Memora Castle oder Das Rätsel der vertauschten Zeit - Marikka Pfeiffer - E-Book

Memora Castle oder Das Rätsel der vertauschten Zeit E-Book

Marikka Pfeiffer

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Beschreibung

Ein spannendes Zeitreiseabenteuer für Kinder ab 10 Jahren – voller Rätsel und mysteriöser Erfindungen – Holly muss tief in die Vergangenheit ihrer Familie eintauchen, um das Geheimnis zu lösen … Voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrer Tante Claire steht Holly vor dem Herrenhaus Memora Castle. Doch Tante Claire ist wie vom Erdboden verschwunden. Auch der unfreundliche Hausverwalter Kendrik hat dafür keine Erklärung. Holly merkt schnell, dass in dem alten Haus irgendetwas nicht stimmt. Ist der Kuckuck aus der Standuhr etwa tatsächlich lebendig? Und wohin führt die gemalte Tür auf der Balustrade? Gemeinsam mit ihrer Cousine Ilana und deren Stiefbruder Janko macht sich Holly auf die Suche nach Tante Claire und der Lösung der geheimnisvollen Rätsel – doch dafür müssen die drei ihre eigene Zeit hinter sich lassen und weit in die Vergangenheit reisen …

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Seitenzahl: 210

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Marikka Pfeiffer

Memora Castle oder Das Rätsel der vertauschten Zeit

 

 

 

Mit Illustrationen von Annabelle von Sperber

Über dieses Buch

Voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrer Tante Claire steht Holly vor dem Herrenhaus Memora Castle. Doch Tante Claire ist wie vom Erdboden verschwunden. Auch der unfreundliche Hausverwalter Kendrik hat dafür keine Erklärung. Holly merkt schnell, dass in dem alten Haus irgendetwas nicht stimmt. Ist der Kuckuck aus der Standuhr etwa tatsächlich lebendig? Und wohin führt die gemalte Tür auf der Balustrade? Gemeinsam mit ihrer Cousine Ilana und deren Stiefbruder Janko macht sich Holly auf die Suche nach Tante Claire und der Lösung der geheimnisvollen Rätsel – doch dafür müssen die drei ihre eigene Zeit hinter sich lassen und weit in die Vergangenheit reisen …

Vita

Marikka Pfeiffer studierte Musikpädagogik, Psychologie und Geschichte und arbeitete mit Kindern und Jugendlichen an Theaterstücken und Filmen. Sie lebt heute in der Nähe von Berlin, wo sie oft durch verwunschene Parks und Anwesen streift.

 

Annabelle von Sperber illustriert seit vielen Jahren erfolgreich Kinderbücher für verschiedene Verlage. Sie lebt in Berlin und im Schwarzwald.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Lektorat Sophie Härtling

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung Annabelle von Sperber

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01576-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für meinen Sohn

Memora Castle, Dezember 1927

Blitze zuckten über den schwarzen Himmel. Ein Donner krachte. Die Bäume auf dem ausgedehnten Anwesen bogen sich in einem Sturm, der das prunkvolle Haus umtoste. Die Bewohner waren bereits zu Bett gegangen. Nur in der von Kerzen beleuchteten Eingangshalle näherte sich eine Dame mit schleppenden Schritten einer Standuhr. Das weiße Haar fiel ihr in Strähnen über die Schultern, und ihre Hand umklammerte den Griff eines Vogelkäfigs.

«Tempus fugit», flüsterte sie und starrte wie gebannt auf die Uhr in der Marmorsäule. «Die Zeit vergeht – und meine ist bald um!»

Die Dame presste ihre freie Hand auf die Brust, und an ihrem Mittelfinger funkelte ein auffälliger Ring – ein in Silber gefasster Edelstein. Tiefschwarz und glänzend. Ein geheimnisvolles Flimmern ging von ihm aus, doch nur die Dame vermochte es zu sehen. Und es machte ihr das erste Mal Angst.

«Tempus fugit!», flüsterte sie erneut. Der Saum ihres Nachtgewandes schleifte über den Boden, und das Rascheln mischte sich mit dem Ticken der Uhr. Die Augen der Dame glänzten fiebrig. Ihre Wangen waren eingefallen.

Als sie die Uhr erreicht hatte, erhob sie sich mühevoll auf die Zehenspitzen und öffnete eine Tür über dem Ziffernblatt, hinter der sich ein Fach verbarg.

Sie stellte den Käfig ab, nahm einen kleinen, grau gefiederten Vogel heraus und setzte ihn auf ihre Hand.

«Mein lieber Freund», raunte die Dame dem Vogel zu. «Es ist so weit: Von nun an wirst du der Hüter unseres Familiengeheimnisses sein. Der Himmel ist mein Zeuge, wie flehentlich ich zu meinen Lebzeiten auf die Ankunft eines Erben gewartet habe, der die Gabe besitzt und sich unserer Aufgabe als würdig erweist. Leider vergeblich. Mein Sohn sieht nur den Ring. Sonst nichts.» Sie rang nach Luft, bevor sie fortfuhr: «Wie du weißt, hat jeder Mensch eine Bestimmung. Ausnahmslos. Meine war es, einen Ort zu erschaffen, der …» Die alte Dame brach ab und hob den Vogel vor ihr Gesicht. «Ich habe versucht, das Richtige zu tun», wisperte sie mit flackerndem Blick. «Aber nun, am Ende meines Lebens, bin ich krank vor Sorge, dass dies die falsche Entscheidung war!» Sie schien zu schwanken, als sie hervorstieß: «Die Magie der Erinnerungen birgt mehr Macht, als ich ahnen konnte. Weh uns, wenn sie in falsche Hände gerät!» Sie hielt kurz inne, bevor sie weitersprach. «Du musst der nächsten Hüterin ein ebenso treuer Begleiter sein, wie du es mir gewesen bist. Unbedingt, hörst du, unbedingt braucht sie die Fähigkeit, die Macht des Steins zu bannen und alle Verirrten zurückzugeleiten. Sollte sie versagen, droht uns allen Gefahr! Große Gefahr!» Ihr Atem rasselte. «Deshalb schenke ich dir heute das ewige Leben, mein einziger Vertrauter. Denn nur du weißt, wer für diese folgenschwere Aufgabe auserwählt wurde.»

Die Dame strich dem Vogel über sein Köpfchen, hob die Hand mit dem Ring – und berührte das Gefieder des Vogels mit dem Edelstein. Ein Blitz tauchte das Schloss in grelles Licht. Die alte Dame schloss die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, glänzte das Gefieder des Vogels so schwarz wie der Edelstein. Seine Augen funkelten.

«Die Kraft des Annoiten sei mit dir», hauchte die Dame und sank auf die Knie. «Und nun höre meine Botschaft.»

Mit einer letzten Anstrengung zog sie einen versiegelten Brief in Miniaturgröße aus ihrem Mieder und flüsterte dem Vogel etwas zu, bevor ihre Stimme brach und sie erschöpft zu Boden glitt. Der Brief fiel ihr aus der schlaffen Hand, der Ring löste sich von ihrem Finger und rollte über das Parkett, bis er unter Donnergrollen am Fuß der Standuhr liegen blieb. Der schwarze Edelstein war jetzt matt und trüb, und das geheimnisvolle Flimmern erloschen.

Kapitel 1Gegenwart – Einsame Ankunft

Ich sollte umkehren, dachte Holly und sah an dem uralten Haus hoch, das in einem weitläufigen Park stand und größer war, als Holly es sich je hätte vorstellen können. Im Stil eines englischen Herrenhauses erhob es sich aus gelbem Backstein in der Mitte des Anwesens und wurde rechts von einem Fluss und links von Bäumen umsäumt, soweit Holly es in der Dunkelheit erkennen konnte. Über den Türmen an den Ecken schrien Gänse. Vom Wasser stieg Nebel auf.

Ich sollte wirklich umkehren.

Holly fröstelte. Sie hätte nicht sagen können, woher dieser Gedanke kam, hatte sie doch alles darangesetzt, ihrem Paps die Erlaubnis abzuringen, dass sie ihren zwölften Geburtstag hier feiern durfte. Sie wollte endlich, endlich, endlich einmal ihre Patentante besuchen und das Haus kennenlernen, das seit Jahrhunderten ihrer Familie gehörte und in dem sie geboren worden war. Leider war kurz darauf ihre Mutter gestorben, und ihr Vater hatte mit Holly das Zuhause verlassen, um mit ihr auf der Suche nach ausgefallenen Filmschauplätzen durch die Welt zu ziehen.

So hatte Holly Memora Castle nie wiedergesehen. Sie kannte das Gutshaus nur aus den Erzählungen von Tante Claire, die, seit Holly klein war, jeden Sommer bei ihr und ihrem Paps verbracht hatte.

Holly rieb sich die Arme. Ihre Jacke war eindeutig zu dünn für einen Novemberabend. Insgeheim hatte sie ja gehofft, sie könnte hier sogar … Holly stockte. An ihre tiefste und geheimste Sehnsucht zu denken, brachte ihr Herz zum Trommeln, denn niemand wusste davon. Nicht einmal ihre Patentante, der Holly sonst alles anvertraute. Suchend schaute sie sich um.

Wo war Tante Claire nur?

Sie hatte doch fest versprochen, Holly vom Flughafen abzuholen. Schließlich hatte sie Hollys Besuch auf Memora Castle genauso herbeigesehnt wie Holly selbst, und schon vor Monaten die Geburtstagseinladung und das Ticket geschickt.

Aber Tante Claire war nicht erschienen. Sie hatte auch keine Nachricht geschrieben. Holly hatte im Taxi auf der Herfahrt wieder und wieder versucht, Tante Claire mit dem Handy zu erreichen. Ohne Erfolg.

Ein Schauer jagte über ihren Rücken, und das lag nicht an dem kalten Wind, der jetzt durch die kahlen Äste der Bäume fegte und an Hollys Haaren riss, als wollte er sie fortzerren. Holly schniefte. So hatte sie sich ihre Ankunft nicht vorgestellt! Sie zog den Kragen ihrer Sweatjacke zusammen, die für diese Jahreszeit absolut ungeeignet war, aber ihr Koffer war auf dem Flug von Melbourne hierher verloren gegangen und sollte erst in den nächsten Tagen nachgeliefert werden. Holly biss sich auf die Lippen. In ihren Träumen hatte sie sich ihren Empfang in den schillerndsten Farben ausgemalt, aber von einem mit Lichterketten geschmückten Anwesen war weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil. Holly stand ohne Gepäck und müde von der langen Reise vor einem dunklen Kasten von Haus. Frierend. Hungrig. Und vor allem – allein.

Lautes Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Natürlich. Der Taxifahrer, der sie an diesen seltsamen Ort gebracht hatte, wartete auf seine Bezahlung. Holly klaubte ihr Portemonnaie aus der Hosentasche, beglich die Rechnung und warf die Autotür zu. Und während der Fahrer das Taxi wendete und Richtung Ausfahrt davonfuhr, beschloss Holly, Tante Claire noch einmal anzurufen. Vielleicht war ihr etwas dazwischengekommen, oder sie war aufgehalten worden. Irgendetwas Wichtiges musste es sein. Da war sich Holly sicher. Sie griff nach der Kordel über ihrer Brust, an der das Handy hing – und fasste ins Leere.

Ein heißer Schreck durchflutete sie. Wo war ihr Handy? Hollys Gedanken rasten. Sie hatte es zuletzt im Taxi benutzt, um ihrem Paps zu schreiben, dass sie gut angekommen war. Sie wirbelte herum und schrie: «STOPP! ANHALTEN!»

Holly ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen und lief wild winkend dem Taxi hinterher. Vergeblich. Sie konnte nur noch zusehen, wie der dichte Nebel das Auto verschluckte, als hätte es nur in ihrer Einbildung existiert. Nicht einmal das Rücklicht konnte Holly noch erkennen. Von einem Kennzeichen oder der Aufschrift des Taxiunternehmens ganz zu schweigen.

«Oh nein!» Nach Luft ringend blieb Holly stehen und ließ die Arme sinken. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Da stand sie nun vor einem Haus, in dem sie niemand zu erwarten schien, und ihr Handy fuhr auf dem Rücksitz eines Taxis davon.

Holly starrte in die Nebelschleier und kämpfte mit den Tränen. Was sollte sie denn jetzt tun? In dem Gerät waren all ihre Kontaktdaten gespeichert. Ohne die war sie verloren! Sie wusste ja nicht einmal, wo genau sich ihr Vater gerade aufhielt. Von Tante Claire gar nicht zu reden.

Hollys Bauch krampfte sich zusammen. Hatte ihre Patentante sie etwa vergessen?

Langsam lief Holly zurück zu ihrem Rucksack, der verlassen auf dem Kiesboden lag. Ihre Schritte knirschten. Die Novemberkälte kroch ihr mit eisigen Fingern über den Nacken, und Holly zog die Schultern hoch. Erneut musterte sie Memora Castle. Dichte Nebelschleier waberten inzwischen um die Mauern, und Holly konnte nicht erkennen, ob hinter einem der Fenster nicht doch irgendwo ein Licht schien und ein Abendessen oder ein kuschliges Bett versprach. Vielleicht lagen die bewohnten Räume ja auf der Rückseite des Hauses und Tante Claire hatte die Ankunft des Taxis nur nicht gehört? Eine leise Hoffnung flackerte in Holly auf. Hastig nahm sie ihren Rucksack und lief zu dem Eingangsportal aus steinernen Säulen und einem ebenso grauen Wappen über der Tür, das kaum mehr zu erkennen war. Es sah aus wie ein M in einem C und darüber thronte ein Vogel.

Wenigstens wusste ihr Paps Bescheid und würde sich keine Sorgen machen, wenn sich Holly erst einmal nicht meldete. Sie blinzelte die Tränen weg und brauchte einen Moment, bis sie den Klingelknopf entdeckt hatte, der ziemlich weit oben neben der Tür auf einem Silberschild unter einer Inschrift prangte. Holly hatte keine Muße, den Text zu lesen. Sie fror mittlerweile gewaltig. Ihre Füße fühlten sich in den Sneakern an wie Eisklumpen, und auch ihre Hände waren klamm. Holly stellte sich auf die Zehenspitzen, drückte ihren zitternden Zeigefinger auf die Klingel und lauschte. Nichts. Kein Geräusch drang durch die Mauern. Niemand reagierte.

Holly wollte gerade noch einmal klingeln, als die massive Holztür plötzlich aufsprang. Vor Schreck wich Holly einen Schritt zurück. Einen automatischen Türöffner hatte sie bei dem alten Gebäude nicht erwartet. Aber immerhin schien jemand zu Hause zu sein.

Vorsichtig trat Holly an den Türspalt und lugte hindurch. Es war nichts zu erkennen. Nur der Geruch nach feuchtem Kaminholz drang heraus.

«Hallo? Tante Claire?», rief Holly in das Dunkel hinein. «Bist du da?»

Keine Antwort.

Mühsam drückte Holly die schwere Eichentür auf und trat ins Haus. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss, doch Holly bemerkte es kaum. Vor ihr tat sich eine Eingangshalle auf, die so riesig war, dass Holly den Kopf in den Nacken legen musste, um die Decke zu erkennen. Sie war bestimmt mehrere Meter hoch. Mit großen Augen stand Holly da und staunte. Dann glitt ihr Blick die Wände entlang. Sie waren mit verschiedenfarbigen Hölzern vertäfelt, an denen zahlreiche Gemälde hingen, und eine geschwungene Treppe führte ins Obergeschoss auf eine Galerie, die einmal um die gesamte Halle herumführte und deren Geländer ebenfalls aus einem dunklen Holz geschnitzt war. In der Luft lag der Geruch von Kiefernharz. Erst auf den zweiten Blick erkannte Holly, dass die Teppiche auf dem Parkett abgewetzt waren und die Lampen an den Wänden nur schwach schimmerten. Kein Wunder, dass das Dämmerlicht nicht durch die Fenster nach außen drang. Holly rieb sich die Hände, aber das half nicht viel, denn hier drin war es kaum wärmer als draußen. Zaghaft machte Holly ein paar Schritte in die Halle hinein, die rechts und links von zwei Marmorsäulen gesäumt war. In eine der Säulen war im unteren Teil eine antike Standuhr eingearbeitet. Ihr Holz war wie die Wandvertäfelungen mit Schnitzereien verziert, aber zudem war es mit Gold besetzt. Holly riss die Augen auf. Es war nicht das Gold oder das gleichmäßige Ticken, das durch die Halle klang, was sie fesselte. Auch nicht das Ziffernblatt aus Emaille oder die Tür darüber. Nein, es war das lange Pendel hinter der Glastür, das ruhig und schwer von einer Seite zur anderen schwang und dessen Pendellinse nicht aus Metall bestand, wie sonst üblich, sondern aus einem dunklen, schwarzen Stein, der in der Bewegung wie ein Stern am Himmel funkelte.

«Wow», hauchte Holly. War das ein Edelstein?

Neugierig lief sie zu der Säule und lugte durch die Glastür. Langsam und behäbig schwang die schwarz schimmernde Pendellinse hin und her. Holly folgte ihrer Bewegung mit den Augen und bewunderte das Sternenfunkeln auf dem Stein. Und plötzlich hörte sie – wie aus dem Nichts – ein Zwitschern.

Erschrocken sah Holly sich um. Besaß Tante Claire einen Vogel? Sie konnte nichts entdecken. Doch an der Stirnseite der Haupthalle bemerkte Holly hinter einem Sessel einen Kamin. Rot glühende Flammen brachten die Holzscheite zum Knacken. Funken sprühten. Augenblicklich spürte Holly wieder ihre kalten Glieder, und ein Hoffnungsschimmer flutete durch ihren Bauch wie heißer Tee mit Honig.

«Tante Claire?», rief sie schüchtern. «Bist du da?»

Ihr Rufen klang ziemlich kläglich in der hohen Halle. Bestimmt hatte es niemand gehört.

Doch da hatte sich Holly geirrt.

Kapitel 2Abweisender Empfang

Nach Hollys zögerlichem Rufen schnaufte ein kleiner, kugelrunder Mann die Treppe vom Untergeschoss herauf. Auf dem Kopf trug er eine wollene Mütze, und um den Hals hatte er mehrere Schals gewickelt.

«Oh, das tut mir leid, Kindchen», rief er schon von Weitem und winkte mit einem Stofftaschentuch. «Aber unser Haus ist für heute bereits geschlossen, und ab morgen wird es keine Führungen mehr geben.» Er nieste und presste das Taschentuch gegen seine Nase.

«Äh … was?» Holly verstand kein Wort. Wovon redete der Mann?

«In dem verflixten Nebel konntest du bestimmt das Schild mit unseren Öffnungszeiten nicht sehen.» Er trippelte über die Bodenmosaike aus Holz heran und leierte im Näherkommen herunter: «Die berühmten Erfindungen von Alwin DeBakel können bis Anfang November donnerstags und freitags von 10 bis 18 Uhr besichtigt werden. Die letzte Führung beginnt jeweils um 17 Uhr. Aber über den Winter haben wir dann bis März geschlossen.» Er deutete auf die rechte Seite der Halle.

Erst jetzt bemerkte Holly die Metallständer vor der Wandvertäfelung, zwischen denen rote Kordeln gespannt waren.

«Ist das hier ein Museum?», fragte sie verwirrt. War sie im falschen Haus? «Das ist doch Memora Castle, oder?»

«Ja, ja, ganz recht», antwortete der Mann, der Holly nun erreicht hatte.

«Also, na ja, ich will gar keine Führung», sagte Holly und starrte die Pantoffeln an, die der Mann trug. Sie sahen aus wie selbst gestrickt, leuchteten quittengelb und wurden von zwei riesigen Bommeln geschmückt. Dazu trug er eine Art Hausjacke oder etwas Ähnliches. In Modedingen kannte sich Holly nicht aus. Aber sie konnte deutlich sehen, dass auch die Kleidungsstücke in die Jahre gekommen waren. Der Saum der Jacke war abgewetzt, und darunter schimmerte helles Futter hervor.

«Ach was, keine Führung?», krächzte der Mann und wickelte sich das Schalende noch einmal um den Hals. «Was willst du denn dann?» Er schnaufte. Seine Wangen leuchteten, seine braunen Augen schauten freundlich.

«Ich will zu Tante Claire.»

«Claire?»

«Ja, ich bin ihre Nichte. Holly. Holly DeBakel.»

«Holly?» Er klang wie ein heiserer Papagei. «Na, das ist ja eine Überraschung!»

«Sind Sie, äh, der Hausmeister?» Auf die Schnelle fiel Holly nichts Besseres ein. Sie kam sich vor wie in einem der Schlösser, die ihr Paps in Frankreich mit ihr besichtigt hatte, weil er ihre Neugier für historische Gebäude kannte. Früher. Als er noch nicht einen Naturfilm nach dem anderen produziert hatte, um sich von seinem Kummer abzulenken.

Der Mann wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, und in diesem Augenblick dämmerte Holly, wen sie vor sich hatte. «Du bist Großonkel Quentin», rief sie. Von Tante Claire wusste sie, dass er und seine Frau Pippa auf Memora Castle den Haushalt führten und Großonkel Quentin ständig von Erkältungen geplagt wurde.

«Oh ja – Hatschi – genau der bin ich», antwortete der Mann. Er fischte einen Lutschbonbon aus der Westentasche und wickelte umständlich das Papier ab. «Diese zugige Halle», schimpfte er. «Ich werde mir noch den Tod holen.»

Großonkel Quentin schob sich das Bonbon in den Mund und faltete das Papier zusammen, als sich auf einmal hinter der Absperrung eine Tür öffnete und eine Reihe von Touristen herausströmte. Sie hatten ihre Handys gezückt und fotografierten unter Blitzlichtgewitter und mit lauten «Aaahs» und «Ooohs» die Standuhr.

«Aber, aber, meine Herrschaften», rief eine kräftige Stimme. Sie gehörte einem Mann in dunklem Anzug, der als Letzter aus dem Gang kam und die Tür hinter sich schloss. «Die Fotogenehmigung endet mit der Führung», sagte er. «Ich muss Sie dringend bitten, sich daran zu halten! Die edlen Intarsien und antiken Erfindungen vertragen kein Kunstlicht! Deshalb sind die Räume hier auch nur wenig beleuchtet.» Der Mann winkte die Gruppe zu sich heran, und die Touristen scharten sich in einem Halbkreis um ihn. Das Fotografieren hatten sie eingestellt, während sie noch einmal zu hören bekamen, dass Alwin DeBakel in den Jahren von 1860 bis 1921 hier gewirkt hatte und seine Erfindungen besonders angesehene Patente waren. Sein Porträt hing unübersehbar groß in der Halle.

«Können Sie uns sagen, ob inzwischen vielleicht das geheime Erbe von Memora Castle gefunden wurde?», fragte einer der Besucher und deutete auf das Porträt. «Im Internet vermuten Forschende, dass es die berühmteste und wertvollste Erfindung von Alwin DeBakel sein könnte.»

Der Touristenführer hob abwehrend eine Hand. «Dazu kann ich nichts sagen», antwortete er knapp.

Holly starrte ihn an. Er war noch nicht sehr alt, trug aber zum Anzug Hemd und Fliege.

Bestimmt gehörte seine Verkleidung zu dem Programm, das den Touristen im Memora Castle geboten wurde. Holly hatte gar nicht gewusst, dass ihr Ururgroßvater so berühmt gewesen war, auch wenn sie sich jetzt daran erinnerte, dass Tante Claire im Sommer noch darüber geschimpft hatte, dass die meisten der ehemals modernen Erfindungen im Haus nicht mehr funktionierten und dringend repariert werden müssten. Von einem geheimen Erbe hatte sie allerdings nichts erzählt. Neugierig ließ Holly ihre Blicke schweifen. Aber sie sah nichts, was ihr irgendwie «erfunden» vorkam. Von geheim gar nicht zu reden.

«Das Team von Memora Castle dankt Ihnen für Ihren Besuch», sagte der Touristenführer gerade. «Beehren Sie uns bald wieder und empfehlen Sie uns gern weiter. Da vorn ist der Ausgang.» Er deutete auf die Tür, vor der Holly noch immer stand, stutzte kurz bei ihrem Anblick und wies dann auch ihr den Weg hinaus. «Wenn ich bitten dürfte», sagte er bestimmt.

«Nein, nein, Kendrik», beeilte sich da Großonkel Quentin zu krächzen und legte Holly eine Hand auf den Arm. «Sie gehört nicht zur Gruppe.»

Überrascht zog Kendrik eine Augenbraue hoch, doch er kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn die Standuhr in der Säule begann, zur vollen Stunde zu schlagen. Tief und schwer hallte der Gong viermal durch die Halle, bevor er sechsmal in einem hellen Ton erklang.

«Wow», entfuhr es Holly. Nicht nur das Pendel war wunderschön, auch der Gong der Uhr war es.

Großonkel Quentin lächelte stolz und tätschelte Hollys Arm, als hätte er die Uhrzeit eigens für sie bestellt. «Das ist unsere Memoclock», erklärte er. «Klingt sie nicht wundervoll?»

Doch der Touristenführer, den er Kendrik genannt hatte, zeigte sich unbeeindruckt. Mit einer herrischen Handbewegung winkte er die Gruppe zum Ausgang, und noch vor dem letzten Gongschlag hatte er sämtliche Touristen aus dem Haus komplimentiert und die Tür geschlossen. Als er sich wieder Holly zuwandte, war seine freundliche Miene verschwunden. Er hatte die Brauen zusammengezogen und setzte zum Reden an, doch in diesem Augenblick war der Gong verklungen, und ein Quietschen ertönte. Überrascht sah Kendrik sich um. Und auch Holly staunte. Denn über dem Ziffernblatt hatte sich eine Tür geöffnet, und eine golden schimmernde Stange kam herausgefahren, auf der ein Vogel saß. Er schien aus einem ungewöhnlichen Material zu bestehen. Das war doch kein Holz? Holly reckte den Hals, um besser sehen zu können. Wenn sie nicht alles täuschte, bestand der winzige und detailgetreu geschnitzte Vogel aus eben diesem Edelstein, aus dem auch die Pendellinse gefertigt war. Auf seinem glänzend schwarzen Gefieder schillerten nämlich ebenfalls tausend Sterne, als er jetzt seinen Schnabel öffnete und laut und deutlich rief: «TEMPUS FUGIT.»

Und dann – Holly traute ihren Augen nicht – breitete er die Flügel aus und flog. Ja, tatsächlich. Er flog durch die Halle, als wäre er lebendig. Holly meinte, sogar das Flügelschlagen zu hören. Wie eine funkelnde Sternschnuppe flog er eine Runde durch die Halle, und Holly vergaß ihre kalten Füße. Selbstvergessen schaute sie dem wundersamen Vogel hinterher. Selbst Großonkel Quentin und dieser Kendrik starrten ihn an, als sähen sie ihn zum ersten Mal.

«Das … das gibt es doch nicht», flüsterte Großonkel Quentin und ließ seine Hand mit dem Taschentuch sinken. «Der Memokuck ist seit einem Jahrhundert nicht mehr geflogen.»

Holly nahm nur nebenbei zur Kenntnis, dass Großonkel Quentin plötzlich überhaupt nicht mehr heiser oder verschnupft klang.

«Der was?», fragte sie. «Wie heißt der Vogel?»

«Memokuck», antwortete Großonkel Quentin. «Er ist das Wappentier von Memora Castle.»

Holly runzelte die Stirn. Von so einem Vogel hatte sie noch nie gehört.

Der Memokuck hatte jetzt seinen Flug durch die Halle beendet. Hoheitsvoll ließ er sich auf seiner Stange nieder, schlug noch einmal mit den Flügeln, und Holly bemerkte, dass seine Augen wie Meerwasser funkelten. Voller Bewunderung schaute sie ihn an – da zwinkerte ihr der Memokuck zu. Verblüfft schnappte Holly nach Luft.

Doch bevor sie noch einmal genauer hinsehen konnte, hatte sich der Vogel umgewandt, streckte ihr seine schillernde Schwanzfeder entgegen und verschwand wieder in der Uhr.

Kapitel 3Von allen verlassen

«Wow», sagte Holly mit großen Augen. Das war also eine der Erfindungen von Alwin DeBakel! Beeindruckt stand sie in der Eingangshalle von Memora Castle. Und gleichzeitig war sie verwirrt. Ein Kuckuck aus einer Uhr zwinkerte doch nicht! Selbst wenn er hier aus irgendeinem Grund Memokuck hieß und zwitschern konnte. Bestimmt hatte ihr die Müdigkeit einen Streich gespielt. Holly nickte. Ja. So musste es sein.

Großonkel Quentin drückte ihren Arm. «Du bringst uns Glück, kleine Holly. Ja, wirklich.» Er strahlte sie an. «Die Mechanik des Memokucks hat seit beinahe hundert Jahren nicht mehr funktioniert. Wir haben ihn noch nie rufen hören oder fliegen sehen. Doch kaum bist du auf Memora Castle, ist die berühmteste Erfindung unseres Urahns wieder intakt. Das ist famos. Ganz famos. Nicht wahr, Kendrik?»

Der Angesprochene schien nicht genau zu wissen, was er davon halten sollte. Er war ziemlich blass und starrte Holly an wie einen Geist.

«Ich … ich hab nichts gemacht», stotterte sie, denn unter seinem prüfenden Blick fühlte sie sich plötzlich seltsam schuldig, als ihr Magen laut zu knurren begann. Holly presste eine Hand auf ihren Bauch.

«Oh, was sind wir für schlechte Gastgeber», rief Großonkel Quentin und steckte das gefaltete Bonbonpapier in seine Hausjacke. «Nach der langen Reise hast du sicher Hunger.»

Dankbar nickte Holly.

«Und viel zu dünn angezogen bist du auch», bemerkte Großonkel Quentin mit Blick auf ihre Jacke. «Ich schlage vor, du kommst mit mir in die Küche zu Großtante Pippa. Da bekommst du einen Teller heiße Kürbissuppe. Na, wie klingt das?» Er winkte Holly, ihm zu folgen, und trippelte in Richtung Treppe. «Deine Großtante liebt das Kochen. Sieh mich an», rief er im Gehen und klopfte sich auf seinen runden Bauch.

Holly hatte wirklich Hunger, aber das seltsame Gefühl, das sie seit ihrem Eintreffen auf Memora Castle beunruhigte, ließ sie nicht los. «Ist Tante Claire denn auch in der Küche?», wollte sie wissen.

Großonkel Quentin blieb ruckartig stehen, und Holly bemerkte hinter einer der Säulen einen Mann und eine Frau mit zerzausten Haaren den Gang entlanghuschen. Sie schauten nicht auf, sondern steckten ihre Nasen in eine Art Lageplan und tuschelten, bevor sie wieder im Dunkel des Hauses verschwanden. Holly hatte keine Ahnung, wer sie waren, denn Tante Claire hatte nie viel von den anderen Familienmitgliedern erzählt. Sie hatte immer gesagt, Holly sollte nach Memora Castle kommen und sich lieber selbst ein Bild machen.

Kendrik hatte das vorbeilaufende Paar ebenfalls bemerkt und bedachte Holly mit einem frostigen Blick.

«Müssen wir auch noch Fremde ins Haus lassen?», murrte er. «Es reicht, dass die eigene Familie hier herumschnüffelt auf der Suche nach –» Ruckartig brach er ab, als hätte er schon zu viel verraten.