu später mehr …
In aller Eile, noch bevor sie mich sehen konnte, zog ich die Tür des Gelasses hinter mir zu, legte mir die dort auf mich wartende lila Stola um den Hals, setzte mich auf den unbequemen Schemel, räusperte mich mehrfach und harrte dann gesenkten Hauptes und in seltsamer Erregung der Dinge, die da kommen sollten.
Das Rascheln edler Kleider riss mich aus der Lethargie; ich gewahrte eine große schlanke weibliche Gestalt, von Kopf bis Fuß in ein mantelartiges, durch die Hitze des Tages am feuchten Oberkörper klebendes, Taille und Rundungen betonendes ärmelloses rosa Seidenkleid gehüllt, das von winzigen Schweißflecken übersät war, welche hier und da die Haut durchscheinen ließen; ihre ebenmäßigen Arme, die wie von Bildhauerhand geschaffen aus den etwas zu breit geratenen, wenn auch wohlgeformten, an beiden Enden unbedeckt heraus ragenden Schultern hervor gingen, blieben meinen neugierigen Blicken ungeschützt ausgesetzt:
Auf der Vorderseite war es durch eine Reihe von silbern blinkenden Knöpfen geschmückt, welche mich an blanke Münzen erinnerten, und mit denen es mühsam zusammengehalten wurde; es reichte bis ungefähr zwei Handbreit hinab über die im feinsten Geflecht italienischer Sandalen steckenden bloßen Füße mit ihren feurig lackierten Nägeln; eine silberne Kette, an dem goldene Herzchen angelötet waren, klimperte oberhalb des linken Knöchels.
Ihr Kopf steckte in einer Kapuze, in der das Gewand nach oben auslief, die mittels einer aus Silberfäden gedrehten Schnur zugezogen war; über das Gesicht hing ein weißer Schleier, filigran wie Spinnenweben, um dann hinab bis über die Schultern zu fallen, der es mir vorerst noch unmöglich machte, ihre Züge zu erkennen; dennoch begriff ich auf der Stelle, dass es sich hier um eine vornehme Dame handelte:
Die Anmut ihres Ganges, ihre schwebende Leichtfüßigkeit hatte es mir verraten, und der feine Duft eines köstlichen Parfüms wehte nun durch das Sprechgitter zu mir herüber und geriet mir so verführerisch in die Nase, dass ich ihn genussvoll und genießerisch einsog, als sie tief atmend unmittelbar vor mir stand; ich schätzte, dass sie ungefähr meine Größe hatte, und ich bin alles andere als ein Zwerg:
Einen Augenblick lang blieb sie noch unschlüssig stehen; dann raffte sie das Gewand mit der linken Hand so weit empor, dass ich, von der Mitte der durchaus üppig zu nennenden Oberschenkel abwärts, ihre geschwungenen Waden und die göttlichen Füße gewahren konnte, kniete sich dann nieder, ließ das Gewand wieder herab rauschen, bis Schenkel und Füße darunter verschwunden waren, legte beide Arme und die Hände, welche samt halbem Unterarm von Handschuhen aus feinstem hellblauen Leder umschmeichelt waren, auf die knarrende Brüstung, neigte mir das Haupt zu und näherte sich dabei dem Sprechgitter mit dem unsichtbaren Mund aufs Innigste und Engste, als wollte sie es küssen, ja, als wollte sie mich küssen.
Auch ich war ihr inzwischen unwillkürlich ganz nahe gekommen, so weit es eben ging, so dass uns nur noch ein Fingerdick voll von sich kreuzenden Holzstäben trennten: Nach einer kunstvoll kurzen Pause hauchte sie, sich zuvor zweimal melodisch räuspernd, zu mir hinüber:
»Laudetur Jesus Christus, Pater Franziskus!«
»Per omnia saecula saeculorum«, wollte ich ihr freudig antworten, aber mir blieben die Worte im Halse stecken; die Kehle war wie zugeschnürt, und ich schwieg betroffen, während mein Herz vom gemächlichen Stakkato in ein Trommelkonzert überging und mich wilde Begierde zu überwältigen drohte:
Es war ihre Stimme, ihre süße Stimme, ihre betörende Stimme, die mich in den Irrsinn trieb; noch nie im Leben hatte ich eine vergleichbar himmlische Stimme gehört, und das bezaubernde Hören dieser göttlichen Stimme ließ mich wie im Taumel erstarren, erkennend, dass nach den immer noch nicht verwundenen Geschehnissen mit und um Chiara hier erst die Frau meiner Träume erschienen war, während vor meinem inneren Auge in der Geschwindigkeit des über den nächtlichen Himmel zuckenden Blitzes das Elend der gesamten Vergangenheit wieder auftauchte, vor der ich mich ins Kloster geflüchtet hatte:
Ich wurde auf den Namen Francesco getauft, denn mein Vater, ein Italiener, der wenige Tage vor meiner Geburt starb, hieß ebenso, aber meine deutsche Mutter, an die ich mich noch ein Wenig erinnern kann, nannte mich gewöhnlich nur Franz.
Deutsch ist also meine Muttersprache, auch wenn ich den größten Teil meiner Jugend in der italienischen Schweiz zubrachte, wo ich eine kirchliche Internatsschule besuchte, und mich daher als zweisprachig bezeichnen kann, doch der Gegensatz zwischen meiner alten und neuen Heimat könnte nicht größer sein:
Noch immer habe ich das Rauschen der knorrigen Eichen im Ohr, wenn der raue Wind über die endlosen Ebenen des nördlichen Preußenlandes und durch ihre krausen Äste pfiff; an freundlichen Tagen nichts als blauer Himmel und der schmale Streifen flachen Grünlandes; ein kleines Dorf war es, dem nahen Klösterlein untertan, in dessen fürsorglichem Heim meine kranke Mutter hilfeheischend untergekrochen war, und dort verbrachte ich meine ersten drei Lebensjahre, schöne Jahre aus meiner Sicht, der ich ja nichts anderes kannte, ein Dasein in bitterster Armut hingegen für meine Mutter, die sich so große Hoffnungen gemacht hatte, als ein gewisser Francesco di Parma sie ehelichte oder besser: sie sich des jämmerlich herunter gekommenen Mannes erbarmte, wie ich erst nach Jahren erfuhr, denn Mutter sprach nie über ihn, außer dass er ein sündiger Mensch gewesen sei, der übergroße Schuld auf sich geladen habe; aber Gott habe sich seiner erbarmt, da er zuletzt alles bereute, sagte sie, erinnerte ich mich im Beichtstuhl.
Wie er aussah, weiß ich, seit sie mir sein Bildnis auf einem kleinen Medaillon gezeigt hatte, welches ich als kostbares Vermächtnis in der Schublade meines Schreibtisches aufbewahre und immer wieder hervor hole:
Er war ein großgewachsener schlanker Mann mit markanter Nase und vorspringendem Kinn; hohe Stirn; buschige Augenbrauen; düsterer Blick; stechende Augen; spöttisch vorgewölbte üppige Lippen; mittellanges dunkelblondes Haar, wie es bei den Kindern des nördlichen Italiens immer wieder einmal anzutreffen ist:
Er kam mir solange fremd und sogar unheimlich vor, bis ich ein gewisses Alter erreicht hatte und meine Furcht dem Staunen wich, denn wenn ich mich heutzutage im Spiegel betrachte, muss ich feststellen, dass ich ihm in allen Einzelheiten gleiche; gebe Gott, dass ich nicht auch noch seinen Charakter geerbt habe!
Mein Vater war der Sohn des gleichnamigen Francescos, eines enterbten Fürstenkindes aus dem nördlichen Italien, so die Mutter, wie mir aber auch sein stolzer Adelstitel, den er mir vermachte, noch immer verriet; beide hatten sich als Kunstmaler über Wasser gehalten, mehr schlecht als recht, gelegentlich vom regierenden Bruder oder Onkel mit ein wenig Geld unterstützt, aber jetzt waren Mutter und ich allein auf dieser Welt und der Hilfe des Klosters bedürftig, denn jede noch so kleine Zuwendung aus dem fernen Italien blieb aus; Mutter sagte mir eines Tages, als sie weinend einen abschlägigen Brief in Händen hielt, der Fürst betrachte mich als Bastard; was das ist, wollte sie mir nicht verraten; es musste jedenfalls etwas Grässliches sein …
Mutter war fromm und besuchte täglich die Heilige Messe; mich schleppte sie von Anfang an mit hinein, erzog mich von klein auf zu Religiosität und Gottesfurcht und weckte schon in frühester Kindheit in mir den Wunsch, einmal Priester zu werden; ich versprach ihr das, ohne zu wissen, was es bedeutete und welche Folgen es für mich haben sollte …
Dann machten wir uns eines Tages auf die große Reise, durch das ganze riesige Deutschland hindurch, immer südwärts, hinein in die Schweiz bis hinunter in die Gegenden der Eidgenossenschaft, wo man schon Italienisch spricht; für Mutter war das eine größere Umstellung als für mich, der ich die neue Sprache rasch von meinen Spielkameraden aufschnappte.
Wir waren in einer winzigen Wohnung in eben dem Städtchen zu Hause, welches ich Dir, geliebter Leser, in groben Zügen bereits oben geschildert habe; vor seinen Mauern liegt das heimelige Kapuzinerkloster auf einem sanften grünen Hügel, wo ich in meiner winzigen Zelle diesen Bericht hier eben noch aufzeichne, bevor Gott mich abberuft.
Auch jetzt und hier verschleppte mich Mutter Tag für Tag in die Heilige Messe, abwechselnd in die Kapelle der Klosterfrauen inmitten unseres Städtchens und nach außerhalb in die Kapuzinerkirche; mir war der Besuch des Gottesdienstes bei den Klarissen lieber, und das hatte folgenden Grund:
Gelegentlich, vornehmlich sonntags, kam die Oberin zu uns ins Kirchenschiff herab und hieß uns ihr folgen; sie geleitete uns ins Innere des Klosters und einen schönen Raum mit bunt verglasten Fenstern; dort durfte ich mich mit Mutter zu Tische setzen, und die Äbtissin brachte allerlei Leckereien herein, mit denen sie mich voll stopfte; es waren ausgesuchte Süßigkeiten, wie ich sie zuvor noch nicht gekannt hatte, und ich durfte die Ehrfurcht gebietenden Frau sogar mit »Tante Maria« anreden und mich manchmal auf ihren Schoß setzen: Ja, ich war inzwischen vier Jahre alt geworden und kann mich noch an alle Einzelheiten erinnern, als ob es erst gestern gewesen wäre:
Tante Maria fragte mich dann stets, ob ich auch recht fromm gewesen sei und brav gebetet hätte; ich wusste nicht so genau, was sie damit meinte, gab ihr aber jedes Mal die gewünschte Antwort, und sie strahlte vor Freude; dann sagte sie, ihr Herzenswunsch sei es, dass ich später einmal ins benachbarte Kapuzinerkloster einträte und dort Mönch und Priester würde; das sei ganz gewiss auch im Sinne meines seligen Vaters; ich sagte ihr das zu, sonder Ahnung, was es bedeuten solle, und als ich kurz vor dem Beginn meiner Schulzeit stand, mit fünf Jahren also, konnte ich mir selbst keinen anderen Beruf mehr vorstellen als den eines Geistlichen.
Da starb Mutter; sie war schon längere Zeit krank gewesen; es war ein entsetzlicher Schlag für mich; kaum sechs Jahre alt und schon Vollwaise; in diesem Alter ohne Vater und Mutter zu sein, ist eine Katastrophe; ich konnte mich nie wieder ganz davon erholen; ohne mir dessen voll bewusst zu sein, war ich mein restliches Leben lang auf der Suche nach einer neuen Mutter …
Sie war in größter Armut von mir gegangen; ich hatte buchstäblich nichts als das Hemd auf dem Leib und verzweifelte; wenn ich gewusst hätte, wie man das macht, hätte ich meinem elenden Leben mit dem Strick ein Ende bereitet, und das wäre angesichts der späteren Ereignisse besser gewesen.
Hemmungslos heulend stand ich an ihrem Grab und starrte verzweifelt auf den Sarg hinunter, in den man sie vor meinen Augen gebettet hatte und auf den nun die Erde herab polterte, indem ein Trauergast nach dem anderen das Schäufelchen zur Hand nahm, ihr die letzte Ehre zu erweisen, als mich jemand sanft an der Hand nahm, Tante Maria aus dem Kloster der Klarissen; die Beisetzung war vorüber; der Pastor und die Gäste zerstreuten sich; die Totengräber kamen, um die Grube zu zu schaufeln, und die Oberin zog mich sanft mit sich fort, ohne auch nur ein Wort zu sagen; tränenüberströmt folgte ich ihr:
Hinaus ging es aus dem Friedhof und hinüber zum Kapuzinerkloster; sie läutete; der Bruder Pförtner öffnete die kleine Klappe in der Pforte und fragte nach unserem Begehr; sie wünsche Abt Leonardo zu sprechen, sagte die Oberin, und der Pförtner geleitete uns ins Besucherzimmer; kurz darauf war er zur Stelle, ein erstaunlich junger Mann; man grüßte einander mit einem frommen »Gelobt sei Jesus Christus – in Ewigkeit amen« und setzte sich; auch mir wurde ein Stuhl angeboten, aber ich blieb lieber stehen, erfüllt von seltsamer Beklommenheit.
»Bruder Leonardo, Geliebter im Herrn«, hub die alte Äbtissin an, »wir haben hier ein armes Waisenkind vor uns; niemand in Gottes weiter Welt fühlt sich für ihn verantwortlich; der Junge heißt Francesco und ist fromm; ich bitte dich darum, ihn in das klösterliche Internat aufzunehmen, damit er eine angemessene Schulbildung erfährt und nicht unter die Räder kommt; mein innigster Wunsch wäre es, dass er eines Tages in euer Kloster eintritt; ich bürge für ihn; meine Schwester und ich übernehmen die Kosten der Unterbringung.«
»Liebe, über alles geschätzte Oberin Maria«, antwortete Leonardo und sah mich dabei unvergleichlich freundlich an, »gerne will ich diesen deinen Wunsch erfüllen; wer in aller Welt könnte ihn dir denn auch abschlagen?«
Und dann scheinbar streng zu mir: »Was höre ich da? Du bist fromm und willst einer der Unsrigen werden?«
Ich nickte stumm und ernst; er sagte: »Und kennst du schon die wichtigsten Gebete, mein Junge?«
Ich rasselte ihm ein Vaterunser und ein Avemaria herunter; er lächelte zufrieden und sagte:
»Ab morgen wohnst du in unseren Internat am Marktplatz; du wirst dich daran gewöhnen müssen, den Schlafsaal mit einem Dutzend anderer Jungs zu teilen; in der nächsten Woche beginnt dann der Unterricht; und denke immer daran, was deine Mutter im Himmel von dir erwartet; sie sieht alles und ist in Gedanken bei dir; werde ein braver Junge!«
Er strich mir über das wirre Haar; ich weinte heftig; die Oberin nahm mich an der Hand; mit einem kurzen Schreiben des Abtes ausgestattet, gingen wir zum Städtchen zurück, durchquerten das wuchtige Tor und einige enge Gassen, bis wir vor dem klösterlichen Internat standen; wir schritten ausgetretene Stufen empor, bis wir ein Podest erreichten; die Oberin zog heftig an einem Griff, der neben dem Eingang aus der Wand heraus ragte; drinnen ertönte das melodische Läuten einer Glocke; ein junger Mann in Kutte und mit zur Tonsur geschorenem Kopf, ein Mönch also, öffnete uns und überlas Leonardos Brief mit zusammengezogenen Augenbrauen, nickte dann und sagte schließlich zu mir:
»Guten Tag, lieber kleiner Leonardo; ich bin Bruder Federico und hier für Haus und Hof verantwortlich.« Die Äbtissin kniff mich in den Arm; ich stotterte:
»Guten … guten Tag, Bruder … Federico, ich … ich …«
Wieder musste ich weinen; er aber nickte der Oberin nur freundlich zu, nahm mich am Arm und zog mich ins Halbdunkel des uralten, fast fensterlosen Gebäudes, welches nun für die nächsten zehn Jahre mein Zuhause sein sollte und dessen modriger Geruch meine Nase nie wieder verlassen wird …
Dumpf fiel die Tür hinter uns ins Schloss; Tante Maria musste draußen bleiben, denn hier hatten Frauen keinen Zutritt; ich war in einer Welt der rauen Männer gelandet und fühlte mich grenzenlos einsam und verlassen; die Tränen strömten weiter über meine Wangen: Es war der Beginn meines neuen Lebens, über dessen unendliche Trostlosigkeit und Sinnlosigkeit, was sich später im Kloster noch steigern sollte, ich nur Weniges schreiben möchte:
In aller Herrgottsfrühe wurden wir aus den Betten gerissen, aus diesen schäbigen Strohsäcken voller Ungeziefer, um ungewaschen in die schlichte uns allen gleiche Anstaltskleidung zu schlüpfen, einen grob gewebten wollenen Kittel samt Holzpantinen, an eisigen Wintertagen mit langen Strümpfen darunter, im Sommer stets barfuß, um dann mit nüchternem Magen der unvermeidlichen Morgenandacht beizuwohnen.
Dann gab es ein kärgliches Frühstück, bestehend aus einer trockenen Brotkruste sowie einer abscheulichen Tasse heißer Milch, die tüchtig mit Wasser verdünnt war; das meistens oben drauf schwimmende zerknautschte Häutchen brachte mich manchmal an den Rand des Erbrechens … und wenn es Herbst wurde, konnte mich niemand davon abhalten, nachts heimlich aus dem Fenster zu steigen, um irgendwelches Obst zu stehlen und an Ort und Stelle mit Heißhunger zu verschlingen; das schlechte Gewissen war stets mein Begleiter …
Anschließend eilten wir zum Unterricht, der für meine Lerngruppe nach anfänglichen Zugeständnissen eines Tages ausschließlich in Latein erteilt wurde; das sei die Voraussetzung für eine Karriere, ganz gleich ob im ersehnten Kirchendienst oder bei einer staatlichen Behörde, sagte man uns bei jeder Gelegenheit, als ob ein Schulkind sich darüber schon Gedanken machen müsste … und überhaupt sei Latein die Schule des logischen Denkens …
Einmal pro Woche wurde ein riesiger Zuber mit Wasser gefüllt, in das der Hausdiener mit einer Mistgabel Steine gab, die im Feuer erhitzt worden waren; wir standen dann nackt in Schlange davor, und einer nach dem anderen hatte hinein zu steigen, um sich den alten Adam von demselben Sklaven mittels einer grausig harten Bürste herunter schrubben zu lassen … bis acht Tage später, wenn uns eine neue Kruste zierte, alles wieder von vorne begann.
Man unterrichtete uns übrigens als angehende Akademiker, wie man sagte, vom ersten Schuljahr an in allen damals geläufigen Wissenschaften; ich brauche sie Dir, liebster Leser, hier nicht aufzuzählen; die Arithmetik mit ihren stupiden Zahlen war mir von Anfang an verhasst; die übrigen mochte ich einigermaßen; hinzu kamen, sozusagen zur Unterhaltung, noch die Fächer Kunst und Musik:
Obwohl ich von Mutter erfahren hatte, dass es mein Vater und Großvater in der Malkunst einigermaßen weit gebracht, ja, sogar davon gelebt hatten, vermochte ich auf diesem Gebiet überhaupt nichts Gescheites zustande zu bringen, so sehr ich mich auch bemühte; nicht einmal die einigermaßen gelungene Zeichnung eines beliebigen Baumes wollte gelingen; es war zum Verzweifeln … doch Tante Maria hörte von diesem Versagen mit seltsamem Vergnügen und erklärte, sie hoffe, ich käme auch sonst nicht auf die erlauchten Vorfahren hinaus.
Musik hingegen liebte ich und leistete darin Hervorragendes; ich sang schon bald mit glasglockenreiner Stimme im städtischen Knabenchor, durfte gelegentlich sogar als Solist eine Sopranarie vortragen, und als ich acht Jahre alt geworden war, schickte man mich zusätzlich noch in die Geigenschule, die von einem Kapellmeister namens Salvatore Montini geleitet wurde, einem verwitweten, aus dem sonnigen Salerno zu uns ins raue Gebirge herauf gekommenen, vom verblödeten Volk der Weiber bewunderten Teufelskerl, der alle Instrumente des Orchesters beherrschte und sie seinen sklavenhaft Untergebenen über den Schädel zu hauen pflegte, wenn der Unglückliche zufällig einmal daneben gegriffen hatte.
Wie ich erst viel später erfuhr, war es Tante Maria, welche die Kosten für diese Privatstunden trug; da sie aber als Oberin kein eigenes Einkommen hatte, war sie auf die finanzielle Mithilfe ihrer mir damals noch unbekannten Schwester angewiesen, einer Halbschwester, um genau zu sein, die einen Fürsten geheiratet hatte und als Fürstin irgendwo in einem schönen Schloss lebte, wie mir einst schon Mutter gesagt hatte, ohne dass sie mir damals begegnet wäre; sie besorgten mir eine hübsche Geige:
In Maestro Montinis Obhut zeitigte ich erfreuliche Fortschritte; doch bevor ich dich, geliebter Leser, mit den Einzelheiten meiner Ausbildung zum Musiker langweile, rasch noch einmal zurück zu meiner Sicht der zukünftigen Dinge:
Eingedenk der unvergesslichen Mahnungen und Bitten während meiner früheren Kindheit, eingedenk der Erwartungshaltung meiner Mutter wähnt ich damals, dass der geistliche Beruf als einziger für mich in Frage komme, und sowohl meine Lehrer als auch die Oberin, die Nonne, meine sogenannte Tante Maria, die ich zu meiner stets gleichbleibenden Freude jeden Sonntag besuchen durfte, bestärkten mich noch in diesem Wunsch und Bestreben.
So kam es, dass ich mir allmählich selbst nichts Schöneres, nichts Besseres im Leben vorstellen konnte, denn bei den benachbarten Kapuzinern als Novize einzutreten, sobald mein sechzehnter Geburtstag gekommen wäre; vielleicht hatte ich ja das Zeug zum Abt oder Bischof, wer weiß? Oder gar zum Papst? Oder wenigstens zum Märtyrer, von Heiden grausig zu Tode gefoltert? Vielleicht sogar gekreuzigt? Ein zweiter Heiliger Franziskus?
Meine Erzieher waren mir gegenüber von ausgekocht widerlicher Strenge; keiner der Zöglinge schmeckte den Stock öfter als ich, meistens, ohne dass ich ihnen Grund oder Anlass dafür gegeben hätte; insbesondere Pater Josephus, Vorsteher und Direktor der Anstalt, behandelte mich mit ausgeklügelter Grausamkeit, stets betonend, man müsse die in mir wohnenden Teufel aus mir heraus prügeln; was er damit meinte, verriet er nicht …
Aber auch meine Kameraden glaubten allmählich, sich ihr Mütchen an mir kühlen zu dürfen, was ich freilich der Tatsache zuschrieb, dass ich, ohne mich besonders anstrengen zu müssen, jedes Mal Klassenbester war und als einziger der Insassen Lateinisch, unsere Unterrichtssprache, sowie Italienisch und Deutsch fließend sprechen konnte.
In dieser meiner Muttersprache konnte ich mich freilich nur mit einem einzigen Kameraden unterhalten, dem gleichaltrigen Hubert von Tannenberg, der als bettelarmes Waisenkind gemeinsam mit uns das ferne Preußen, das deutsche Vaterland verlassen hatte und im Internat mit Umberto angeredet wurde.
Leider starb er, nachdem er längere Zeit gekränkelt hatte, kurz bevor ich ins Kloster ging, an einer Lungenentzündung; dies war damals ein großer Verlust für mich; später aber auch ein unschätzbarer Gewinn, als ich mir seinen Namen … Altgriechisch beherrschte ich übrigens bereits in Anfängen.
Da ich großgewachsen bin und von Natur aus einen kräftigen Körper besitze, wagten es meine eifersüchtigen Kameraden nur zu mehreren, sich auf mich zu stürzen, und nachdem ich einmal den einen von ihnen böse mit dem mich stets begleitenden Messerchen zugerichtet hatte, ließen sie mich in Ruhe, und ich fristete fortan mein Dasein mitten unter ihnen beinahe wie ein Fremder.
Als Violinist machte ich so erfreulich große Fortschritte, dass mich der Kapellmeister zum Primarius seines neu gegründeten Nachwuchs-Orchesters beförderte, mich den noch nicht einmal Vierzehnjährigen, in welchem zu unser aller Erstaunen seine Tochter mit großer Kunstfertigkeit das Violoncello strich, einziges weibliches Wesen unter lauter jungen Männern, das erste und einzige Mädchen meines bisherigen Lebens, ein dralles aufblühendes Fräulein namens Chiara; obwohl oder weil sie ungefähr ein Jahr älter als ich war, zog sie meine Blicke magisch an:
Als schön konnte sie hierzulande gewiss nicht gelten, allzu süditalienisch, wie sie mit ihren pechschwarzen Locken und dunklen Augen aussah; sie hatte nicht viel mit den blondgelockten Madonnen gemein, die ich schon immer heimlich bewunderte, insbesondere die wunderschöne Jungfrau Maria in der Seitenkapelle der Kapuzinerkirche, an der ich mich nicht satt sehen konnte und vor der ich stundenlag betend kniete …
Nein, eine Schönheit war Chiara nicht, jedenfalls nicht in meinen Augen, aber reizend und reizvoll war sie doch, und jedes Mal, wenn ich ihr zufällig zu nahe kam und den unbekannten Duft einatmete, den sie verströmte, überwältigten mich seltsame Beklemmung, Scheu und Schüchternheit.
Sie lächelte mich dann erheitert an oder legte mir ihre Hand auf meine, was sie sonst bei keinem anderen Jungen tat, während ich, von wilder Glut und kochender Hitze durchströmt, den Blick errötend zu Boden senkte und mich mindestens tausend Meilen weit fort wünschte.
Sie trug übrigens immer eines ihrer drei allmählich zu kurz und zu eng gewordenen Kinderkleidchen, so dass ich über ihre so seltsam flaschenartig geschwungenen Waden nur so staunte; sie sahen nämlich ganz anders aus, als ich mir das in meinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können; und Chiara schien kein einziges Paar Schuhe zu besitzen …
Oft genug, wenn ich zur Privatstunde antanzte, bedauerte mich Maestro Salvatore, mit einem Seitenblick auf seine Chiara, von Herzen, weil ausgerechnet ich mich trotz meiner großen musikalischen Begabung zum Tragen der Kutte entschlossen hätte, wo mir doch Gottes weite Welt als Geiger offen stünde und ich einer der besten der gesamten Zunft, ja, ein zweiter Paganini, werden könnte; er verfluchte dann, sich theatralisch das aufgetürmte Haargebirge raufend, all die vergebliche Mühe, die er an mir vergeudet habe …
Eines Tages, als mich mein von Herzen gehasster Lehrer der Arithmetik wieder einmal bis an den Rand des Grabes geprügelt hatte, nur weil ich mich in der dritten oder vierten oder fünften Stelle hinter dem Komma vertan hatte, hinkte ich mit hämmerndem Herzen, wild entschlossen und im Glauben, es sei nun nichts mehr zu verlieren, zu unserem Schuldirektor hinauf ins Dachgeschoss, in den Olymp zum greisen Pater Josephus, um mich zu beschweren.
Der im Kreidestaub ergraute Geistliche war bass erstaunt, mich so keck und unangemeldet bei ihm im Allerheiligsten eintreten zu sehen, und sah missbilligend von einem dicken Buch auf, über das er gebeugt saß, Ciceros berühmte Schrift Über den Staat … Aber ich ließ mich jetzt nicht mehr abschütteln, nicht mehr vor die Tür komplimentieren und schilderte ihm, vor Wut kochend, die an mir verübten Grausamkeiten in allen Einzelheiten, ob er es nun hören wollte oder nicht; dabei betonte ich verbissen und verstockt, um wie viel besser all meine Kameraden, diese künftigen Advokaten und erbärmlichen Stadtschreiber, dran seien und schimpfte über die elende Ungerechtigkeit, welche man ausgerechnet immer an mir, dem als besonders fromm geltenden angehenden Novizen des Kapuzinerklosters verübe, wie ein Rohrspatz.
Der ehrwürdige Schuldirektor schwieg eine Zeitlang und fuhr sich mehrfach fahrig mit der rechten Hand durch den weißen Haarkranz; dann hieß er mich mit einer Handbewegung Platz nehmen; ich setzte mich vorsichtig auf den einzigen Stuhl, den ich hier vorfand, einen klapprigen alten Hocker, welcher bei größerer Beanspruchung auseinander zu fallen drohte und sah ihn fragend an; er thronte nun turmhoch über mir, hinter dem aus Eichenholz wuchtig gezimmerten Schreibtisch, in seinem Ohrensessel, gepolstert mit dunkelgrünem genieteten Leder, scharrte mit den Füßen und räusperte sich mehrfach, um mir dann folgendes zu sagen:
»Mein lieber, lieber Junge, du hast zu Recht erkannt, dass wir dich mit geringfügig größerer Strenge als deine Kameraden erziehen, und das hat seine guten Gründe, wie du unmittelbar erkennen kannst:
Zum einen bist du der einzige Junge deiner Klasse, der in den geistlichen Stand eintreten will; wir sehen das mit Freuden, und darum nehmen wir uns deiner in ganz besonderer Weise an; die anderen Knaben werden hinaus in die weite Welt gehen, heiraten, Kinder zeugen, ihre allmählich alt und fett gewordenen Frauen eines Tages verprügeln, um sie bösartig zu verlassen und sind für uns von weitaus geringerer, ja, von gar keiner Bedeutung; gleichgültig ist ihr künftiges Leben und ihr Sterben; ganz anders du:
Eltern hast du ja keine mehr, die deine Erziehung übernehmen könnten, und auch Schwester Maria, die Äbtissin, welche dir seltsamer Weise in besonderem Maße zugetan ist, verlangt von uns gerade in deinem Falle die aller-allergrößte Strenge und nicht die geringste Nachsicht; du trägst vielleicht die Begabung in dir, es dereinst im Dienste des Herrn weit zu bringen; unsere Aufgabe ist es daher, den Rohdiamanten rechtzeitig zu schleifen.
Ferner hat uns auch Abt Leonardo ins Gebet genommen, dein künftiger Vorgesetzter; er war der Beichtvater deiner Mutter, und sie hat ihm Dinge gesagt, welche ihm die Haare zu Berge stehen ließen. Genaueres weiß ich nicht; er sagte nur, es liege ein Fluch über eurer Familie; es gibt auch einen Bericht deines Vaters darüber; deine Mutter hat alles fein säuberlich versiegelt, kurz vor ihrem Tode; du warst und du bist immer noch zu klein, um es zu verstehen:
Das Schriftstück liegt jetzt im Schrank des Abtes; darauf steht, dass es dir erst nach deinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr auszuhändigen sei, und bis dahin wird unser Flüsslein noch manch trübes Wasser der Gletscher nach Italien gespült haben; finde dich also mit deiner Lage ab und nimm sie an; wir tun nur unser Bestes und zeigen dir gerade durch unsere Strenge, wie sehr wir uns um dich kümmern und sorgen, mein Lieber, denn schon die Bibel sagt, wer seine Kinder liebe, der schlage sie.
Und noch etwas: Meide die Frauen! Ich wiederhole es: Francesco, mache einen Bogen um die Frauen! Geh ihnen aus dem Weg, wo immer du kannst, wo immer du eine siehst! Vergiss es nie! Ich weiß, was ich sage. Abt Leonardo denkt genauso: Fliehe sie noch entschiedener, als der Teufel das Weihwasser, sage ich dir, oder sie werden dich in Tod und Verderben stürzen.«
In diesem Augenblick dachte ich aber an nichts anderes als die Tochter unseres Kapellmeisters; gestern erst hatte sie mich lieblich angelächelt, einfach meine Hand genommen und ihre Wange scheu an meine Wange gelegt, als es keiner bemerkte; mir war ganz seltsam geworden, heiß und kalt zugleich, als sich ihre schwarzen Locken über mein Gesicht ergossen und ich ihren Atem schmeckte; meine Lippen durchfuhr ein Feuerstrom; tausend Teufel flüsterten mir zu, ich solle sie auf den Mund küssen; doch schon hatte sie sich wieder von mir abgewendet; ich rannte fluchtartig, von ihrem Kichern verfolgt, davon:
Jetzt wusste ich, was mein Direktor meinte und errötete feurig flammend; er aber erriet meine Gedanken und rief zornig:
»Francesco, ich sehe, wie weit es mit dir schon gekommen ist; ja, du bist in einem gefährlichen Alter; du hast dich verliebt; gib es zu! Satan streckt seine Krallen nach dir aus; widerstehe ihm, wenn er Weibsgestalt annimmt und werde Herr über deine sündigen Gedanken! Ich blicke tief in deine Seele und weiß, was in dir vorgeht; wehre den Anfängen, bekämpfe das Tier in dir, sonst wirst du in die Schluchten des finstersten Abgrundes fallen.«
Ich begriff nicht, was er meinte und entfernte mich kopfschüttend; der Greis da in Kutte, dieser uralte Mensch, was konnte der schon davon wissen? Dieser alt geborene klapprige Mann da hatte das alles doch schon um Jahrzehnte hinter sich …
Allzu gerne freilich hätte ich jetzt schon gelesen, was meine Mutter mir geschrieben hatte, und dass ich mich noch so viele Jahre in Geduld üben müsste, verdross mich über die Maßen; hatte sie denn kein Vertrauen zu mir gehabt?
Für Sekunden versuchte ich mir vorzustellen, wie Mutter ausgesehen hatte, aber immer nur blickte ich im Geiste der himmlischen Madonna des Klosters ins Antlitz. Als ich zwischen Tür und Angel war, rief mit der Pater noch hinterher:
»Und wage es nie mehr, dich über die Strenge deiner Erzieher zu beschweren; es würde dir übel bekommen; du könntest den Tag, an welchem du zur Welt kamst, noch verfluchen; wir behandeln dich im Grunde mit unverzeihlicher Milde.«
Mit dumpfen Rachegelüsten, ja, mit Mordgedanken und rasender Wut im Bauch ging ich meiner Wege, nach dem kleinen Messer im Ärmel tastend, und in nächster Zeit oblag ich meinen Studien fanatischer denn je zuvor; unter dem Vorwand, ich langweile mich unter den Gleichaltrigen, versetzte man mich schließlich mitten im Schuljahr in die nächsthöhere Klasse, in welcher ich auf Anhieb wieder Primus war.
Ferner lernte ich in meiner kostbaren Freizeit die Kunst der Tasteninstrumente sowie die Grundlagen der Kompositionslehre, und auch das mit spielerischer Leichtigkeit; Montinis Villa wurde für mich so etwas wie mein zweites Zuhause, so oft war ich zugegen, aber Signore Salvatore passte höllisch auf, dass ich mit seiner Chiara nicht mehr alleine zusammentraf, niemals, denn ihm waren die Glutaugen, die sie mir machte und mein darauf folgendes Erröten, ganz gewiss nicht entgangen, und er hütete die feurige Sechzehnjährige, die er als sein Ein und Alles zu bezeichnen pflegte, wie den sprichwörtlichen Augapfel …
Eines Tages, Monate später, war er wieder einmal mit seinem großen Orchester unterwegs in eine andere Stadt, wo der berühmte Dirigent zum Gastspiel eingeladen worden war und hatte mir vorsorglich den Unterricht abgesagt; ich tat aber so, als hätte ich kein Wort davon gehört oder verstanden, klemmte mir, kaum dass er davon gefahren war, den Geigenkasten unter den Arm und stapfte, ganz arglos tuend, den Weg zu seinem Haus, ohne feste Gedanken und Absichten, aber in seltsam kribbeliger Erwartung der Dinge, die da vielleicht auf mich zu kommen könnten; es war übrigens noch recht früh am Morgen …
Ich drückte, ohne zuvor zu läuten, einfach die Klinke der Haustür herunter; sie war seltsamer Weise weder verschlossen noch verriegelt; ich trat ein und ging durch den Korridor, stracks ins Musikzimmer; dort rief ich wiederholt nach dem Maestro, aber niemand antwortete mir, wie es sich ja versteht; da nahm ich einfach die Violine aus dem Kasten, stimmte die Saiten, rieb den Bogen mit Kolophonium ein und spielte die Etüden des großen Virtuosen Rudolphe Kreutzer; ich spielte sie eine nach der anderen mit Kunst und Perfektion, ja, ich spielte sie auswendig, aber immer noch tat sich nichts; schon packte ich das Instrument enttäuscht wieder ein und wollte gehen, doch da, da geschah es:
Chiara trat ein; sie war wie immer barfuß und trug lediglich einen blauen Morgenrock, der ihr nur eine Handbreit über das Gesäß hinunter reichte; ihr rabenschwarzes Haar floss ungekünstelt über die Schultern; sie lächelte mich an mit blendend weißen Zähnen; ich war außer mir vor Freude; eine heiße Woge durchraste mich; und was dann geschah, spielte sich binnen Sekunden ab:
Sie nestelte an der silbrigen Schnur, die das Kleidungsstück in der kaum angedeuteten Taille zusammenhielt, öffnete es vor meinen Augen, streckte die Arme waagerecht aus, soweit es nur ging, schlüpfte aus den Ärmeln und ließ das Kleidungsstück dann zu Boden gleiten, um es achtlos beiseite zu treten; sie war nun nackt bis auf eine Unterhose und drehte sich auf Zehenspitzen einmal um die eigene Achse, beide Arme in der Pose eines Tänzers über den Kopf gereckt, die Hände ineinander gefaltet.
Ich war entzückt und entsetzt zugleich; noch nie zuvor hatte ich eine unbekleidete Frau gesehen; ich wusste aus tausend Mahnungen und Warnungen, dass ich sie erst gar nicht anblicken durfte und tat es dennoch; sonst kannte ich ja immer nur die Nonnen in ihren langen Gewändern oder die tief verschleierten Damen der Stadt auf dem Marktplatz, und ich wusste noch gar nicht, wie eine Frau aussieht, wenn sie …
…und ich war geschockt, während wilde Lust sich meiner bemächtigte, ganz gegen meinen Willen und so sehr ich auch dagegen ankämpfte; mir wollte es in meinem Wahne so vorkommen, als wäre Chiara das schönste Wesen auf Erden, obwohl ihre Beine viel zu dick und viel zu kurz waren und der Oberkörper mit seinen unförmigen Halbkugeln und massigen Schultern doch wohl eher tonnig zu nennen war, wie ich bereits wenige Tage später zu bemerken geruhte, als ich sie … gemach, gemach, mein liebster Leser!
Heiße Begierde durchflutete damals jedenfalls meine Adern; Satans Stimme flüsterte mir zu, ich solle sie küssen, ich solle sie umarmen, ich solle sie an mich drücken, und auch ich solle die Kleider ablegen und mich in tierischer Wut über sie stürzen, um sie für immer und ewig zu meiner Frau zu machen …
…aber ich war wie gelähmt; ich lief nur feuerrot an; die Arme hingen mir schlaff herunter; ich wollte irgendetwas sagen, doch das Wort blieb mir in der Kehle stecken; wilde Panik bemächtigte sich meiner; ich griff blindlings nach dem Geigenkasten und verließ das Haus in wilder Flucht und eckigen Sprüngen, von Chiaras fröhlich girrendem Lachen begleitet, das mir durch die offen stehende Haustür silbrig hinterher flog.
Jetzt erst, als mir eine frische Briese um die Nase wehte, kamen mir die Mahnungen und Warnungen meines Schuldirektors wieder in den Sinn, und mir graute es vor mir selber, ja, ich kannte mich nicht mehr wieder, und wenn es erlaubt ist, mein geliebter Leser, so will ich schon hier betonen, dass vom oben geschilderten Augenblick an die Ruhe meiner Seele unwiederbringlich dahin und für immer verloren war, ohne dass ich hätte erklären können, was mit mir geschehen war …
Nacht für Nacht erschien mir Chiara nun im Traum, und immer so verführerisch, wie sie mir in meinem Wahne vorgekommen war, als ihr Vater auf Reisen war; wenn ich dann von Verlangen erfüllt nach ihr greifen wollte, verwandelte sie sich in einen Teufel und fuhr hohnlachend zum Fenster des Schlafsaales hinaus, mir nichts als den Geruch stinkenden Schwefels hinterlassend.
Ich erwachte dann jedes Mal schweißgebadet und lauschte angestrengt: nichts als das Seufzen der Kameraden im Schlafe; vielleicht ein schwaches Säuseln des Windes; der Ruf eines Käuzchens; das gelegentliche Zirpen eines Heimchens, welches sich ins Haus verirrt hatte; sonst nur Stille, bedrückende Stille überall.
Ich hätte schreien mögen, schreien müssen, so sehr schüttelte mich das Grauen, aber ich brachte es nicht über mich; meine Kehle war trocken wie der Staub der großen afrikanischen Wüste; Magen und Darm rebellierten dann; eilig schritt ich zum Abtritt, um mich noch rechtzeitig zu erleichtern; anschließend legte ich mich wieder schlafen; aber auch wenn Satan mich dann nicht mehr quälte, so war es dennoch kein erquickender Schlaf; es kamen nur ganz andere Alpträume über mich.
Nacht für Nacht sah ich mich in einem hoch aufragenden menschenleeren Gebäude verirren, einer herunter gekommenen Ruine, in welche mich eine vor seinem Portal endende Straße geführt hatte; ich ging zwangsläufig hinein, ob ich wollte oder nicht, denn flankierende Mauern ließen mir keine andere Wahl:
Ich suchte und suchte dann nach dem gegenüber liegenden Ausgang und hatte dabei Dutzende und Dutzende von geschlossenen Türen zu überwinden, Kammer nach Kammer voller Unrat und Ungeziefer, ja, ich musste schließlich die schmutzigen Wände senkrecht hinauf kriechen, unter das Dach des Hauses sogar, bis ich endlich auf der anderen Seite des Bauwerkes wieder zum Vorschein kam und aus irgendeinem Fenster steigen konnte, um, die graue Fassade mit dem Kopf nach unten hinunter kriechend, die dort wieder erscheinende Straße zu gewinnen, auf welcher ich mich von diesem Ort des Grauens fluchtartig entfernte.
Wenn ich heute daran zurück denke, nach all dem Unheil, welches über mich herein brach, nach all den Verbrechen, die ich verübte, nach allem, was ich dem mir liebsten Wesen angetan habe, so glaube ich, es wäre das Beste für mich gewesen, ich hätte mich mit dem molligen Mädchen eingelassen; unter ihrer Anleitung sollte es ganz gewiss zum Äußersten gekommen sein; sicherlich wäre sie unmittelbar darauf schwanger geworden; umbringen konnte der gestrenge Maestro Montini nach der Entdeckung der Tatsachen weder sie noch mich; was also hätte einer verfrühten Heirat im Wege gestanden?
Irgendwann hätte sich Papa Salvatores Wut gelegt und ich wäre als Schwiegersohn in sein Haus gezogen, um ihm eine ganze Schar von süßen Enkeln zu bescheren und eines Tages sein Nachfolger als städtischer Kapellmeister zu werden, wenn es ihn nach dem Ruhestand gelüstete, denn von nun an hätte es nur noch zwei Aufgaben für mich gegeben: mich tagsüber wie wahnsinnig in der Musik weiterzubilden; nachts der beste Ehemann der Welt zu sein, und keine Schule mehr mit den ewig prügelnden Lehrern zu ertragen …
Doch leider kam alles ganz anders; allzu strikt hatte ich die Lehren der Mutter, der Tante Maria und all meiner Schulmeister befolgt und war aus Chiaras Armen geflohen, als ginge es ums Leben; nur das, so glaube ich heute, bescherte mir den Absturz in die Tiefe der Hölle, vor der man mich eigentlich hatte bewahren wollen, nur das brachte mich dazu, an der unschuldigen Chiara zum Verbrecher wider Willen zu werden; nur das trieb mich in die Arme meines ersten und vielleicht grausigsten Verbrechens, auf welches dann ein Verbrechen nach dem anderen folgte …
In der Schule verschlechterten sich meine Leistungen zwangsläufig, auch wenn mir die Erzieher die Seele aus dem Leib prügelten, und zwei, drei Kameraden zogen an mir vorbei; meine Gedanken waren nicht mehr bei der Sache …
Zum Musikunterricht ging ich nach dem obigen Ereignis zunächst mit Beklemmung, aber Maestro Salvatore ließ sich nichts anmerken; Chiara bekam ich freilich kein einziges Mal mehr zu sehen, was meine Sehnsucht und mein Verlangen nach ihr ins Unermessliche steigerte: Wenn sie mich wieder … könnte mich keine Macht der Welt mehr zurückhalten, dachte ich, sie zu … und … oh, mein Gott, wie liebte ich sie!
Gewiss hatte sie ihrem Vater einiges gebeichtet, und er warf von nun an mehr als nur ein Auge auf sie; das verdross mich über die Maßen, und auch als Musiker und Komponist zeitigte ich nun keine Fortschritte mehr, dachte nur noch ans Ende meiner Karriere und versetze den verhassten Meister ein ums andere Mal.
Dann kam Chiaras siebzehnter Geburtstag; ich hatte gerade den mittleren Schulabschluss hinter mir, noch keine sechzehn Jahre alt und trotz allem immer noch im vorderen Feld der Mitbewerber, und machte mir Gedanken darüber, wie es mit mir weiter gehen sollte; der Maestro hatte mich eingeladen; immer noch hielt er große Stücke auf mich, und ich sollte dem Geburtstagskind ein Ständchen geigen, Beethovens göttliche Romanze in G-Dur; Salvatore wollte mich dazu auf dem Pianoforte begleiten.