Melodie der Unsterblichkeit - Emilia Laforge - E-Book

Melodie der Unsterblichkeit E-Book

Emilia Laforge

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Beschreibung

Die 18-jährige Alyssa lebt für die Musik, doch als sie von einem Vampir gebissen wird, muss sie sich vom Traum eines Musikstudiums verabschieden. Stattdessen liegen 30 Tage der Verwandlung vor ihr, während der sie sich zwischen Aufgabe ihrer Selbstbestimmung oder dem drohenden Verlust ihrer Menschlichkeit entscheiden muss. Ausgerechnet der arrogante, selbstverliebte und – dummerweise – gutaussehende Alec soll sie in die Welt des Übernatürlichen einführen. Sie findet sich auf einer emotionalen und körperlichen Achterbahn wieder, auf der die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Wie wird sie sich entscheiden?

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe, 2. Auflage

12/2023

 

Melodie der Unsterblichkeit – Die Entscheidung

 

© by Emilia Laforge

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Florin Sayer-Gabor (www.100covers4you.com)

Lektorat: Annika Neuhaus

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: FM Fotomanufaktur, Steinhagen

 

Coverbild ›Ein Jahr Hölle … mit dir‹

© 2023 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Coverbild ›Wolf Call – Ruf der Bestimmung‹

© 2019 by Creativ Work Design

Coverbild ›Der Fluch der Grinsekatze - Ankunft‹

2022 by Creativ Work Design

Coverbild: 106186907 Bilddatennachweis: Larissa Kulik, 1211207515, 1500012110 Bilddatennachweis: Julia Raketic

 

ISBN 978-3-96741-249-9

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

 

Emilia Laforge

 

Melodie der Unsterblichkeit

 

Die Entscheidung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

 

Eine schicksalhafte Nacht

Tag 1

Alyssa — 8:00 am

Tag 2

Alyssa — 10:00 am

Alyssa — 6.30 pm

Alyssa — 8:00 pm

Alec — 11:00 pm

Alyssa — 11:30 pm

Tag 3

Alyssa — 11:00 pm

Tag 4

Alec — 7:30 am

Alyssa — 23:45 pm

Tag 5

Alyssa — 12:00 am

Alyssa — 5:00 pm

Alec — 7:00 pm

Tag 6

Alyssa — 3:00 pm

Alec — 6:00 pm

Tag 11

Alyssa — 3:30 pm

Alec — 9:00 pm

Tag 12

Alyssa — 7:45 am

Tag 16

Alyssa — 10:00 am

Alec — 12:00 am

Alyssa — 3:00 pm

Alec — 2:00 pm

Tag 17

Alyssa — 8:00 am

Tag 18

Alyssa — 0:00 am

Alec — 2:00 am

Alyssa — 3:00 am

Alyssa — 7:30 am

Alec — 5:00 pm

Tag 19

Alyssa — 1:00 am

Alyssa — 2:30 pm

Alec — 6:oo pm

Alyssa — 7:00 pm

Tag 21

Alyssa — 0:00 am

Tag 22

Alyssa —12:00 am

Alec — 4:00 pm

Tag 23

Alyssa — 0:00 am

Alec — 1:30 am

Alyssa — 2:00 am

Tag 25

Alyssa — 1:00 pm

Tag 27

Alyssa — 12:00 am

Alec — 11:00 pm

Tag 28

Alyssa — 1:00 pm

Alec — 6:00 pm

Alyssa — 7:00 pm

Tag 29

Alyssa — 10:00 am

Tag 30

Alec — 3:00 am

Alyssa — 10:00 am

Ben — 6:00 pm

Alyssa

Alec — 11:00 pm

Die Entscheidung

Alyssa

Alec

Alyssa

Danksagung

Die Autorin

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Hybrid Verlag …

 

 

 

Eine schicksalhafte Nacht

 

Alyssas Füße trugen sie beschwingten Schrittes über den Friedhof. Unter ihr knirschte der Kies und sie inhalierte die laue Sommerabendluft. Es roch nach warmer Erde und frisch geschnittenem Gras. Sie strich die widerspenstigen schwarzen Haarsträhnen, die ihr immer mal wieder ins Gesicht wehten, zurück. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

An diesem Ort konnte sie unbeschwert und ohne den Druck auf der Brust, der sie ständig begleitete, atmen. In der Gesellschaft ihrer Mitmenschen fühlte sie sich so deplatziert wie ein U-Boot in der Wüste. Doch hier war sie allein mit der Dunkelheit und ihrer Musik.

Ihr Blick fiel auf die Grabsteine am Rande des Weges: einige schlicht und unscheinbar mit längst verwelkten Blumen davor, andere prachtvoll verziert.

Wer hier wohl begraben lag? Wie waren sie gestorben und wen ließen sie zurück? Hinterbliebene, die der Verlust in ein so tiefes Loch stürzte, dass sie sich selbst den Tod herbeisehnten? Oder waren sie im Leben so einsam gewesen wie nun im Tod?

Seit vier Jahren lebte sie in Sleaford, einer kleinen Stadt in Norsten. Keinen einzigen der Toten hatte sie gekannt, und doch malte sie sich ihre Geschichten aus.

Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie ihren Lieblingsplatz erreichte. Die Wolken hoben sich von den Umrissen der Eiche ab, unter der die Bank stand. Eine Fledermaus flatterte aus einem der Baumwipfel davon.

Mit einem Seufzer ließ sie sich auf ihren Stammplatz fallen. Der Mond spiegelte sich in den glatt polierten Grabsteinen und tauchte den Friedhof in ein silbriges Licht. Einzelne Grablichter flackerten im seichten Wind.

Alyssa schloss die Augen und lauschte dem Rascheln der Blätter. Ein Gefühl wohlig wie eine warme Dusche durchströmte sie.

Sie griff nach ihrer Tasche, schnappte sich den Laptop und klappte ihr Notizbuch auf.

Die Geräusche der entfernt vorbeifahrenden Autos verstummten, als sie sich die Kopfhörer, die sie um den Hals trug, aufsetzte und die sanften Geigentöne einsetzten. Ihr Magen kribbelte. Es war ihr Song. Seit Monaten arbeitete sie schon an ihm. Hoffentlich würde er ihr die Tür zu dem Musikstipendium öffnen, auf das sie seit Jahren hinarbeitete.

Sie straffte die Schultern. Der Abgabetermin ihrer Bewerbung stand kurz bevor und es lag einiges an Arbeit vor ihr. Doch das störte sie nicht. Musik war ihre große Leidenschaft. Das, wofür sie jeden verfügbaren Moment opferte, und das Einzige, was sie sich für ihre Zukunft wünschte.

Das Schlagzeug setzte ein und der Beat nahm Fahrt auf. Ihr Kopf wippte im Takt. Als ihre Stimme erklang, zuckte sie zusammen. In Ermangelung einer Sängerin hatte sie den Part selbst übernehmen müssen. Zum Glück sang sie nicht vollkommen schief, dennoch hörte sie sich selbst nicht gern.

Alyssa beugte sich zu ihrem Laptop hinunter. Die Rohversion klang nicht schlecht, dennoch musste sie noch ordentlich dran feilen, bis sie es einreichen konnte. Während sie die Tonspuren bearbeitete, tauchte sie vollständig in ihre Musik ein. Jegliche Gedanken verschwanden aus ihrem Bewusstsein.

Auf einmal stellten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf und ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Sie nahm die Kopfhörer von ihren Ohren und richtete ihren Blick auf die Umgebung. Ihr Herzschlag pochte schneller als der Beat der Musik und ihr Mund schien sich in die Sahara zu verwandeln. Ihr Blick hastete umher. Dunkel lag der Eingang des Mausoleums zu ihrer rechten Seite, die große Tanne zu ihrer linken ragte bedrohlich in den Himmel. In dem akkurat geschnittenen Busch direkt vor ihr raschelte es. Alyssa zuckte, besann sich jedoch wieder, als der Wind über ihre Haut strich.

Sie lachte auf. Wie albern. Die Dunkelheit auf dem Friedhof löste normalerweise nie Nervosität in ihr aus. Trotzdem ließ sich das Gefühl der aufkommenden Angst nicht unterdrücken.

Ein Zweig knackte im Gebüsch. Sie schnellte herum in Richtung der vermeintlichen Quelle. Ein Schatten huschte so schnell zwischen den Bäumen umher, dass sie seine Bewegung kaum erfassen konnte und die Konturen verschwammen, was es unmöglich machte, die Größe einzuschätzen. Es hätte eine Katze genauso wie ein Mensch sein können. Dann, auf einmal, war er … weg.

Hatte ihr Herz eben nur schneller geklopft, so raste es nun. Das Blut rauschte ihr dröhnend in den Ohren. Ihre Muskeln verkrampften sich.

Seit wann ließ sie sich von irgendwelchen Schatten so ängstigen? Soviel sie wusste, gab es in ihrer Umgebung keine wildlebenden Wölfe und von einer Katze ging wohl kaum eine Gefahr aus.

Die rationalen Gedanken verblassten. Alyssas Instinkte brüllten lauter. Ihr Blick schnellte umher.

Bloß weg! Sofort!

Sie sprang auf und raffte ihre Sachen zusammen. Ihre Hände zitterten, als sie alles in die Tasche stopfte. Die Kopfhörer fielen daneben. Hastig packte sie diese, schmiss sie obenauf.

Eilig warf sie sich ihre Tasche über die Schulter, hastete dem Ausgang entgegen und erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Atem stockte. Der Schatten war real. Und er stand direkt vor ihr.

 

Die Schwärze in ihrem Kopf lichtete sich.

Vorsichtig fasste sie sich an die Stirn. Ihr Hirn fühlte sich an wie in Sirup getaucht. Ihre Beine drohten nachzugeben und sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

Alyssa taumelte los und registrierte vage, dass sie den Ausgang zum Friedhof passierte. Schwarze Flecken tanzten vor ihrem Auge. Instinktiv streckte sie die Hände aus und griff nach dem Nächstbesten — einer Straßenlaterne. In der Hoffnung, dass die angenehme Kühle des Metalls ihr Gehirn wieder auf Touren brachte, lehnte sie ihre Stirn dagegen und schloss die Lider. Nur kurz ausruhen …

Etwas berührte sie am Arm und sie zuckte zusammen. Der Schreck weckte ihre Lebensgeister und sie riss die Augen auf. Wie aus dem Nichts stand ein Typ neben ihr, zu dem offensichtlich die Hand auf ihrem Arm gehörte.

»Hey, ich bin’s, Aron. Wir gehen in die gleiche Stufe.«

Auch wenn sie die Worte hörte, drangen sie kaum durch den dichten Nebel in ihrem Kopf.

»Was ist passiert? Du blutest!«

Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern. Wie die Scherben einer zerschlagenen Vase fasste sie einzelne Fragmente zusammen: ihr Laptop, die Bank, das gleichmäßige Rauschen der Blätter über ihrem Kopf. Dann Leere. Nur der nicht greifbare Impuls, dass sie fliehen musste, die Todesangst, die wie ein schwerer Teppich über ihren Erinnerungen lag. Was war geschehen? So sehr sie auch nach der Antwort grub, die Erinnerung blieb ihr verwehrt.

Sie starrte ihre unerwartete Gesellschaft an. Was hatte er noch mal gesagt? Aron aus ihrer Stufe? Stimmt! Allmählich klärten sich ihre Gedanken und sie erkannte ihren Mitschüler. Hatte er nicht gesagt, dass sie blutete? Schmerz spürte sie nicht. Trotzdem schaute sie an sich herunter und tastete ihren Körper ab. »Was? Wo?«

»Am Hals.«

Ihre Finger wanderten nach oben, bis sie über heiße, klebrige Haut fuhren. Die offene Stelle brannte wie Feuer. »Au!«

Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihre blutigen Finger an. Was zur Hölle war passiert?

Sie zwang ihr benebeltes Hirn aufzuwachen und so langsam kehrten Bilder in ihr Bewusstsein zurück. Ein Schatten zwischen den Bäumen …

»Das sieht ernst aus. Ich rufe einen Krankenwagen.« Mit einem Griff in seine Hosentasche zog er ein Handy hervor.

Ihr Blick schnellte ruckartig zu ihm. Ins Krankenhaus? Schon alleine der Gedanke ließ sie nach Luft schnappen. »Auf keinen Fall. Es ist ganz sicher nicht so schlimm.«

»Alyssa, du bist voller Blut und siehst aus wie eine wandelnde Leiche. Ich glaube nicht, dass du mit so einer Verletzung spaßen solltest.«

»Ich will nicht ins Krankenhaus. Das kommt gar nicht in Frage.« Entschlossenheit regte sich in ihr und sie griff nach dem Handy in ihrer Tasche. »Ich werde erst mal schauen, wie schlimm die Wunde ist.« Sie startete die Kamera im Selfie-Modus und versuchte, etwas zu erkennen. Bedingt durch die Dunkelheit bildete der Bildschirm sie allerdings nur schemenhaft ab, da half auch das seichte Licht der Straßenlaterne nichts.

Aron seufzte und leuchtete ihr mit der Taschenlampe seines Handys, um ihr zusätzliches Licht zu spenden.

Als sie die Wunde auf dem Display erblickte, verzog sie das Gesicht. »Wie ist das bloß passiert?«

»Du hast wirklich keine Ahnung?« Er beugte sich hinunter, wühlte in seiner Sporttasche, kramte ein sauberes Handtuch und eine Wasserflasche hervor. Beides tauschte er gegen das Handy in ihrer Hand und hielt es so, dass sie sich beim Säubern der Wunde sehen konnte.

»Ich weiß noch, dass ich auf dem Friedhof war und an meiner Musik gearbeitet habe.« Sie stockte. »Dann war da ein Schatten.«

»Ein Schatten? Hat dich jemand überfallen?«

Alyssa hielt in ihrer Bewegung inne und dachte angestrengt nach. Doch die Bilder ließen sich nicht greifen. Dicker Nebel waberte in ihrem Kopf und überlagerte alles. Ein ungutes Gefühl überrannte sie wie eine Rugby-Mannschaft den ballführenden Spieler. Sie schob es energisch beiseite. Aron sollte sich auf keinen Fall Sorgen machen und womöglich doch noch den Krankenwagen oder die Polizei alarmieren.

Sie wich seinem Blick aus, als sie ihre Wunde mit dem feuchten Tuch abwischte. Es brannte wie die Hölle, doch sie verzog keine Miene. »Nein, ich denke nicht. Ich glaube, es war eine Katze oder so etwas. Ich habe mich erschrocken und bin aufgesprungen. Dabei bin ich gestolpert. Ich muss an einem Stock hängen geblieben sein.«

Das war die einzig logische Erklärung. Was sollte sonst passiert sein? Beinahe gelang es ihr sogar, sich selbst von ihrer Geschichte zu überzeugen, wäre da nicht der Nachklang ihres rasenden Herzens, das wild in ihrer Brust schlug.

Sie inspizierte die gesäuberte Wunde. Es war nur eine leichte Rötung der Haut zu sehen. Die Erleichterung ließ sie beinahe auflachen.

Verdammte Katze!

Aron nahm ihr das blutige Handtuch ab und betrachtete die Wunde mit geöffnetem Mund.

Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. »Siehst du? Es ist gar nicht so schlimm. Nur ein kleiner Kratzer.«

»Das ist wirklich unglaublich. Da war vorher so viel Blut und du bist regelrecht vom Friedhof heruntergeschwankt …«

»Ich habe heute wenig gegessen und getrunken«, fiel Alyssa ihm ins Wort. »Deshalb hat mein Kreislauf wohl kurzzeitig schlappgemacht. Aber jetzt geht es mir schon viel besser.« Um ihren Worten Gewicht zu verleihen, straffte sie sich und versuchte ein Lächeln. »Also danke für deine Hilfe.«

Sie zog ihren blutverschmierten Pullover aus und geriet ins Schwanken. Reflexartig griff sie nach der Straßenlaterne.

Lieber nicht so schnell bewegen!

Die bleierne Müdigkeit hatte sich zwar ein Stück weit gelegt und Alyssa befürchtete nicht mehr, in Ohnmacht zu fallen, doch ihr Kopf fuhr weiterhin Karussell.

Sie stopfte ihren Pullover in die Tasche. Zum Glück trug sie ein schwarzes Top darunter und stand nicht halbnackt vor ihrem Mitschüler.

»Sag mir, wo du wohnst, ich bring dich nach Hause.« Arons Tonfall duldete keine Widerrede und er zog sie von der Laterne weg.

Alyssa taumelte mehr, als das sie ging.

»Warte, ich stütze dich.«

Automatisch wich sie zurück, als er sie unter ihrem Arm greifen wollte. »Nein danke! Das geht schon.«

Ihr Mitschüler presste die Lippen zusammen und betrachtete sie mehr als skeptisch, doch immerhin zog er seine Hand zurück.

Ihre Beine glichen Wackelpudding und der Schwindel ließ ihren Kopf Achterbahn fahren. Schritt für Schritt kämpfte sie sich gegen ihre Erschöpfung durch die menschenleeren Straßen Sleafords.

Zu dieser Uhrzeit begegnete ihnen keine Menschenseele. Wie in einer Geisterstadt.

Dichter Nebel umhüllte noch immer ihre Erinnerungen. Jedes Mal, wenn sie an den Zwischenfall zurückdachte, klopfte ihr Herz und die Panik drohte erneut, sie mit eisernem Griff zu umklammern. Entschlossen schob sie einen Riegel vor ihre Gedanken, sonst verlor sie womöglich den Verstand.

Um sich abzulenken, betrachtete Alyssa ihren Begleiter von der Seite.

Aron überragte sie um gut zwei Köpfe. Seine blauen Augen schimmerten dunkel im fahlen Licht der Straßenlaternen.

Sorge lag in seinem Blick. Vielleicht konnte ein Lächeln ihn beruhigen. »Wieso bist du denn eigentlich noch zu dieser späten Uhrzeit unterwegs?«

Ein Blick auf ihr Handy verriet, dass es mittlerweile 23:00 Uhr war. Für sie eine ganz normale Zeit, um so langsam den Heimweg anzutreten. Allerdings traf das, was für sie als normal galt, meistens nicht auf ihre Mitmenschen zu.

»Ich habe mich nach dem Basketballtraining mit einem Kumpel verquatscht und war auf dem Weg zur Bushaltestelle.«

Das klang logisch, Aron war der Captain des Basketballteams und ständig mit seiner Sporttasche unterwegs.

»Hast du meinetwegen den Bus verpasst?«

Er schaute kurz auf seine Armbanduhr. »Den kriege ich schon noch. Notfalls lege ich einen kleinen Lauf zur Bushaltestelle ein.«

Alyssa nickte und schwieg. Ihr fiel nichts weiter ein, um das Gespräch fortzuführen.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, schon mal mit dir gesprochen zu haben.« Aron musterte sie nachdenklich. »Du bist anders, als ich gedacht hätte. Warum hängst du in der Schule immer alleine rum?«

Sie vergrub ihre Hände in den Hosentaschen und schaute an Aron vorbei auf die Straßenlaternen. »Ähm … Ich … Nun ja, ich mag das halt so.«

Lieber biss sie sich die Zunge ab, als ihm das zu erklären. Ganz abgesehen davon würde er es sowieso nicht verstehen. Alyssa fühlte sich nicht wohl in Gesellschaft und genoss es, alleine zu sein. So etwas wie Smalltalk und oberflächliche Gespräche interessierten sie nicht. Allein Musik begeisterte sie — und da mochte sie weniger mit anderen drüber sprechen, sondern sie einfach machen.

»Wie wäre es, wenn du morgen in der Mensa mit uns zu Mittag essen würdest?«

Alyssa verschlug es die Sprache. Aron gehörte zu der beliebtesten Clique ihrer Stufe und verbrachte die Mittagspause in recht großer Runde. Zählte nicht auch Kylie, die Schulsprecherin dazu? Sie stellte das genaue Gegenteil von ihr selbst dar. Bunt, auffällig und extrovertiert. Warum zog Aron allen Ernstes in Erwägung, dass Alyssa bei ihnen sitzen sollte? Das war wohl ein schlechter Scherz. Auf keinen Fall würde sie dieses Angebot annehmen.

Ihr Blick traf Arons. Freundlichkeit und Wärme lag in seinen Augen und die Absage blieb ihr im Hals stecken.

»Ich weiß nicht so recht.« Die geringe Begeisterung spiegelte sich allerdings in ihrem Tonfall wider.

»Komm schon! Ich schwöre, die sind alle sehr nett.« Breit lächelte Aron sie an.

»Bestimmt sind sie das«, murmelte sie mehr zu sich selbst.

Zum Glück erreichten sie in dem Moment das Haus ihrer Pflegeeltern. Schnell ablenken, damit er sein Angebot vergaß. Garantiert meinte er das sowieso nicht ernst, sondern wollte nur höflich sein. Morgen hätte er es vergessen. »Also vielen Dank fürs nach Hause bringen, Aron. Du solltest jetzt los, damit du deinen Bus nicht verpasst.« Sie ging in Richtung Haustür, um ihm bloß keine Möglichkeit zu geben, das Gespräch weiterzuführen.

»Alles klar. Bis morgen, Alyssa.«

Ohne sich noch mal umzudrehen, öffnete sie die Tür und huschte hinein. Geschafft! Sie atmete tief aus, als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel und lehnte sich dagegen. Fühlte sie sich sonst oft eingeengt durch die Wände des Hauses, verliehen sie ihr nun ein Gefühl von Sicherheit, das wie eine leuchtende Kerze den wabernden Schatten in ihrem Inneren vertrieb.

Wie albern sie sich auf dem Friedhof verhalten hatte! Ihr Gehirn musste ihr einen Streich gespielt haben. Sie hatte eine Panikattacke gehabt, mehr nicht. Ihre letzte lag so weit zurück, dass sie vergessen haben musste, wie sich das anfühlte. Sie sollte das beobachten. Nicht, dass es wieder öfter passierte.

»Alyssa?« Die Stimme ihrer Pflegemutter riss sie aus ihren Gedanken.

Zum Glück hatten sich ihre Pflegeeltern an ihre nächtlichen Ausflüge gewöhnt und ließen sie gewähren. Ein positiver Effekt, den die ansonsten oftmals lästige Therapie mit sich brachte. Ihre Therapeutin hatte Susan und Jim verdeutlicht, wie wichtig es für Alyssa war, sich nicht eingeengt zu fühlen. Und es funktionierte — die Panikattacken und Flashbacks blieben seitdem aus.

Mit einem aufgesetzten Lächeln betrat sie das Wohnzimmer.

Susan und Jim blickten ihr erwartungsvoll entgegen. Sie saßen mit jeweils einem Buch in der Hand und einem Glas Wein auf dem Sofa. Der Fernseher lief bei den Sandmans eher selten. Die beiden zogen gemütliche Abende mit einem Gesellschaftsspiel oder einem Buch vor. Dementsprechend bildete das Herzstück des Wohnzimmers ein großes Bücherregal. Alyssa konnte sich fürs Lesen nicht so recht begeistern. Lieber betrachtete sie die zahlreichen Bilder, die den Raum mit Leben erfüllten und hauptsächlich aus Urlaubsaufnahmen bestanden. In den vier Jahren, die sie bereits bei den Sandmans lebte, war Alyssa in der Welt herumgekommen. Nur in ihr Nachbarland Irland, das sich die Grüne Insel mit Norsten teilte, waren sie nie gereist. Sie hatte sich geschworen, ihr Heimatland nie wieder zu betreten und glücklicherweise konnten Susan und Jim das verstehen.

»Hallo.« Auch wenn sie mit ihren Pflegeeltern gut auskam, wollte sie direkt in ihr Zimmer und nichts weiter als schlafen und das Grauen der Nacht hinter sich lassen.

Die Stimme ihres Pflegevaters hielt sie zurück. »Alyssa?«

Seufzend drehte sie sich um. »Ja?«

Ein warmes Lächeln legte sich auf Jims Gesicht. »Setz dich doch.«

Das kam ihren Plänen nicht unbedingt entgegen, jedoch wollte sie sich nicht auf eine Diskussion einlassen. Deshalb ließ sie sich in die weichen Polster des Sessels gegenüber vom Sofa fallen.

»Wir haben eine Stimme draußen gehört. War jemand bei dir?«

Alyssas Blick fiel auf das geöffnete Fenster. Sie biss sich auf die Lippen. »Ja, ein Junge aus meiner Stufe. Wir haben uns zufällig getroffen, uns unterhalten und er hat mich ein Stück begleitet.«

Susans Mundwinkel zogen sich nach oben und ein Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Das ist ja wunderbar.«

Alyssa rollte innerlich mit den Augen. Ja, traumhaft!

Das war so typisch für die beiden. Sie hofften wohl, dass Alyssa endlich Freunde gewinnen würde. Schön für sie. Alyssa brauchte und wollte keine. Doch sie schluckte ihren Einwand hinunter. Schwer wie Blei drohten ihre Augen zuzufallen und die weichen Polster des Sessels trugen nicht dazu bei, dass sie wacher wurde.

»Ja bestimmt. Ein riesiger Fortschritt.« Alyssa rang sich ein Lächeln ab, konnte den Sarkasmus aus ihrer Stimme allerdings nicht gänzlich verhindern. Überdeutlich gähnte sie und stand auf. »Entschuldigt mich. Ich bin sehr müde, es war ein anstrengender Tag. Ich geh ins Bett, ja? Gute Nacht!«

»Gute Nacht«, riefen ihr die beiden hinterher, als sie schon längst die Treppe erreichte. Hastig nahm sie zwei Stufen auf einmal, bevor den beiden noch etwas anderes einfiel. Sie schloss die Tür ihres Zimmers so schnell hinter sich, dass sie von der Klinke abrutschte.

Erleichtert schmiss sie sich aufs Bett und verdrängte jeden aufkommenden Gedanken an das, was ihr heute Nacht möglicherweise passiert sein könnte.

Tag 1

 

Alyssa — 8:00 am

 

Sie fühlte sich wie von einer Dampfwalze überrollt, als sie in der Schule ankam. Die Nacht hatte kaum Erholung gebracht und sie mit Albträumen geplagt, an die sie sich jedoch nicht erinnern konnte. Lediglich die dunklen Augen, die in jedem Traum vorkamen, sah sie immer wieder vor sich. Unzählige Male war sie schweißgebadet aufgewacht. Auch jetzt ließ die Erinnerung an sie ihr Herz rasen. Hinter jeder Ecke meinte sie diese unmenschlichen Augen voller Kälte zu sehen. Ihre Hände wurden feucht. Irgendetwas in ihr fühlte sich seit letzter Nacht anders an. Sie konnte es nicht greifen, doch es jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Immerhin fehlte von ihrer Verletzung am Hals jede Spur. Also konnte das alles gar nicht so schlimm sein. Sie straffte die Schultern und schob das unwohle Gefühl energisch zur Seite.

Ihre Mitschüler standen in kleinen Grüppchen zusammen. Einige bei ihren Autos, andere auf der Wiese neben dem Parkplatz und wieder andere auf den Stufen, die zum Haupteingang führten. Der Druck auf ihrer Brust verstärkte sich mit jedem Schritt, den sie auf das Gebäude zuging. Ihre Mitschüler würdigten sie zwar keines Blickes, trotzdem fühlte sie sich wie ein aussätziger Freak. Sie sehnte den Tag ihres Abschlusses herbei. Zum Glück musste sie nur noch einen knappen Monat darauf warten.

Die Sonne knallte an diesem Frühsommertag unerträglich heiß herunter. Ein leichter Luftzug umspielte ihre nackten Beine, die von ihrer kurzen Jeansshorts nur knapp bedeckt wurden. Zum Glück galt an dieser Schule keine Uniformpflicht.

»Schau mal, was ist denn mit der Satanistin los? Sie ist ein wenig blass um die Nase … hat sich bestimmt wieder die Nacht auf dem Friedhof rumgeschlagen … Freak.«

Wie vom Blitz getroffen drehte sie sich um. »Satanistin?«

Hinter ihr stand niemand.

»Aber irgendwie sieht sie ganz schön heiß aus, findest du nicht?«, fragte ein zweiter Typ.

Irritiert ließ Alyssa ihren Blick über den Schulhof schweifen.

»Stimmt … irgendwie schon. Also von der Bettkante würde ich sie nicht stoßen. Zumindest, solange sie nicht redet.«

Alyssas Blick kreuzte Jacks, der am anderen Ende des Platzes lässig an die Wand gelehnt neben seinem Kumpel Brain stand. Als sich ihre Blicke trafen, kratzte er sich am Kopf und drehte ihr halb den Rücken zu, als fühlte er sich ertappt.

Was zum Teufel ging hier vor?

Hatte sie Jack trotz der Entfernung gehört? Das konnte nicht sein. Schließlich stand der Typ über fünfzig Meter von ihr entfernt. Oder hatte sie sich das eingebildet? Die schwarzen Augen blitzten in ihrem Bewusstsein auf. Ihr Herz pochte dumpf.

Nein! Sie ballte die Hände zu Fäusten.

Das alles hatte nichts zu bedeuten.

Die Vorstellung, von ihrem schmierigen Mitschüler als heiß angesehen zu werden, löste einen Brechreiz in ihr aus. Sie zupfte an dem schwarzen, locker geschnittenen T-Shirt, das sie über ihrem violetten Top trug, herum, bis es ihre Schultern wieder bedeckte. Zufrieden drehte sie sich um und setzte ihren Weg in das Schulgebäude fort.

 

Die ersten Unterrichtsstunden verliefen glücklicherweise ohne weitere seltsame Zwischenfälle. Ihr einziges Problem stellte die zunehmende Müdigkeit dar. Grundsätzlich in der Schule nichts Unbekanntes, das Ausmaß war allerdings bemerkenswert. Außerdem regte sich Hunger in ihr, in einer ebenfalls außergewöhnlichen Intensität. Als es endlich zur Frühstückspause klingelte, knurrte ihr Magen lautstark.

Eilig packte Alyssa ihr Sandwich aus und biss herzhaft hinein.

Bah! Wie eklig!So etwas Widerliches hatte sie noch nie gegessen. Eigentlich sollte es ein Käse-Schinken-Sandwich sein, doch es schmeckte eher so, als hätte es jemand unter das Sofa geschmissen und dort fünf Tage liegen gelassen. Der Impuls, den Bissen in ihrem Mund direkt auszuspucken, rauschte in einer nahezu übermächtigen Intensität durch sie hindurch, doch sie würgte ihn hinunter. Sie inspizierte ihr Essen, konnte jedoch keine Anzeichen von Schimmel entdecken. Trotzdem würde sie davon nichts mehr zu sich nehmen. Sie packte es wieder ein.

Mit aller Macht drängte sich das mulmige Gefühl zurück an die Oberfläche. Wie wabernde Schatten, die ihre Fühler unter der schmalen Ritze ihrer fest verschlossenen Tür hindurchschieben wollten.

Mit zittrigen Fingern wischte sie sich ihre schweißbedeckten Hände an der Jeans ab.

Nein, das konnte nicht sein. Es musste eine ganz natürliche Erklärung für all das geben. Schimmel war schließlich nicht immer sichtbar. Möglicherweise lag es auch nicht am Brot, sondern am Belag. Ja, genauso musste es sein und nicht anders.

Sie schielte auf die Uhr. Bis zur Mittagspause und damit zur nächsten Mahlzeit würde es leider noch dauern. Tief seufzte sie und verbrachte den Rest des Schulvormittags mit einem unstillbaren Hunger, der sich immer stärker in ihre Eingeweide grub. Zwar musste sie nun nicht mehr gegen das Einschlafen ankämpfen, dennoch bekam sie vom Unterricht rein gar nichts mit. Ihre Oberschenkel wippten auf und ab und ihre Finger tippten auf ihrem Pult herum. Mit starrem Blick fixierte sie die Uhr über der Klassentür. Quälend langsam krochen die Zeiger vorwärts.

Na endlich! Das Klingeln zur Mittagspause wirkte wie ein Befreiungsschlag. Als Erste sprang sie auf, stürmte aus dem Klassenzimmer und eilte den langen Gang zur Mensa hinunter, vorbei an den Mitschülern. Sie passierte Jack, der sie stirnrunzelnd betrachtete.

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Der sollte sie bloß nicht so blöd anschauen. Vielleicht würde ihre Faust sonst in seinem Gesicht landen.

Was zur Hölle?

Woher kam denn nun dieser aggressive Impuls?

Alyssa rieb sich die Stirn. Schlafmangel, Hunger … selbstverständlich führte das zu einer gewissen Gereiztheit.

Sie schluckte ihre Wut hinunter und betrat, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, die Mensa.

Ungeduldig trat sie von einem Bein aufs andere, während sie mit ihrem Tablett in der Hand in der Essenschlange stand. Beim Anblick der Köstlichkeiten in der Auslage lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Als sie endlich an der Reihe war, schaufelte sie sich wie im Wahn einen Teller Spaghetti Bolognese, eine Schale Salat und einen Becher Schokopudding auf ihr Tablett. Eine Flasche Cola vervollständigte ihre Mahlzeit.

Stirnrunzelnd betrachtete sie ihre Ausbeute. Als hätte sie in den letzten Tagen nichts zwischen die Zähne bekommen. Genauso fühlte sie sich allerdings auch. Sie steuerte ihren Stammplatz in der hintersten Ecke an.

»Alyssa. Wir haben dir einen Platz freigehalten.«

Sie zuckte zusammen. Arons Stimme war so laut, als würde er mit einem Megafon direkt neben ihr stehen.

Irgendwas stimmte mit ihren Sinnen nicht. Als wären sie hypersensibel oder so was.

Auch diesen Gedanken schob sie an die Seite.

Aron winkte ihr vom anderen Ende des Raumes zu und deutete auf den freien Stuhl ihm gegenüber.

Tja, offensichtlich hatte er sein Angebot nicht vergessen.

Neben ihm saß Kylie, die Alyssa heranwinkte, wobei ihr eine Strähne ihrer blonden glatten Haare ins Gesicht fiel. Wahrscheinlich interessierte sie sich nur für Jungs, Mode und Lästerei. Doch ein freundliches und offenes Lächeln lag auf ihren Lippen, was Alyssa irritierte.

Eine Hand griff über den Tisch nach Kylies winkenden Arm und hielt sie fest. »Was machst du denn?«, zischte eine Brünette. Vanessa. Das absolute It-Girl an ihrer Schule. Alyssa hatte diese künstliche Tussi noch nie gemocht.

Ein blonder, sportlich gebauter Typ, der neben Kylie saß, beugte sich vor und sagte: »Lass gut sein, Vanessa.« Er trug ein schlichtes Outfit: Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Eigentlich sah er recht gut aus und doch war er Alyssa bisher nie aufgefallen, weshalb sie etwas länger brauchte, bis ihr sein Name einfiel. Ben.

Vanessa presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und schaute demonstrativ weg.

»Lass sie in Ruhe«, fauchte Mailo, der letzte im Bunde, Ben an.

Na, die schienen sich ja blendend zu verstehen.

Bildete sie sich das ein oder verstummte die komplette Mensa und alle starrten sie an? Genervt stöhnte sie. Ihre Hände umfassten ihr Tablett fester und ihre Augen verengten sich.

Warum konnte sie nicht in Ruhe essen? Wie sollte sie aus der Nummer wieder rauskommen?

Scheiß drauf.

Außer diesem elitären Freundeskreis würde keiner erwarten, dass sie der Aufforderung nachkam. Zeit, mit dem Klischee zu brechen.

Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben. Scheinbar brachte sie doch ein Lächeln in der Schule zustande. »Hi!« Sie legte ihr Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich auf den freien Platz Aron gegenüber.

»Willkommen an unserem schönen Tisch«, begrüßte Ben sie.

»Danke.« Alyssa schob sich eine Gabel von ihrer Monsterportion Spaghetti Bolognese in den Mund, endlich konnte sie etwas essen. Doch kaum berührten die in Soße getränkten Nudeln ihre Zunge, verzog sie angeekelt das Gesicht.

Es war nichts Neues, dass sich die Speisen der Mensa im Randbereich des Genießbaren bewegten, aber bisher hatten sie zumindest appetitlicher geschmeckt als Dreck. Sie kämpfte gegen den Brechreiz, zwang sich weiterzukauen und würgte es hinunter.

Sie verkniff sich ein frustriertes Stöhnen. Anscheinend hatte sie ihren Geschmackssinn verloren. Oder sich den Magen verdorben. Vielleicht sollte sie zum Arzt gehen.

Ben lachte auf. »Scheint so, als wäre das Essen mal wieder ein echtes Highlight.«

»Einfach nur widerlich.« Alyssa versuchte es mit einem Schluck Cola. Doch das Getränk schmeckte so abscheulich, als hätte sie ihren Kopf ins Klo gehalten.

Sie probierte etwas von dem Salat, unterdessen klopfte Mailo Aron auf die Schulter. »Mann, ich wusste gar nicht, dass du so ein Herzensbrecher bist.«

Vor Schreck verschluckte sie sich und vergaß beinahe den ekligen, trockenen Geschmack, der nicht mal im Ansatz erahnen ließ, dass sich Salat in ihrem Mund befand.

Dieses Gerücht sollte sie direkt im Keim ersticken. »Wir haben uns gestern nur zufällig getroffen, mehr nicht.«

»Schon klar, Süße.« Kylie tätschelte ihren Arm. Als hätte sie sich verbrannt, zog sie ihre Hand zurück. »Wow, du bist aber kalt.«

Kalt? Sie fror doch gar nicht. Um die Temperatur zu überprüfen, legte sie die Hand an ihre Wange. Fühlte sich ganz normal an. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

Kylie öffnete den Mund, doch sie wurde von Mailo unterbrochen. »Wo habt ihr euch gestern denn getroffen?«

Sie ahnte, worauf er hinaus wollte, schließlich war sie als Friedhof-Freak verschrien. Um den Großmäulern nicht noch mehr Stoff zum Tratschen zu liefern, antwortete sie schlicht »In der Stadt.«

»Und was hast du so gemacht?«, fragte Mailo möglichst beiläufig, doch die Neugier stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Unverschämter Typ. Als ob ihn das was angehen würde.

In ihrem Kopf formte sich eine passende Antwort, doch Kylie schaltete sich überraschenderweise ein. »Was soll das, Mailo? Alyssa ist hier nicht beim Verhör.«

»Ist doch ’ne ganz normale Frage.«

»Ist klar.« Kylies Stimme triefte vor Sarkasmus.

Warum war die Schulsprecherin so nett und verteidigte sie? Führte sie irgendwas im Schilde? Handelte es sich um irgendein komisches Spiel?

Was auch immer es sein mochte, Alyssa hegte kein Interesse daran, es herauszufinden. Erwartungsgemäß nervte sie das soziale Geplänkel und sie bereute ihre Entscheidung, sich darauf eingelassen zu haben. Zudem hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass irgendetwas auf ihrem Tablett schmeckte. Sie legte die Gabel an die Seite. »Vielen Dank für die nette Gesellschaft, aber das Essen ist eklig und ich habe keinen Hunger mehr. Also, bis später.«

Als sie gerade aufstehen wollte, traten drei Jungs aus ihrer Stufe an den Tisch und versperrten ihr den Weg.

Der Größte von ihnen schien nicht zu merken, dass Alyssa aufstehen wollte, oder er ignorierte es schlicht. »Hallo, hallo, wer hat Bock auf eine Party morgen Abend? Dean hat sturmfrei.«

Feuer und Flamme sagten die anderen am Tisch zu.

Einer der drei stellte sich hinter den freien Stuhl neben sie und beugte sich zu ihr vor. Er schaute ihr direkt in die Augen. Sie waren strahlend blau und etwas Spöttisches lag in ihnen, wodurch sie im Kontrast zu seinem ernsten Gesichtsausdruck standen. In diesem lag eine gewisse Härte, die ihn distanziert wirken ließ. Wie hieß er noch mal?

»Und was ist mit dir, Gothic-Girl?« Seine Stimme klang angenehm tief und in ihr spiegelte sich der spöttische Ton aus seinem Blick wider.

Alle Augenpaare am Tisch wandten sich zu Alyssa.

Gothic-Girl? Was sollte der Scheiß und wie kam er darauf? Sie hatte nichts mit den Leuten aus dieser Szene gemeinsam. Gut, sie trieb sich nachts auf dem Friedhof herum, betonte ihre Augen mit schwarzem Eyeliner und trug keine strahlend bunten Klamotten. Als szenetypische Kleidung würde sie ihren figurbetonten Stil in gedeckten Farben allerdings nicht bezeichnen. Außerdem war ihre Mutter Philippinerin, was ihrer Haut einen recht dunklen Ton verlieh und sie schminkte sich nicht extra blass. Wieso verdammt kam er also dazu, sie so zu nennen? »Entschuldige, kennen wir uns?«

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Klar, wir haben Geschichte zusammen.«

Geschichte? Sie selbst saß in der letzten Reihe und musste sich regelmäßig zusammenreißen, nicht einzuschlafen vor lauter Langeweile. Aber jetzt, wo er es sagte, fiel es ihr ein. Er saß ein paar Reihen vor ihr. Sein Name kam ihr trotzdem nicht in den Sinn.

»Also, was ist mit der Party?«

Wieso wollte er, dass sie zur Party kam? Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er sie jemals beachtet hatte. Oder sie ihn. »Kein Interesse.«

Bevor er etwas sagen konnte, ergriff der große Typ das Wort. »Ach komm schon, Aly. Deans Partys sind legendär, das kann und sollte man sich nicht entgehen lassen.«

Und jetzt auch noch Aly? Hatte er sie noch alle?

Also gut, wenn sie ein Gothic-Girl wollten, sollten sie eins bekommen. Sie verzog keine Miene. »Wird es denn rituelle Tieropferungen geben? Ansonsten ist es wohl kaum der richtige Ort für mich.«

Fast alle am Tisch starrten Alyssa mit offenem Mund an.

Lediglich der Geschichtstyp schien nicht aus dem Konzept gebracht zu sein. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Er stützte sich mit den Ellbogen ab, sodass sein Gesicht mit ihrem auf einer Höhe war und beugte sich so weit zu ihr vor, dass ihr sein Geruch in die Nase stieg — frische Meeresbrise mit einem Hauch von Minze. »Dean ist ein hervorragender Gastgeber und wird alles tun, damit seine Gäste sich wohlfühlen. Tieropferungen wären da doch mal eine Abwechslung.« Der direkte, herausfordernde Blick seiner blauen Augen drang Alyssa bis ins Mark. »Also Gothic-Girl, ich seh dich dann auf der Party.«

Er richtete sich auf, drehte sich zu seinen Kumpels und nickte in Richtung des Ausgangs. Gemeinsam verließen sie den Tisch.

Kaum, dass sich die drei außer Hörweite befanden, quietschte Kylie auf und schlug ihre Hände vor den Mund. »Alyssa! Alec hat dich gerade höchstpersönlich zu einer Party eingeladen. Das ist der Wahnsinn. Ich glaube, das ist noch nie vorgekommen.«

Ah ja, richtig, Alec.

Nachdenklich sah sie ihm hinterher, während Kylie weiterplapperte. Die nächsten Minuten verfiel sie in eine Schwärmerei über ihren Mitschüler. Alyssa schaltete auf Durchzug. Typen wie Alec interessierten sie nicht im Geringsten. Er wirkte zu überzeugt von sich selbst. Heiß war er allerdings, da musste sie Kylie widerwillig zustimmen. Durchtrainierter Körper und seine braunen Haare stylte er gekonnt unordentlich. Er erinnerte sie an eine jüngere Version dieses Typens aus einer Serie, der mit seinem kleinen Bruder Dämonen jagte. Jensen irgendwas hieß der Schauspieler.

»Alyssa. Ich hole dich morgen Abend ab. Wir fahren zusammen zur Party.« Kylies Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

Moment mal. Warum meinte die Schulsprecherin, sie von zu Hause abholen zu müssen? Bevor Alyssa zu einem Widerspruch ansetzen konnte, klingelte es zum Pausenende. Sie seufzte. Im allgemein entstehenden Chaos würden ihre Worte sowieso untergehen, zumal Kylies Aufmerksamkeit längst nicht mehr ihr galt. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen, um sich vor der Party zu drücken.

Als Alyssa in der nächsten Unterrichtsstunde ihre Schulmaterialien auspacken wollte, lag ein merkwürdiges Trinkpäckchen mit Strohhalm an der Seite in ihrer Tasche. Es war komplett schwarz ohne jegliche Verzierung und egal, wie sie es drehte und wendete, sie konnte weder eine Marke noch einen Hinweis auf den Inhalt finden. Nur ein mehrfach gefalteter, karierter Zettel klebte an der Seite.

Schwer lag es in ihrer Hand. Die Flüssigkeit darin schwappte hin und her. Wer hatte es in ihre Tasche gelegt und warum? Wenn das einer dieser lustigen Scherze sein sollte, konnte sie getrost darauf verzichten.

Sie faltete den Zettel auseinander in der Hoffnung, dort die Antworten zu finden. Die Enden waren abgerissen und die Handschrift des Verfassers unordentlich, oder er hatte den Text in Eile verfasst.

Das wird schmecken und den Hunger stillen. -A-

Stand A für Alec oder für Aron? Beide waren zumindest in der Nähe ihrer Tasche gewesen. Egal, von wem es war, die Fragen blieben: Warum? Und woher wusste derjenige, wie ihr Essen heute für sie geschmeckt hatte? Sollte sie das Päckchen vorsichtshalber wegschmeißen? Es konnte alles Mögliche enthalten. Vorsichtig roch sie daran. Als der süßlich-metallische Geruch in ihre Nase stieg, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Wie ferngesteuert durchstieß sie die Membran mit dem durchsichtigen Strohhalm und trank den roten, leicht dickflüssigen Inhalt. Auf ihrer Zunge explodierten fruchtig-süße Aromen, die sie entfernt an Wildberry Geschmack erinnerten. Nur ungleich intensiver, metallischer und ein wenig säuerlich. Ihre Schultern sackten nach unten, als viel zu schnell der letzte Tropfen ihre Zunge benetzte.

Seltsam. Von der Unruhe keine Spur mehr, stattdessen fühlte sie sich, als könnte sie Bäume ausreißen. Zudem füllte warme Zufriedenheit ihren Bauch aus.

Sie war vollkommen satt.

 

Im Schneidersitz saß sie auf ihrem Bett und ließ ihren Blick durch ihr Zimmer schweifen. Es vermittelte eher den Eindruck eines Proberaums. Akustikschaumstoff an Wänden und Decke, ein Keyboard an der einen Wand, eine Gitarre im Halter und eine Geige in ihrem Koffer an der anderen, dazwischen das Mikrofon. Überall standen Notenständer herum und einige Notenblätter lagen quer im Zimmer verteilt. Unzählige Zettel bedeckten das kleine Sofa in der Ecke. Doch so chaotisch es aussehen mochte, Alyssa wusste genau, wo sich was befand. Sie liebte ihr Zimmer und fühlte sich hier wohl. Normalerweise. Heute fanden ihre Gedanken keine Ruhe. Seufzend ließ sie sich rücklinks auf die weiche Matratze fallen und starrte an die Decke. Auch wenn es in der Schule keine weiteren seltsamen Zwischenfälle gegeben hatte, ließen sie die Geschehnisse der letzten Nacht nicht los. Immer wieder versuchte sie es zu rekonstruieren, doch es brachte nichts. Ihre Erinnerungen blieben aus und in ihrem Inneren waberten die Schatten, als würden sie nur darauf warten, hervorzubrechen.

Sie schnappte sich ein Kissen und presste es vor ihren Bauch.

Vielleicht sollte sie Alec oder Aron kontaktieren, um nach dem Päckchen zu fragen?

Super Idee. Könnte nur an den fehlenden Kontaktdaten scheitern. Und was, wenn sie mit dem Falschen zuerst sprach? Oder es doch keiner von beiden war? Das nachfolgende Gespräch über ihre plötzlich aufgetauchte Unverträglichkeit gegenüber jeglicher Form von Nahrung konnte sie sich bildlich vorstellen. Am besten erklärte sie im Anschluss direkt die anderen Seltsamkeiten, die sich seit letzter Nacht zugetragen hatten.

Zum verrückt werden.

Wie elektrisiert richtete sie sich auf.

Vielleicht wurde sie das ja? Verrückt?

Das Gesicht ihrer leiblichen Mutter schoss ihr in den Kopf. Nein, das konnte nicht sein und lieferte die denkbar schlechteste Erklärung für alles.

Ihre Mum hatte schlimme Dinge erlebt. Ganz sicher hatte Alyssa keine Wahnvorstellungen von ihr geerbt.

Energisch sperrte sie die Gedanken aus ihrem Kopf aus. Ablenkung, sofort! Sie sprang auf und steuerte ihren Schreibtisch an. Ein großes Audiointerface und ihr Laptop nahmen ihn in Beschlag. Den Computer klappte sie auf, schaltete ihn ein und startete die entsprechenden Programme. Sie setzte die Kopfhörer auf und ging zu dem Mikrofon.

Ein rockiger Beat erklang in ihren Ohren. Sie stellte sich vor ihr Mikrofon und bewegte sich zu dem Rhythmus. Zwar hatte sie einen Text und Melodieideen ausgearbeitet, schenkte ihren Notizen auf dem Notenständer vor sich jedoch keinerlei Beachtung. Stattdessen sang sie das, was ihr in den Sinn kam.

Die Musik gab ihr ein Gefühl von Freiheit. Und genau das brauchte sie jetzt. Sie ließ sich mitreißen und fühlte sich fast schwerelos. Es gab nur den Beat, die Melodie und sie.

Zeit spielte keine Rolle. Die Stunden verflogen. Sie hörte erst auf, als ihre Stimme müde wurde. Erschöpft, aber zufrieden ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen. Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass es draußen bereits dämmerte.

Doch die Stille brachte auch die bedrückenden Gedanken zurück. Ihr Zimmer erschien ihr zu eng. Als würden die Wände auf sie zukommen und ihr die Luft zum Atmen nehmen. Nichts Unbekanntes. Auch wenn sie sich in ihrem Zimmer wohlfühlte, überkam sie das Gefühl jeden Tag. Fast begrüßte sie es. Es war etwas Bekanntes in dem allgemeinen Chaos, das seit letzter Nacht wütete und drohte, ihr Leben aus den Angeln zu reißen.

Normalerweise würde sie nun ihre Sachen packen und auf den Friedhof gehen, doch nach den Geschehnissen gestern kam das nicht in Frage. Schon alleine der Gedanke, an den Ort zurückzukehren, ließ ihr Herz schneller klopfen und ihre Hände schwitzig werden.

Sie zog die Aufnahme auf ihren USB-Stick, schnappte sich ihren Laptop und öffnete ihr Fenster, um von dort aus auf das Hausdach zu klettern. Sie setzte sich an den Rand des Daches und ließ ihre Beine herunterbaumeln.

Tief atmete sie die laue Sommerabendluft ein und stellte sich mit geschlossenen Augen vor, sie würde auf einem hohen Berg fernab aller Probleme stehen. Frei sein.

Als sie die Augen wieder öffnete, lag die ruhiger werdende Stadt vor ihr mit der historisch anmutenden Altstadt und dem gotischen Kirchturm im Zentrum. Die wenigen Wolken im Westen färbten sich in der untergehenden Sonne und der Mond begann seinen Aufstieg am jungen Abendhimmel. Auf der ruhigen Wasseroberfläche des Badesees spiegelten sich die Lichter der umgebenden Gebäude. Das Hausdach war zwar kein Berggipfel, aber auch dieser Anblick hatte eine nicht zu verleugnende, beruhigende Wirkung auf Alyssa.

Sie klappte ihren Laptop auf und versank in ihrer Musik — diesmal mischte sie die einzelnen Tonspuren ab und fügte sie am Ende zu einer Einheit zusammen.

»Lissy.«

Alyssas Blick schnellte hoch und sie riss sich die Kopfhörer von ihren Ohren.

Die Nacht hielt ihre Umgebung mittlerweile im festen Griff. Nur das Licht der Laternen erhellte die Nachbarschaft.

Unter der Eiche am gegenüberliegenden Straßenrand stand jemand.

Die Gestalt starrte in ihre Richtung und Alyssa hielt die Luft an. Das Gesicht lag im Schatten des Baumes, sodass sie es kaum erkannte. Doch der Schatten war groß und von kräftiger Statur, die sie unter einem schwarzen Mantel ausmachen konnte.

Wer war das? Irgendein verrückter Stalker? Ihr Herz pochte in ihrer Brust.

Als sich ihre Blicke trafen, geschah etwas äußerst Seltsames. Ihre Sicht stellte sich scharf und sie konnte ihn trotz der Entfernung erkennen.

Er hätte Anfang zwanzig und gleichzeitig Mitte vierzig sein können. Zudem sah sein Gesicht unnatürlich blass aus und seine Augen tiefschwarz. Die Erkenntnis schoss in ihr Bewusstsein. Das waren die Augen, die sie in der letzten Nacht in ihrem Traum verfolgt hatten. Ihr Herz raste. Solche Iriden besaß kein normaler Mensch.

Weg! Sofort!

Der Gedanke verpuffte. Eine angenehme Woge durchfuhr sie, als würde sie an einem kalten Wintertag in einen warmen Whirlpool steigen. Ihr Herzschlag beruhigte sich und ein Lächeln trat auf ihr Gesicht.

Es gab keinen Grund zur Beunruhigung. Er war ihr vertraut wie ein alter Bekannter, den sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie sollte zu ihm gehen, nein, sie wollte zu ihm! Sie musste zu ihm, dann würde alles gut werden!

Ihr Blick mit seinem verwoben, legte sie ihren Laptop zur Seite und stand auf. Gleich würde sie bei ihm sein! Freudige Erwartung kribbelte in ihrem Magen. Sie öffnete den Mund, um ihm zuzurufen, dass er warten sollte, damit sie durch das Haus herunter und zu ihm gehen konnte.

Wie ein leuchtender Blitz strömte eine Erinnerung auf sie ein. Eine dunkle Gestalt, die ihr nahekam — zu nah für ihren Geschmack.

Wie eine Seifenblase verpuffte das Gefühl der Vertrautheit, stattdessen stellten sich die feinen Härchen auf ihrem Arm auf. Sie taumelte zurück, kam ins Straucheln und unterbrach den Blickkontakt. Schwindel ergriff sie und sie ließ sich auf ihren Platz fallen. Um ihr rasendes Herz zu beruhigen, atmete sie tief ein und aus.

Als sie zu dem Baum schaute, war der Kerl mit den seltsamen Augen verschwunden.

Hatte sie sich das nur eingebildet? Doch das Frösteln, das sie immer noch einhüllte, fühlte sich beängstigend real an.

 

Tag 2

 

Alyssa — 10:00 am

 

Ihre Laune sank auf den absoluten Tiefpunkt. Sie stocherte in ihrem Frühstück herum. Pfannkuchen. Normalerweise mochte sie die gerne. Heute schmeckten sie allerdings so trocken und eklig wie ein alter Lappen. Nach dem zweiten Bissen gab sie auf. Auch diese Nacht hatte keine Erholung gebracht, sondern nur Albträume. Ihr Kopf hämmerte und der Hunger nagte ein Loch in ihren Bauch. Zusätzlich ging ihr die Begegnung mit dem seltsamen Stalker nicht aus dem Kopf. Wobei sie sich mittlerweile nicht mehr sicher war, ob sie sich das Ganze nicht eingebildet hatte. Ihr übermüdeter Verstand hatte ihr bestimmt einen Streich gespielt. Trotzdem: Es wurde immer schwerer, die wabernden Schatten im Zaum zu halten und sich selbst einzureden, dass es für all das eine logische Erklärung gab. Panik drohte in ihr aufzusteigen und schnürte ihr die Kehle zu. Ihre Gabel fiel klirrend auf den Tisch und sie stützte ihre Stirn mit den Händen ab.

»Alyssa, Schatz, ist alles in Ordnung?« Susan saß ihr am Küchentisch gegenüber und sah von ihrer Zeitung auf.

Alyssas Antwort bestand lediglich aus einem unwilligen Brummen.

»Du hast ja gar nichts gegessen. Schmeckt es dir nicht?«, fragte ihre Pflegemutter voller Sorge.

Mit einem Seufzen schob sie ihren Teller weg und legte die Stirn auf die Tischplatte. »Ich glaube, ich habe mir den Magen verdorben.« Außerdem waren ihre Sinne hypersensibel und vermutlich hatte sie einen Stalker. Vielleicht drehte sie aber auch durch und litt an Wahnvorstellungen.

Susan streckte ihren Arm aus und strich ihr über den Kopf. »Ach du Arme. Soll ich dir einen Tee kochen? Ich habe auch noch Magentropfen da, willst du die versuchen?«

Ihr Körper versteifte sich unter der Berührung.

Super Idee. Tee würde bestimmt besser schmecken als alles andere, was sie sonst versucht hatte zu essen.

»Nein danke. Ich warte einfach ab, bis es besser wird.« Hoffentlich würde es von selbst weggehen und bald alles wieder normal sein.

Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Die Pfannkuchen dufteten so lecker, dass sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Das machte es keineswegs besser. Darauf konnte sie echt verzichten.

Beinahe prallte sie gegen Jim, als sie die Küche verlassen wollte.

Der Geruch, der von ihm ausging, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Mit einem tiefen Atemzug sog sie ihn ein. Ihr Blick wurde von dem schwarzen Trinkpäckchen in seiner Hand angezogen. Ein nie gekanntes Verlangen breitete sich in ihr aus. Ein weiteres Päckchen. Sie wollte es. Jetzt, sofort!

»Alyssa, das war für dich im Briefkasten. Erwartest du etwas? Anscheinend wurde es nicht mit der Post geschickt, es ist keine Anschrift oder Briefmarke drauf. Nur ein Zettel klebt dran.« Jims Worte vernahm sie nur am Rande. Ihr Blick haftete starr auf dem Objekt ihrer Begierde.

Das Getränk riss sie ihm mit einem »Danke« aus der Hand.

Sie eilte in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Mit zitternden Fingern riss sie den Strohhalm ab, durchstieß die Membran und sank gegen das kühle Holz in ihrem Rücken, während der süßlich-metallische Geschmack schwer und vollmundig ihre Kehle hinunter rann.

Das schmeckte so gut. Außerdem befriedigte es den unersättlichen Hunger und bändigte die Unruhe in ihrem Inneren.

Wie am Vortag war der Saft viel zu schnell leer. Gierig saugte sie den letzten Tropfen heraus und genoss das wohlige Gefühl, das sich in ihr ausbreitete und Energie durch jede einzelne ihrer Zellen schickte.

Wie ein Junkie nach einem Schuss. Zumindest musste es sich so in ihrer Vorstellung anfühlen. Zwar hatte sie selbst nie Drogen konsumiert, aber genug Leute erlebt, die es taten. Das Verlangen, die Gier, der Rausch. Das, was sie damals in den Gesichtern der Drogensüchtigen gesehen zu haben meinte, verspürte nun sie.

Sie riss die Augen auf. Was, wenn es sich um eine neuartige Droge handelte, nach der sie jemand süchtig machen wollte? Aron oder Alec? Egal wer, sie würde es herausfinden und derjenige konnte sich auf etwas gefasst machen.

Hatte Jim nicht etwas von einem Zettel gesagt? Stirnrunzelnd betrachtete sie das Päckchen in ihrer Hand und in der Tat — ein kleiner karierter Zettel klebte an der Seite. Sie faltete ihn auseinander und die knappe Nachricht darin ließ sie frustriert aufstöhnen, da sie wieder keine Informationen enthielt, die ihr weiterhalfen.

Guten Morgen, lass es dir schmecken. Bis später -A-

 

Alyssa — 6.30 pm

 

Alyssa betrachtete ihr Spiegelbild. Was verdammt passierte mit ihr?

Den ganzen Tag waren weiterhin seltsame Dinge geschehen.

Sie vernahm Geräusche, die sie nicht hören sollte — Gesprächsfetzen von Susan und Jim oder von anderen, die sie nicht zuordnen konnte, ein Handy, das irgendwo klingelte, Geschirr, das im Nachbarhaus herunterfiel und zersprang. Den ganzen Tag hatte sie versucht nicht durchzudrehen und war mehr oder weniger gescheitert. Warum sonst stand sie nun im Bad, gekleidet in einer hautengen Bluejeans, einem dunkellila Tanktop und darüber eine schwarze Lederjacke. Dazu zwei lange silberne Ketten, ihr Lieblingslederarmband und Chucks. Definitiv kein Outfit, um den Abend alleine in ihrem Zimmer oder auf dem Dach zu verbringen.

Im Normalfall würde sie nie im Leben zu der Party gehen und hätte Kylie schon längst abgesagt — nachdem sie ihre Kontaktdaten herausgefunden hätte.

Tja, stattdessen stand sie nun hier und machte sich für ebendiese Veranstaltung fertig. Alles schien ihr attraktiver, als weiterhin alleine zu sein und durchzudrehen.

Ihre Haare ließ sie in Ruhe. Sie fielen ihr in sanften Wellen über die Schulter und Alyssa trug sie eh am liebsten offen. Zeit für Make-Up.

Gerade griff sie zu der Wimperntusche, als es an der Tür klingelte.

»Guten Abend … Miss?«

Vor Schreck ließ sie ihren Mascara fallen, der mit einem unnatürlich lauten Klappern ins Waschbecken fiel. Reflexartig schnellten ihre Hände an die Ohren.

Verdammt. Wieso war das so laut?

Und warum konnte sie Susans Stimme so deutlich hören, als würde sie neben ihr stehen? Ihre Sinne spielten schon verrückt, fehlte nur noch, dass sie das Waschbecken zerstörte. Tja — nur dass sie, so viel sie wusste, nicht von einer Spinne gebissen wurde.

»Guten Abend Mrs. Sandman. Ich bin Kylie Mitchel, eine Mitschülerin von Alyssa. Ich wollte zu ihr. Ist sie da?«

Ganz offensichtlich hatte Kylie es ernst gemeint, als sie sagte, dass sie Alyssa abholen würde. Aber warum zum Teufel war sie jetzt schon da? Die Party ging erst in einer Stunde los.

»Ja natürlich. Komm ruhig rein. Ich bring dich nach oben.«

Nicht ernsthaft! Verflucht!

Alyssa stürmte aus dem Bad in ihr Zimmer.

Was für ein Chaos. Ihre Notenblätter lagen im ganzen Raum verstreut.

Mit hektischen Bewegungen versuchte sie Ordnung zu schaffen. Ein Tropfen auf dem heißen Stein. Immerhin schaffte sie es, das Sofa freizuräumen, bis es an der Tür klopfte und Susan ihren Kopf hereinsteckte.

»Alyssa, Besuch für dich.« Ihre Pflegemutter grinste von einem Ohr zum anderen.

Alyssa verstaute die Notenblätter in ihrer Hand in einer Kommode. Mit etwas mehr Schwung als beabsichtigt schloss sie die Schublade. Ein Knall ertönte und der Schrank wackelte bedrohlich.

»Ups!« Zum Glück krachte er nicht zusammen. Alyssa drehte sich zu den beiden um, die mittlerweile im Türrahmen standen. »Äh, ja klar. Hi Kylie, ich wusste gar nicht, dass du schon so früh kommst.«

»Hi Alyssa. Vor einer Party muss man sich doch zum Quatschen treffen.« Ihre Mitschülerin grinste.

»Oh, ihr geht auf eine Party? Das hast du gar nicht erzählt, Alyssa.«

»Jetzt weißt du es ja.« Alyssa verzog das Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Konnte es noch unangenehmer werden?

»Wie geht es denn deinem Magen? Besser?«

Ihrem Magen? Was meinte Susan?

Ah ja, heute Morgen beim Frühstück. »Ja, danke. Es geht mir viel besser.«

»Das freut mich. Dann lasse ich euch zwei Mal allein.« Susan lächelte beiden noch mal zu, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.

Und nun? Unsicher beäugte Alyssa ihre Mitschülerin.

Kylie ließ ihren Blick durch Alyssas Zimmer schweifen.

Warum guckte sie so? Was hatte sie erwartet? Alles in Schwarz? Einen Altar?

Bestimmt hatte sie allen erzählt, dass sie sich das Zuhause der Satanistin anschauen würde. Alyssa hätte sich ohrfeigen können. Es war ein Fehler gewesen, sich zu ihnen zu setzen. Das hatte ihr Interesse erneut geschürt und ihr stillschweigendes Abkommen mit ihren Mitschülern — dass sie sich gegenseitig ignorierten — gebrochen. Das, was sie sich über Jahre aufgebaut hatte, drohte einzustürzen. So ein Mist.

Damit würde sie sich später beschäftigen müssen. Jetzt musste sie da erst mal durch und sich um das Kylie-Problem kümmern. »Mein Zimmer ist nicht aufgeräumt, ich hatte dich auch nicht so früh erwartet.«

»Alles gut, mach dir keinen Stress.« Kylie winkte ab und musterte Alyssa von oben bis unten. »Du siehst gut aus. Schlicht, aber es steht dir und deine Figur ist einfach der Knaller.«

Ihre Augenbrauen wanderten in die Höhe. Was beabsichtigte ihre Mitschülerin damit? »Danke?«

Kylie sah wie eine Barbiepuppe aus. Sie trug ein rosa Kleid, darüber eine Jeansjacke und Pumps. In ihre sonst glatten Haare hatte sie Locken eingedreht. Ihr dezentes Make-up betonte ihr hübsches Gesicht. An ihrem Handgelenk glitzerten Armbänder.

»Du siehst auch gut aus?« Oh man, soziales Geplänkel zählte so gar nicht zu Alyssas Stärke. Bestimmt erwartete Kylie ebenfalls einen Kommentar zu ihrem Outfit. »Wenn auch so … rosa und glitzernd.«

»Danke Alyssa«, sagte Kylie lachend.

Unschlüssig stand sie ihrer Mitschülerin gegenüber.

Sollte sie fragen, ob sie sich setzen wollte? Andererseits hatte Kylie sich ungefragt eingeladen. Wieso sollte sie ihr einen Platz anbieten? Dann würde sie ja nur denken, dass Alyssa sie dahaben wollte. »Woher weißt du überhaupt, wo ich wohne?«

»Also ich glaube, jeder weiß, wo deine Pflegeeltern wohnen. Ich meine, hallo? Jim Sandman ist der angesagteste Architekt der Stadt und das Haus ist einfach der Hammer. Ich glaube, es ist das Bekannteste der ganzen Stadt.«

Zugegeben, ein schlagkräftiges Argument. Neben der außergewöhnlichen Lage kombinierte das modern geschnittene Gebäude ein Flachdach, Alyssas Lieblingsplatz, mit einem Spitzdach. Ausgestattet mit großen Fenstern wurden die Räume vom Sonnenlicht durchflutet und wirkten dadurch offen und freundlich. Ihr Zimmer befand sich in einem anderen Bereich des Hauses, sodass es Susan und Jim nicht störte, wenn sie ihrem lautstarken Hobby nachging.

Kylie steuerte zielstrebig Alyssas Sofa an und setzte sich darauf.

Gut, so ging es auch.

Alyssa ließ sich auf ihr Bett fallen, ganz bestimmt würde sie sich nicht zu ihr setzen.

»Kannst du die alle spielen?« Kylie deutete auf die Musikinstrumente.

Als ob sie das wirklich interessierte. »Einige besser, andere schlechter.«

»Wow, ich bin offiziell beeindruckt. Damit vertreibst du dir also deine Zeit. Darf ich etwas von dir hören?«

Bitte, was? Ihr Magen krampfte sich zusammen, wie jedes Mal bei dem Gedanken, ihre Musik jemandem zu präsentieren. »Auf keinen Fall. Ich spiele nicht vor anderen.«

»Aber macht man nicht deshalb Musik? Um vor anderen zu spielen und sich zu präsentieren?«

Beinahe lachte sie auf. Diese Aussage passte zu gut zu dem Barbie-Girl. Sie wollte sicher von möglichst vielen Menschen gesehen und bewundert werden. »Ich weiß nicht, warum andere das machen. Ich mach es nicht deshalb.«

Es klopfte an der Tür und Susan streckte den Kopf rein. »Kekse und was zu trinken?« Sie trat ein und stellte das Tablett auf den kleinen Tisch vor Alyssas Sofa.

»Vielen Dank.« Kylie stürzte sich direkt auf die Kekse und nahm sich ein Glas Cola.

Alyssa würde bestimmt nichts probieren. Auf einen erneuten Tauchgang ins Klo konnte sie getrost verzichten. Zum Glück war sie noch satt von dem Trinkpäckchen.

»Willst du nichts?«, nuschelte ihre Mitschülerin zwischen zwei Bissen.

»Ich habe vorhin erst etwas gegessen.«

»Ach so, ok.«

Die beiden Mädchen schwiegen sich an.

Und nun? Was sollte sie zu ihr sagen? Was tat man, wenn jemand ungefragt bei einem auftauchte, mit dem man nichts gemeinsam hatte?

Alyssa seufzte. »Kylie, was genau machst du eigentlich hier?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich abhole«, erwiderte ihre Mitschülerin lässig und zuckte mit den Schultern.

»Ja, abholen. Nicht eine Stunde vorher besuchen. Abgesehen davon ist selbst das seltsam. Wir kennen uns ja kaum und ich weiß gar nicht, ob wir vor gestern überhaupt schon mal ein Wort miteinander gewechselt haben.«

»Hast du überhaupt schon jemals ein Wort mit jemandem an der Schule gewechselt?«

»Na klar, in Gruppenarbeiten oder so.«

»Warum redest du nie mit jemandem? Hältst du dich für etwas Besseres?«

Na also, so langsam rückte Kylie mit der Sprache raus, warum sie hier war. Aber Alyssa würde da nicht mitmachen. Ganz bestimmt nicht. »Bist du deshalb hier, um dem Mysterium Alyssa auf den Grund zu gehen und mich zu beleidigen?«

»Sagen wir so. Ich bin tatsächlich neugierig. Außerdem ist es schon komisch. Jahrelang redest du mit niemandem, dann läufst du auf einmal Aron über den Weg und Alec lädt dich auf eine Party ein.« Kylie musterte sie abschätzend.

Unterstellte sie ihr etwa, dass sie es darauf angelegt hatte, erst von Aron und dann von Alec zu Dingen eingeladen zu werden, an denen sie kein Interesse hegte? Der bissige Kommentar bahnte sich wie von selbst seinen Weg. »Freut mich, dass ich in der Schule für neue Gerüchte sorge. Ich kann mir vorstellen, dass Satanismus so langsam langweilig wird. Vielleicht bin ich ja auch eine Hexe, die alle mit einem Fluch belegt hat und jetzt auf einmal das neue It-Girl der Schule werden will. Herzlichen Glückwunsch Kylie, du hast mich durchschaut.«

»Wow.« Ihre Mitschülerin hob beschwichtigend die Arme. »Mach mal langsam, ja? Wieso fühlst du dich denn gleich angegriffen? Kein Wunder, dass keiner etwas mit dir zu tun haben will.«

»Ich habe nicht darum gebeten, dass du dich einfach zu mir nach Hause einlädst. Ach übrigens, ich habe auch nicht darum gebeten, Aron zu treffen, an eurem Tisch Mittag zu essen und ganz sicher nicht, von Alec zu einer Party eingeladen zu werden. Abgesehen davon will ich ganz sicher nicht zu dieser Party gehen.«

Tief atmete sie durch, um sich zu beruhigen. Vielleicht war ihre Reaktion etwas übertrieben. Natürlich wollte sie nicht unbedingt allein sein und hätte gerne Freunde. Leider zählte es nicht zu ihren Stärken, Freundschaften zu führen. Wenn sie es in der Vergangenheit versucht hatte, war sie immer an die Falschen geraten. Solche, die ihr nicht guttaten und sie nicht verstanden. Daher wählte sie den einfachen Weg und blieb allein. Und nur, weil Kylie sie einmal zu Hause besuchte und sich augenscheinlich von ihrer netten Seite zeigte, konnte Alyssa ihre jahrelang aufgebaute Abwehr nicht mal eben so ablegen.

»Warum gehst du dann hin?«, fragte Kylie.

Weil diese Hoffnung nach normalen sozialen Kontakten und Freundschaften wie eine klitzekleine Kerze in ihrem Inneren brannte? Weil ihr seid gestern seltsame Dinge passierten, die sie nicht erklären konnte und sie das Gefühl hatte, durchzudrehen? Tja, das würde sie ihr kaum antworten können. »Vielleicht geh ich ja auch gar nicht.«

Kylie deutete auf sie und ließ ihre Hand einmal auf und ab fahren. »Klar, deshalb hast du dich in die Klamotten geschmissen und dein halbes Gesicht geschminkt. Sieht klasse aus, aber ich würde dir empfehlen, die andere Hälfte auch noch zu schminken.«

Zunächst blieb die Miene ihrer Mitschülerin ernst, doch auf einmal brach sie in schallendes Gelächter aus.

Alyssa konnte nicht anders, als einzustimmen. Sie lachte so sehr, dass ihr Tränen in die Augen schossen und sie sich den Bauch halten musste, da er sich schmerzhaft zusammenzog. Ein Blick in Kylies Gesicht verriet, dass es ihr ähnlich erging.

Sie musste nicht verstehen, was hier abging, oder? Vielleicht war es auch egal.

Für den Moment genoss sie das befreiende Gefühl, mit jemandem lachen zu können, als wäre ihre Welt normal.

»Ich mach dann mal die andere Hälfte fertig.« Immer noch kichernd, ging Alyssa ins Bad.

 

Alyssa — 8:00 pm

 

»Hereinspaziert.« Ein hochgewachsener Typ mit eckiger Brille öffnete ihnen die Tür.

---ENDE DER LESEPROBE---