Mental Health matters - Eva Elisa Schneider - E-Book

Mental Health matters E-Book

Eva Elisa Schneider

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Beschreibung

Mentale Gesundheit ist eines der größten Themen unserer Zeit. Auch im Job ist das Thema nicht mehr wegzudenken: Wie können wir unsere Arbeit so gestalten, dass sie unsere mentale Gesundheit fördert, statt sie zu belasten? Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Eva Elisa Schneider gibt in ihrem Buch konkrete Insights und Tipps, wie wir mental gesund arbeiten können. Für sie ist längst klar: Gesundheit, Leistung und Wohlbefinden gehören untrennbar zusammen. Sie räumt mit Vorurteilen und Tabus auf und gibt innovative Ideen darüber, was es für eine gesunde Arbeitswelt braucht.  Wie mentale Gesundheit im Job gelingen kann  In ihrer Arbeit hat Dr. Eva Elisa Schneider schon früh erkannt, wie viele Menschen massiv unter arbeitsbedingtem Stress leiden. Deshalb setzt sie sich heute öffentlich für eine gesündere Arbeitswelt ein und beschreibt in ihrem Buch, wie wir alle dazu beitragen können. - Wie Leistung und Gesundheit zusammen funktionieren können - Wie wir bei der Arbeit gezielt Awareness für mentale Gesundheit schaffen - Welche Rolle mentale Gesundheit im Team spielt und wie wir die psychologische Sicherheit fördern können - Wie wir unsere Gesundheits-Skills ausbauen können - Wie gesunde Führung wirklich funktioniert - Was zu echter und nachhaltiger Prävention dazugehört - Welche Art von Resilienz uns wirklich für Krisen wappnet - Wie das Zusammenspiel zwischen Gesundheit, New Work & Transformation gelingtEin Buch für alle, die mentale Gesundheit endlich in der Arbeitswelt verankern wollen Dr. Eva Elisa Schneider ist leidenschaftliche Botschafterin für mentale Gesundheit und setzt sich für eine moderne Arbeitswelt ein, in der psychische Gesundheit am Arbeitsplatz ganz selbstverständlich thematisiert wird. In ihrem Buch vereint sie auf einzigartige Art und Weise ihre Expertise aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesundheit. Es bietet jedem Einzelnen, Führungskräften und Unternehmen das nötige Know-how, praktische Tools und ermutigende Beispiele aus der Praxis, um endlich gesünder zu arbeiten. Es zeigt, warum mentale Gesundheit das Fundament für die Zukunft der Arbeit ist und wie jeder Einzelne, aber auch Unternehmen ganz klar davon profitieren können.

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Seitenzahl: 415

Veröffentlichungsjahr: 2024

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[5]Inhaltsverzeichnis

Copyright PageVorwort01 Mentale Gesundheit1.1 Warum mentale Gesundheit?1.2 Vom Nischenthema zum Megatrend1.3 Der Mensch als endliche Ressource02 Verantwortung2.1 Mentale Gesundheit ist keine Einbahnstraße2.2 Leistung trifft Gesundheit – kann das (gut) gehen?2.3 Hier & heute – wie wir loslegen können03 Aufklärung3.1 Mythos Psyche3.2 Raus aus der Scham-Ecke3.3 Awareness schaffen04 Prävention4.1 Verhältnisse schaffen Verhalten4.2 Self Care & Common Care – Katalysatoren für Gesundheit4.3 Resilienz – Was uns wirklich schützt 05 Gesundheit als Skill5.1 Verlockung Ungesundheit – von High Performance und Selbstoptimierung5.2 Mental Health Literacy – den Werkzeugkoffer füllen5.3 Und was ist mit KI?06 Miteinander6.1 Mentale Gesundheit im Team – ­Weichensteller für unser Wohlbefinden6.2 Psychologische Sicherheit – ein Geheimrezept für Erfolg6.3 Zugehörigkeit – Überlebensstrategie und Superpower 07 Kommunikation7.1 Sprache schafft Gesundheit7.2 Schlafende Hunde wecken?7.3 Transparenz – nur was ich weiß, macht mich heiß08 Führung8.1 Spieglein, Spieglein an der Wand8.2 (Heraus-)Forderung Gesundheit8.3 Ein Handwerk am Menschen09 Sichtbarkeit9.1 Wo findet Gesundheit statt?9.2 Potenziale durch Multiplikator:innen9.3 Datenkompetenz – There’s no health ­without data 10 Unternehmen10.1 Arbeit als Wohlfühloase?10.2 Was Organisationen tun können – und müssen10.3 Von Einzelinitiativen hin zur Unternehmensstrategie11 Wandel11.1 Das haben wir schon immer so gemacht!11.2 Autsch! – wenn Veränderung wehtut11.3 New Work & Transformation12 Gesund arbeiten12.1 Was gehen darf und was bleiben wird12.2 Taten über Worte12.3 Das Wichtigste für dich, für dein Team und für UnternehmenEpilogDankeIndexBildnachweiseQuellen
[1]

Hinweis zum Urheberrecht

Alle Inhalte dieses eBooks sind urheberrechtlich geschützt.

Bitte respektieren Sie die Rechte der Autorinnen und Autoren, indem sie keine ungenehmigten Kopien in Umlauf bringen.

Dafür vielen Dank!

[4]Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Print:

ISBN 978-3-68951-003-9

Bestell-Nr. 12071-0002

ePub:

ISBN 978-3-68951-004-6

Bestell-Nr. 12071-0101

ePDF:

ISBN 978-3-68951-005-3

Bestell-Nr. 12071-0151

Dr. Eva Elisa Schneider

mental health matters. Gesund arbeiten – besser leben.

1. Auflage, Oktober 2024

© 2024 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg

www.haufe.de

[email protected]

Cover- und Autorinnenfoto: Coba Uys

Covergestaltung: Johanna Schäfers

Illustrationen: Verena Herbst

Produktmanagement: Mirjam Gabler

Lektorat: Juliane Sowah

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten. Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.

[9]Vorwort

Er sitzt mir gegenüber, das Gesicht in die Hände vergraben und sagt leise: »Ich kann das nicht mehr. Ich werde den Ansprüchen einfach nicht gerecht. Wie kann ich so andere führen?!« Hilflosigkeit lag in seiner Stimme. Vor einem Jahr war Herr A. zur Führungskraft auf dritter Ebene befördert worden. Als Ingenieur mit einer beeindruckenden Fachkarriere war das der nächste logische Schritt – doch dort angekommen zerbrach er unter dem Druck. Jede Arbeitswoche mindestens 60 Stunden, zwei kleine Kinder zu Hause und innere Ansprüche, die schon immer sehr hoch waren, ließen ihm alles über den Kopf wachsen. Er war tief erschöpft, blickte pessimistisch auf seine Karriere und den einzigen Ausweg, den er sah, war zu kündigen. Doch allein der Gedanke daran beschämte ihn zutiefst.

Zum Glück entschied er sich für eine Therapie. Gemeinsam tauchten wir ein in Lösungsoptionen und seine Wünsche an einen Job, der ihm gerecht werden könnte. Denn als er ehrlich zu sich war, kam heraus: Er wollte nur vier Tage arbeiten, Zeit für eine richtige Mittagspause haben, statt hektisch vor dem Laptop zu essen, und einmal die Woche zur Therapie gehen können, ohne eine Ausrede zu erfinden.

Wir machten einen Plan. Schritt 1: sich zu überlegen, mit wem er wann am besten sprechen könnte. Schritt 2: zu reflektieren, wie viel er von sich preisgeben wollte und müsste. Schritt 3: zu analysieren, wie seine Depression seinen Job beeinträchtigte, aber auch wie sein Job seine Depression beeinträchtigte. Schritt 4: Ideen zu sammeln, wie er ein [10]Arbeitsumfeld schaffen könnte, in dem er vielleicht doch in der Rolle bleiben könnte, auf die er eigentlich stolz war.

Einige Wochen später gab es ein Gespräch mit seiner Führungskraft, das für uns beide sehr bewegend werden würde. Denn wie Herr A. erfahren sollte, war sein Chef einige Jahre zuvor genau an demselben Punkt. Sie haben nur nie darüber gesprochen.

Heute arbeitet Herr A. die gewünschten vier Tage. Noch immer gibt es Hochstressphasen, doch nun sind sie bewusst eingebettet in Phasen der Regeneration und ein vertrauensvolles Umfeld, das es ihm erlaubt, Belastungen offen zu besprechen. Herr A. ist noch immer Ingenieur in einer wichtigen Führungsposition, aber er ist vor allem eins: Mensch.

Das ist nur eine von vielen bewegenden Geschichten meiner beruflichen Laufbahn, die zeigt, wie oft mentale Gesundheit stumm bleibt und wir mit unseren Belastungen allein sind. Doch sie ist auch eine von vielen Geschichten, die erzählt, wie viel möglich wird, wenn wir mentale Gesundheit normalisieren, als Organisationen kreative Rahmenbedingungen schaffen und vertrauensvolle Beziehungen bauen, die uns wirklich unterstützen.

Der Weg zu mehr solcher Geschichten ist das, was mich zutiefst mit Eva verbindet.

Wir glauben an eine Arbeitswelt, die gesünder, nachhaltiger und menschlicher ist. Aber wir glauben auch, dass es dafür Sprache braucht, Werkzeuge und das Verständnis, dass mentale Gesundheit uns verbinden kann, statt uns zu trennen.

Und dieses Buch ist all das.

Es bringt mentale Gesundheit nahbar zu uns an den Schreibtisch, erlaubt Einblicke in Organisationen und ihre Lösungen und gibt Werkzeuge an die Hand, damit mentale Gesundheit nicht nur ein Zustand bleibt, sondern eine Kompetenz, die wir lernen dürfen.

Eva steht mit Herz und Seele hinter diesem Thema und ist mit ihrer Stimme eine der treibenden Kräfte, mentale Gesundheit in der Arbeitswelt zu entmystifizieren. Ich bin jetzt schon stolz, ihr Buch in [11]meinen Händen halten zu dürfen. Denn es ist ein Buch, das es so nicht gibt. Bei Workshops werde ich immer wieder nach Ressourcen gefragt, die zeigen, wie wir Gesundheit in unsere Organisationswelt und Teams tragen können. Und immer wieder stehe ich mit zuckenden Schultern da und muss auf die USA und Großbritannien verweisen. Doch heute ändert sich meine Antwort. Endlich.

Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen und noch mehr Freude dabei, eine weitere mutige Stimme für Mental Health zu werden.

Nora Dietrich

Psychotherapeutin & Mental Health Expertin

[12]01

Mentale Gesundheit

Es geht darum, die Gesundheitskompetenzen der Mitarbeitenden zu stärken und ein Umfeld zu schaffen, das die Gesundheit fördert, statt sie zu belasten.

[13]1.1 Warum mentale Gesundheit?

In einem Vorgespräch für meinen Podcast fragte mich einmal ein Gast: »Eva, was genau ist eigentlich mentale Gesundheit?« Ich war vollkommen perplex, weil mir die Frage so einfach und komplex zugleich schien. Ich hätte eine schnörkellose Definition der WHO herunterbeten können: »Ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann.«1 Alles klar so weit, oder? In diesem Moment fehlte mir jedoch ein bedeutsamer Teil der Frage, nämlich: Was ist mentale Gesundheit für dich?

Werfen wir einen Blick ins Internet, so werden wir mit Hochglanzcontent zu mentaler Gesundheit bombardiert. Dort heißt es zum Beispiel: »Vier Wege, um einen zufriedenen Alltag zu führen« und »Drei Schritte für deine gesunde Morgenroutine«. Überall scheint es, als sei mentale Gesundheit ein objektiver Zustand, den man durch ein paar Hacks erreichen könnte. Dabei ist mentale Gesundheit vor allem ein subjektives Gefühl. Ich kann wunderbar auf die dreiteilige Morgenroutine verzichten und mich trotzdem gesund fühlen. Ich kann einige Baustellen im Leben haben und es geht mir trotzdem gut. Wie sich mentale Gesundheit in meinem Leben anfühlt, ist individuell. Mentale Gesundheit ist ein dynamisches Gefühl, bei dem wir immer wieder [14]reflektieren: Wie geht es mir gerade? Welche Herausforderungen habe ich aktuell? Kann ich diese gut bewältigen?

In der Gesundheitsversorgung haben wir ein sehr dichotomes Bild von Gesundheit: Es gibt entweder krank oder gesund. Es werden konkrete Kriterien aufgeführt, die definieren, in welche Kategorie jemand fällt. Im Zweifel entscheidet ein bestimmtes Symptom darüber, ob wir laut Diagnosesystem eine Depression haben oder nicht – wenn wir das Symptom nicht haben, ist es keine Depression. Dann sind wir laut Diagnosekatalog gesund, auch wenn es uns eigentlich schlecht geht. Dieses Entweder-oder ist absurd. Es ist für Krankenkassen, aber nicht für Menschen gemacht. Und trotzdem prägt uns diese Zweiteilung bis heute: Wenn ich nicht krank bin, dann bin ich scheinbar gesund. Genauso gestalten wir auch unseren Alltag. Wir nehmen Gesundheit als selbstverständlich und sie wird erst dann relevant, wenn wir sie aufgrund von Krankheit wiederherstellen wollen. Dann realisieren wir plötzlich: Gesundheit ist ein Privileg, das wir so lange als gegeben ansehen, bis wir es nicht mehr haben.

Tatsächlich ist körperliche und mentale Gesundheit aber weit mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Statt bei mentaler Gesundheit entweder an Wellness oder an psychische Erkrankungen zu denken, müssen wir sie als ein Spektrum begreifen. Der israelisch-amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky beschäftigte sich seit den 1970er-Jahren mit der grundlegenden Frage: Wie entsteht Gesundheit? Das Konzept der Salutogenese, als Pendant zur Pathogenese entwickelt, betrachtet Gesundheit als einen fortlaufenden Prozess, nicht nur als einen Zustand.2 Es gibt keine klare Trennung zwischen völliger Gesundheit und Krankheit – selbst in schwer kranken Personen finden sich noch gesunde Aspekte. Jeder Mensch befindet sich stetig in dem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit. Stellen wir uns dafür eine horizontale Linie vor, die von »Excelling« (»übertreffen«) links bis »In Crisis« (»in Krise«) rechts reicht. Dort finden wir für mentale Gesundheit folgende Nuancen:

[15]Nuancen mentaler Gesundheit

»Excelling« heißt, uns voll und ganz wohlzufühlen, an unseren Tätigkeiten zu wachsen und im Alltag ein hohes Maß an Energie zu haben. Alltagsherausforderungen können wir hervorragend meistern und kosten uns keine Kraft. Wir sind in ein starkes soziales Umfeld eingebunden, in das wir uns einbringen können.

»Thriving« bedeutet, dass wir unsere Stärken einsetzen können, ein unterstützendes soziales Netz haben. Wir führen einen Alltag, der normale Herausforderungen hat, die uns zwar fordern, wir sie aber durch ausreichend Ausgleich gut bewältigen können. »Coping« ist ein Zustand, in dem wir eine höhere Stressbelastung als üblich haben und mehr oder größere Herausforderungen des Alltags bewältigen müssen. Das können zum Beispiel Trennungen, Umzüge oder zwischenmenschliche Konflikte sein. Dennoch reichen die persönlichen Energiegeber aus, um Kraft zu tanken.

»Struggling« bedeutet, deutliche Belastungen zu haben, die wir zwar noch bewältigen können, die aber sehr kräftezehrend sind. Es mangelt möglicherweise an Ausgleich und Balance, weil einzelne Energietankstellen wie Sport oder Me-Time fehlen. Wir sind abgeschlagen und unsere Lebensqualität leidet.

»In Crisis« heißt, wohlmöglich an einer psychischen Erkrankung zu leiden. Die Lebensqualität ist eingeschränkt, es fällt uns schwer, uns zu motivieren. Unsere Stimmung und unser Verhalten verändern sich spürbar. Bestimmte Aktivitäten im Alltag sind uns nur eingeschränkt möglich oder kosten enorm viel Kraft.

[16]Jetzt kannst du dich einmal fragen: Wie geht es mir gerade? Wo auf diesem Spektrum befinde ich mich aktuell? Was bräuchte es, um einige Schritte weiter nach links Richtung Excelling zu gehen, falls ich dort nicht bereits bin? Und was müsste passieren, um weiter rechts auf dem Spektrum zu landen?

Je weiter wir auf die rechte Seite rücken, desto unerwünschter ist uns dieser Zustand – unter anderem auch, weil psychische Erkrankungen etwas sind, was wir in unserer Gesellschaft ablehnen oder mindestens so lange ignorieren, bis sie im wahrsten Sinne nicht mehr übersehen werden können. Dabei könnte mentale Gesundheit ohne psychische Erkrankungen gar nicht existieren. Erst durch sie bekommt mentale Gesundheit eine echte Bedeutung: Wir wollen psychisch gesund werden oder gesund bleiben. Statt mentale Gesundheit also als Idealzustand zu sehen und psychische Krankheit aus unserem Alltag ausklammern zu wollen, sollten wir beide Zustände mit all ihren Facetten dazwischen als inhärenten Teil des Lebens begreifen. Unsere mentale Gesundheit ist ständig in Bewegung: Mal haben wir bessere, mal schlechtere Tage. Diese Schwankungen sind normal und wir können sie wahrnehmen und beeinflussen. Das traditionelle Bild von gesund versus krank spiegelt nicht unsere Lebensrealität wider. Deshalb lasst uns anfangen, mentale Gesundheit endlich so vielschichtig zu sehen, wie sie ist.

Begriffe kurz erklärt

Mentales Wohlbefinden meint einen positiven Zustand, der von positiven Gefühlen, Selbstwirksamkeit und sozialer Einbindung gekennzeichnet ist. Hier befinden wir uns auf dem Spektrum im Bereich Thriving oder Excelling.

Psychische/mentale Belastungen können sämtliche persönlichen Probleme beinhalten, die jedoch (noch) keine voll ausgeprägte psychische Erkrankung sind. Dies können Alltagsbelastungen oder subklinische Phänomene wie chronischer Stress [17]sein. Auf dem Spektrum bewegen wir uns im Bereich Surviving und Struggling.

Psychische Erkrankungen sind klinische Störungen wie Depressionen, Ängste oder Süchte, die auf dem Spektrum im Bereich In Crisis verortet sind. Diese Erkrankungen sind in der International Classification of Diseases (ICD-10) klassifiziert und beinhalten klare Kriterien, um durch Fachpersonal als solche eingestuft zu werden.

Reflexion

Was bedeutet mentale Gesundheit für dich?Zu welchem Zeitpunkt ist mentale Gesundheit in deinem Leben bewusst ein Thema geworden? Warum genau dann?Wann hast du dich das letzte Mal im Zustand von Excelling gefühlt?

[18]1.2 Vom Nischenthema zum Megatrend

Krisen, Klimawandel, Fachkräftemangel: Unsere Arbeitswelt ist in einer angespannten Lage. Aber kaum eine Sache hat uns so rapide neue Möglichkeiten eröffnet und gleichzeitig vor so große Herausforderungen gestellt wie die Digitalisierung. Ständige Erreichbarkeit und Hypervernetzung machen es uns schwer abzuschalten. Gleichzeitig eröffnen sich durch ortsunabhängiges Arbeiten und die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) ganz neue Möglichkeiten, wie wir heute arbeiten können. Ist das nun aber gut oder schlecht für die Psyche?

Evolutionär gesehen ist unser Gehirn in seiner heutigen Form stattliche 35.000 Jahre alt, die Digitalisierung mit Web 2.0 und Social Media gerade mal 22 Jahre. Zwar ist der Mensch ein anpassungsfähiges Wesen, jedoch ist uns das volle Ausmaß dessen, was die Digitalisierung mit uns Menschen macht, noch vollkommen unbekannt. Unsere Gehirne sind für viele mit der Digitalisierung einhergehende Herausforderungen nicht verdrahtet und bräuchten im Grunde Jahrtausende, um sich auf die neuen Bedingungen einzustellen. Dennoch machen wir einfach weiter, als gäbe es diese Diskrepanz nicht. Als würden wir Menschen in einem Wimpernschlag von Menschheitsgeschichte einfach das tun, was wir in rund 2,5 Millionen Jahren Evolution schon immer getan haben: uns anzupassen. Wir erwarten von uns, dass wir in Lichtgeschwindigkeit adaptieren und die neuen [19]Herausforderungen umgehend meistern. So machen wir uns selbst immensen Druck, besser zu werden und schnelle Lösungen parat zu haben. Die Reaktion der Wirtschaftswelt darauf ist, mehr Workload in kürzerer Zeit zu schaffen, es mit weniger Menschen weiter zu bringen und in einer Kultur von Ängsten und Sorgen bitte innovative und frische Ideen hervorzubringen. Und das trotz Fachkräftemangel, Ressourcenverknappung und einer schwierigen makroökonomischen Lage. Kein Wunder also, dass unsere Psyche unter dieser gegensätzlichen Reibung ächzt.

Wann immer ich Menschen erzähle, was ich beruflich mache, bekomme ich eine ähnliche Reaktion: »Oh ja, mentale Gesundheit, so ein wichtiges Thema, besonders in dieser Zeit!« Bei mir wirft das stets dieselbe Frage auf: Aber war es nicht auch schon im letzten Jahrzehnt ein Thema und in dem Jahrzehnt davor und in dem davor?

Meine Kollegin Nora Dietrich schickte mir kürzlich einen Ausschnitt aus einem Buch, das sie bei ihren Schwiegereltern im Regal fand: »The Book of Stress Survival« von Alix Kirsta, erschienen 1987. Dort schreibt die Autorin: »But todays challenges are far more complex than it used to be […]. Living in an age of immense and increasingly rapid change, we are subjected to greater, more insistent, and inescapable pressures to adapt, keep up and compete – in short to survive – than at any other time.« Auf Deutsch in etwa: »Die heutigen Herausforderungen sind weitaus komplexer als früher […]. Wir leben in einem Zeitalter des immensen und immer schneller werdenden Wandels und sind einem größeren, hartnäckigeren und unausweichlichen Druck ausgesetzt, uns anzupassen, Schritt zu halten und zu konkurrieren – kurz gesagt, zu überleben – als je zuvor.« Wir beide scherzten, dass man diese Aussage eins zu eins auch auf die heutige Zeit übertragen könnte und wir unseren Job wohl noch lange machen werden, wenn Stress und Überlastung in den Achtzigern auch schon Thema war und es noch immer keine Abhilfe gibt.

Wenn die Welt also früher auch schon wahnsinnig komplex und schnelllebig war, was ist heute dann anders? Warum wird unsere [20]heutige Welt besonders belastend für die mentale Gesundheit empfunden? Dabei hilft ein Blick durch die Generationenbrille.

An vielen Ecken hören wir aktuell, die Generation Z, kurz Gen Z – also die Menschen, die zwischen 1995 und 2010 geboren sind – sei faul, nicht belastbar und unmotiviert. Die Gen Z scheint alles zu wollen und nichts zu geben: saftiges Gehalt, bitte keine Überstunden, keinen Stress und keine extra Meile. Zwar ist keine Generation in der westlichen Welt bisher mit so viel Wohlstand aufgewachsen wie die Gen Z, aber dennoch tun wir ihr Unrecht. Keine andere Generation ist mit einer so unmittelbar bevorstehenden Bedrohung wie der Klimakrise groß geworden. Keine Generation ist von Beginn an mit der Digitalisierung aufgewachsen und in keiner Generation hat Covid so starke Spuren in den beiden Lebensphasen hinterlassen, die essenziell für die persönliche Entwicklung sind: die Jugend und das frühe Erwachsenenalter. Studien belegen, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität dieser Generation seit der Pandemie verringert ist und psychische Belastungen wie Schlafstörungen und depressive Verstimmungen deutlich angestiegen sind.3

Die Gen Z zeigt einen großen Wunsch nach sogenannter Flexicurity – ein Kofferwort aus flexibility (Flexibilität) und security (Sicherheit). Dies müssen wir als Reaktion auf die aktuelle Weltlage begreifen. Wer mit vielen Unsicherheiten konfrontiert ist (und davon haben wir genug!), hat das Bedürfnis nach Sicherheit. Wer in einer digitalisierten Welt aufwächst, möchte selbstverständlich die Vorteile nutzen. Und dass die Gen Z deutliche Grenzen zieht und lieber pünktlich Feierabend macht, statt Überstunden zu schrubben, ist schlichtweg eins: gesund. Tatsächlich zeigen hochwertige Studien, dass die Jobzufriedenheit sowie das Arbeitsengagement sich in dieser Generation nicht wesentlich von anderen unterscheidet.4 Die Gen Z ist insgesamt nur lauter und zeigt uns schonungslos auf, wo es in unserem System hakt: Die Arbeitswelt, wie wir sie bisher kennen, ist darauf ausgelegt, dass Menschen nicht nur arbeiten, sondern sich überarbeiten. Die Gen Z spiegelt uns sehr gekonnt, dass es so nicht weitergehen kann – auch wenn nicht alle von [21]uns das sehen oder verstehen wollen. Statt also eine ganze Generation in die Kritik zu nehmen, sollten wir uns eher darum kümmern, wie Arbeit modern, gesund und nachhaltig gestaltet werden kann.

Was man von der Gen Z für seine mentale Gesundheit lernen kann.

Marisa Arat, Wirtschaftspsychologin & Studentin klinische Psychologie

»Die jungen Menschen sind viel zu empfindlich geworden, die rennen doch alle viel zu schnell zur Therapie. Früher hat man die Zähne zusammengebissen und einfach weitergemacht.« Bisher kultivierten wir eine Verdrängungskultur, wenn es um Themen rund um die mentale Gesundheit ging, wodurch Traumatisierungen und psychische Erkrankungen über viele Generationen hinweg weitergegeben wurden und unbehandelt blieben. Die Gen Z sticht mit ihrem diesbezüglich offeneren Umgang heraus und trifft damit sowohl auf Zuspruch als auch auf Ablehnung.

Mental Health auf Social Media

Der offene Umgang der Gen Z mit dem Thema Mental Health spiegelt sich insbesondere auf Social Media wider. Viele Content Creators teilen offen ihre eigenen Erfahrungen, schaffen Awareness oder klären auf. Dadurch entsteht online ein offener Austausch um das Thema mentale Gesundheit und die Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Wegen einer psychischen Erkrankung oder einer Psychotherapie soll sich niemand mehr verstecken müssen, so die allgemeine Bestrebung der Generation. Es besteht jedoch die Gefahr, dass wir diesen Austausch vermehrt der Onlinewelt überlassen und [22]offline vernachlässigen. Social Media hat nicht nur das Potenzial, Einsamkeit als eine unserer größten gesellschaftlichen Herausforderungen zu bestärken, sondern stellt auch durch viele weitere Faktoren wie ständige Erreichbarkeit, soziale Vergleiche, Fehlinformationen, Pseudoexpertisen sowie Ferndiagnosen eine große Gefahr für unsere psychische Gesundheit dar.

Die Gen Z schafft Raum für Diskussion

Die Sensibilität der Gen Z für mentale Gesundheit betrachte ich als eine Stärke. Junge Menschen haben heute ein gutes Verständnis dafür, dass psychische Probleme in Beziehungen an andere Personen weitergegeben werden können und stellen sich diesen Themen. Der Gen Z gelingt es in meiner Wahrnehmung, einen Raum zu schaffen, in dem offene Diskussionen über mentale Gesundheit stattfinden und wir uns gesellschaftlich überhaupt erst die Frage stellen, wie ein gesunder Umgang mit dem Thema im Berufs- sowie Privatleben aussehen kann. Aber auch die Gen Z macht im Umgang mit mentaler Gesundheit noch längst nicht alles richtig. Sie zeigt jedoch deutlich auf, dass wir für einen langfristig gesunden Umgang mit unserer mentalen Gesundheit die Themen weiterhin diskutieren, hinterfragen, enttabuisieren und entstigmatisieren sollten und lebt dies selbst vor.

Gehen wir geschichtlich etwas weiter zurück und schauen uns die Generation der westlichen Babyboomer (geboren 1946–1964) an, so waren auch ihre Werte schlichtweg eine Reaktion auf die damaligen Gegebenheiten. Nach dem zweiten Weltkrieg drehte sich alles um Wiederaufbau, Stabilität und Wachstum. Es ging darum, Häuser zu bauen und Familien zu versorgen. Es musste sich um grundlegende Bedürfnisse gekümmert werden wie »Dach über dem Kopf« und »Essen auf dem Teller«. Fleiß und Disziplin waren Mittel und Wege, [23]um das zu erreichen. Diese Aspekte haben den Arbeitsethos dieser Generation weitaus stärker geprägt als die Generationen nach ihnen. Mentale Gesundheit hatte hier nicht viel Platz, weil etwas wie »Dach über dem Kopf« in der Überlebenshierarchie weiter oben stand als »Trauma aufarbeiten«. Nach vorne zu blicken und weiterzumachen waren für diese Generation schlichtweg Bewältigungsstrategien für alles, was ihnen und ihren Eltern geschehen war. Zweifelsohne gab es mentale (Un-)Gesundheit auch damals schon, nur wurde sie einfach nicht thematisiert. Denn in die Anstrengungen, Verletzungen und Wunden des Krieges zu blicken, war massiv tabuisiert. Es hätte bedeutet, dass man zurück statt nach vorne blickt. »Man funktionierte, baute auf, fragte wenig, jammerte nie, wollte vom Krieg nichts hören – und man konnte kein Brot wegwerfen.« So beschreiben es Sabine Bode und Luise Reddemann in ihrem Buch »Kriegskinder«5. Heute sind grundlegende Dinge wie ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen für viele Menschen gegeben, sodass wir uns anderen Aspekten zuwenden können. Wir fangen an, über mentale Gesundheit zu sprechen. Wir verarbeiten lang mitgeschleppte Probleme. Wir schauen in unsere Familiengeschichten und entdecken Themen, die aufgearbeitet werden wollen. Und wir blicken in die Zukunft und merken: Da kommt einiges auf uns zu, das wir bewältigen müssen.

Die Gen Z und die Babyboomer wurden durch völlig unterschiedliche geschichtliche Ereignisse geprägt – jedoch beschäftigt Gesundheit im Grunde beide Generationen. Work-Life-Balance spielt für alle Menschen eine Rolle. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass die gewünschte Arbeitszeit in sämtlichen Altersgruppen sinkt.6 Die Gen Z kommuniziert dies sehr viel deutlicher, wohingegen wir es bei den Babyboomern indirekt beobachten können. In der Arbeitswelt werden aktuell viele hohe Positionen von Menschen dieser Generation bekleidet, die zunehmend an ihre Belastungsgrenze kommen. Ihre Werte haben es ihnen jahrelang verboten, Belastungssignale ernst zu nehmen und auf sich zu achten. Darauf reagieren die Babyboomer auf zweierlei Weise: entweder mit psychischen Belastungen wie Burn-out oder mit Frühberentung. [24]Der Anteil von Krankschreibungen wegen Burn-outs ist unter den 60-bis 64-Jährigen so hoch wie in keiner anderen Altersgruppe und mehr als doppelt so hoch wie unter den 20- bis 24-Jährigen.7 Zwischen 2000 und 2020 hat sich der Anteil an Frühberentungen wegen psychischer Leiden von 24,2 % auf 41,5 % erhöht.8 Daran wird deutlich, dass Gesundheit ein universelles Thema ist, welches wir in allen Generationen finden – sei es direkt oder indirekt. Mentale Gesundheit ist somit etwas, das uns alle betrifft und die Arbeitswelt herausfordert. Denn die Zahlen und Trends aller Generationen zeigen uns gnadenlos auf, wie wenig die Arbeit bisher Rücksicht auf Gesundheit genommen hat und wie viel wir daran ändern müssen.

Wie viel Mode steckt in mentaler Gesundheit?

Ein kraftvoller Katalysator für die Sichtbarkeit mentaler Gesundheit ist zweifelsohne Social Media. Menschen suchen Communitys, in denen sie sich öffnen können. Gleichzeitig erzeugt der Bruch mit der Tabuisierung ein gewisses Überraschungspotenzial, das Aufmerksamkeit mit sich bringt. Und was Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird konsumiert. So bekommt das Tabu rund um mentale Gesundheit plötzlich etwas Attraktives.

Das hat gute wie schlechte Seiten. Ich bin in einem 1000-Seelen-Dorf groß geworden. Als ich 15 Jahre war, haben wir einen Internetanschluss bekommen – damals noch mit Modem, mit dem man sich unter rauschend-piependen Tönen einwählen musste. Das Internet war im Grunde ein Tor zu Welt, aber ich hatte es damals nicht als solches begriffen. Für mich war es nur ein weiterer Weg, um mit meinen Freund:innen über einen Chat (wer erinnert sich an ICQ?) statt nur über das Festnetztelefon und SMS in Kontakt zu sein. Was außerhalb meines lokalen Universums passierte, gab es für mich nicht. Heute ist das anders. Wenn du Probleme hast, kannst du dich mit einer Person auf einem anderen Kontinent verbundener fühlen als mit einer [25]Freundin, die ein paar Straßen weiter wohnt. Social Media ermöglicht es den Menschen, Gleichgesinnte zu treffen, die außerhalb der physischen Erreichbarkeit liegen. Und auch deshalb teilen Menschen inzwischen deutlich mehr über mentale Gesundheit: weil sie durch Social Media das Gefühl von Gemeinschaft und Rückhalt haben. Statt für psychische Erkrankungen ins Aus gestellt zu werden, bekommen sie plötzlich Zuspruch und Unterstützung.

Menschen auf Social Media leisten dabei unglaublich wichtige Aufklärungsarbeit. Die Masse an Personen, die niederschwellig über mentale Gesundheit sprechen, könnte durch keine Psycholog:innen-Taskforce der Welt abgedeckt werden. Eine größere Entstigmatisierungskampagne könnte man kaum haben. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten. Man braucht nur den Hashtag #depression einzugeben und schon holen einen Menschen mit ihren Videos und Texten dort ab, wie man sich gerade fühlt. Jedoch können sich Betroffene auf Social Media auch verlieren, was schließlich in die Untiefen von merkwürdigem Halbwissen, fraglichen Foren und unseriösen Heilversprechen führt. Das ist gefährlich. Social Media kann leider auch dazu beitragen, dass normale Phänomene wie Unsicherheiten plötzlich pathologisiert werden und Selbstdiagnosen in die Höhe schießen. »Ich glaube, ich bin hochsensibel. Ich hab da so ein Video gesehen!« habe ich inzwischen mehr als einmal in meinem Freundeskreis gehört. Zum anderen werden ernst zu nehmende Erkrankungen weichgespült, indem Mental Health Begriffe inflationär verwendet werden: »Ich hab da echt ein Trauma.« Diese Falschinformationen und Eigendiagnosen führen letztlich dazu, dass wir genau das Gegenteil von Aufklärung und Entstigmatisierung erreichen und dass viele unseriöse Hilfsangebote von Menschen ohne ausreichende Qualifikation auf den Markt gespült werden. Das ist problematisch, weil die Kund:innen dieser Angebote Menschen in psychischer Not sind. Wer beispielsweise Traumata ohne fundierte Qualifikation »behandelt«, kann sehr viel Schaden anrichten und Leidenswege unnötig verlängern, statt sie zu mildern. Leider ist das die Kehrseite der Vernetzung durch [26]Internet, Social Media & Co. Gleichzeitig verrät uns all das auch viel über die Lücken der Gesundheitsversorgung. Der analoge Weg zu professioneller Hilfe ist nach wie vor sehr sperrig: anrufen, Nachricht auf Anrufbeantworter hinterlassen, auf Rückruf hoffen, Warteliste, monatelang verharren. Dieser Prozess ist vollkommen nutzer:innenunfreundlich und für Menschen mit psychischen Belastungen eine unfassbare Zumutung. Kein Wunder, dass über zwei Drittel (68 %) der psychisch belasteten Menschen in Deutschland nie in ihrem Leben (!) Kontakt zum Gesundheitssystem aufnehmen.9 Social Media hingegen ist nur eine App entfernt.

(Un-)Normalize Mental Health

Die zunehmende Prominenz mentaler Gesundheit führt zu einem Spagat, in dem wir psychische Erkrankungen einerseits normalisieren und andererseits nicht normalisieren sollten. Warum? Auf der einen Seite ist es für die Entstigmatisierung enorm wichtig, mentale Gesundheit als integralen Teil des Lebens anzuerkennen, der offen thematisiert wird. Depressionen, Ängste etc. kommen weitaus häufiger vor, als man vermuten würde: In Deutschland erkranken jedes Jahr über 5,3 Millionen Menschen an einer Depression, einige davon nicht zum ersten Mal. Das sind so viele Menschen wie die Einwohner:innen von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zusammen. Wir sehen nicht, wie viele Betroffene es tatsächlich gibt, obwohl sie mitten unter uns sind. Und bei diesen Zahlen sprechen wir nur über Depressionen und noch nicht über alle weiteren psychischen Belastungen und Erkrankungen, die Menschen mit sich tragen und die im Verborgenen bleiben.

Trotz all der guten Gründe, das Tabu zu brechen, hat dies auch eine Kehrseite. Psychische Erkrankungen sollten nicht zum »Normalfall« werden. Das beste Beispiel dafür ist der Burn-out: Heute berichten weitaus mehr Menschen davon, erschöpft zu sein oder sich ausgebrannt zu fühlen, als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Sicherlich ist ein Burn-out inzwischen weniger tabuisiert, aber das [27]birgt auch ein großes Problem. Es sollte nicht normal sein, dass Arbeit uns so stark verausgabt, dass wir nicht mehr können. Es sollte nicht normal sein, dass Menschen mit einem unschaffbaren Arbeitspensum verheizt werden. Es darf nicht normal sein, dass wir einen Burnout einfach als einen Standard unserer heutigen Arbeitswelt akzeptieren. Genau da offenbart sich der Seiltanz zwischen individueller und systemischer Verantwortung, die wir übernehmen müssen: Wir als Individuen können dafür sorgen, dass mentale Gesundheit kein Tabu mehr ist. Als System müssen wir die Bedingungen ändern, in denen mentale Gesundheit stattfindet. Nur so schaffen wir es, dass mentale Gesundheit einerseits kein Tabu mehr ist und wir andererseits Verantwortung für gesünderes Arbeiten übernehmen.

Geht es uns wirklich so schlecht?

Überall hören wir, dass Belastungen steigen und die vielen globalen Krisen unserer mentalen Gesundheit zusetzen. Insbesondere die Covid-19-Pandemie hat ihre Spuren hinterlassen. Globale Daten zeigen, dass Depressionen weltweit im Vergleich vor (2019) versus während der Pandemie (2021) um 33 % gestiegen sind, Angststörungen um 26 %.10 Die Datenlage in Deutschland ist jedoch sehr gemischt. Es wird zwar relativ konsistent von einer Zunahme einzelner Belastungssymptome berichtet11, jedoch bedeutet das nicht, dass dies automatisch in mehr psychischen Erkrankungen mündet. Bislang gibt es keine aussagekräftigen epidemiologischen Studien, die von einem deutlichen Anstieg berichten, auch wenn wir dies oft proklamieren. Zweifelsohne war die Covid-19-Pandemie jedoch eine ganz besondere Herausforderung, die es bislang so nicht gegeben hat. Das liegt daran, dass uns die Pandemie auf mehreren Ebenen zugleich getroffen hat. Erstens hatte sie ein weltweites Ausmaß. Zweitens hat sie sich auf mehrere Lebensbereiche zugleich ausgewirkt (z. B. gesundheitlich, beruflich, finanziell, häuslich). Drittens haben die Menschen durch Covid einen immensen Kontrollverlust und kollektive Unsicherheit erlebt. Viertens hatte die Pandemie systemische Auswirkungen auf [28]multiple Gesellschaftsgruppen und wirtschaftliche Industrien. Und fünftens sind durch die Pandemie gesundheitsförderliche Ressourcen wie Freizeitaktivitäten und soziale Zusammenkünfte großflächig weggebrochen. Normalerweise wirken sich Krisen auf einen oder wenige dieser fünf Bereiche aus – im Falle der Pandemie haben uns alle gleichzeitig überspült wie ein Eiswassereimer. Deshalb wird in der Literatur auch häufig von einem nie dagewesenen multidimensionalen Stressor12 gesprochen.

Doch warum fühlen wir uns weiterhin ausgelaugt und erschöpft? Zum einen haben wir uns kaum von Covid erholt und sind schon wieder mit neuen, teils weltweiten Krisen konfrontiert. Extreme Belastungen verschieben sich also nur, statt sich aufzulösen. Damit steigt die Vulnerabilität – die Anfälligkeit –, unter diesem Dauerfeuer schneller überlastet zu sein. Wer nach einem Marathon direkt am nächsten Tag wieder über 40 Kilometer laufen soll, hat schließlich nur einen Bruchteil seiner vollen Ressourcen zur Verfügung. So verhält es sich auch mit der Welt- und Wirtschaftslage, in der wir aktuell stecken. Zum anderen sind wir weiterhin mit psychischen Risikofaktoren wie Einsamkeit (die leider immer mehr zunimmt), Vorerkrankungen oder chronischem Stress konfrontiert. So ist es kaum verwunderlich, dass die Psyche leidet. Auch die Daten deutscher Krankenkassen spiegeln das wider. Seit Jahren gibt es einen Aufwärtstrend in psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeiten (Krankschreibungen). Der DAK Gesundheitsreport 202313 berichtet, dass psychische Erkrankungen nach Atemwegserkrankungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen mit 15,1 % den drittgrößten Anteil des Krankenstandes ausmachen. Dabei verursachen sie mit Abstand die längsten Abwesenheitszeiten. Die durchschnittliche Krankschreibungsdauer aufgrund psychischer Erkrankungen betrug 2022 satte 36,6 Tage. Im Vergleich dazu liegen Atemwegserkrankungen mit 6,9 Tagen und Muskel-Skelett-Erkrankungen mit 17,2 Tagen weit dahinter. Insbesondere Frauen haben einen höheren Anteil an psychisch bedingten Krankschreibungen (17,7 %) als Männer (12,9 %), was jedoch angesichts des Stigmas [29]speziell unter Männern mit Vorsicht betrachtet werden sollte – vermutlich ist die Dunkelziffer weit höher.

All das kostet Geld. Jährlich betragen die direkten und indirekten Kosten durch psychische Erkrankungen in Deutschland mehr als 147 Milliarden Euro.14 Es wird angenommen, dass die weltweiten Kosten durch psychische Erkrankungen zwischen 2010 und 2030 um das 2,4-Fache steigen und die damit verbundenen wirtschaftlichen Verluste höher sind als für Atemwegserkrankungen, Krebs und Diabetes zusammen.15

Trotz all dieser wirtschaftlich relevanten Kennzahlen wird mentale Gesundheit in der Arbeitswelt immer noch als Randphänomen behandelt. Wenn man sich bei seinem Arbeitgeber einmal erkundigt, wie zum Beispiel bislang mit einem Burn-out-Fall umgegangen wurde, so bekommt man oft zu hören: »Burn-out? Nee, so was haben wir hier nicht.« Auch bei Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen wird so getan, als gäbe es sie nicht. Wenn man nun bedenkt, dass jährlich ca. 28 % der Erwachsenen in Deutschland von einer psychischen Erkrankung betroffen sind16, kann man sich ausmalen, dass wir es ganz und gar nicht mit einer Randerscheinung zu tun haben und fast ein Drittel der Belegschaft an psychischen Beschwerden leidet – also eine Person von drei! (Aber nein, so was haben wir hier ja [30]nicht …) Leider nehmen gerade mal 19 % der Betroffenen innerhalb eines Jahres Kontakt zur Gesundheitsversorgung auf17, sodass sich Beschwerden oft unnötig verschleppen und chronifizieren. Und auch das kostet. Je schwerer der Belastungsgrad, desto höher die Krankheitskosten. Bei Menschen mit geringer Belastung steigen die Kosten um den Faktor 2,0, bei Menschen mit moderater Belastung um den Faktor 3,7 und bei jenen mit schwerer Belastung um den Faktor 7,5.18 Dabei wäre Prävention ein einfaches Mittel, um dem entgegenzuwirken. Es ist gut belegt, dass entsprechende Maßnahmen besonders im frühen Stadium psychischer Belastungen wirksam sind.19

Allerhöchste Eisenbahn also, dass wir dem Thema mentale Gesundheit mehr Aufmerksamkeit schenken. Und es scheint sich bereits etwas zu tun. Das Zukunftsinstitut stuft Gesundheit als einen Megatrend ein, einschließlich der Subtrends Corporate Health (Unternehmensgesundheit) und Preventive Health (präventive Gesundheit).20 Auch in den globalen Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen, welche eine soziale, wirtschaftliche und ökologisch nachhaltige Weltentwicklung anstreben, nehmen sowohl Gesundheit als auch menschenwürdige Arbeit einen Platz unter den insgesamt 17 Zielen ein. Doch trotz aller Aufmerksamkeit hat das Thema es in der Arbeitswelt immer noch schwer, Fuß zu fassen. In einer YouGov-Umfrage mit über 2000 Teilnehmenden gaben gerade mal 26 % der Befragten an, dass es in ihrem Unternehmen Präventionsangebote zur Förderung mentaler Gesundheit gäbe.21 Das Problem scheint also weniger im Wissen darüber zu liegen, dass mentale Gesundheit in einer modernen Arbeitswelt einen festen Platz hat. Die eigentliche Herausforderung ist das Handeln.

[31]Reflexion

Inwiefern ist das Thema mentale Gesundheit bei dir im Unternehmen durch Covid präsenter geworden?Inwiefern hat die Präsenz von Mental Health Themen auf Social Media deine Haltung gegenüber mentaler Gesundheit verändert?Wie ist an deinem Arbeitsplatz bisher mit Burn-out-Fällen umgegangen worden?

[32]1.3 Der Mensch als endliche Ressource

Unsere Arbeit ächzt unter aneinandergereihten Krisen, Fachkräftemangel und neuen Herausforderungen, die sich durch Digitalisierung und KI ergeben. Die Wirtschaft steht damit unter großem Zugzwang, viele Unternehmen müssen trotz weniger Ressourcen und mehr Anforderungen am Markt bestehen bleiben. Dennoch will unsere heutige Wirtschaftswelt Wachstum um jeden Preis: höher, schneller, weiter. Dabei geht es um das Maximieren: mehr Produkte, mehr Verkauf, mehr Kund:innen. So landen wir in einer Überwirtschaftung, in der wir mehr Ressourcen und Energie verbrauchen als wir eigentlich zur Verfügung haben. Unser Umgang mit Gesundheit (genau wie mit Nachhaltigkeit) zeigt hier eine große Gemeinsamkeit: Wir tun so, als gäbe es für sie keine natürlichen Grenzen. Und das geht zu Lasten der Menschen (und der Natur), die in diesem System arbeiten. Mit Blick auf kurzfristige Gewinne machen wir Überstunden, schlucken unsere Gesundheitssignale runter und geben uns keine Möglichkeit zu regenerieren. Selbst Erholung ist auf Maximierung ausgelegt. Wir führen das ganze ad absurdum und kaufen uns Ratgeber, die uns zeigen, wie wir in weniger Zeit mehr geschafft bekommen und uns verklickern, wie wir noch schneller regenerieren. So versuchen wir immer wieder, unsere natürlichen Grenzen künstlich zu verschieben. Aber wofür eigentlich? Am Ende dient es allein dazu, [33]dass irgendjemand irgendwo auf der Welt mehr Gewinn macht – diese Person bist aber nicht du. Dadurch entsteht ein menschlicher Abrieb, der uns immer spürbarer um die Ohren fliegt. Unsere Antwort darauf ist, dass wir versuchen, Systeme zu optimieren. Wie kann ich meine Prozesse so weit verschlanken, dass ich in weniger Zeit mehr Output bekomme? Wie kann ich Mitarbeitenden ein bisschen mehr Resilienz beibringen, dass sie unter dem Stress nicht einknicken? Wie können wir den gleichen Workload auf weniger Personal verteilen?

Zwischen Optimieren und Maximieren liegt ein schmaler Grat. Es ist wichtig, Bestehendes kontinuierlich zu hinterfragen und besser zu machen. Gleichzeitig sind unsere Ressourcen endlich. Es wird immer einen Sättigungspunkt geben, an dem weniger Personal selbst bei besten Prozessen den Workload nicht mehr stemmen kann. Über die Jahre sind wir extrem gut darin geworden, diesen Punkt in Perfektion zu ignorieren. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen. Zum einen glauben wir konstant, es gäbe doch noch etwas rauszuholen. Wir werfen ein Stressmanagement-Training auf die Mitarbeitenden in der Hoffnung, dass sie dann doch noch etwas mehr schaffen. So quetschen wir mit aller Kraft an der Zitrone, obwohl sie bereits saftlos ist. Zum anderen übernehmen wir als Individuen fälschlicherweise die Verantwortung dafür, dass wir nicht noch mehr gewuppt bekommen. Wir glauben, es läge einzig und allein an uns, dass wir überlastet sind und nicht noch mehr To-dos erledigen können. Wir nehmen am Stressmanagement-Training teil und setzen alle Tipps gewissenhaft um – und trotzdem fühlen wir uns erschöpft. Die Schuld dafür geben wir uns selbst und denken, dass wir etwas falsch gemacht hätten. Dabei müssten wir vielmehr das System anschauen, in dem wir agieren. In einem Umfeld, in dem Überstunden normal sind, Pausen ausgelassen werden und der Stresspegel dauerhaft am Anschlag ist, ist nicht der nächste Mental Health Tipp entscheidend, sondern dass es Möglichkeiten zur Regeneration gibt. Und das System drum herum muss so umgebaut werden, dass es nicht ständig zu Überlastung kommt. Aber das würde möglicherweise kurzfristig Einbußen im Gewinn mit sich bringen, sodass wir einfach weitermachen.

[34]Die Sprache der Psyche

Jeder Mensch hat eine individuelle Belastungsgrenze. So wie man einen körperlichen Ermüdungsbruch haben kann, kann auch die Psyche unter hoher Belastung einknicken. Der Weg dahin ist oft ein schleichender Prozess. Als ich noch Klient:innen in der Psychotherapie hatte und sie in der ersten Sitzung fragte, warum sie ausgerechnet jetzt hier sitzen, konnten sie es oft nicht genau sagen. Fragte ich dann nach, was in letzter Zeit so los war, fand ich oft ein großes Sammelsurium an Belastungen vor. Erst kam die Trennung, dann war bei der Arbeit so viel los, die Mutter erkrankte an Krebs und die Kinder haben alles nicht gut weggesteckt. Selten ist allein eine Sache der Grund, warum sich jemand Hilfe sucht. Doch irgendwann braucht es nur noch einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Wann wird aus viel zu viel?

Das sogenannte Vulnerabilitäts-Stress-Modell22 illustriert treffend, wie wir auf Belastungen reagieren. Denn ein und dasselbe Ereignis kann einer Person stärker zu schaffen machen als einer anderen. Doch warum ist das so? Das liegt nicht daran, dass eine Person mental besonders stark ist und die andere nicht, sondern kommt durch mehrere Faktoren zustande. Diese Faktoren werden durch das Modell sehr gut erklärt.

Die Vulnerabilität, sprich die Verletzlichkeit einer Person umfasst Faktoren, die bereits vorhanden sind und die sie in das Hier und Jetzt mitbringt, beispielsweise genetische Vorbelastungen, Lernerfahrungen, Hirnprozesse, Glaubenssätze oder eingeschliffene Bewältigungsstrategien. Einige dieser Faktoren sind gegeben (z. B. Genetik), andere sind veränderbar (z. B. Glaubenssätze). Diese grundsätzliche Verletzlichkeit tragen wir alle in uns – je nach Biografie kann sie höher oder geringer ausgeprägt sein. Sie bildet eine Art Grundbelastungsfundament. Auf diesem Fundament bauen sich im Alltag Belastungen unterschiedlicher Art auf. Das können Konflikte, plötzliche Ereignisse oder eine Kündigung sein. Je größer der Stapel wird, desto höher die aktuelle Belastung.

[35]Ab einem gewissen Punkt ist für jeden Menschen die individuelle Belastungsgrenze erreicht. Das ist der Moment, an dem sich Anzeichen psychischer Strapazierung zeigen. Wenn wir abends nicht einschlafen können, wenn wir gereizt auf unsere:n Partner:in reagieren oder wenn wir uns von Freund:innen zurückziehen. Das alles ist die Sprache der Psyche. Oftmals signalisiert uns auch unser Körper schon früh typische Überlastungsanzeichen wie Nackenschmerzen, Verdauungsprobleme oder ständige Müdigkeit. Nur haben wir uns einfach sehr gut beigebracht wegzuschauen. So stapeln sich weitere Alltagsbelastungen, ohne dass wir einlenken. Schlussendlich mündet das in psychischen Erkrankungen – unsere Psyche meldet sich, sodass wir nicht weiter weghören können.

Wenn dann noch globale Krisen hinzukommen, ist das wie eine extra Schicht, die auf dem Grundfundament obenauf liegt. Das führt unumgänglich dazu, dass es noch weniger Puffer für Alltagsbelastungen gibt. Nur wenige Stressoren reichen bereits aus, um die individuelle Belastungsgrenze zu erreichen.

[36]Vermutlich ist es genau das, was wir in den letzten Jahren gespürt haben. Wir scheinen von der Weltlage erschöpft zu sein und fühlen uns schneller überlastet. Die Aneinanderreihung der Krisen führt schlichtweg dazu, dass wir weniger Raum für Alltagsstress haben und schneller am Limit sind. So werfen uns plötzlich Stressoren aus der Bahn, die uns früher nichts anhaben konnten.

Von Sick Care zu Health Care

Wie in Kapitel 1.1 erwähnt, ist unser Verständnis von Gesundheit auf die Wiederherstellung von Gesundheit nach Krankheit, aber nicht auf den Erhalt von Gesundheit ausgerichtet. Somit ist das Gesundheitsmanagement vieler Unternehmen eher ein Krankheitsmanagement. Die meisten Maßnahmen zielen entweder darauf ab, jemanden in oder nach Krankheit wieder arbeitsfähig zu machen oder das Ausmaß der Arbeitsunfähigkeit gering zu halten. Es geht also im weitesten Sinne um Schadensbegrenzung, indem Krankheit durch beispielsweise Wiedereingliederungsprogramme gemanagt wird. Das Ziel der sogenannten Sick Care ist, möglichst schnell eine Verbesserung oder zumindest keine Verschlechterung zu erreichen.

Sick Care

Vorteile:

Wir können rasche Symptome bekämpfen.Wir erkennen schnell, ob unsere Bemühungen fruchten.

Nachteile:

Wir lassen Ungesundheit geschehen.Wir überlassen anderen die Verantwortung für die Symptombekämpfung bei anderen, beispielsweise Ärztinnen und Ärzte[37]Das mangelnde Versorgungsangebot führt leichter zu einer Chronifizierung von Problemen.Wir sind aufgeschmissen, wenn es Engpässe gibt, wie zum Beispiel wenn das halbe Team krank ist.Wir gehen nicht an die zugrunde liegende Wurzel der Probleme, beispielsweise allgemeiner Personalmangel.

Health Care hingegen möchte Gesundheit erhalten und weiter ausbauen. Es bedeutet, die Gesundheit proaktiv zu beeinflussen und sich im wahrsten Sinne des Wortes um seine Gesundheit zu kümmern. Diesen Gedanken gibt es auch in der Traditionellen Chinesischen Medizin, in der einer gesundheitsförderlichen Lebensführung mehr Wichtigkeit zugeschrieben wird als der Therapie von Krankheiten. Health Care begreift Gesundheit als etwas, das wir selbst positiv beeinflussen können.

Health Care

Vorteile:

Wir werfen einen holistischen Blick auf Gesundheit und beziehen sowohl unsere individuelle Lebensführung als auch die Umwelt mit ein.Wir übernehmen proaktiv Verantwortung für unsere Gesundheit, statt sie passiv als reine Abwesenheit von Krankheit zu verstehen.Wir incentivieren Gesundheit als einen erstrebenswerten Zustand.Wir erkennen frühzeitig Veränderungen in der Gesundheit, sodass Krankheit früher abgewendet oder abgemildert werden kann.

[38]Nachteile:

Veränderungen können möglicherweise länger dauern.Um einem Problem auf den Grund zu gehen, können potenziell größere Lebens- und Strukturveränderungen nötig sein, für die wir nicht immer bereit sind.Es fällt uns schwerer dranzubleiben.Wir versuchen Dinge abzuwenden, die noch nicht eingetreten sind, was unsere Motivation schmälern kann.

Auch die Arbeitswelt braucht einen Paradigmenwechsel von Sick Care zu Health Care. Wir müssen weg von der Frage: »Was macht uns krank?« hin zu »Was hält uns gesund?«. Genau da setzt Primärprävention an (▶ Kap. 4). Es geht darum, die Gesundheitskompetenzen der Mitarbeitenden zu stärken und ein Umfeld zu schaffen, das die Gesundheit fördert, statt sie zu belasten. Wir sollten nicht nur darauf schauen, wann sich Menschen krankmelden, sondern vor allem darauf, unter welchen Bedingungen sich Menschen gesundmelden. Und wir sollten uns gegenseitig viel Anerkennung dafür schenken, wenn wir bei Überlastung frühzeitig einlenken. Ein wunderbares Beispiel dafür sind Mental Health Days. Wir nehmen einen Tag frei, um uns um unsere mentale Gesundheit zu kümmern und kommunizieren das offen ans Team. Denn Mental Health Days sind keine Krankschreibung – wir sind schließlich nicht krank, sondern tun etwas dafür, gesund zu bleiben. Ein strengeres Beispiel kommt aus dem indischen Start-up Dream Sports. Dort droht den Angestellten eine Geldstrafe in Höhe von ca. 1200 Euro, wenn sie während ihres Urlaubs E-Mails beantworten oder ihre Kolleg:innen kontaktieren. Sicherlich sind solch radikale Ideen in Deutschland rechtlich schwer denkbar und es bleibt fraglich, inwiefern Geldstrafen ein gutes Mittel zum Abschalten sein können, aber der Gedanke dahinter zeigt: Es ist uns als Arbeitgeber:in wichtig, dass ihr Abstand von der Arbeit bekommt, um euch wirklich erholen zu können. Wir nehmen eure Erholungszeit ernst und unterstützen euch dabei, sie einzuhalten.

[39]Wie können wir es schaffen, von Sick Care zu Health Care zu kommen? Erst einmal wird Sick Care durchaus seine Daseinsberechtigung behalten. Es wird immer wieder Krankheit geben und es wird immer wieder nötig sein, angemessen darauf zu reagieren. Jedoch müssen wir das Augenmerk von kurzfristiger Symptombekämpfung hin zu langfristiger und nachhaltiger Gesundheitsförderung lenken. Dementsprechend müssen wir auch Arbeitsstrukturen so bauen, dass langfristige (!) Gesundheit in ihnen möglich wird. Das braucht Zeit, Ressourcen und eine gute Strategie (▶ Kap. 10). Und es braucht den Willen jeder Person, selbst anzufangen und Verantwortung für die eigene mentale Gesundheit zu übernehmen. Je mehr wir unser ganzes Selbst mit zur Arbeit bringen und mentale Gesundheit als einen festen Baustein in unseren Alltag einbeziehen, desto normaler wird das Thema auch in Unternehmen. Je mehr Menschen genauso selbstverständlich von ihrer letzten Therapiestunde wie von ihrem Wochenende erzählen, desto besser können wir das Stigma brechen. Je mehr gesunde Grenzen wir setzen, desto weniger hartnäckig halten sich ungesunde Arbeitsmuster. Unsere Arbeitswelt braucht den Wandel – und noch viel wichtiger: Die Menschen, die in ihr arbeiten, brauchen ihn umso dringender.

»Bring your whole self to work« – Eine persönliche Geschichte.

Frank Thinnes, Leiter Studentisches Leben, studierendenWERK BERLIN

Ich bin 1967 an der Grenze von Deutschland und Frankreich geboren und aufgewachsen. Ich habe mich schon früh als »transurban« gefühlt – ein Städter gefangen im Körper eines Landeis. Ebenso früh war mir schon klar, dass ich schwul bin. In den 1970ern und frühen 1980ern war das kein Spaß. Und schon gar nicht im Arbeiter[40]milieu, aus dem ich stamme. Meine Kindheit war geprägt vom plötzlichen Verlust sehr nahestehender Familienmitglieder. Heute hätte man mich vielleicht therapeutisch begleitet. Damals hat man einfach nicht drüber geredet. Mentale Gesundheit war für mich schon sehr früh ein Thema und ich habe Depressionen bereits als Kind entwickelt. Erst viel später, in meinen Zwanzigern, habe ich eine Therapie gemacht. Der Weg dazwischen war von allen Stadien der Verdrängung und Scham geprägt. Als Schwuler meiner Generation war ich darüber hinaus noch von der AIDS-Katastrophe geprägt. Ich hatte mein Coming-out 1982 – das Jahr, in dem AIDS »entdeckt« wurde. Ende der 1980er bis 1996 habe ich in Paris gelebt. Die Stadt der Liebe war damals ein Epizentrum der AIDS-Pandemie. Ich habe mich über Act Up aktiv im Kampf für mehr Rechte und Akzeptanz engagiert. Ich war auf zahllosen Beerdigungen und habe – wie viele meiner Generation – Freunde und Bekannte verloren. Mir ist allerdings erst in meinen Fünfzigern klar geworden, wie sehr diese Zeit mich einerseits traumatisiert und andererseits resilient gemacht hat. Beim Schreiben dieser Zeilen merke ich, dass es sich sehr traurig anhört. Aber das war es nicht. Im Angesicht des Todes (hört sich pathetisch an, war aber so) waren alle anderen Sorgen und Konflikte nachrangig. Ich habe gedacht, dass ich nicht älter als 30 werde. Mit 33 habe ich gemerkt, dass es weitergeht und versuche seither, jeden Tag als Geschenk zu sehen. Klappt nicht immer, aber ich bleibe dran.

Ich habe als Führungskraft schon immer versucht, sehr authentisch zu sein, da es mir wichtig ist, dass die Mitarbeiter:innen mich gut einschätzen können. Das bringt Klarheit und Sicherheit. Aus meinem Schwulsein habe ich kein Geheimnis gemacht. Und seit es die Ehe für alle gibt, ist es auch sehr einfach geworden, von »meinem Mann« zu reden. Ich habe das tatsächlich als großen Fortschritt empfunden. Nicht mehr um [41]den heißen Brei, sondern ebenso selbstverständlich über den Beziehungsstatus reden wie Heteros. Dennoch habe ich ab Anfang 30 angefangen, mich sehr stark an heteronormative Erwartungen anzupassen. Keine Aufritte in Drag mehr, weniger expressiver Style, alles ein bisschen braver. Um aufsteigen zu können, darf man nicht verschrecken, so dachte ich. Damit ging ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit in den Sleep Mode. Erst später habe ich gemerkt, wie viel Energie das Verstecken kostet und dass es mich auslaugt.

Geändert hat sich das mit der Coronapandemie. Ich glaube, es hat Erinnerungen an AIDS geweckt und irgendwie meine rebellische »Unapologetic«-Seite aktiviert, also die kompromisslose. Mir wurde klar, dass das Leben zu kurz ist, um sich klein zu machen. Es hat eine persönliche Transformation ausgelöst. Und in diesem Prozess habe ich gemerkt, dass ich Zugang zu einer unerschöpflichen Energiequelle habe, die sich aus meiner Persönlichkeit und meinen Erfahrungen speist. Seither greife ich als Führungskraft sehr bewusst auf diese Quelle zu. Vorher passierte das eher intuitiv. Meine mentale Gesundheit ist seither so stabil wie nie zuvor. Ich merke, wie Energie frei in mir fließt und nicht irgendwo versickert oder blockiert wird.

Es macht mich empathischer und erfolgreicher in der Führung von Personen, auch wenn ich meine eigene Verletzlichkeit und persönlichen Herausforderungen sichtbarer mache. Ich habe den Eindruck, dass Kolleg:innen sich dadurch gesehen und sicher fühlen. Das klingt womöglich paradox (muss die Führungskraft nicht immer das Alphatier sein?), ist es aber nicht. Ich versuche auch klarzumachen, dass wir keine Maschinen sind, die ihre Identität an der Tür zum Büro abgeben. Das ist übrigens etwas typisch Deutsches. In Frankreich beispielsweise wird die Persönlichkeit viel mehr als Faktor für erfolgreiches Arbeiten gesehen.

[42]Ich freue mich auf die weitere Entwicklung meines authentischen Selbst, denn ich habe das Gefühl, dass noch viele Schichten freizulegen sind. Und ich freue mich, das auch bei meinen Kolleg:innen zu sehen. Die klassische Angst vieler Führungskräfte, dass alles im Chaos versinkt, wenn alle authentisch sind, ist nach meiner Überzeugung ein Überbleibsel des militärischen Ursprungs von Unternehmensorganisation. Es zeugt eher von Angst vor Kontrollverlust. Wer aber diese Angst hat, sollte keine Führungskraft sein – denn Führen kann man nur mit Vertrauen.