Menschen in Ausnahmesituationen und psychosozialen Krisen - Gerd Mantl - E-Book

Menschen in Ausnahmesituationen und psychosozialen Krisen E-Book

Gerd Mantl

0,0
35,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Werk befasst sich mit Menschen in individuellen Ausnahmesituationen. Anhand von Betreuungsdokumentationen wird der Alltag der psychosozialen Akutbetreuung sowie Krisenintervention in Theorie und Praxis aufgezeigt. Es werden durchgeführte Interventionen dargestellt und mit praktischen Erfahrungen der Autor:innen und aktuellen theoretischen Erkenntnissen sowie selbstreflexiven Elementen verknüpft, um das gesamte Ausmaß einer solchen Tätigkeit sichtbar zu machen. Das Buch bietet detaillierte Einsicht in die psychosoziale Akutbetreuung, indem menschliche Ausnahmesituationen thematisiert und praktisch nachvollziehbar dargestellt werden. Die Dokumentationen befassen sich mit der Betreuung nach einem plötzlichen Todesfall, einem Großschadensereignis, einem Mord, einem Suizid, einer psychiatrischen, sozialen Krise, einem Unfall mit Todesfolge sowie Amputation und bei einer multifaktoriellen Problemlage. Theorie-Inputs sowie Merkkästchen, Checklisten und Informationsblätter erleichtern die praktische Anwendung im Alltag der psychosozialen Akutbetreuung sowie Krisenintervention.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 373

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerd Mantl, Evelyn Bremberger

Menschen in Ausnahmesituationen und psychosozialen Krisen

Akutbetreuung in Theorie und Praxis

Mag. Gerd Mantl, MSc ist Klinischer Psychologe, Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut (Integrative Therapie) mit Spezialisierungen in Säuglings-, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sowie Notfallpsychologie in freier Praxis. Er war u. a. in der psychosozialen Akutbetreuung, in einem Krisenzentrum sowie in der Behandlung von Suchterkrankungen tätig.

Mag.a Evelyn Bremberger ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin. Sie arbeitete im Strafvollzug, als Teamleitung der Familien- und Jugendgerichtshilfe, als Amtssachverständige des Landes Niederösterreich im Bereich Kinder- und Jugendhilfe sowie in der psychosozialen Akutbetreuung. Sie leitet das Kinderschutzzentrum »die möwe« in St. Pölten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Autor:innen oder des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2024

Copyright © 2024 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie

der Übersetzung, sind vorbehalten.

Umschlagbild: © ipopba – iStock

Lektorat: Mag.a Verena Hauser, www.schreibgut.at, Wien

Covergestaltung und Satz: Ekke Wolf, typic.at, Wien

Druck und Bindung: finidr, Tschechien

Printed in the EU

ISBN 978-3-7089-2422-9 (Print)

ISBN 978-3-99111-828-2 (E-Pub)

Inhalt

1 Einleitung

Kostenlose Notfall-Kontakte

2 Psychosoziale Akutbetreuung – Rahmenbedingungen und Betreuungskontext

2.1 Fachliche theoriegestützte Herangehensweise und Haltung psychosozialer Fachkräfte

2.2 Ziele und Hintergründe der Tätigkeiten psychosozialer Fachkräfte

3 Betreuungsdokumentation 1: Kinder und Jugendliche als Angehörige nach einem plötzlichen, natürlichen Todesfall

3.1 Auftragsklärung und telefonische Erstintervention

3.2 Vorgeschichte der Betroffenen

3.3 Gespräch mit der Tochter und psychosoziale Interventionen

3.3.1 Gespräch mit der Tochter

3.3.2 Gestaltung der Arbeitsbeziehung

3.3.3 Emotionale Reaktionen und Verhalten während der akuten Phase

3.3.4 Akutinterventionen

3.3.5 Stabilisierung der Tochter

3.3.6 Checkliste Interventionen

3.4 Beschreibende Phänomenologie, Skalen und Checklisten

3.5 Stabilisierung und Abschluss

3.6 Diskussion und Reflexion

4 Betreuungsdokumentation 2: Familien als Betroffene nach einem Großschadensereignis

4.1 Vorgeschichte

4.2 Familie B.

4.2.1 Auftragsklärung

4.2.2 Gespräch und psychosoziale Interventionen – Einsatz vor Ort – Klinischer Psychologe N.

4.2.3 Checkliste Interventionen

4.2.4 Checkliste Risiko- und Schutzfaktoren

4. Familie W.

4.3.1 Auftragsklärung

4.3.2 Gespräch und psychosoziale Interventionen – Telefonat – Sozialarbeiter K.

4.3.3 Checkliste Interventionen

4.3.4 Checkliste Risiko- und Schutzfaktoren

4.4 Versammlung

4.4.1 Auftragsklärung

4.4.2 Einsatz vor Ort – Klinischer Psychologe A., Psychotherapeut C. und Sozialarbeiterin Y.

4.4.2.1 Familie K.

4.4.2.2 Frau D.

4.4.2.3 Familie M.

4.5 Familie S.

4.5.1 Auftragsklärung

4.5.2 Gespräch und psychosoziale Interventionen – Telefonat – Klinischer Psychologe A.

4.5.3 Checkliste Interventionen

4.5.4 Checkliste Risiko- und Schutzfaktoren

4.6 Familie H.

4.6.1 Gespräch und psychosoziale Interventionen – Einsatz vor Ort – Sozialarbeiterin Y.

4.6.2 Checkliste Interventionen

4.6.3 Checkliste Risiko- und Schutzfaktoren

4.7 Familie Z.

4.7.1 Auftragsklärung und Telefonat – Klinischer Psychologe A.

4.7.2 Gespräch und psychosoziale Interventionen – Einsatz vor Ort – Klinischer Psychologe A.

4.7.3 Auftragsklärung

4.7.4 Gespräch und psychosoziale Interventionen – Folgeeinsatz vor Ort – Klinischer Psychologe A.

4.7.5 Gespräch und psychosoziale Interventionen – Einsatz vor Ort – Sozialarbeiterin Y.

4.7.6 Checkliste Interventionen

4.7.8 Checkliste Risiko- und Schutzfaktoren

4.8 Beschreibende Phänomenologie

4.9 Diskussion und Reflexion

5 Betreuungsdokumentation 3: Erweiterter Suizid bzw. Mord und Suizid

5.1 Auftragsklärung und Erstinterventionen

5.2 Akutphase und Vorgeschichte der Betroffenen

5.2.1 Gespräch mit der Mutter und psychosoziale Interventionen

5.2.2 Gespräch mit dem Sohn und psychosoziale Interventionen

5.2.3 Emotionale Reaktionen und Verhalten während der akuten Phase

5.2.4 Checkliste Interventionen

5.3 Beschreibende Phänomenologie, Skalen und Checklisten

5.4 Stabilisierung und Abschluss

5.5 Diskussion und Reflexion

6 Betreuungsdokumentation 4: Suizid

6.1 Auftragsklärung

6.2 Vorgeschichte

6.2.1 Gespräch mit der Familie und psychosoziale Interventionen

6.2.2 Emotionale Reaktionen und Verhalten während der akuten Phase

6.2.3 Checkliste Interventionen

6.2.4 Checkliste Risiko- und Schutzfaktoren

6.3 Gespräch mit der geschiedenen Gattin und psychosoziale Interventionen

6.3.1 Emotionale Reaktionen und Verhalten während der akuten Phase

6.3.2 Gespräch mit den Kindern und psychosoziale Interventionen

6.3.3 Auftragsklärung Familie A. – Soziale Arbeit

6.4 Gespräch mit der geschiedenen Gattin, den Kindern und psychosoziale Interventionen

6.4.1 Checkliste Interventionen

6.4.2 Checkliste Risiko- und Schutzfaktoren

6.5 Auftragsklärung Familie A.

6.6 Diskussion und Reflexion

7 Betreuungsdokumentation 5: Psychiatrische, soziale Krise

7.1 Auftragsklärung

7.2 Vorgeschichte der Betroffenen

7.3 Gespräch mit der Familie und psychosoziale Interventionen – akute Phase

7.3.1 Gespräch mit dem Klinischen Psychologen des Landesklinikums

7.3.2 Gespräch mit der Gattin

7.3.3 Gespräch mit der jüngeren Tochter und psychosoziale Interventionen

7.3.4 Emotionale Reaktionen und Verhalten während der akuten Phase

7.4 Gespräch und psychosoziale Interventionen – Stabilisierungsphase

7.4.1 Gespräch mit der älteren Tochter

7.4.2 Neuerliche Krise – Gespräche mit der Gattin und der älteren Tochter

7.5 Weitere Stabilisierung und Abschluss

7.5.1 Gespräch mit der Gattin

7.5.2 Gespräch mit Herrn H. und psychosoziale Interventionen

7.5.3 Gespräch mit Herrn H.

7.6 Checkliste Interventionen

7.7 Beschreibende Phänomenologie, Skalen und Checklisten

7.8 Diskussion und Reflexion

8 Betreuungsdokumentation 6: Gruppenintervention und Amputation

8.1 Auftragsklärung und Erstinterventionen – Klinischer Psychologe A.

8.2 Akutphase und Vorgeschichte der Betroffenen – Ersteinsatz vor Ort

8.2.1 Gespräch mit der Mutter sowie dem Lebensgefährten und psychosoziale Interventionen – Klinische Psychologin W.

8.2.2 Gespräch mit der Gruppe und psychosoziale Interventionen – Klinischer Psychologe A.

8.2.3 Gespräche mit Einzelpersonen und psychosoziale Interventionen – Klinischer Psychologe A.

8.2.4 Gespräch mit Familie F. und psychosoziale Interventionen – Klinische Psychologin W.

8.2.5 Nachbesprechung Ersteinsatz vor Ort – Klinischer Psychologe A.

8.2.6 Checkliste Interventionen

8.3 Beschreibende Phänomenologie, Skalen und Checklisten

8.4 Phase der Stabilisierung

8.4.1 Beschreibende Phänomenologie, Skalen und Checklisten

8.5 Diskussion und Reflexion

9 Betreuungsdokumentation 7: Multifaktorielle Problemlage

9.1 Auftragsklärung

9.2 Vorgeschichte der Betroffenen

9.3 Gespräch mit Herrn M., Herrn K., Frau B. und psychosoziale Interventionen – akute Phase

9.3.1 Gespräch mit der Hausärztin Frau Dr.in O.

9.3.2 Gespräch mit Herrn K.

9.3.3 Gespräch mit Frau B.

9.3.4 Gespräch mit Frau B., Herrn K. und psychosoziale Interventionen

9.3.5 Emotionale Reaktionen und Verhalten während der akuten Phase

9.4 Gespräch mit Frau B., Herrn K., Herrn M. und psychosoziale Interventionen – Stabilisierungsphase

9.5 Neuerliche Krise – Gespräch mit Frau M. (Tochter des Herrn M.)

9.5.1 Gespräch mit Herrn K. und psychosoziale Interventionen

9.5.2 Checkliste Interventionen

9.6 Beschreibende Phänomenologie, Skalen und Checklisten

9.7 Diskussion und Reflexion

Anhang

Anhang A: Betreuung in und nach psychosozialen Krisen

Anhang B: Betreuungsdokumentationen – grafische Darstellung

Anhang C: Checkliste der durchgeführten Interventionen

Anhang D: Checkliste der Risiko- und Schutzfaktoren

Anhang E: Informationen für Jugendliche

Anhang F: Informationen für Betroffene

Anhang G: Informationen für Eltern und Kinder

Anhang H: Informationen für Angehörige

Anhang I: Meine Oasen in der Wüste

Anhang J: Todesfall – Was passiert jetzt?

Anhang K: Todesfall – Unterlagen-Checkliste für Angehörige

Anhang L: Adaptierte Zielanalyse im Rahmen der psychosozialen Akutbetreuung

Anhang M: Merkblatt Witwen-/Witwerpension Österreich, Deutschland und Schweiz

Anhang N: Merkblatt Waisenpension Österreich, Deutschland und Schweiz

Anhang O: Finanzielle Unterstützung in Notsituationen Österreich, Deutschland und Schweiz

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

1 Einleitung

Dieses Buch behandelt Betreuungsdokumentationen aus dem Alltag der Notfallpsychologie, welche im Sinne einer Theorie-Praxis-Verschränkung aufgebaut sind und sich mit wiederkehrenden Thematiken im Einsatzgeschehen vor Ort befassen, wobei verschiedene theoretische Aspekte beleuchtet werden.

Sollten Ähnlichkeiten mit bestehenden institutionellen Abläufen, Personen oder Praktiken in der Ausübung erkennbar sein, so sind diese zufällig. Sie resultieren aus der eigenen praktischen Tätigkeit und Erfahrung. Die dargestellten Betreuungsdokumentationen haben in einer ähnlichen Art tatsächlich stattgefunden, wobei mehrere Ereignisse und Interventionen zusammengefasst und bewusst abgeändert wurden. Um die Feststellung der Identität der Betroffenen auszuschließen sowie die Verschwiegenheitspflicht der Autor:innen im Sinne ihres Berufsgesetzes zu wahren, wurden Institutionen und Personen pseudonymisiert bzw. anonymisiert.

Bei sich wiederholenden Interventionen oder theoretischen Rahmenbedingungen wird auf jene Seite verwiesen, welche diese bereits beinhaltet. Von der Bezeichnung »Fallbeispiele« wurde von den Autor:innen bewusst Abstand genommen, da hierbei der Fokus zwar auf einzelne Situationen gelegt werden kann, zeitgleich jedoch oft Personen oder Familien selbst als »Fälle« bezeichnet werden. Um den Umstand der Entpersonalisierung zu verhindern, wird daher von »Betreuungsdokumentationen« gesprochen.

Zu Beginn jeder Betreuungsdokumentation findet sich ein kurzes Inhaltsverzeichnis, welches die umrissenen Thematiken kurz benennt und so bei Bedarf ein schnelles Finden spezifischer Inhalte ermöglicht. Das Stichwortverzeichnis am Ende des Buches soll ebenfalls die Navigation durch die Kapitel erleichtern.

Der Aufbau der Betreuungsdokumentationen ist größtenteils gleichbleibend und fungiert somit – wie eine gedankliche Folie – als Orientierung, wobei nicht immer alle Punkte abgehandelt werden:

• Auftragsklärung und telefonische Erstintervention (inkl. Klärung der Fragestellung, der Rahmenbedingungen und des Betreuungskontextes)

• Vorgeschichte der Betroffenen (wenn erhebbar)

• Gespräche und psychosoziale Interventionen

• beschreibende Phänomenologie, Skalen und Checklisten

• Stabilisierung und Abschluss

• Diskussion und Reflexion

Anfangs werden jeweils die Rahmenbedingungen und der Betreuungskontext erklärt, damit ein besseres Verständnis für die Vorgehensweise der psychosozialen Fachkräfte entstehen kann und sich die Leser:innen auch atmosphärisch besser in die Situation einfühlen können. Danach wird bzw. werden die Betreuungsdokumentation(en) dargestellt. Es wird außerdem aufgezeigt, wie einzelne Schritte geplant und welche Betreuungsziele formuliert wurden. Gespräche mit den Angehörigen sowie Interventionen werden thematisiert und die theoretische Verknüpfung wird dargelegt. Danach folgt, wenn dies im Kontext der Betreuungsdokumentation sinnvoll ist, eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Möglichkeiten und Einschränkungen der Diagnostik bzw. von Screeningverfahren. Abschließend werden die Ergebnisse der Interventionen sowie die Entwicklung der Angehörigen im Rahmen der Stabilisierungsphase beschrieben und die gewählten psychologischen Maßnahmen kritisch reflektiert.

Im Sinne einer Theorie-Praxis-Verschränkung werden immer wieder kurze Theorie-Inputs mit Verweis auf Standardwerke der Krisenintervention und Notfallpsychologie gesetzt. Es baut somit auf einer theoretisch fundierten Basis (bzw. einer bereits stattgefundenen fachlich-theoretischen Auseinandersetzung) auf, ersetzt jedoch keinesfalls die Lektüre theoretischer Einführungen in die abgehandelten Thematiken. Ziel der Autor:innen war es, ein praxisbezogenes »Fallbuch« zu kreieren, welches eine bewusste Auseinandersetzung mit und Einfühlung in die darin enthaltenen Thematiken sowie eine damit einhergehende vermehrte Selbstreflexion fördert. Um den Leser:innen ein Verständnis für die Vorgänge vor Ort während des Einsatzes, aber auch für die Betroffenen als Individuen mit deren ganz spezieller Situation zu vermitteln, werden das Einsatzgeschehen und die vorgefundenen Lebenskulissen detailliert beschrieben. Dies geschieht vor dem Hintergrund des Problems, dass es an »jedem tatsächlichen Geschehen potenziell unendlich viel zu beschreiben [gibt]. Sprachliche Beschreibungen und Vorstellungen sind zu wenig detailliert, um das, was tatsächlich geschieht oder geschehen wird [bzw. geschah], in allen Einzelheiten akkurat zu repräsentieren.« (Keil, 2000, S. 92)

Es muss erwähnt werden, dass die psychosoziale Akutbetreuung von Menschen in Ausnahmesituationen durchaus herausfordernd sein kann. Nach Lasogga (2008) müssen daher bei der Arbeit im Rahmen einer psychosozialen Akutbetreuung gewisse Kriterien erfüllt werden. Außerdem sollte das eigene Handeln nicht unreflektiert sowie stets begründbar geschehen. Im Bedarfsfall ist ein Austausch im Rahmen einer Supervision ratsam, um eine Außenperspektive einzuholen, denn so ist gesichert, dass

»die Psychotherapeutin/der Psychotherapeut ihren/seinen Beruf nach bestem Wissen und Gewissen und unter Beachtung der Entwicklung der Erkenntnisse der Wissenschaft [ausübt]. […] Daraus folgt, dass die regelmäßige berufsbegleitende Supervision der psychotherapeutischen Tätigkeit im Hinblick auf die Qualitätssicherung dieser Tätigkeit für notwendig erachtet wird. […] Die Supervisandin/der Supervisand soll über die Reflexion ihres/seines psychotherapeutischen Handelns mit Hilfe der Supervisorin/des Supervisors ihre/seine psychotherapeutischen Fähigkeiten weiterentwickeln und Neues integrieren können.« (BMSGPK, 2021, S. 17)

Die eben genannten Aussagen zur Supervision betreffen Psycholog:innen, Fachkräfte für Soziale Arbeit und weitere Personen in der psychosozialen Akutbetreuung gleichermaßen.

Obgleich davon ausgegangen wird, dass die Leser:innen bereits theoretisch vorgebildet sind oder sich mit den Themen auseinandergesetzt haben, legen die Autor:innen nahe, sich einen Überblick über die dem Buch zugrundeliegenden Basiswerke zu verschaffen (u. a. Gerngroß, 2014; Hausmann, 2021; Juen & Kratzer, 2012; Karutz & Lasogga, 2016; Lasogga & Gasch, 2008; Lasogga & Münker-Kramer, 2021; Mitchell, Everly, & Müller-Lange, 2019; Prein, 2019; Sonneck, Kapusta, Tomandl & Voracek, 2012; Walraven-Thissen, 2021).

ACHTUNG: TRIGGERWARNUNG!

In diesem Buch werden folgende Ereignisse oder Situationen thematisiert: plötzlicher Todesfall nach schwerer Krankheit, Gasexplosion eines Mehrparteienhauses samt Brandereignis, Mord (Gewaltverbrechen), Suizid, psychiatrische Krise, soziale Krise, Amputation (mit Todesfolge nach Unfall) sowie multifaktorielle Problemlage (mit Suizidversuch durch Medikamentenintoxikation).

Diese Berichte können auf Menschen, die sich in einer Krise befinden oder diesbezüglich persönliche Erfahrungen gemacht haben, möglicherweise retraumatisierend oder schwer belastend wirken. Negative Reaktionen, schwierige Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks können hierbei getriggert bzw. ausgelöst werden. Wenn Sie sich verzweifelt fühlen oder Hilfe benötigen, sprechen Sie mit anderen Personen, Ihrer Supervisorin/Ihrem Supervisor oder Ihrer Psychotherapeutin/Ihrem Psychotherapeuten darüber.

Zusätzlich zur gesetzlich verpflichtenden Supervision sollten sich psychosoziale Fachkräfte in der Akutbetreuung mit folgenden Fragen zur Selbstreflexion, eventuell im Rahmen mehrerer Selbsterfahrungseinheiten, konfrontieren:

• Welche (Lebens-)Krisen habe ich bereits erfolgreich bewältigt? Wie reagiere ich in einer Krise?

• Gibt es Verhaltensweisen oder Gedanken, die mich immer wieder an einer erfolgreichen Krisenbewältigung oder Veränderung der krisenhaften Situation hindern oder gehindert haben?

• Gab es bereits Krisen, die ich trotz meines stützenden sozialen Netzwerks nicht bewältigen konnte?

• Mit welchen Belastungen oder Überforderungen bin ich aktuell in meinem Leben konfrontiert?

• Was hilft mir, zu entspannen, oder gibt mir Kraft?

• Habe ich richtige Freundschaften? Habe ich ein stützendes soziales Netzwerk?

Wenn Sie mit Menschen arbeiten, die von plötzlichen Todesfällen oder Suiziden betroffen sind, sollten Sie sich zusätzlich folgende Fragen stellen (angelehnt an Reichel, 2018):

• Welche Gedanken und Gefühle haben Sie bezüglich Ihres eigenen Sterbens/des eigenen Todes?

• Haben Sie sich schon einmal von einem verstorbenen Menschen verabschiedet?

• Wie alt wollen Sie werden und wie stellen Sie sich ein ideales Sterben vor?

• Von wie vielen Menschen wissen Sie, dass diese bereits Suizidgedanken hatten?

• Als Sie zuletzt von einem Suizid gehört haben: Woran haben Sie gedacht und was haben Sie gefühlt? Gibt es eventuell sogar Parallelen zum eigenen Leben?

• Wie würden Sie sich selbst suizidieren?

• Können Sie sich pure Hoffnungslosigkeit vorstellen? Wie lange hält das ein Mensch aus?

• Sie erfahren von einem guten Freund, dass dieser kürzlich einen Suizidversuch überlebt hat. Wie verändert sich Ihre Haltung gegenüber diesem Menschen?

Kostenlose Notfall-Kontakte

Sollten Sie akut und unkompliziert Hilfe benötigen, stehen Ihnen folgende Hilfseinrichtungen in Österreich kostenlos zur Verfügung:

Opfernotruf: Die Hotline 0800 112 112 ist 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr, eine zentrale Anlaufstelle für Opfer von Straftaten in Österreich. Verbrechensopfer benötigen als erste Unterstützung jemanden, der bereit ist, zuzuhören. Die Mitarbeiter:innen der »WEISSER RING Verbrechensopferhilfe« hören zu und wissen, wie weitergeholfen werden kann.

https://www.weisser-ring.at/

Telefonseelsorge: Die Telefonseelsorge ist unter 142 an 365 Tagen im Jahr, rund um die Uhr, erreichbar. Die Telefonseelsorge Österreich ist eine österreichweite Organisation der römisch-katholischen und evangelischen Kirchen (und in Vorarlberg ein privater Verein). Das Team setzt sich aus für die Telefon- und Onlineberatung ausgebildeten Berater:innen zusammen. https://www.telefonseelsorge.at/

Ö3-Kummernummer: Die Ö3-Kummernummer ist täglich von 16 bis 24 Uhr unter 116 123 erreichbar. Sie versteht sich als Erstanlaufstelle für Menschen in persönlichen Notlagen (u. a. Liebeskummer, Depression, schwere Krankheiten, tragische Schicksale). Je nach Problem kann schon ein Gespräch helfen, oft wird aber auch an eine spezialisierte Beratungsstelle weitervermittelt. https://oe3.orf.at/kummernummer/

Rat auf Draht: Die Nummer ist unter 147 ohne Vorwahl aus ganz Österreich rund um die Uhr, anonym und kostenlos erreichbar. Sie bietet eine Anlaufstelle bei Problemen, Fragen und in Krisensituationen für Kinder, Jugendliche und deren Bezugspersonen.

https://www.rataufdraht.at/

Frauenhelpline: Sie ist täglich rund um die Uhr unter 0800 222 555 oder online unter frauenhelpline.at erreichbar. Die Frauenhelpline gegen Gewalt bietet Informationen, Hilfestellungen, Entlastung und Stärkung – auch in Akutsituationen.

https://www.frauenhelpline.at/

AKUTteam NÖ: Die Alarmierung ist jederzeit über den Notruf 144 oder die AKUTteam-NÖ-Hotline 0800 144 244 möglich. Das AKUTteam NÖ ist eine soziale Einrichtung des Landes Niederösterreich zur Unterstützung von Menschen, die von plötzlichen Schicksalsereignissen betroffen sind. Das AKUTteam NÖ arbeitet in Kooperation mit den Kriseninterventionsteams der Rettungsorganisationen in NÖ und der Notfallseelsorge. Ein Telefonat oder eine Betreuung vor Ort wird bei Bedarf zu Verfügung gestellt. https://akutteam.at/

Kriseninterventionszentrum: Das Zentrum hilft unter 01 406 95 95 von Montag bis Freitag, 10 bis 17 Uhr, bei der Bewältigung von akuten Krisen und Krisen mit hohem Suizidrisiko und/oder bei drohender Gewalt. Erstgespräche können ohne Voranmeldung geführt werden. https://kriseninterventionszentrum.at/

Männernotruf: Dieser ist täglich rund um die Uhr unter 0800 246 247 oder online unter maennernotruf.at erreichbar. Der Männernotruf bietet Männern in Krisen- und Gewaltsituationen eine erste Ansprechstelle. https://maennernotruf.at/

2 Psychosoziale Akutbetreuung: Rahmenbedingungen und Betreuungskontext

Die vorliegenden Betreuungsdokumentationen geben psychosoziale Akutbetreuungen wieder, welche im Idealfall eingebunden in ein multiprofessionelles Team stattfinden. Dieses Team besteht aus Fachkräften für Klinische Psychologie, Psychotherapie sowie Soziale Arbeit. Übergeordnet gibt es einen organisatorischen Träger, welcher das multiprofessionelle Team koordiniert und entsprechende Betriebsmittel (z. B. Handy, Bekleidung) zur Verfügung stellt. Er ist im Anlassfall über eine Hotline rund um die Uhr alarmierbar und veranlasst entsprechende Fallübergaben. In den dargestellten Betreuungsdokumentationen wird vom Idealfall ausgegangen, dass ein solcher Träger vorhanden ist und eine Alarmierung normalerweise über andere Einsatzorganisationen, Spitäler, Ärzt:innen, Behörden oder Privatpersonen erfolgt. Ziel des organisatorischen Trägers sowie der psychosozialen Akutbetreuung ist es, Menschen in Krisensituationen rund um die Uhr rasche und kostenfreie psychosoziale Betreuung zukommen zu lassen, wobei zur Erhaltung des Rahmens einer Akutbetreuung ein Setting mit einer Dauer von bis zu 10 Stunden angedacht werden kann. Das übergeordnete wie gemeinsame Ziel von multiprofessionellen Teams der Krisenintervention (KI-Teams) sowie psychosozialen Akutbetreuung ist die Unterstützung von Menschen in psychosozialen Krisen, die durch plötzliche und unerwartete Ereignisse ausgelöst wurden (z. B. nach Gewalttaten oder plötzlichen Schicksalsschlägen).

In Österreich werden verschiedene Ansätze im Rahmen der Krisenintervention und psychosozialen Akutbetreuung verfolgt, wobei die Unterscheidung zwischen Laienhelfer:innen (im ersten Fall) und psychosozialen Fachkräften vorzunehmen ist, um psychosoziale Unterstützung wie Begleitung nach bestem Wissen und Gewissen anzubieten.

Im oben dargestellten Idealfall sollten in der psychosozialen Akutbetreuung folgende Fragen bereits vor der Fallübergabe geklärt sein bzw. im Hintergrund sowohl durch den fachlichen Hintergrunddienst am Telefon als auch dem/der aufsuchenden psychosozialen Fachkraft bedacht werden:

• Was ist in den letzten Tagen passiert? Gibt es Einsätze, die mit dem aktuellen Einsatz in Verbindung stehen? Ist etwas »offen«, das mich betreffen könnte?

• Gibt es bereits bestehende Einsätze? Habe ich einen Termin geplant, welcher im zeitlichen Konflikt mit dem aktuellen Einsatz steht?

• Bei einem akuten Einsatz:

– Welche Kollegin/welcher Kollege befindet sich in der Nähe und hat zeitliche Ressourcen?

– Wie lautet die »Überschrift« des Einsatzes? In welche Einsatzkategorie fällt dieser Einsatz? Wie lautet die Einsatzindikation?

– Wo findet der Einsatz statt? (Adresse der Betroffenen überprüfen! Diese muss nicht mit der Alarmierungsadresse übereinstimmen. Genauen Ort angeben, eventuell buchstabieren lassen.)

– Finden gängige Navigationsprogramme (z. B. Google Maps) die Adresse? Was befindet sich in der Nähe? Wie finde ich den betreffenden Einsatzort im Idealfall?

– Wer ist die meldende Kontaktperson? Wie lautet die Telefonnummer? In welcher Verbindung steht die Kontaktperson zur betroffenen Person?

– Was ist genau passiert? Details nennen. Worauf ist im Speziellen zu achten? Liegt für den Zeitraum, bis jemand vor Ort sein kann, eine Selbst- oder Fremdgefährdung vor? Ist der Einsatzort – vor allem bei Gewalttaten – bereits »sicher«?

– Sind Kinder involviert? Wenn ja, wie alt sind diese?

– Ist ein soziales Netzwerk vor Ort vorhanden? Gibt es soziale Unterstützung? Habe ich die meldende Person ausreichend beruhigt und gestärkt? (Empowerment! Perspektive aufzeigen, z. B. Bekanntgabe, dass die psychosoziale Fachkraft bereits unterwegs ist)

– Ist bzw. war ein Team der Krisenintervention (KI-Team) vor Ort? Warum (nicht)? Warum braucht es eine psychosoziale Fachkraft?

– Will die betroffene Person auch eine Unterstützung durch die psychosoziale Fachkraft? (Wenn nein, dann darf aufgrund der Berufsgesetze für Psycholog:innen sowie Psychotherapeut:innen nicht behandelt werden!)

– Wurde erwähnt, ob sich die Betroffenen in psychologischer, psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung befinden?

– Nimmt die betroffene Person regelmäßig Psychopharmaka oder andere Medikation ein, die sich auf den Bewusstseinszustand der Person auswirken könnten (z. B. bei Diabetes, erhöhtem Blutdruck)?

– Ist die betroffene Person möglicherweise von (Re-)Traumatisierungen betroffen?

– Innerhalb welches Zeitraums soll die Betreuung durch die psychosoziale Fachkraft stattfinden? (Dringlichkeitsabschätzung!) Ist aufgrund der Problematik eine Klinische Psychologin/ein Klinischer Psychologe bzw. ein:e Klinische:r Psychotherapeut:in oder ein:e Sozialarbeiter:in zu involvieren? Ist eine Intervention telefonisch oder vor Ort indiziert?

• Bei Einsatzende:

– Habe ich mir zeitnah Notizen gemacht und alles dokumentiert?

– Ist eine Fallübergabe an eine andere Berufsgruppe erforderlich? Welche Informationen braucht die Kollegin/der Kollege von mir?

Wenn die psychosoziale Fachkraft Einsätze bei den Betroffenen vor Ort durchführt, sind die nachfolgenden Fragen ebenfalls zentral:

• Hat das eigene Kraftfahrzeug noch genügend Treibstoff bzw. Strom?

• Ist die Einsatzbekleidung bereit? Ist mein Notfall-Rucksack vollständig befüllt und bereit?

• Ist meine Mappe (diverse Folder, Visitenkarten etc.) für den Einsatz griffbereit und befüllt?

• Habe ich eine Lademöglichkeit für das Handy im Kraftfahrzeug (Powerbank, eigener Ladestecker, Zigarettenanzünder bei alten Kfz)?

2.1 Fachliche theoriegestützte Herangehensweise und Haltung psychosozialer Fachkräfte

Psychosoziale Akutbetreuung1 umfasst die zielgerichtete Betreuung von Menschen auf vorrangig psychologischer und sozialer Ebene, die von potenziell traumatischen Ereignissen betroffen sind. Solche Akutinterventionen haben laut Hausmann (2021) das Ziel, »grundsätzlich vorhandene Bewältigungsmöglichkeiten zu aktivieren und die betroffenen Personen in die Lage zu versetzen, die Aufgaben und Belastungen in weiterer Folge aus eigener Kraft zu bewältigen« (S. 149). Mittels Akutinterventionen wird in den Stunden und Tagen nach diesem Ereignis geklärt, was die betroffene Person tun muss, was sie jetzt und in der darauffolgenden Zeit braucht und wer oder was der betroffenen Person in den nächsten Tagen hilft.

Ein Kernstück der psychosozialen Akutbetreuung bildet die Krisenintervention, also eine psychosoziale und emotionale Erste Hilfe, durch multiprofessionelle Teams (Einsatzkräfte, Laienhelfer:innen der Krisenintervention und psychosoziale Fachkräfte). Die Krisenintervention sollte frühzeitig, in der Kontaktanzahl begrenzt sowie in örtlicher Nähe zum belastenden Ereignis stattfinden und einfache, unkomplizierte wie konkrete Interventionen beinhalten, welche direkt und zielgerichtet zur Stabilisierung sowie Linderung der Symptomatik eingesetzt werden.

THEORIE-INPUT

Psychosoziale Fachkräfte sollten im Team vorab ein Handlungsmodell (angelehnt an Ciompi, 1993; Schnyder & Sauvant, 1993; Sonneck, 2000) diskutieren, nach welchem es im Rahmen der Akutbetreuung zu folgenden Schritten kommt:

• Kontaktaufnahme und Terminfindung

• Herstellen einer kurzfristigen, stabilisierenden Arbeitsbeziehung

• Wahrnehmen, Erfassen und erster Versuch eines Verstehens der (Krisen-)Situation der betroffenen Person

• Problemanalyse und Erhebung des Arbeitsauftrags sowie erste Zieldefinition

• Erfragen von für die Krisensituation potenziell relevanten anamnestischen Informationen

• Stabilisierung, gemeinsames Aushalten sowie Entlastung (Linderung der Symptomatik)

• Förderung der Funktions- und Handlungsfähigkeit, (Re-)Aktivierung von (bekannten) Bewältigungsstrategien

• Aktivierung des sozialen Umfelds und interpersonaler Ressourcen zur Unterstützung

• Aufbau und Entwicklung von neuen bzw. alternativen Bewältigungsstrategien und Lösungen

• Erstellen eines Handlungs- sowie Notfallplans

• abschließender Rückblick und Bilanz (nicht zwingend mit den Betroffenen, sondern auch durch Intervision und Supervision/ Fallbesprechungen)

Im Regelfall nehmen Einsatzkräfte und Laienhelfer:innen der Krisenintervention einmalig Kontakt zu den Betroffenen auf, während psychosoziale Fachkräfte im Rahmen der Akutbetreuung mehrmalige Kontakte anbieten können. Die Inanspruchnahme beruht in jedem Fall auf Freiwilligkeit und bedarf im Rahmen einer Betreuung durch eine psychosoziale Fachkraft der Zustimmung der Betroffenen (Hinweis: Berufsgesetz für Psycholog:innen/ Psychotherapeut:innen).

Krisenintervention erfolgt als psychosoziale Erste Hilfe in der Akutphase durch geschulte Laienhelfer:innen; die weitere fachliche psychosoziale Betreuung und damit einhergehende Akutinterventionen werden von psychosozialen Fachkräften durchgeführt. Im Rahmen einer sogenannten Akutbetreuung wird bis zur Stabilisierung der betroffenen Personen mit Einzel- und Gruppengesprächen sowie der Unterstützung des nahen Umfelds (z. B. Familie) gearbeitet. Eine längerfristige Begleitung (z. B. bei prolongierten Trauerreaktionen, besonders belastenden Situationen sowie Ereignissen) oder langfristige psychologische/psychotherapeutische Behandlung (von z. B. Traumafolgen, psychischen Erkrankungen, Rehabilitation/Reintegration) erfolgt nicht mehr im Rahmen der Akutbetreuung. Dies bedarf einer Empfehlung und weiterführender Angebote spezialisierter Fachkräfte (v. a. niedergelassener Psycholog:innen oder Psychotherapeut:innen) sowie Institutionen.

BETREUUNG IN UND NACH PSYCHOSOZIALEN KRISEN

Angelehnt an: Hausmann (2021), Lasogga & Münker-Kramer (2021)

Abbildung 1: Betreuung in und nach psychosozialen Krisen (angelehnt an Hausmann, 2021 sowie Lasogga & Münker-Kramer, 2021), siehe auch Anhang A

Im Rahmen der Akutbetreuung schließt dies somit komplexe, langfristig orientierte Vorgehensweisen aus, die auf Heilung, Persönlichkeitsentwicklung oder begleitende Alltagsbewältigung der Betroffenen ausgerichtet sind, sowie länger andauernde, nachsozialisierende Beziehungserfahrungen, wie sie bei psychotherapeutischen Verfahren eingesetzt werden. Stattdessen werden im Rahmen einer stabilisierenden, professionellen Beziehung einfache, kurzfristig orientierte Akutinterventionen eingesetzt. Die Qualität guter Akutbetreuung durch psychosoziale Fachkräfte bildet sich in einem raschen »Überflüssigwerden« der Betreuung ab, da die Wünsche der Betroffenen damit optimal unterstützt werden. Der Grundsatz »So viel wie nötig, so wenig wie möglich« stellt somit zusammen mit einer professionellen Haltung einen Standard in der psychosozialen Akutbetreuung dar. Ein weiteres Qualitätsmerkmal der Akutbetreuung durch psychosoziale Fachkräfte bildet das hohe Maß an Flexibilität – nämlich für die Betroffenen unter den aktuellen Bedingungen die adäquaten Maßnahmen wählen und modifizieren zu können (angelehnt an Hausmann, 2021 sowie Lasogga & Münker-Kramer, 2021: siehe Abb. 1 oder Anhang A).

Wer als psychosoziale Fachkraft im Rahmen der psychosozialen Akutbetreuung tätig werden möchte, hat spezifische Voraussetzungen zu erfüllen. Im Leitfaden der Österreichischen Plattform Krisenintervention/Akutbetreuung (2009, S. 10) finden sich diesbezüglich folgende Ausführungen):

• »Mindestalter 25 Jahre

• Höchsteintrittsalter 60 Jahre

• körperliche Eignung, entsprechende Mobilität und Flexibilität

• Mindeststandards der Ausbildungen/Tätigkeiten:

–   mindestens fünf Jahre Einsatzerfahrung in einer Einsatzorganisation oder […]

–   mindestens zwei Jahre Tätigkeit im psychosozialen Bereich«

Möchte eine Person als psychosoziale Fachkraft tätig sein, bedarf es zusätzlich einer Ausbildung in klinischer Psychologie (mit vorangegangenem abgeschlossenem Psychologiestudium) und/oder in Psychotherapie, wobei die jeweilige psychotherapeutische Methode den Fokus nicht nur auf einzeltherapeutische Langzeitbehandlungen legen sollte. Des Weiteren sollten nach Abschluss einer Zusatzausbildung in Krisenintervention, Notfallpsychologie oder Psychotraumatologie mindestens drei Jahre Berufserfahrung vorhanden sein, da nur so der erforderliche Qualitätsstandard und ein Handeln nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der Betroffenen möglich ist. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass ein im Rahmen des Universitätsstudiums der Psychologie, des Fachhochschulstudiums der Psychotherapie oder der Sozialen Arbeit absolviertes einzelnes Modul oder Semester zum Thema Krisenintervention, Notfallpsychologie oder Psychotraumatologie definitiv nicht ausreicht, um im Rahmen der psychosozialen Akutbetreuung tätig zu sein (selbst Laienhelfer:innen haben, im Vergleich, nach Abschluss einer Kriseninterventionsausbildung mehr theoretische und praktische Erfahrung in diesem Bereich vorzuweisen).

Darüber hinaus sollte zur Feststellung der persönlichen Eignung vor der Tätigkeit im Rahmen der psychosozialen Akutbetreuung ein umfassendes Assessment bestehend aus Fragebögen unter anderem zur Persönlichkeitsstrukturierung sowie Stressverarbeitung, Fallvignetten und Gesprächen mit der fachlichen Leitung (je nach Profession) durchgeführt werden.

Die psychosozialen Fachkräfte müssen außerdem bereit sein, im Sinne der Eigenverantwortlichkeit tätig zu sein (vgl. § 35, Absatz 3 Psychologengesetz 2013 sowie § 1, Artikel 1 Psychotherapiegesetz und des Berufskodex in der aktuellen Version 2020 des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz). Diesbezüglich ist für die freiberufliche, aber auch angestellte Berufsausübung von Klinischen Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen die Berechtigung, eigenverantwortlich handeln zu dürfen, zentral – und zwar ohne Abhängigkeit von einer Anordnungsbefugnis durch Dritte. Dadurch ist die Verantwortung für das eigene Handeln zudem uneingeschränkt selbst zu übernehmen. Eine fachliche Weisung durch eine vorgesetzte Person ist somit »beschränkt und erschöpft sich in einer Richtlinienweisungskompetenz für grundsätzliche Vorgaben hinsichtlich der Durchführung von Behandlungen und Beratungen, etwa im Hinblick auf die einzusetzenden Mittel« (Kierein, o. D., S. 2). Die Durchführung der Behandlung selbst bleibt jedoch jedenfalls fachlich weisungsfrei. Das Wohl der Betroffenen muss gewahrt sein, weshalb aufgrund einer eigenen fachlichen Einschätzung von fachlichen Vorgaben abgewichen werden darf, wenn diese eine Gefährdung der Person darstellen würden. Klinische Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen sind daher in der Pflicht, etwaige Weisungen hinsichtlich des Wohles der Betroffenen zu prüfen, wobei eine ebensolche bei fachfremden Vorgesetzten verstärkt durchgeführt werden muss (vgl. ebd.). Im Idealfall ist die vorgesetzte Person für psychosoziale Fachkräfte eine Klinische Psychologin/ein Klinischer Psychologe oder ein:e Klinische:r Psychotherapeut:in, da diese Berufsgruppen im Vergleich zu den Fachkräften der Sozialen Arbeit strenge(re)n Berufsgesetzen unterliegen. Doch auch Fachkräfte der Sozialen Arbeit müssen sich um die Weiterentwicklung der eigenen Kompetenz bemühen sowie verantwortungsvoll handeln und das eigene Verhalten im Sinne ethischer Aspekte reflektieren. So ist zum Beispiel eine psychosoziale Akutbetreuung durch eine:n Sozialarbeiter:in ohne Zustimmung der betroffenen Person ethisch in höchstem Maße bedenklich.

Zusätzlich sollten psychosoziale Fachkräfte ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen aufweisen, sie sollten belastbar sein und über einen hohen Grad an Selbstreflexions- sowie Abgrenzungsfähigkeit verfügen. Auch das Erkennen der eigenen sowie der professionellen Grenzen ist unabdingbar. Die bereits weiter oben genannte Flexibilität sollte auch in Bezug auf die Bereitschaft zu Wochenend-, Feiertags- und Nachtdiensten sowie zur Durchführung möglicherweise unplanbarer Einsätze bestehen (so können Einsätze vereinzelt auch mehrere Stunden andauern oder auch kurz vor Ende der Dienstzeit erforderlich sein).

Da sowohl die Notfallpsychologie als auch die Psychotraumatologie verhältnismäßig ›junge‹ wissenschaftliche Disziplinen sind, werden diese stetig weiterentwickelt und erfordern von den psychosozialen Fachkräften, nicht nur aufgrund der gesetzlichen Vorgaben, die Bereitschaft zu regelmäßiger Fort- und Weiterbildung. Dadurch kann im Rahmen der psychosozialen Akutbetreuung theoriegeleitetes praktisches Vorgehen State of the Art gewährleistet werden. Regelmäßige Supervision und Intervision ermöglichen außerdem eine Erweiterung der persönlichen wie fachlichen Kompetenzen, auch in Bezug auf psychohygienische Bewältigungsstrategien.

An dieser Stelle soll die Bedeutung der Selbstreflexion psychosozialer Fachkräfte abermals genannt sowie kurz umrissen werden, wobei diese zumindest in Ansätzen durch vorangegangene Selbsterfahrung gewährleistet werden kann, bei welcher Selbstreflexion und -exploration im Vordergrund stehen. Die Arbeit mit Menschen in Ausnahmesituationen konfrontiert psychosoziale Fachkräfte mit wichtigen, existenziellen Fragen, wofür es vorab (und auch laufend) einer Auseinandersetzung mit sich selbst bedarf, damit vorhandene ›blinde Flecken‹ oder eigene Anteile nicht die Betreuung der in dieser Situation höchst sensiblen und verletzlichen Menschen negativ beeinflusst. Eigenes Erleben und Verhalten muss erkannt und allenfalls auch verändert werden können.2

Im Leitfaden der Österreichischen Plattform Krisenintervention/Akutbetreuung (2009) findet sich zudem die Definition der grundlegenden Voraussetzungen einer fachlichen wie organisatorischen Leitung im Rahmen der psychosozialen Akutbetreuung, des Aufbaus eines fachlichen Hintergrunddienstes und der erwartbaren Kostenfaktoren zum Aufbau eines psychosozialen Akutbetreuungsteams.

Im Zuge der grundlegenden Haltung psychosozialer Fachkräfte soll der Mensch in Anlehnung an Petzolds (2003, S. 116) Konzept des Ko-respondenzmodells in seiner Ganzheit (Körper, Gefühle, Gedanken) immer vor dem Hintergrund des jeweiligen Kontextes und Kontinuums, also in seinem raumzeitlichen Zusammenhang über das Hier und Jetzt bzw. Heute hinausgehend, unter Berücksichtigung eines lebenslangen Lern- und Entwicklungsprozesses gesehen werden. Letztlich trägt der Betroffene »in jedem Moment seiner Gegenwart die Ereignisse der Vergangenheit und die Möglichkeit seiner Zukunft in sich« (Petzold, 1974k, S. 316, zitiert nach Leitner, 2010). Die aktuelle Krise wird dabei immer mit dem Hintergrund eines Menschen betrachtet, welcher sich in seinem Wesen in fortwährender Entwicklung befindet (vgl. Leitner, 2010).

2.2 Ziele und Hintergründe der Tätigkeiten psychosozialer Fachkräfte

Ein grundlegendes Ziel im Rahmen der Akutbetreuung stellt die Erststabilisierung der Betroffenen in der akuten Krisensituation auf einer psychosozialen Ebene dar. Dabei soll die selbstständige sowie unabhängige Funktions- und Handlungsfähigkeit der Betroffenen gestärkt werden, die akute (stressbezogene) Symptomatik sowie Beeinträchtigungen sollen möglichst vermindert werden. Vorhandene Ressourcen der Betroffenen sind hierbei miteinzubeziehen. Ziele sind hierbei eine Verbesserung der Stressbewältigung, die Unterstützung von psychisch besonders stark belasteten Personen, eine Einschätzung des psychischen Zustandes (inkl. psychologischer Triage, notfallpsychologischer Interventionen), Information und Psychoedukation sowie eine Unterstützung durch die berufsspezifischen Tätigkeiten und Methoden der Sozialen Arbeit (v. a. Einzelfallhilfe oder Case Management) und eine Weitervermittlung an professionelle Folgeangebote. Zusätzlich wird immer darauf geachtet, dass betroffene Kinder altersgerecht unterstützt werden.

Die Betroffenen werden darüber hinaus je nach Bedarf auch bei der Suche nach weiterführenden Betreuungs- und Hilfsangeboten unterstützt.

THEORIE-INPUT

Aufgrund der dargestellten Inhalte sind psychosoziale Fachkräfte im Sinne der psychosozialen Akutbetreuung zu involvieren, wenn eine reine Krisenintervention durch Laienhelfer:innen keine ausreichende psychische Erste Hilfe darstellt. Dies trifft insbesondere zu, wenn bei den betroffenen Personen nur unzureichende Ressourcen vorhanden sind, das Ereignis als sehr intensiv erlebt wird, vorangegangene Belastungen in der Lebensgeschichte zusätzlich belastend wirken oder rund um das Ereignis zusätzliche soziale wie existenzielle Umbrüche oder andere erschwerende Faktoren hinzukommen. Die betroffenen Personen sind dann in vielen Fällen so weit überfordert, dass die gegenwärtigen bzw. gewohnten Bewältigungsmöglichkeiten nicht mehr ausreichen und eine fachliche Akutbetreuung erforderlich wird.

Es sollte immer dann eine psychosoziale Fachkraft hinzugezogen werden, wenn es zu Symptomen wie aufdrängenden Erinnerungen, Reizbarkeit, abrupt wechselnden Emotionen oder Gefühlen von innerer Teilnahmslosigkeit kommt. Auch bei Ein- oder Durchschlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Vermeidung von bestimmten Orten oder Personen, Rückzug vom sozialen Umfeld und bei einer Beteiligung von Kindern sowie vielem mehr ist eine Laienhilfe, also eine kurzfristige Krisenintervention, nicht ausreichend. Gründe dafür sind das Auftreten einer Vielzahl von Risikofaktoren und der Wegfall potenzieller Schutzfaktoren, wodurch Folgeerkrankungen bei fehlender fachlicher Betreuung mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auftreten.

Eine reine Krisenintervention durch Laienhelfer:innen greift auch dann zu kurz, wenn belastende Reaktionen länger anhalten oder psychosoziale Veränderungen erst später sichtbar werden. Auch hier bedarf es einer fachlichen Betreuung durch spezialisierte Fachkräfte.

Betrachtet man die aktuell gültigen Ansätze in der Literatur (u. a. Hausmann, 2021; Mitchell, Everly & Müller-Lange, 2019), ist aufgrund der erhöhten Komplexität oder auch der potenziell traumatischen Qualität bei nachfolgenden Einsatzarten eine psychosoziale Fachkraft zu involvieren:

• medizinische Notfälle oder plötzliche Todesfälle (Verkehrsunfall, Unfall/ Tod am Arbeitsplatz, Todesfälle und Unfälle im öffentlichen Raum)

• plötzlicher Kindstod/plötzlicher Tod im Kindes- und Jugendalter/Kindernotfälle

• Unfälle mit Schwerverletzten oder Todesfolge

• Suizide, Suizidandrohungen und -versuche zur Betreuung von Betroffenen oder Angehörigen, erweiterter Suizid

• Gewalttaten (Überfall, Geiselnahme, Mord/Mordversuch, Vergewaltigung etc.), Einsätze mit Spezialeinheiten oder mit hohem Grad an medialem Interesse

• akute Krisen im familiären Bereich

• Elementarereignisse (z. B. Hochwasser, Großbrände)

• Betreuung von Angehörigen vermisster Personen (oder Suchaktionen, z. B. ältere Person abgängig)

• komplexe Schadensereignisse, Großschadensereignisse und (Natur-)Katastrophenereignisse

• Hilfe für Helfer:innen in Akutsituationen oder nach subjektiv belastenden Einsätzen, welche durch das Peer-System nicht abgefangen werden können

Die Betreuung bzw. der Rahmen des Settings kann sehr unterschiedlich gestaltet sein. Akutbetreuungen finden unter anderem am Ereignisort, im Einfamilienhaus, aber auch in von Institutionen zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten statt. Es gilt, die einzelnen Settings und Rahmenbedingungen sowie deren etwaige Vor- und Nachteile zu kennen. Im Betreuungsmittelpunkt können Einzelpersonen, aber auch Gruppen stehen, wobei hier intra- bzw. interpersonelle (Gruppen-)Dynamiken zu berücksichtigen sind.

1 Die Definition einer psychosozialen Akutbetreuung wurde im Sinne einer Abgrenzung zur klassischen Krisenintervention festgelegt, wobei dies in Anlehnung an Hausmann (2021) sowie Mitchell, Everly und Müller-Lange (2019) und an die Österreichische Plattform Krisenintervention/ Akutbetreuung (2009) geschah.

2 Für Psychotherapeut:innen sind im Rahmen des psychotherapeutischen Propädeutikums mindestens 50 Stunden an Selbsterfahrung und im Fachspezifikum mindestens 200 Stunden an Lehrtherapie bzw. Selbsterfahrung vorgeschrieben (ÖBVP, o. D.). Klinische Psycholog:innen müssen zumindest 76 Einheiten Selbsterfahrung zur Erlangung der Berufsberechtigung nachweisen können (BMSGPK, 2022).

Ein Berufsgesetz existiert für Sozialarbeiter:innen nicht, ein Selbsterfahrungsprozess, begleitet durch Klinische Psycholog:innen oder Psychotherapeut:innen, ist nicht verpflichtend. Im Idealfall sollten Fachkräfte für Soziale Arbeit daher in solch einem spezifischen Berufssetting, wie es die psychosoziale Akutbetreuung ist, zumindest 76 Einheiten an Selbsterfahrung, wie sie für Klinische Psycholog:innen vorgeschrieben sind, erfüllen.

3 Betreuungsdokumentation 1: Kinder und Jugendliche als Angehörige nach einem plötzlichen, natürlichen Todesfall

Themenüberblick

• Befähigung und Psychoedukation von primären Bezugspersonen

• Überbringung einer Todesnachricht an Kinder

• Grundregeln im Umgang mit trauernden Kindern

• Akutinterventionen der Akutbetreuung

• Traumafolgen bei Kindern

• Negative Notfallfolgen und posttraumatisches Wachstum

Diese Betreuungsdokumentation schildert den Alltag der Notfallpsychologie bei Kindern hinsichtlich spezieller zu beachtender Aspekte. Sie befasst sich mit einem Einsatz nach einer tödlichen Tumorerkrankung einer Mutter, welche ihren Ex-Mann und ihrer beider Tochter hinterließ. Als ein aufmerksamer Verwandter bemerkte, dass sich der Ex-Mann überfordert fühlte, die Todesnachricht an die Tochter zu überbringen, dachte er an den Einsatz eines Notfallpsychologen und kontaktierte ein Team psychosozialer Fachkräfte.

Die grundlegende Fragestellung war, wie der Vater nach der Übermittlung der Todesnachricht wieder dazu befähigt werden könne, in der Situation selbst zu agieren, diese zu ›managen‹ und seine Funktionen im Umgang mit den kindlichen Reaktionen zu erfüllen. Es sollte des Weiteren geklärt werden, ob und inwiefern die Tochter problematische Akutreaktionen aufweist, welche einer weiteren Betreuung bedürfen.

Vordergründig wird auf die Gespräche, Interventionen sowie Erkenntnisse in Zusammenhang mit der Tochter und deren Vater eingegangen, wobei auch die wesentliche Rolle des Lebensgefährten thematisiert wird. Die wiedergegebenen Informationen stammen großteils von dem Vater, die Setting-Örtlichkeit war deren Wohnung. Das Gespräch vor der Überbringung der Todesnachricht an die Tochter (Versterben der Mutter aufgrund einer Tumorerkrankung) fand im Rahmen eines Spazierganges in der Nähe der Wohnung nur mit dem Vater statt.

Im Rahmen der Akutbetreuung kam es zu folgenden Kontakten (siehe auch Zeitstrahl in Anhang B):

Fachlicher Hintergrunddienst:

• Einsatzübernahme und telefonische Abklärung (Dauer: 27 min)

– Alarmierung: »Todesfall aus dem häuslichen Bereich – Mutter nach Krebserkrankung verstorben«

– Beschreibung: »Betreuung der 12-jährigen Tochter. Mutter ist nach Krebserkrankung verstorben. Ex-Mann und Vater fordert Unterstützung durch psychosoziale Fachkräfte an, da er nicht weiß, wie man seiner Tochter diese Nachricht am besten überbringt.«

Klinische Psychologie:

• Ersteinsatz vor Ort (Dauer: 1 h 30 min): Tag 1 – 2 h nach der Alarmierung

• Telefonat (Dauer: 26 min): 3 Tage nach der Alarmierung

• Telefonat (Dauer: 16 min): 2 Wochen und 4 Tage nach der Alarmierung

• Telefonat (Dauer: 18 min): 3 Wochen und 3 Tage nach der Alarmierung

• Schlussbericht nach 3 Monaten, 2 Wochen und 4 Tagen nach der Alarmierung

• Telefonat (Dauer: 49 min): 5 Monate und 4 Tage nach der Alarmierung

• Es kam zu zwei weiteren Telefonaten im Abstand von ca. drei Monaten und ca. einem Jahr, im Zuge derer der Ex-Mann und Vater über die aktuelle Situation informierte und sich für die Betreuung bedankte.

3.1 Auftragsklärung und telefonische Erstintervention

Nachdem mir vom fachlichen Hintergrunddienst der Einsatz telefonisch übergeben wurde, rufe ich direkt den Vater an und vereinbare mit ihm die weitere Vorgehensweise.

Dieser ist am Telefon ruhig, hat eine leicht zittrige Stimme und etwas sprunghafte Gedanken. Im Großen und Ganzen wirkt er jedoch sehr strukturiert. Er bittet um eine möglichst baldige Betreuung, da die Mutter des Kindes während der Nacht im Krankenhaus verstorben sei, worüber er am heutigen Morgen vom Krankenhaus informiert worden sei. Die Tochter sei aktuell in der Schule, komme jedoch jeden Moment nach Hause und er wolle ihr die Todesnachricht direkt überbringen, wisse allerdings nicht wie, weshalb er professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen möchte. Aus diesem Grund begebe ich mich unmittelbar zum Ersteinsatz vor Ort. Ich frage den Vater, ob die Möglichkeit bestehe, vorab ein Gespräch in Abwesenheit der Tochter zu führen. Er bejaht dies und wir gehen in der Nähe spazieren, da die Tochter bereits nach Hause gekommen ist.

MERKE!

Das Vorab-Gespräch war insofern wichtig, da es in Anlehnung an Juen et al. (2017) mein vorrangiges Ziel war, die Eltern bzw. die Bezugsperson, in diesem Fall den Vater des Kindes, vorzubereiten und die Überbringung der Todesnachricht gut vorzubesprechen. Im Rahmen der akuttraumatischen Situation soll als notfallpsychologische Akutintervention die Bezugsperson befähigt werden, in der Situation selbst zu agieren, diese zu ›managen‹ und ihre Funktionen im Umgang mit den kindlichen Reaktionen zu erfüllen.

Ich erkläre dem Vater, dass das auftretende Spektrum an Reaktionen sehr groß sein könne, da nach Erhalt der Todesnachricht Grundannahmen über sich selbst und die Welt zerstört sein können. Konkret sind dies nach Janoff-Bulman (1989) die Gutartigkeit der Welt, die Sinnhaftigkeit der Welt und der Selbstwert. Der Tod einer nahen Bezugsperson passt nicht in das kindliche oder jugendliche Verständnis, wobei eine Tumorerkrankung zudem

›böse‹ ist und es wenig Sinn ergibt, dass die vermutlich junge Mutter an diesem stirbt.

In diesem Zusammenhang übermittle ich dem Vater wichtige Informationen, die an Lasogga (2008) angelehnt sind: Zum Beispiel können Gefühle wie Verzweiflung oder Hilflosigkeit in einen gesteigerten Redefluss oder Aktionismus münden. Auch Leugnen oder aber Wut und Aggressivität sind möglich. Die in Lasogga genannte erhebliche Belastung beim Überbringer der Todesnachricht wird von dem Vater offen thematisiert, wobei er große Unsicherheit und Angst empfindet. Er wolle nichts falsch machen und die richtigen Worte finden. Vorab konnte erhoben werden, dass der Vater Informationen zum Todeszeitpunkt, -ort und -ablauf sowie zum derzeitigen Aufenthaltsort der verstorbenen Mutter hat – sie befindet sich noch im Krankenhaus und der Bruder der Verstorbenen hat zuletzt mit ihr gesprochen. Es besteht die Möglichkeit, die Verstorbene in den kommenden zwei Tagen zu einer persönlichen Verabschiedung aufzusuchen.

Dem Vater ist es außerdem wichtig, dass er, sein Lebensgefährte und ich der Tochter die Todesnachricht gemeinsam im Garten überbringen. Er hat am gleichen Abend nichts mehr vor, der Lebensgefährte hat hingegen mehrere Termine. Ich gebe ihm den Hinweis, dass nach der Überbringung der Todesnachricht Zeit sehr wichtig sei, weshalb er alle Termine absagt.

Dem Vater teile ich mit, dass er über »die Mutter« und nicht »den Leichnam« oder »die Tote« sprechen sowie direkt und in kurzen, klaren Sätzen die Todesnachricht überbringen solle. Die Tochter werde Zeit zur Verarbeitung der Information benötigen, etwaige offene Fragen seien so gut als möglich zu beantworten und Reaktionen zu beobachten. Auch die Möglichkeit, dass die Tochter die Situation eventuell verlassen oder ihre Ruhe haben möchte, spreche ich an. Ich übergebe dem Vater einen an Karutz et al. (2017) und Juen, Warger und Nindl (2015) angelehnten Folder.

THEORIE-INPUT

Der Folder umfasst die zentralen Grundregeln im Umgang mit trauernden Kindern:

• Offenheit und erlauben, Fragen zu stellen (offen über das Ereignis und die verstorbene Person sprechen, Erinnerungen teilen, von den Fragen der Kinder leiten lassen, mehrere kleine Gesprächsangebote setzen, Fragen ehrlich beantworten, den Tod begreifen helfen)

• Hilfe beim Abschiednehmen und der Erinnerung (Rituale wie Kerzen, Briefe oder Bilder, gemeinsames Sprechen über die verstorbene Person)

• Alltagsroutinen und Spielen (Zeit zum Spielen lassen, Handlungsbögen zu Ende führen)

• Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten für das Kind eröffnen (Teilnahme an der Beisetzung, sofern erwünscht, und auch Möglichkeit, diese frühzeitig zu verlassen; mithelfen und eigene Entscheidungen treffen lassen)

• Zuwendung sowie Sicherheit geben und Grenzen setzen (Zuwendung und Aufmerksamkeit erhöhen, ruhig und konsequent Grenzen setzen, Raum für Gefühle geben, sicheren Ort gestalten, einen Teil der Gefühle mit dem Kind teilen, zukünftige Erziehungs- und Wohnsituation thematisieren)

Zudem informiere ich den Vater über höchst individuell verlaufende Trauerreaktionen (Baer & Frick-Baer, 2008), um so im Rahmen der ohnehin belastenden Situation ›Druck herauszunehmen‹ und die Situation bzw. Reaktion zu normalisieren. In diesem Zusammenhang thematisiere ich abermals das mögliche Reaktionsspektrum eines Kindes, welches unter anderem ein vermehrtes Zuwendungsbedürfnis, Aggression, Trotzverhalten, Regression, sozialen Rückzug, Übererregtheit, unkontrollierbare Erinnerungen oder aber Vermeidung umfassen kann.

Auch auf die Besonderheiten der kindlichen bzw. jugendlichen Trauerreaktion gehe ich ein (Hausmann, 2021; Juen et al., 2015; Karutz et al., 2017). Im konkreten Einsatz wird die 12-jährige Tochter betreffend darauf hingewiesen, dass Jugendliche in ihrem Alter bereits ein realistisches Verständnis vom Tod haben, also wissen, dass der Tod unabwendbar, irreversibel, universal und manchmal auch unvorhersehbar ist. Im konkreten Fall war der Tod jedoch absehbar und die Tochter wurde, laut Auskunft des Vaters, bereits auf diese Möglichkeit vorbereitet. Ich betone auch den Umgang mit eventuell entstehenden Gefühlen, da viele Jugendliche diesbezüglich Schwierigkeiten aufweisen und Veränderungen nur schwer ausgehalten werden können. Eine kurzfristige Ausblendung der Gefühle ist durch Spiel oder bewusste ›Ignoranz‹ möglich. Weiters thematisiere ich Schwierigkeiten Jugendlicher, über eigene Gefühle zu sprechen, wobei sie unter Umständen auch in der Schule nicht – aufgrund der neu entstandenen ›Andersartigkeit‹ – aus dem Klassenverband hervorgehoben werden wollen. Dennoch sind Gleichaltrige sowie die Einhaltung der Struktur (also der Schulbesuch und die Aufrechterhaltung der Freizeitaktivitäten) wichtig, wobei die entsprechenden Kontakte nicht behindert, sondern im Gegenteil gefördert werden sollen. Schließlich spreche ich auch ein etwaiges Auftreten von Risikoverhalten an.

Letztlich war es zentral, dass sowohl das kindliche als auch das jugendliche Spektrum an Trauerreaktionen sowie Bewältigungsstrategien thematisiert wurden, da ein Lebensalter von 12 Jahren sowohl kindliche als auch jugendliche Reaktionen und Strategien beinhalten kann.

3.2 Vorgeschichte der Betroffenen

Tag 1 – 2 h nach der Alarmierung: Ersteinsatz vor Ort (Dauer: 1 h 30 min) Der 46-jährige Vater erzählt, er sei beruflich viel auf Reisen, was bis vor kurzem kein Problem dargestellt habe, da die Tochter bei ihrer Mutter gelebt habe. Der Vater ist nun seit zwei Jahren mit seinem Lebensgefährten in einer Beziehung, wobei sie innerhalb der nächsten vier Monate einen gemeinsamen Wohnsitz begründen wollen. Der Lebensgefährte bringt zwei Kinder im Jugendalter in die Beziehung mit, welche im Rahmen der Intervention jedoch nicht betreut werden.

Der Vater lebt seit mehreren Jahren von der Mutter des Kindes getrennt. Es sei anfangs im Rahmen der Trennung zu einem Rosenkrieg gekommen, dieser habe aber mit einer Kinderpsychologin gut bewältigt werden können, so der Vater. Die Hinzuziehung einer Anwältin habe er jedoch nicht verhindern können, und er habe dadurch »sehr viel Geld« an die Mutter des Kindes verloren. Dies sei für ihn bis zu einem gewissen Grad in Ordnung gewesen, da er seiner Tochter alles ermöglichen wollte und die Chance haben wollte, sie zu sehen, ohne dass sie vor Gericht »zusätzlich aussagen« musste. Er habe die Tochter über zwei Jahre nicht sehen können, obwohl beide Eltern die Obsorge innehatten.

Der Vater erzählt, er verfüge über mehrere gute Freunde, welche ihn in dieser schwierigen Phase gestützt hätten. Die Kinderpsychologin habe er damals kontaktiert, um sich hinsichtlich der Gewährleistung des größtmöglichen Wohls der Tochter beraten zu lassen. Vor allem der Lebensgefährte sei eine große Stütze für ihn und habe in den letzten beiden Jahren geholfen, so gut er konnte. Er meint, dass beide noch keine Erfahrung mit der Überbringung einer Todesnachricht gemacht hätten und Angst vor möglichen negativen Reaktionen der Tochter hätten. Dies ist kritisch, da die Tochter erst seit kurzem wieder beim Vater lebt.

Die Tochter habe mehrere Freund:innen in der Schule. Sie sei im Zuge der Ehescheidung der Eltern zu ihrer Mutter gezogen, welche sich ungefähr 40 Kilometer vom ursprünglich gemeinsamen Wohnsitz entfernt niedergelassen habe. Laut Vater hatte die Tochter damals keine Wahl, die Mutter habe das so gewollt. Seitdem es der Mutter gesundheitlich schlechter gegangen sei, habe die Tochter nun beim Vater gelebt, sie habe ihre Kindheitsfreunde getroffen und sie hätten sich gleich wieder verstanden, nun gehe sie mit ihnen immer Volleyballspielen. Die Lehrer seien ihr trotz schlechter Noten und mehrerer Klassenbucheinträge positiv gesinnt, unter Umständen müsse sie das Jahr dennoch wiederholen. Aktuell lerne sie für eine Schularbeit in Englisch und einen Physiktest. Generell habe die Tochter ein Problem mit der Schule, da sie sich hier an konkrete Regeln und Strukturen halten müsse, welche von der Mutter kritisiert worden seien. Auch zu Hause komme sie mit manchen Regeln, wie zum Beispiel einer zeitlichen Begrenzung der Konsolenspieldauer, kaum zurecht. Sie sei dann immer »wie ausgewechselt und nicht wiederzuerkennen«. Mit den beiden Kindern des Lebensgefährten des Vaters versteht sie sich gut, diese sind schon öfters zu Besuch gewesen.