Memorial Drive - Natasha Trethewey - E-Book

Memorial Drive E-Book

Natasha Trethewey

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Beschreibung

»Eine Meditation über Rassismus, Klassenzugehörigkeit und Trauer. Und am Ende doch sehr positiv - einfach herzzereißend.« Barack Obama

Natasha Trethewey ist neunzehn Jahre alt, als sich ihr Leben für immer verändert: ihr ehemaliger Stiefvater erschießt ihre Mutter. Heute stellt sich die mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Dichterin die Frage, wie diese Erfahrung sie zu der Künstlerin geformt hat, die sie geworden ist. Eindringlich und mit schonungslosem Blick nimmt Trethewey diese tiefgreifende Erfahrung von Schmerz, Verlust und Trauer als Ausgangspunkt, um den tragischen Verlauf des Lebens ihrer Mutter zu erkunden und zu verstehen, wie ihr eigenes Leben durch deren unerschütterlicher Liebe und Widerstandskraft geprägt wurde. Indem sie die Lebenslinien ihrer Mutter im zutiefst von Rassentrennung geprägten amerikanischen Süden und die ihrer eigenen Kindheit als »Kind von Rassenmischung« in Mississippi nachzeichnet, lotet Trethewey ihr Gefühl der Entwurzelung und des Unbehaustseins in jener Zeit aus, die in dem erschütternden Verbrechen mündet, das sich 1985 am Memorial Drive in Atlanta ereignete.

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Seitenzahl: 215

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Buch

Natasha Trethewey ist neunzehn Jahre alt, als sich ihr Leben für immer verändert: Ihr Stiefvater erschießt ihre Mutter. Heute stellt sich die mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Dichterin die Frage, wie diese Erfahrung sie zu der Künstlerin geformt hat, die sie geworden ist. Eindringlich und mit schonungslosem Blick nimmt Trethewey diese tiefgreifende Erfahrung von Schmerz, Verlust und Trauer als Ausgangspunkt, um den tragischen Verlauf des Lebens ihrer Mutter zu erkunden und zu verstehen, wie ihr eigenes Leben durch deren unerschütterliche Liebe und Widerstandskraft geprägt wurde. Indem sie die Lebenslinien ihrer Mutter im zutiefst von Rassentrennung geprägten amerikanischen Süden und die ihrer eigenen Kindheit als »Kind von Rassenmischung« in Mississippi nachzeichnet, lotet Trethewey ihr Gefühl der Entwurzelung und des Unbehaustseins in jener Zeit aus, die in dem erschütternden Verbrechen mündet, das sich 1985 am Memorial Drive in Atlanta ereignete.

Autorin

NATASHATRETHEWEY ist eine vielfach ausgezeichnete amerikanische Lyrikerin: u.a. Pulitzerpreis, Guggenheim Fellowship, Pushcart Prize, US-Poet Laureate. Sie war Robert W. Woodruff-Professorin für Englisch and Creative Writing an der Emory University in Atlanta, wo sie von 2001 bis 2017 lehrte. Heute ist Trethewey Mitglied des Board of Trustees und Professorin für Englisch an der Northwestern University.

NATASHA TRETHEWEY

MEMORIAL DRIVE

ERINNERUNGEN EINER TOCHTER

Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Holfelder-von der Tann

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Memorial Drive« bei Ecco, An imprint of Harper Collins Publishers, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe April 2024

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Natasha Trethewey

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Errata naturae

Covermotiv: Natasha Trethewey Privatarchiv

Autorinnenfoto: © Nancy Crampton

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-27743-7V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Zum Gedenken an die Frauen, die mich gemacht haben:

FRANCESDIXONINGRAHAMLERETTADIXONTURNBOUGHundGWENDOLYNANNTURNBOUGH,meine Mutter

Die Vergangenheit schlägt in mir wie ein zweites Herz.

JOHN BANVILLE, DIE SEE

Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.

MARTIN BUBER

INHALT

I.

[ ]

PROLOG

1. EINANDERESLAND

2. TERMINUS

[ ]

3. SOULTRAIN

4. SCHLEIFE

5. BEGNADIGUNG

6. DUWEISST

7. LIEBESTAGEBUCH

8. KOSTENRECHNUNG

[ ]

II.

9. HELLSICHT

10. BEWEISMITTEL

11. HALLELUJA

12. OFFENBARUNG

13. BEWEISMATERIAL

14. WASDIEAKTESAGT

15. 5. JUNI 1985

16. NOTABWURF

17. NÄHE

[ ]

18. BEVORWISSENSICHERINNERT

[ ]

DANK

EDITORISCHENOTIZ

I.

[ ]

Drei Wochen nach dem Tod meiner Mutter träume ich von ihr: Wir gehen einen ausgetretenen Weg entlang, eine ovale Bahn, auf der wir langsam unsere Runden drehen: nebeneinander, so nah, dass sich unsere Schultern fast berühren, beide ohne etwas zu sagen, jede in ihren eigenen Fußspuren. Obwohl ich weiß, dass sie tot ist, bin ich ganz zufrieden, als wäre sie nur irgendwo anders, wo ich hingereist bin, um sie zu treffen. Die Welt um uns herum ist schummrig, ein Hintergrund von Schatten, aus denen jetzt ein Mann kommt. Auch im Traum weiß ich, was er getan hat, und doch hebe ich die Hand und sage grüßende Worte, als er an uns vorbeigeht. In dem Moment dreht meine Mutter sich zu mir, und da sehe ich es: ein Loch, so groß wie ein Vierteldollar, mitten in ihrer Stirn. Aus dem Loch kommt Licht, so hell, so grell, dass ich für einen Moment geblendet bin, wie wenn man in die Sonne blickt – ihr Gesicht nichts als Licht, umringt von Dunkel, als sie sagt: »Weißt du, was es heißt, eine Wunde zu haben, die niemals heilt?« Ich weiß, ich soll nicht antworten, also gehen wir weiter wie zuvor, setzen die Runde fort, bis wir ihm wieder begegnen. Diesmal ist er da, um sein Vorhaben zu Ende zu bringen: Mit einer Pistole zielt er auf ihren Kopf. Diesmal glaube ich, sie retten zu können. Reicht es, mich in die Schussbahn zu werfen? Zu rufen »Nein!«? Ich wache von diesem einen Wort auf, meine eigene Stimme reißt mich aus dem Schlaf. Aber was bleibt, ist die Stimme meiner Mutter, ihre letzte Frage an mich – »Weißt du, was es heißt, eine Wunde zu haben, die niemals heilt?« – ein Refrain.

PROLOG

Das letzte Bild von meiner Mutter, abgesehen von den Fotos ihrer Leiche am Tatort, ist ein formelles Porträt, entstanden nur wenige Monate vor ihrem Tod. Sie posierte dafür in einem Ketten-Fotostudio, bekannt für seine fachgerechten, aber nicht weiter bemerkenswerten Fotos: Babys, die man mit Handpuppen zum Lachen gebracht hatte, Kinder in identischen Weihnachtspullovern, der Größe nach gestaffelt – alles vor einem gängigen Hintergrund. Manchmal ist es ein himmelblauer Fotohintergrund, der aussieht wie mit einer Feder gebürstet, oder eine herbstliche Szene mit rot-gelbem Laubwerk und einem Koppelzaun. Für stimmungsvollere Porträts tritt, wie um eine Aura von Ernsthaftigkeit oder formeller Eleganz zu erzeugen, der einfarbig schwarze Hintergrund in Aktion.

Sie war vierzig. Für die Fotoaufnahmen hatte sie ein langärmliges schwarzes Etuikleid gewählt, der hohe Kragen am Hals offen. Sie blickt nicht in die Kamera, sondern fixiert einen fernen Punkt, offenbar knapp über meiner Kopfhöhe, und ihr Gesicht ist so unergründlich, wie es immer war – die hohe, elegante Stirn faltenlos glatt, eine Werbetafel, auf der nichts steht. Sie lächelt auch nicht, was ihr Kinngrübchen noch prononcierter macht, und ihre Kieferlinie über dem schlanken Hals ist auf eine weiche Art eckig. Sie sitzt vollkommen aufrecht, ohne dass es gezwungen oder unbequem aussieht. Vielleicht beabsichtigte sie, Jahre später auf das Foto zurückzublicken und zu sagen: »Da fing es an, mein neues Leben.« Mich trifft der Gedanke zutiefst, dass es das war, was sie wollte: dokumentieren, dass sie eine Frau war, die es so weit geschafft hatte, vor der sich jetzt der Rest ihres Lebens auftat.

Dieser Gedanke hat mich immer mit Verzweiflung erfüllt, und so erzählte ich mir jahrelang lieber andere Geschichten. In einer Version wusste sie, dass sie bald getötet werden würde. Ich weiß, dass sie mit Freundinnen von der Arbeit mehr zur Unterhaltung bei einem Medium war; so viel erzählte sie mir, aber sie sagte nie, was sie dabei erfahren hatte. Um dieselbe Zeit hatte sie auch mehrere Lebensversicherungspolicen abgeschlossen, daher sagte ich mir jahrelang, sie müsse Vorkehrungen für das Unvermeidliche getroffen und – in ihren letzten Lebenswochen – sichergestellt haben, dass für ihre Kinder gesorgt wäre, wenn sie nicht mehr da war.

In Wirklichkeit sagte ihr das Medium wohl allenfalls irgendetwas Verheißungsvolles über ihre Zukunft – Liebesglück vielleicht oder positive Aussichten in ihrem gerade erst angenommenen neuen Job als Personalleiterin bei der County-Behörde für mentale Gesundheit. Ich weiß, dass die Versicherungen einfach zu den Sozialleistungen gehörten, die dieser Job mit sich brachte: Sie hatte sie vermutlich während der Vergünstigungsfrist für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgeschlossen. Und doch tröstete mich das Narrativ, dass sie im Bewusstsein dessen, was kommen würde, stoisch geplant hatte. Ich ertrage die Alternative nicht, die Vorstellung von jenem schrecklichen letzten Moment, in dem sie plötzlich erkennt, dass sie gleich sterben wird, nachdem sie gerade noch geglaubt hat, entkommen zu sein. Vielleicht liegt die Wahrheit ja irgendwo zwischen ihrer Hoffnung und ihrem Pragmatismus.

Rückblickend sehe ich dieses Porträtfoto in seiner Düsterkeit anders – als hätte der Fotograf etwas Künstlerisches hervorbringen wollen, statt eines gewöhnlichen Studioporträts. Es ist, als hätte er aus dem Negativraum um sie herum einen Rahmen gemacht, um ein schwieriges Wissen in den Blickpunkt zu rücken: die dunkle Vergangenheit hinter ihr, ihr erhelltes Gesicht in eine Zukunft weisend, die ihr Blick fixiert.

Und doch ist da – unleugbar – noch etwas anderes, elegisch schon damals: ein seltsamer heller Winkel gleich hinter ihrem Kopf, vielleicht ein Fehler des Fotografen, was wirkt, als hätte sich eine Tür geöffnet, ein Durchgang, durch den sie, wenn sie sich umdreht, demnächst verschwinden könnte. Wenn ich das Bild jetzt betrachte, im Wissen um das, was kommen würde, sehe ich, was der Fotograf noch gemacht hat. Er hat sie so dargestellt: ihr schwarzes Kleid so schwarz wie der Fotohintergrund, sodass sie, bis aufs Gesicht, tatsächlich Teil dieses Dunkels ist, aus ihm auftaucht wie aus den Tiefen der Erinnerung.

Fast dreißig Jahre nach dem Tod meiner Mutter kehrte ich zum ersten Mal an den Ort zurück, an dem sie ermordet wurde. Ich war nicht mehr dort gewesen, seit ich mit neunzehn ihre Wohnung hatte ausräumen müssen und alles entsorgt hatte, was ich nicht mitnehmen konnte – oder wollte: sämtliche Möbel und Haushaltsgegenstände, ihre Kleidung, ihre umfangreiche Schallplattensammlung. Behalten hatte ich nur ein paar von ihren Büchern, einen schweren Gürtel aus Patronen und eine einzige Pflanze, die sie geliebt hatte – eine Dieffenbachie. Meine ganze Kindheit hindurch war es meine Aufgabe gewesen, mich um sie zu kümmern, jede Woche die oberen Blätter abzustauben und zu besprühen und die braun gewordenen unteren abzuschneiden. Pass auf, wenn du mit ihr umgehst, warnte mich meine Mutter. Eine banale, scheinbar überflüssige Ermahnung, aber der Saft der Dieffenbachie enthält ein Gift, und er quillt beim Schneiden aus den Blättern und Stängeln. Stummblume wird die Pflanze auch genannt, weil sie vorübergehend sprechunfähig machen kann. Wir sagen, jemand ist stumm vor Schreck oder etwas verschlägt einem die Sprache, und wir sprechen von stummer Trauer, wenn die Trauer nicht in Worten geäußert wird. Ich verstand damals die Metaphorik der Pflanze für das Verhältnis zu meiner Mutter nicht, was es bedeutete, dass sie mir deren Pflege übertragen und mich gleichzeitig vor ihrer Gefährlichkeit gewarnt hatte.

Als ich Atlanta verließ und mir schwor, nie dorthin zurückzukehren, nahm ich mit, was ich all die Jahre kultiviert hatte: stummes Meiden meiner Vergangenheit, Schweigen und willentliche Amnesie, tief in mir eingewurzelt. Und ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass mich je irgendetwas wieder in diese Stadt zurückziehen könnte, in eine Umgebung, die an jeder Ecke eine Erinnerung an die Vergangenheit bereithielt. Ich war entschlossen, zu vergessen, auch wenn ich das Andenken meiner Mutter auf jede mir mögliche Art zu ehren versuchte. Tatsächlich glaubte ich, als ich aus beruflichen Gründen zurückging – ich hatte dort eine akademische Stelle angenommen –, mein früheres Leben umgehen zu können, indem ich jeden erdenklichen Umweg machte, um zumindest den einen Ort zu meiden, den zu sehen ich nicht ertragen könnte. Bis ich es musste.

Um hinzukommen, musste ich markante Punkte passieren, die mich ins Jahr 1985 zurückversetzten – das County-Gerichtsgebäude, wo die Verhandlungen stattfanden, das Polizeipräsidium von DeKalb County kurz vor dem Highway 285, den Autobahnring um Atlanta selbst –, und den Memorial Drive entlangfahren, eine Ost-West-Hauptverkehrsader, die einst Fair Street hieß. Der Memorial Drive beginnt in der Stadtmitte und führt von Downtown ostwärts bis zum Stone Mountain, dem größten Konföderierten-Denkmal der USA. Als bleibende Metapher für das weiße Denken der Südstaaten erhebt sich der Stone Mountain aus der Erde wie der Kopf eines versunkenen Riesen – auf der Stirn prangt der nostalgische Traum von Südstaaten-Heroismus und -galanterie: die riesigen Relieffiguren von Stonewall Jackson, Robert E. Lee und Jefferson Davis. Nicht weit vom Fuß des Stone Mountain liegt die Wohnung, in der wir in jenem letzten Jahr wohnten, Memorial Drive, Block 5400, Nummer 18D.

Obwohl ich genau wusste, wo ich war, die Orientierungspunkte am Weg kannte, fuhr ich zuerst an dem Komplex vorbei und musste umkehren, um die von Bäumen gesäumte Einfahrt zu nehmen. Dabei erblickte ich in der Ferne den Stone Mountain; er wurde plötzlich vom höchsten Punkt des Memorial Drive aus sichtbar, wie um mich darauf zu stoßen, was hier in Erinnerung gehalten wird und was nicht.

Als ich zuletzt hier in der Wohnanlage war, am Morgen nach ihrem Tod, sah ich die verblassten Kreideumrisse ihres Leichnams auf dem Gehweg, das gelbe Polizeiabsperrband, das immer noch an der Haustür klebte, das kleine, runde Loch in der Wand neben ihrem Bett, wo ein Projektil – ein Fehlschuss – eingeschlagen war. Jetzt zeugt hier nichts mehr von dieser Tat, wenn auch alles den Stempel des Verlusts trägt. Reihe um Reihe rostiger Treppengeländer und Fliegenfenster zieht sich die heruntergekommenen Gebäude entlang, und die Hauswände übertüncht ein hellerer Farbton, wie um die dunkle Geschichte darunter zu verbergen.

Unterm Fenster des ehemaligen Schlafzimmers meiner Mutter stehend, dachte ich an das Einschussloch: so eine winzige Spur des Geschehnisses, das so einschneidend in unser Leben eingegriffen hatte. Man hatte es wohl rasch repariert, gefüllt und überstrichen, und ich fragte mich jetzt, ob das Gebäude mit den Jahren gearbeitet, die Wand sich bewegt hatte. Ich weiß um die eingebrochene Stelle, die ein einstmals überdeckter Nagelkopf verursachen kann, wenn ein Haus arbeitet, ein kleiner Krater im Gips, wie eine Wunde, die von innen her aufbricht. Das ist es, was mich hierher zurückgezogen hat: das Versteckte, Überdeckte, beinah Getilgte. Ich muss mir jetzt unsere Geschichte erklären, den tragischen Kurs verstehen, auf dem sich das Leben meiner Mutter befand, und die Art und Weise, wie mein eigenes Leben durch dieses Erbe geprägt wurde.

In meinem Kopf hält sich ein Bild von mir an jenem ersten Tag nach ihrem Tod, beim Betreten der Wohnung. Ein Lokalsender hatte meine Ankunft gefilmt, deshalb ist es nicht nur das Bild jenes Moments, sondern es bin ich, wie ich mich – aus der Distanz – vermeintlich zum letzten Mal in mein altes Leben zurückkehren sehe. In den Aufnahmen gehe ich die Eingangstreppe hoch, trete ein und mache die Tür hinter mir zu. Wenn ich jetzt daran denke, höre ich keine Worte, ist der Ton stummgestellt. Vielleicht nannte die Reporterin unsere Namen, vielleicht auch nicht, indem sie von meiner Mutter als demOpfer sprach. Und vor meinem geistigen Auge ist unten auf dem Bildschirm eine Schriftzeile: Sie bezeichnet mich als Tochter der Ermordeten. Schon in dem Moment hatte ich das Gefühl, jemand anderem zuzuschauen – einer jungen Frau an der Schwelle ihres Lebens, zugleich dem Zugriff von Erwachsensein und schmerzlichem Verlust ausgesetzt.

Die junge Frau, die ich geworden war, als ich Stunden später diese Wohnung verließ, war nicht diejenige, die sie betreten hatte. Es ist, als wäre sie – dieses Mädchen, das ich war – immer noch dort, eingesperrt in das Video, das endet, wo es endet. Oft habe ich diese Tür in meinen Träumen gesehen. Nur ist es jetzt eine Schwelle, die ich übertreten kann.

Der Mutter Spiegel bist du, die das GlückDes eignen Mais in deinem sieht erneut.

SHAKESPEARE, 3. SONETT

1.EIN ANDERES LAND

Ich habe ein großes Muttermal hinten auf dem Oberschenkel. Obwohl es schon über ein halbes Jahrhundert zu mir gehört, kann ich mich nie erinnern, welches Bein seine dunkle Silhouette trägt, und muss deshalb rückwärts in den Spiegel schauen, um es wieder zu wissen. Das Mal zu sehen, ist so ähnlich, wie auf eine vergessene Narbe zu stoßen, ein Relikt, das den Moment der Verletzung wieder wachruft. Es versetzt mich in meine frühe Kindheit zurück: die langen warmen Tage in Mississippi, als ich meistens Shorts trug und das Muttermal offen sichtbar war, nicht versteckt wie jetzt meistens. Es hat zwar nicht die Form, aber die Größe einer Hand und befindet sich genau an der Stelle, wo – würde einem wie meiner Mutter gesagt, man solle sich auf seine Hände setzen – ein Abdruck zurückbleiben könnte.

Quer durch die Kulturen gibt es zahlreiche Mythen darüber, wie die Mutter einem Kind ihren Stempel aufprägen kann, noch bevor es zur Welt kommt, wie ihre Gelüste oder Ängste sich an dessen Körper zeigen können: als Muttermale in der Form oder Farbe von Lebensmitteln, auf die sie Heißhunger hatte, als graue Haarsträhne da, wo sie an ihrem eigenen Haar zog. Um den Heißhunger abzustellen, heißt es: Iss etwas Erde oder Lehm. Um die Hand, die am Haar zieht, still zu halten: Setz dich drauf. Hätte meine Mutter etwas Derartiges getan, hätte es in meiner Familie vielleicht eine einzige Geschichte darüber gegeben, was mein Muttermal bedeutet. Aber einigen konnten sich die Älteren nur darauf, dass es aussah wie etwas auf einer Landkarte, eine Gegend, von der meine Mutter vielleicht geträumt hatte, in der sie aber nie gewesen war. Ich habe mir oft vorgestellt, wie sie meine Ankunft erwartete, hoffnungsfroh, aber auch ängstlich wegen der Welt, der Zeit und der Umgebung, in die ich hineingeboren würde: ein intensives Sehnen, das in ihr Gestalt annahm.

Im Frühjahr 1966, als ich geboren wurde, stand meine Mutter zwei Monate vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Mein Vater war nicht da, beruflich unterwegs, also legte sie die kurze Strecke vom Haus meiner Großmutter zum Gulfport Memorial Hospital wie geplant ohne ihn zurück. Auf dem Weg zur »rassengetrennten« Geburtsstation konnte sie gar nicht umhin, den Tenor des Tages wahrzunehmen, die Flut von Konföderiertenfahnen, die die Straßen säumten: Privatleute, Politiker, Ku-Klux-Klan-Mitglieder (oft in einer Person) hissten diese Fahnen in Gulfport und Kleinstädten in ganz Mississippi. Der 26. April jenes Jahres war der hundertste Gedenktag der Konföderierten – ein Tag der Verherrlichung des Alten Südens, der Verlorenen Sache und der weißen Vorherrschaft –, und vieles von der Inbrunst war auch eine demonstrative Reaktion auf die jüngsten Fortschritte der Bürgerrechtsbewegung. Es konnte meiner Mutter nicht entgehen, wie paradox es war, dass ich gerade an diesem Tag geboren wurde – ein Kind der »Rassenmischung«, einer »Mischehe«, die in Mississippi und zwanzig weiteren Bundesstaaten noch immer illegal war.

Abgesondert auf der »Farbigen«-Station, wusste meine Mutter, dass das Land sich veränderte, aber langsam. Sie war im Sommer 1965 volljährig geworden, in den Nachbeben des Blutigen Sonntags von Selma, der Watts-Unruhen und Jahren rassistischer Morde in Mississippi. Anders als mein Vater, der als weißer Junge im ländlichen Nova Scotia groß geworden war, wo er jagen und fischen und frei in den kanadischen Wäldern umherstreifen konnte, war meine Mutter als Schwarzes Mädchen im tiefen Süden aufgewachsen, eingeengt, gebunden an eine Welt, die durch die Jim-Crow-Gesetze abgesteckt war. Während mein Vater an die Idee des wagemutigen Lebens glaubte, an die Notwendigkeit, Risiken einzugehen, hatte meine Mutter die Notwendigkeit des So-tun-als-ob erlernt, die Kunst, vor Weißen, die von Schwarzen servile Unterwürfigkeit erwarteten, das eigene Gesicht zu einer unergründlichen Maske zu machen. Im Sommer 1955, mit elf, hatte sie gesehen, was einem Schwarzen Kind in Mississippi passieren konnte, wenn es sich nicht so benahm, wie es von ihm erwartet wurde, sich nicht an die Rassenschranken hielt: im Jet-Heft meiner Großmutter Emmett Tills geschundener Leichnam, sein verwüstetes Gesicht.

Selbst wenn meine Mutter die rassistische Gewalt und die zunehmende Unruhe um sich herum hätte ignorieren wollen – nicht mit meiner Großmutter. In ihrem Haus lag auf dem Couchtisch die neueste Ausgabe der Zeitschrift Jet neben einem Buch mit Fotos der Bürgerrechtsbewegung, von Lynchmorden bis hin zu friedlichen Protesten und den unbeugsamen Gesichtern Schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner – ständige Erinnerung an die Notwendigkeit des Kampfes für Gerechtigkeit in einem Staat, in dem man immer unübersehbarer daran erinnert wurde. Im Jahr, bevor meine Mutter meinen Vater kennenlernte, hatte der Bürgerrechtsaktivist Medgar Evans in seiner Hauseinfahrt in Jackson eine tödliche Kugel in den Rücken bekommen. Im selben Jahr, 1963, schloss sich meine Großmutter einer Gruppe Schwarzer Bürgerinnen und Bürger an, um in Biloxi dagegen zu protestieren, dass ihnen der Zugang zu öffentlichen Stränden verwehrt war. Als Zeichen der Trauer um Evans steckten die Protestierenden Hunderte schwarzer Fähnchen in den Sand – ein Bild, das meine Mutter, die vom Uferdamm aus zusah, nie vergessen würde. So wenig wie die Nachricht vom Tod der drei Bürgerrechtsaktivisten, die bei der Freedom-Summer-Freiwilligenkampagne geholfen hatten, Schwarze Wähler in Mississippi zu registrieren. James Chaney, Andrew Goodman und Michael Schwerner waren im Juni 1964 entführt und ermordet worden, und ihre Leichen fand man zwei Monate später unter einem Erdwall in Neshoba County.

Als meine Mutter davon erfuhr, war sie außerhalb des Bundesstaats, auf einer Exkursion mit ihrer College-Theatertruppe. Bei ihrer Rückkehr war die Terrorkampagne des Ku-Klux-Klan in vollem Gang, und das Mississippi, in das sie zurückkehrte, war noch beängstigender geworden. Jener Sommer war eine Zeit der Feuer, der Gefahr, die immer näher kam: flammende Kreuze und brennende Kirchen im ganzen Staat. Meine Mutter und meine Großmutter, die gegenüber einer Kirche wohnten, fanden jetzt keinen festen Schlaf mehr, sondern wachten nachts oft auf und horchten.

Vor diesem Hintergrund von Bedrohung und Aufruhr verliebten sich meine Eltern, zu der Zeit beide auf dem College, ineinander. Sie begegneten sich in einem Literaturkurs, modernes Drama, und ihre Gespräche über Bücher und Theater führten sie rasch aus dem Seminarraum hinaus in die Nachmittagssonne, und sie spazierten über den Campus und weiter, inmitten der sanften, grünen Hügel Kentuckys. Als sie 1965 »ausrissen«, über den Ohio River nach Cincinnati, wo sie legal heiraten konnten, war nur meiner Mutter wirklich klar, was das für mich bedeuten würde, das Kind, das sie bereits unterm Herzen trug. In Briefen an meinen Vater während der Monate ihres Getrenntseins war sie optimistisch und pragmatisch zugleich: Sie hoffte auf eine sich verändernde Nation, wusste aber sehr wohl, dass jedes Kind, das sie zur Welt bringen würde, viel lernen müsste, um sicher zu sein. Das hieß, ich würde die Realitäten begreifen müssen, mit denen ich konfrontiert wäre: die schmerzlichen, repressiven Fakten einer Umgebung, die sich schwertat, die Integration zu akzeptieren, auch wenn sie jetzt Gesetz war. Mein Vater mit seiner idealistischen Natur war immer noch naiv genug zu glauben, ich könnte so frei von den Bürden der »Rassenzugehörigkeit« – will heißen, des Schwarzseins – aufwachsen wie er.

Sie ergänzten einander in ihrer Gegensätzlichkeit: meine Mutter anmutig und zurückhaltend, achtsam, mein Vater mit seinen rauen Umgangsformen, ungehobelt und belesen zugleich, oft in Gedanken. Es war meine Mutter, die das Bluten meiner Wange stillte, als ich mit dem Rasiermesser meines Vaters nachmachen wollte, was ich ihn damit hatte tun sehen. Es war mein Vater, der das Rasiermesser geistesabwesend in meiner Reichweite hatte liegen lassen. Als ich mir eines Tages draußen im Graben das Knie aufschlug und etwas zum Vorschein kam, das wie eine weiße Hautschicht unter der obersten aussah, lag ich zwischen den beiden, hielt ihre Hände aneinander und fragte, warum sie nicht die gleiche Hautfarbe hatten, warum meine wieder anders war als ihre. Was war ich? »Du hast das Beste von beiden Welten«, erklärten sie mir nicht zum ersten Mal.

Draußen in der Welt, mit nur einem von ihnen, begann ich ein tiefes Gefühl der Entwurzelung zu verspüren. Wenn ich mit meinem Vater unterwegs war, registrierte ich die höflichen Reaktionen von Weißen, die Art, wie sie ihn mit »Sir« oder »Mister« ansprachen. Meine Mutter dagegen nannten sie »Gal«, nie »Miss« oder »Ma’am«, wie es sich doch angeblich gehörte. So unterschiedlich wurde ich behandelt, je nachdem, mit wem ich zusammen war, dass ich nicht mehr wusste, wohin ich gehörte. Nur zu Hause, wenn wir drei zusammen waren, fühlte ich mich zutiefst zu ihnen gehörig, und in dieser Dreieinigkeit von Mutter, Vater und Kind schloss ich die Augen und schlief zwischen ihnen auf dem hohen Bett ein.

Vor diesem Schlafzimmer war ein langer, schmaler Gang zum Arbeitszimmer und einem gleich jenseits der Tür befindlichen hohen Bücherregal, das meine Aufmerksamkeit unzählige Nachmittage lang fesselte. Es beherbergte die Bücher meiner Eltern und eine Reihe von Enzyklopädien, die meine Großmutter auf Drängen meiner Mutter zur Erinnerung an meine Geburt gekauft hatte, statt meine Babyschühchen bronzieren zu lassen. Im frühesten Traum, an den ich mich erinnere, führte dieser Gang zu etwas Unbekanntem, das mich anzog und dennoch diffus ängstigte – eine Ahnung von Gefahr dort vor mir. Im Traum wachte ich auf, und das Haus war so dunkel und still, als wäre ich allein. Ich stand auf, ging zur Tür und spähte den Gang entlang. Mir gegenüber, am anderen Ende des Gangs, den Blick aufs Bücherregal versperrend, war eine mannsgroße Gestalt: gesichtslos und ganz und gar aus den zerkleinerten Muschelschalen, die die Einfahrt neben unserem Haus bedeckten und über deren scharfe Kanten ich so oft barfuß gegangen war.

Heute leuchtet mir ein, dass der früheste Traum, an den ich mich erinnere, diese Form hatte. Damals war mein Vater im Teilzeit-Graduiertenstudium, um seinen PhD in Englisch zu machen und Schriftsteller zu werden. Hätte ich ihm erzählt, was mir Angst gemacht hatte, hätte er mir, um mich zu beruhigen, vielleicht erklärt, dass diese Traumbilder Geschichten ähnelten, die er mir vor dem Zubettgehen vorlas: den Irrfahrten des Odysseus, seiner Begegnung mit dem Zyklopen, der den Ausgang der Höhle blockierte, dem Monster Grendel am Eingang der Methalle in der Beowulf-Sage. Außerdem gab es da noch die Geschichten von Narziss, Ikarus, Kassandra, dem Rätsel der Sphinx – Geschichten über Mut, Eitelkeit, Hybris, Wissen.

Ich mochte es, mich in seinem großen Sessel an ihn zu kuscheln, während er las. Eines Abends fuhr ich mit dem Zeigefinger seinen Hals hinunter, über den spitzen Hubbel dort.

»Was ist das, Daddy?«, fragte ich. Aus der Sonntagsschule kannte ich die Geschichte von Adam und Eva, aber nicht den Teil, den mein Vater jetzt erzählte: wie der Apfel vom Baum der Erkenntnis Adam im Hals stecken blieb und dessen Nachkommen daher alle dieses anatomische Merkmal tragen sollten.

»Tut der weh?«, fragte ich.

»Nein«, sagte er, wie üblich die Stirn runzelnd. »Aber er ist eine der Konsequenzen der Erkenntnis.«

»Warum habe ich keinen?«

»Hast du ja«, sagte er und legte meine Hand auf meine Kehle. »Er ist nur kleiner. Sag was, dann fühlst du ihn.«

Was mein Vater mich über die Welt lehren wollte, sagte er nicht immer explizit, daher hörte ich aufmerksam seinen Geschichten zu und fand mich in den Charakteren wieder. Wenn ich, obwohl er mich davor gewarnt hatte, auf meiner Schaukel zu hoch hinaufschwang – fast über die Querstange, sodass die Ketten die Spannung verloren und ich unsanft am Boden landete –, hörte ich die Geschichte von Ikarus. Wenn ich vor dem Spiegel meine Mutter imitierte, wie sie sich zurechtmachte, verzückt von meinem eigenen Gesicht, war es die Geschichte von Narziss.