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Wenn Helfer Hilfe brauchen - Wichtig und hochaktuell: Lebensqualität für ÄrztInnen und TherapeutInnen steigern - Grundlagen: Welche Erkrankungen sind die häufigsten und wie sie sich auf die Berufsausübung auswirken - Praxisnah: Mit konkreten Anweisungen für Prävention und Intervention Der Berufsalltag von Ärztinnen und Ärzten, genauso wie der von Therapeutinnen und Therapeuten, kann sehr stressig sein. Verantwortung zu übernehmen und einen Beruf auszuüben, der eine Berufung ist, verlangt einiges ab. Es gibt viele Gründe, warum ÄrztInnen und TherapeutInnen ein erhöhtes Risiko haben, an einer Depression, einer Sucht oder an Burnout und an anderen mentalen Störungen zu leiden. Ebenso bestehen auch gute Chancen und Möglichkeiten, diese zu verhindern oder zu überwinden. Dieses Buch beleuchtet neben den Krankheitsbildern selbst sowie den Ursachen hierfür vor allem Präventions- und Interventionsmöglichkeiten, um die Lebensqualität im Berufsfeld der akademischen Helfer zu verbessern. Dieses Buch richtet sich an: PsychiaterInnen, PsychotherapeutInnen, PsychologInnen, ÄrztInnen anderer Fachrichtungen, alle im Gesundheitswesen Tätige
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Seitenzahl: 519
Veröffentlichungsjahr: 2021
Thomas Bergner
Mentale Gesundheit für Ärzte und Psychotherapeuten
Ein Praxisbuch zur Verbesserung der Lebensqualität
Dr. med. Thomas Bergner
Zeller Straße 56
82067 Zell
www.bergner.cc
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Schattauer
www.schattauer.de
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Cover: Jutta Herden, Stuttgart
unter Verwendung einer Abbildung von © iStock/Cecilie_Arcurs
Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Krugzell
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
Lektorat: Maren Klingelhöfer
ISBN 978-3-608-40059-5
E-Book: ISBN 978-3-608-11652-6
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20514-5
Vorwort
Teil I
Ursachen für Defizite der mentalen Gesundheit
1 Arbeitsbedingungen und -inhalte
1.1 Arzt und Therapeut heute
1.1.1 Berufstypische Belastungen
Traumata in helfenden Berufen
Traumata in der Notfallmedizin
Arbeitszeit
1.1.2 Die Berufsentscheidung
1.1.3 Hidden Curriculum: Auswirkungen verborgener Regeln
1.2 Ohnmacht und Macht
1.2.1 Was Macht ausmacht
1.2.2 Der Raum der Angst
1.2.3 (Kunst-)Fehler sind menschlich
1.2.4 Gewalt und Missbrauch
1.3 Erwartungen an Helfer
1.3.1 Der »gute Arzt«
1.3.2 Helfer und Altruismus – das Ideal
1.3.3 Eingeschränkte Eigenwahrnehmung im Alter
1.3.4 Selbstzweifel
2 Störfaktoren
2.1 Gier und Kommerzialisierung
2.2 Autonomieverlust
2.2.1 DRG – der fachliche Autonomieverlust
2.2.2 EHR – der formale Autonomieverlust
2.2.3 PHP – der persönliche Autonomieverlust
2.2.4 Ein kollektives Desinteresse?
3 Persönlichkeitseigenschaften und ihre Auswirkungen
3.1 Big Five
3.2 Hinderliche Eigenschaften für mentale Gesundheit
3.2.1 Neurotizismus
3.2.2 Narzissmus und Helfersyndrom
3.2.3 Perfektionismus
3.3 Förderliche Eigenschaften für mentale Gesundheit
3.3.1 Empathie
3.3.2 Emotionale Intelligenz
4 Gefühle
4.1 Verdrängung und Verleugnung
4.2 Gefühle und verwandte Phänomene
4.3 Positiv bewertete Gefühle
4.4 Angst und Traurigkeit
Teil II
Bad Five der mentalen Gesundheitsstörungen
5 Burnout
5.1 Allgemeines
5.2 Symptome
5.2.1 Leistungsabnahme
5.2.2 Depersonalisation
5.2.3 Emotionale Erschöpfung
5.3 Verlauf
5.4 Koinzidenzen
5.5 Strittige Aspekte
5.5.1 Burnout gleich Depression?
5.5.2 Handelt es sich um eine Berufserkrankung?
5.5.3 Wie mit Traumata umgehen?
5.6 Studienergebnisse
5.7 Therapie
5.7.1 Hilfe auf der Ebene von Organisationen
5.7.2 Persönliche Hilfe
5.7.3 Koinzidenz oder Kausalität, das ist hier die Frage
5.8 Tests
5.8.1 MBI – Der Standardtest für Burnout
5.8.2 BBQ – Bergner Breakdown Questionnaire
5.8.3 Test zum eigenen Burnoutrisiko
5.9 Stress versus Burnout
5.9.1 Was löst Stress aus?
5.9.2 Welche Stressoren gibt es im Arztberuf?
5.9.3 Was geschieht bei Stress in uns?
5.9.4 Wie unterscheiden sich Stress und Burnout?
6 Depression
6.1 Allgemeines
6.2 Symptome
6.3 Studienergebnisse
6.4 Test
7 Angsterkrankungen
7.1 Allgemeines
7.2 Symptome
7.3 Studienergebnisse
7.4 Therapie
7.5 Test
7.6 Umgang mit Angst im Alltag
8 Sucht
8.1 Allgemeines
8.2 Symptome
8.3 Studienergebnisse
8.4 Therapie
8.5 Test
9 Suizidalität
9.1 Allgemeines
9.2 Symptome
9.3 Verlauf
9.4 Studienergebnisse
9.5 Therapie
Teil III
Sich selbst helfen
10 Ressourcennutzung
10.1 Bewältigungsstrategien
10.2 Selbstmitgefühl
10.2.1 Mitgefühl im Alltag
10.2.2 Reframing (Umdeutung)
10.3 Selbstwirksamkeit und Selbstwert
10.3.1 Prokrastination und Perfektionismus
10.3.2 Wille und Widerstand
10.3.3 Alternativlosigkeit
10.4 Resilienz
10.4.1 Nutzen und Ziel
Studium und Motivation
Optimismus
Das Gießkannenprinzip
10.4.2 Studienergebnisse
10.4.3 Zum guten Schluss
10.5 Achtsamkeit
10.5.1 Grundlagen
Der Abstand zu eigenen Gefühlen
Selbstachtsamkeit
10.5.2 Studienergebnisse
Studien zur Achtsamkeit 2.0
10.5.3 Grundlagen der Meditation
10.5.4 Übungen, Teil 1
Bewertungsfreie Wahrnehmung
10.5.5 Übungen, Teil 2
Meditation
10.5.6 Zum guten Schluss
11 Integration von Lebensstilfaktoren
11.1 Grenzziehung und -wahrung
11.1.1 Das Nein
11.1.2 Grenzen
11.1.3 Reframing zum Zweiten
11.2 Gesundes Verhalten
11.2.1 Beziehungen
11.2.2 Das Mini-Einmaleins des Zeitmanagements
Dringend oder wichtig?
Zeitfresser
Prioritäten
11.2.3 Eulen nach Athen
Schlaf
Liebevolle Selbstumarmung
Imaginärer Sorgentresor
Sport
Ernährung
11.2.4 Zum guten Schluss
11.3 Ansprüche
11.3.1 Materielle Ansprüche
11.3.2 Krisen
11.4 Zufriedenheit
11.4.1 Freude, Zufriedenheit und Glück
11.4.2 Unzufriedenheit und Zufriedenheit
11.4.3 Unzufriedenheit und Überzeugungen
11.4.4 Schuld, Forderungen und innerer Unfriede
11.4.5 Studienergebnisse
11.5 Werte
11.5.1 Den eigenen Werten folgen
11.5.2 Werte authentisch leben
11.6 Selbstwert
12 Selbstfürsorge
12.1 Individuelle Chancen
12.1.1 Optimismus
12.1.2 Mentor
12.1.3 Coaching
12.1.4 Wesentliche Fragen
12.2 Wohlbefinden
12.2.1 Verdrängung
12.2.2 Umgang mit Fehlern
12.2.3 Entspannung
12.3 Richtige Zielsetzung
13 Die Kernfrage und das Geheimnis
13.1 Annehmen der Vergangenheit
13.2 Die wahrhaftige Kernfrage
13.3 Voller Sinn
13.4 Neue Wege
Literatur
Der Wert der Arbeit am Menschen, gleich in welcher Position und in welchem Bereich, muss neu bewertet werden, und zwar markant höher als bisher. Diese Bewertung sollte sich auch materiell auswirken, aber das ist nicht das vorrangige Ziel. Primär geht es um eine menschlichere Welt und nicht um eine materiellere.
Mit diesen Worten endete im Jahr 2006 die erste Auflage meines Buchs Burnout bei Ärzten – und in heutigen Zeiten von offenkundigen Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen sind sie aktueller denn je, wie das folgende Zitat belegt:
Um […] zukünftigen Herausforderungen begegnen zu können, muss das bestehende Gesundheitssystem weiterentwickelt werden: Benötigt wird ein patientenorientiertes, qualitätsgesichertes und nicht primär gewinnorientiertes System, das alle Mitarbeitenden wertschätzt […] und […] über eine hohe Resilienz verfügt (Leopoldina 2020).
In dem vorliegenden Buch soll es deshalb um die mentale Gesundheit derjenigen gehen, welche die zentrale Rolle im Gesundheitswesen ausfüllen.
Das Gesundheitswesen wird von Menschen mit vielen unterschiedlichen Berufen erst möglich gemacht. Doch genauso wie eine komplexe Sinfonie nur um wenige Themen kreist, sind Ärzte und Therapeuten die Conditio sine qua non des Gesundheitswesens. Ohne sie kann auf Dauer keine Behandlung durchgeführt werden. Auch wenn die Pflege eines Kranken wichtig ist, auch wenn die betriebswirtschaftlichen Aspekte einfließen, auch wenn es ohne Verwaltung nicht geht: Ärzte und Therapeuten haben die zentrale Stellung im gesamten System. Sie bilden quasi den Kern.
In den USA wurde vor einiger Zeit das »Triple Aim« definiert, das dreifache Ziel des Gesundheitswesens. Es besteht darin, die Erfahrungen der Patienten zu verbessern, die Gesundheit der Bevölkerung zu stärken und die Kosten zu vermindern (Yates 2019). Die Belange der im Gesundheitswesen Tätigen wurden dabei nicht berücksichtigt.
In diesem Buch geht es um deren Wohlbefinden. Was kann die Einzelne oder der Einzelne für sich tun? Was für das Gesundheitssystem im Ganzen oder Organisationen wie Krankenhausträger ansteht, wird nur nachrangig besprochen. Manchmal gilt: Wer auf andere wartet, wartet vergebens. Bei sich selbst kann man unmittelbar beginnen. Es ist die einzige Form von Selbstmedikation, die auch nach reiflicher Überlegung sinnvoll erscheint.
Was zum Wohlbefinden eines akademischen Helfers gehört, ist in keiner Weise festgeschrieben. Jede Publikation, jede Studie kocht da ihr eigenes Süppchen. Davon ist auch dieses Buch nicht frei, im Gegenteil, gerade Teil III basiert auf meinen konkreten Erfahrungen mit meinen eigenen Klienten in mehr als einem Vierteljahrhundert.
Seit einiger Zeit findet sich in nahezu jeder Publikation zwischen dem Block »Diskussion« und »Schlussfolgerung« ein Block »Limitierungen«, worin ausgedrückt wird, was an der vorgestellten Studie oder Publikation zu kritisieren wäre. Das ist so eine Mischung zwischen Reflexion und Selbstbezichtigung und dient zugleich dazu, Kritik von vornherein zu unterbinden. Für diese recht junge Rubrik gibt es gewiss gute Argumente. Ich finde sie dennoch fragwürdig. Wer eine solche für dieses Buch verlangt, hier sei sie: Dieses Buch und seine Inhalte sind höchst subjektiv, in der Auswahl der Themen, der genutzten Quellen und der Schlussfolgerungen. Niemand muss damit einverstanden sein, alle anderen haben das Recht, alles anders zu sehen.
Wer sich dennoch dafür interessiert, sei herzlich eingeladen, das Buch mit Offenheit und zugleich mit der für jede Meinungsäußerung notwendigen Distanz zu lesen.
Noch einige Bemerkungen eher formaler Art:
In den USA wird aufgrund des Ausbildungsaufbaus zwischen Medizinstudierenden, angehenden Ärzten, komplett ausgebildeten Ärzten und solchen mit langer Berufserfahrung unterschieden. Entsprechend sind manche der wissenschaftlichen Studien aufgebaut. Da dies hier die Lesbarkeit stören kann, schreibe ich für all diese Gruppen »Ärzte« oder »Therapeuten«. Nur wenn signifikante Unterschiede zwischen den Helfern mit unterschiedlichem Ausbildungsstand bestehen, wird dies konkret benannt.
Das Wort Ärztegesundheit leitet sich aus dem in den USA gebräuchlichen Begriff Physician Health ab. Einige der darin subsummierten Inhalte werden in diesem Buch nicht oder nur kurz besprochen, konkret: sexuelle Übergriffe von Ärzten und deren Behandlung, Gesundheitsschädigung durch die medizinische Ausbildung, Aufbau von und Kontakt mit Selbsthilfegruppen für Ärzte, Adipositas bei Ärzten, psychiatrische Erkrankungen und somatische Erkrankungen. Alle Inhalte, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit für Mental Health wichtig sind, haben jedoch ihren Platz im Buch erhalten.
In Auflistungen wie Tabellen sind die Inhalte alphabetisch geordnet, um eine möglichst neutrale Reihenfolge zu erreichen. Die Reihenfolge stellt also keine Gewichtung dar.
Die Übungen sind Anregungen, die Sie zumindest lesen sollten. Effektiver ist es wahrscheinlich, sie durchzuführen.
Was erwartet Sie?
Teil I des Buches beschreibt die Ursachen für Defizite der mentalen Gesundheit akademisch ausgebildeter Helfer. Wie Sie rasch feststellen werden, kommen darin die »üblichen Verdächtigen« durchaus vor, aber auch die weniger bekannten, meistens invasiver wirkenden tatsächlichen Ursachen.
Teil II schildert mit den »Bad Five« die fünf häufigsten seelischen Erkrankungen oder mentalen Probleme bei Ärzten und Therapeuten.
Teil III befasst sich damit, was der Einzelne zu seiner Heilung beitragen kann. Ab und zu werden Sie auch von der Möglichkeit lesen, sich einem professionellen Helfer anzuvertrauen. Doch der angestrebte Grundsatz lautet: Die Meister für Krankheiten anderer sollten auch Meister für ihre eigene Gesundheit und ihr Wohlbefinden werden. Es geht also hauptsächlich darum, was Sie präventiv tun können und was Sie bis zu einem gewissen Grad eigener Betroffenheit versuchen können.
Last but not least: Nach reiflicher Überlegung nenne ich in diesem Buch fast immer die männliche Form, weil die Ärzte und Therapeuten, gleich welchen Geschlechts, die ich gefragt habe, diese Form als am besten lesbar werten. Es sind damit alle möglichen Geschlechter gemeint ohne Bevorzugung von welchem auch immer.
Thomas Bergner im Januar 2021
Teil I
Mentale Gesundheit in Helferberufen
Die WHO hat ermittelt, dass in den USA 12,3 % und in Europa 10,9 % aller krankheitsbedingten beruflichen Fehlzeiten durch seelische Erkrankungen hervorgerufen werden. In Deutschland sind sie der zweithäufigste Grund für Krankschreibungen, ebenso für Frühberentungen. 42 % aller vorzeitigen Ruhestände sind auf seelische Erkrankungen zurückzuführen.
Definition
Die WHO definiert mentale Gesundheit als einen Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten erkennt, mit den normalen Belastungen des Lebens fertig wird, produktiv und fruchtbar arbeiten und einen Beitrag zu seiner Gemeinschaft leisten kann (in Mihailescu & Neiterman 2019).
Weiterhin gibt sie an, dass ein Viertel aller Menschen in einer Weise erkrankt sind, dass sie diese Aufgaben nicht mehr erfüllen können.
Was bedeutet mentale Gesundheit genau betrachtet? Das Adjektiv »mental« hat seinen Ursprung im Lateinischen mens, also Geist. Mentale Gesundheit meint damit geistige Gesundheit. Diese beinhaltet kognitive Leistungen, die sich jedoch mehr auf unsere Auffassungsgabe beziehen, darauf, wie wir wahrnehmen und erkennen. Kognition hat eher mit Logik zu tun, mentale Inhalte stehen mehr mit dem Überbau und der Integration von weitergehenden Ebenen in Zusammenhang. Der Begriff Mental Health, also »mentale Gesundheit«, hat zuerst im englischen Sprachraum und inzwischen dank sprachlicher Ungenauigkeit oder der Neigung, vieles kritiklos zu übernehmen, auch im Deutschen eine Bedeutungserweiterung oder -änderung hinter sich und schließt neben dem Geisteszustand auch die seelische Gesundheit ein. In diesem Sinn, nämlich in aller Regel bezogen auf seelische Inhalte, verwende ich den Ausdruck – im Wissen, sprachlich damit nicht ganz genau zu agieren. Denn zwischen Geist und Seele bestehen fundamentale Unterschiede. Wir sind zu geistigen Leistungen fähig und erkennen somit Zusammenhänge wie: Die Erde ist rund, oder ein Apfel fällt immer nach unten. Hier soll es jedoch nicht um die Anwendung des Potenzials gehen, das sich in unserem Intelligenzquotienten widerspiegelt, sondern darum, was in uns vorgeht, wie wir uns fühlen, welche Persönlichkeit uns auszeichnet, wie wir mit anderen Menschen in Kontakt treten. Das alles sind seelische Inhalte, die zwar in Wechselwirkung mit geistigen treten können, grundsätzlich jedoch vom Geistesraum getrennt sind.
Im Folgenden geht es um Ihr seelisches Wohlbefinden, was ich der gebräuchlicheren Ausdrucksweise wegen also meistens als »mentale Gesundheit« bezeichne.
Das Thema mentale Gesundheit der Ärzte ging maßgeblich von den USA aus. In den frühen 1970er Jahren alarmierten sowohl die hohen Suizidquoten als auch Suchtprobleme die American Medical Association (Carr et al. 2017).
Letztlich war dies die Initialzündung für strukturierte Programme, die heute in den USA in jedem Staat etabliert sind, sogenannte PHPs (Physician Health Programs). Hinter dem Namen verbergen sich – in stufenweiser Verschärfung – Zwangsmaßnahmen, welchen sich Ärzte mit Abhängigkeitserkrankungen oder anderen Gesundheitsproblemen, die die Qualität ihrer Berufsausübung beeinträchtigen können, unterziehen müssen. Die PHPs sind inzwischen hoch effektiv und beinhalten die Möglichkeit, Ärzten ihre Approbation zeitweise oder ganz zu entziehen, um sie zur Behandlung zu »motivieren«. Dabei fungieren die PHPs wie eine Art Supervisor; die tatsächliche Diagnosestellung und Behandlung erfolgen nicht durch sie. Eine echte Freiwilligkeit ist nicht gegeben, aber das Argument, die Patientensicherheit stünde über allem, wird effektiv mit folgendem Argument unterstützt: saving lives, families, and careers (in Carr et al. 2017). Ein Netzwerk, das unterschiedliche Ebenen einbezieht (Kollegen in der gleichen Praxisgemeinschaft, Kollegen und andere Mitarbeiter im Krankenhaus, Familienangehörige, staatliche Kontrollstellen), sorgt für wirkungsvolles Eingreifen. Auch Selbstanzeige ist möglich und wird in 26 % der Fälle genutzt. Gemeldet werden am häufigsten Suchtkrankheiten, psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten, kognitive Störungen und sexuelle Übergriffe.
Mit dem Artikel »The sick physician« gab die American Medical Association im Jahr 1973 (AMA 1973) den entscheidenden Impuls für ein neues Fach – das der Ärztegesundheit. Anlass für den Artikel waren immer häufiger diagnostizierte Abhängigkeitserkrankungen bei den Ärzten, die sich selbst und ihren Patienten dadurch schadeten. Zudem lag die Suizidquote bei Ärzten weit über dem Durchschnitt. Erst im Laufe der Zeit kamen neue Inhalte für das Fach Ärztegesundheit dazu. Seine Inhalte hängen also mit den jeweiligen aktuellen Entwicklungen zusammen. So führten in den letzten zwei Jahrzehnten die Veränderungen der finanziellen und organisatorischen Bedingungen dazu, dass Ärzte vermehrt in eine gesundheitliche oder berufliche Krise kamen, weshalb in den USA seither ein umfangreiches Angebot für betroffene Helfer besteht. Berufs- und Karriereberatung, Coaching, Burnoutberatung, Motivationstraining und präventive Maßnahmen, auch für die seelische Gesundheit, sind dort erheblich verbreiteter als hierzulande. Offenbar wurde dort schon längst verstanden: Seelische Gesundheit muss höchste Priorität im öffentlichen Gesundheitswesen und in öffentlichen Gesundheitsprogrammen erhalten (Whiteford et al. 2013).
Inzwischen hat sich die deutsche Ärzteschaft auch zu der Überzeugung durchgerungen, mehr auf die eigene Gesundheit und die der Kollegen zu achten und gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern und Arztpraxen zu fordern (Richter-Kuhlmann 2019a).
Damit folgt sie der 2017 überarbeiteten Genfer Deklaration, dem ärztlichen Gelöbnis, in welchem es heißt: »Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.« In welche Falle die Verfasser dieses Gelöbnisses damit gegangen sind, wird in Teil III des vorliegenden Buches erläutert.
Es ist vermutlich sinnvoll, wenn Sie sich gleich jetzt Ihre aktuelle Situation verdeutlichen. Entweder werden Sie dadurch erkennen, mit welchem gebotenen Gleichmut Sie das Buch lesen sollten – oder es wird Ihnen noch deutlicher, warum Sie gerade angefangen haben, es zu lesen.
Übung 1.1: Arbeitsbedingungen und mentale Gesundheit
Bitte zählen Sie nun, wie viele der folgende Fragen Sie mit »ja« beantworten können (nach Milner et al. 2017). Antworten Sie spontan und ehrlich.
Arbeitsanforderungen
Es ist schwierig, mir eine Auszeit zu nehmen, wenn ich möchte.
Meine Patienten haben unrealistische Erwartungen, wie ich ihnen helfen kann.
Die Mehrheit meiner Patienten hat komplexe gesundheitliche und soziale Probleme.
Ich habe nicht genug Zeit für ein persönliches Studium, für meine Fortbildung.
Arbeitskontrolle
5.Ich habe zu wenig Freiheit, über meine eigene Arbeitsweise zu entscheiden.6.Ich habe zu wenig thematische Abwechslung in meiner Arbeit.7.Der Umfang der mir übertragenen Verantwortung belastet mich.Soziale Unterstützung bei der Arbeit
8.Ich habe eine schlechte Unterstützung im Sinn eines Netzwerks mit anderen Ärzten.Belohnungen für die Arbeit
9.Für meine gute Arbeit bekomme ich keine ausreichende immaterielle Anerkennung.10.Meine Bezahlung stellt mich nicht zufrieden.Arbeitszeit
11.Ich arbeite in der Regel mehr als 40 Stunden pro Woche.Unvorhersehbare Arbeitszeit
12.Die Stunden, während denen ich arbeiten muss, sind unvorhersehbar.Balance
13.Die Balance zwischen meinen persönlichen und beruflichen Verpflichtungen ist unzureichend.Familie
14.Ich bin in meiner Beschäftigung und/oder in der Zeit und in den Stunden, in denen ich arbeite, aufgrund mangelnder verfügbarer Kinderbetreuung eingeschränkt.Aggression am Arbeitsplatz
15.Manche Mitarbeiter oder Kollegen am Arbeitsplatz empfinde ich als aggressiv.16.Manchmal wirken Patienten aggressiv auf mich.17.Es kommt vor, dass Angehörige oder Betreuer von Patienten mir gegenüber aggressiv auftreten.Erläuterung: Mit dieser Übung werden schlechte psychosoziale Arbeitsbedingungen abgefragt. Diese haben einen wesentlichen Einfluss auf die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden von Ärzten und Therapeuten.
Wie oft haben Sie mit »ja« geantwortet? Wirklich gut sind Ihre Arbeitsbedingungen, wenn Sie keine einzige Frage bejaht haben. Je mehr »ja«, desto schlechter sind Ihre Arbeitsbedingungen.
Die beruflichen Anforderungen für Ärzte und Therapeuten sind immens, wenngleich es gelingen mag, vieles davon letztlich automatisch zu erledigen. Doch es gibt immer wieder klinische Herausforderungen, Spannungen innerhalb von Teams sowie Fragen der Loyalität dem Arbeitgeber, den Patienten, den Kollegen, den Mitarbeitern, der KV, der eigenen Familie und Freunden gegenüber. Auch Mobbing und Stalking sind Themen, mit denen Ärzte und Therapeuten konfrontiert werden. Berufstypische Inhalte wie Leiden, Krankheit oder Tod sind zusätzlich problematisch. Die Belastungen im Arztberuf werden in Kasten 1.1 beispielhaft zusammengefasst (Gold 2019, Richter-Kuhlmann 2019a).
In fast allen Studien weltweit wird die steigende Arbeitsbelastung der Ärzte bemängelt. Dabei werden die zunehmende Bürokratie, die ausufernden Dokumentationspflichten und die allgemeinen Managementaufgaben beklagt, ebenso die immer schwerer zu erfüllenden Erwartungen von Patienten. Nicht zuletzt hindert das Helfersyndrom viele Ärzte daran, sich auf moderate Arbeitszeiten zu beschränken (Svedahl et al. 2019).
Kasten 1.1: Typische Belastungen im Arztberuf
Strukturelles, Organisatorisches, Materielles
Arbeitsverdichtung
Fehlende Unterstützung durch Fakultät oder Arbeitgeber
Kostendruck
Lange Arbeitszeiten, Nichteinhaltung von Arbeitszeitregeln
Mangelhafte Beteiligung von Ärzten an organisatorischen Entscheidungen
Nachtdienste (und deren Auswirkungen wie Schlafstörungen)
Nichteinhaltung von Arbeitsschutz
Organisationschaos
Personalmangel
Rotation zwischen verschiedenen Arbeitsstellen
Zeitdruck
Zu geringe Fachstandards in der Einrichtung, in der man gerade arbeitet
Zu hohe Arbeitsbelastung (also Arbeitsmenge je Zeiteinheit)
Inhalte des Berufs
Ausufernde Dokumentationspflichten, dadurch das Gefühl, stets mit einer statistischen Mitte verglichen zu werden: Verlust der Anerkennung von Individualität
Beschränkter Einfluss auf den Krankheitsverlauf
Erleben von Zynismus anderer Ärzte
Gefühl, als Verwaltungsangestellter tätig zu sein (teils weniger als 20 % der gesamten Arbeitszeit mit Patienten): Zunahme berufsfremder Tätigkeiten
Notdienste
Risiko für Kunstfehler
Typische berufliche Herausforderungen (wie Umgang mit Leid und Tod)
Verlust von Handlungsautonomie: als hoch empfundener Fremdeinfluss
Zu hohe zeitliche Belastung durch Verwaltungstätigkeiten
Beziehungsthemen
Belästigung von Patienten, Angehörigen, Ärzten und anderen (verbal, körperlich, sexuell)
Fehlende Kooperation zwischen Pflege und Ärzten oder Therapeuten (und Studierenden)
Probleme sozialer Art auf gleicher Hierarchieebene oder zu höheren Hierarchieebenen
In einer Studie mit hoher Antwortrate (84,6 %) konnten Daten von 3695 Ärzten ausgewertet werden, die vor Jahrzehnten (1974 und 1979) ihre Approbation erhielten (Smith et al. 2017). Die Ärzte sollten die Frage beantworten, ob ihre Arbeit als Arzt irgendwelche Nebenwirkungen auf die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden hat oder hatte. 44 % bejahten dies, noch höher war die Quote bei niedergelassenen Allgemeinmedizinern. Als Nebenwirkungen wurden von 45 % Krankheit angegeben und von 75 % wurden eine gestörte Work-Life-Balance, Stress oder Arbeitsbelastung genannt. Gewichts- oder Alkoholprobleme wurden von 9,2 % benannt, die Patienten nervten 9,1 %. Altersbedingte Belastungen wurden mit 2,8 % selten erwähnt.
Das Interessante an der Studie ist ihr gezielt in die Vergangenheit gerichteter Blick. Drei Viertel aller Ärzte meinten, dass ihr Beruf über einen langen Zeitraum zu negativen körperlichen oder seelischen Auswirkungen beigetragen hat.
Die Mehrzahl der Studien zum seelischen Wohlbefinden von Ärzten weist einen zu kurzen Beobachtungs- oder Nachbeobachtungszeit auf. Eine Ausnahme war eine Studie, die über neun Jahre prospektiv die Arbeitsbelastung und deren Effekte von (zu Anfang der Studie) 5000 Ärzten untersucht hat (Aalto et al. 2018). Das eindeutige Ergebnis: Zunehmende Arbeitsbelastung führt zu immer stärker empfundenem Disstress, Schlafproblemen und eingeschränkter Arbeitsfähigkeit. Ein als gut bewertetes Arbeitsklima im Team und funktionierende gegenseitige kollegiale Unterstützung wirkten dem entgegen, dies jedoch nicht bei älteren Ärzten.
Auch Ärzte und Therapeuten, die nicht in der Notfallmedizin arbeiten, sind möglichen Traumatisierungen ausgesetzt (Kasten 1.2, nach Morganstein et al. 2017).
Kasten 1.2: Traumata in helfenden Berufen
Angriff auf den Arzt oder die Einrichtung
Behandlung schwerkranker Kinder
Exposition mit chemischen, radiologischen oder infektiösen Agenzien
Familienmitglieder betroffen (oder in Gefahr)
Gewalt am Arbeitsplatz
Komplikationen (auch unerwartete) während einer Behandlung
Kunstfehler
Plötzlicher oder unerwarteter Tod von Patienten
Tod von Kindern
Unglücke, menschengemacht und in der Natur, mit diesen Folgen:
Entscheidung, wer behandelt wird und wer nicht
Schwerstverletzte
Unzureichende Ressourcen zur Behandlung aller Kranken
Viele Patienten auf einmal
Die Verarbeitung von Traumata gleicht grundsätzlich der von Stress anderer Genese. Manche Ärzte reagieren mit gesundheitsschädlichem Verhalten wie Rauchen, Alkoholkonsum, auch mit Überaktivität; Überfürsorge tritt auf. Änderungen des Schlafverhaltens in jeder Weise sind möglich sowie leichte Reizbarkeit, Vermeidungsverhalten, soziale Isolierung oder abnehmendes Gespür für Gefahren. Weiterhin können seelische Erkrankungen entstehen, allen voran Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (Morganstein et al. 2017), Depression, Angsterkrankungen und persistierende Trauerreaktionen.
Gerade in der Notfallmedizin (Kasten 1.3; nach Howard et al. 2018 und Bergner 2018b) gibt es oftmals Grenzerfahrungen. Am stärksten traumatisiert fühlen sich Ärzte durch Verletzungen, Erkrankungen und den Tod von Kindern. Für Therapeuten und Psychiater gilt dies beim Suizid eines Patienten, wobei innerhalb eines 15-Jahres-Zeitraums etwa die Hälfte aller mit einem solchen Ereignis konfrontiert wird (Ruskin et al. 2004), somit zwei- bis dreimal im Laufe eines Berufslebens.
Die Belastungen wirken auf drei unterschiedlichen Ebenen. Die erste Ebene ist der Krankheitsfall als solcher, sei es, dass der Arzt einen innerlichen Bezug spürt, die Last der Verantwortung wahrnimmt oder an den Tod, eben auch den eigenen, erinnert wird. Dann gibt es die Ebene der seelischen und psychosomatischen Folgen. Hierzu zählt die Posttraumatische Belastungsstörung; auch klagen viele Notfallärzte über Gewichtsprobleme. Die dritte Ebene ist die der Beziehung – die Tätigkeit des Notfallmediziners geht an Freunden und der Familie kaum spurlos vorbei. Immer wieder wird über einen sozialen Rückzug von Notfallärzten berichtet.
Es gibt mehr als genug Belastungen in Helferberufen. Es ist auch deshalb dringend notwendig, die Helfer von allen Tätigkeiten zu entlasten, die kein Medizinstudium erfordern wie die meisten Dokumentationspflichten. Man kann sich auch fragen: Warum finanziert ein Staat zunächst für hohe Kosten ein Studium, um dann von den entsprechend »teuren« Ärzten untergeordnete Tätigkeiten zu verlangen?
Kasten 1.3: Belastende Inhalte in der Notfallmedizin
Opfer aufgrund von …
Brand
Gewalttaten
Suizidversuch
Unfallopfer sind …
ärztlich oder therapeutisch tätige Kollegen
dem Arzt persönlich bekannt (Bekannte, Verwandte)
Kinder oder Jugendliche
Einsätze, die sich auszeichnen durch …
ernsthafte Bedrohung der Einsatzkräfte
eigene Verletzungen
hohe Anforderungen an Konzentrations- und Handlungsfähigkeit
starke Sinneseindrücke (Schreie, Gerüche, Anblicke)
tatsächliche oder empfundene Hilflosigkeit des Arztes
Verletzung oder Tod anderer
Inhalte wie …
Todesnachricht überbringen müssen
Triage: entscheiden müssen, wer überlebt
Manche Ärzte neigen dazu, sich ausschließlich als Ärzte wahrzunehmen. Das dürfte bei Therapeuten kaum anders sein und kann kritisch werden, wenn die Praxis- oder Kliniktätigkeit altersbedingt zu Ende geht. Manche fühlen sich dann schuldig, weil sie ihre Patienten nicht mehr selbst betreuen können. Das gehört hinterfragt. So wie es in Top-Führungspositionen innerhalb von Stunden möglich ist, eine andere Person die Rolle übernehmen zu lassen, geht dies sehr wohl auch bei Ärzten; allerdings eingeschränkter bei Therapeuten. Gewiss, die persönliche Bindung und Beziehung ist ein wesentlicher Tragpfeiler einer Behandlung. Aber wer sagt, dass ein Nachfolger eine solche Bindung nicht auch aufbauen kann? Wer einen Übergang seiner Tätigkeit auf einen fachlich und menschlich geeigneten Nachfolger organisiert hat, hat keinen Grund für Schuldgefühle. Das ändert gewiss nichts daran, dass manch einer vielleicht traurig ist, weil er seine Patienten nicht mehr begleiten kann.
Dabei spielen andere Beziehungen des Arztes und Therapeuten eine noch grundlegendere Rolle. Je früher darüber innerliche Klarheit herrscht, umso besser: Eine liebevolle Beziehung (im Sinne der Partnerschaft) ist für die meisten Menschen ein Quell von Freude, Zufriedenheit und Erfüllung, vermutlich mehr als es ein Beruf leisten kann (Vaillant 2012). Für diese Beziehung braucht es eine Ressource, die kein Mensch erschaffen kann. Man kann sie sich nur nehmen: Zeit.
Die emotionale Kraft, die der akademische Helferberuf fordert, konnte früher, als nur der Mann berufstätig war und die Ehefrau ihm zu Hause den Rücken freihielt, zu Hause vermutlich rasch geschöpft werden. Das Rollenmodell ist erfreulicherweise längst überholt, doch daraus mag sich das Problem ergeben haben, dass nun Ärztin und Arzt, Therapeutin und Therapeut im Privatbereich durch die Doppelbelastung weniger oder gar nicht mehr auftanken können.
Man muss zwischen der messbaren, zeitlichen Arbeitsbelastung und dem subjektiv empfundenen Arbeitsdruck unterscheiden (Kleiner & Wallace 2017). Wohl jeder Arzt und jeder Therapeut kennt die manchmal kaum auszuhaltende Diskrepanz zwischen der verfügbaren Zeit für einen Patienten und der eigentlich notwendigen. Dem Subjektiven kommt bei mentalen Erkrankungen eine Schlüsselrolle zu. Das Subjektive dominiert das Objektive. Wie stark man sich vom Zeitmangel unter Druck setzen lässt, wie sehr man versucht, mehr in eine Stunde zu packen, als man bewältigen kann, hat größere Bedeutung als konkrete Wochen- oder Tagesarbeitszeiten. Es gibt auch Hinweise darauf, wie beruflicher Zeitdruck verhindert, dass Ärzte sich in ihrer Freizeit zu Hause erholen können. Und auch schwelende private Konflikte können durch diesen Zeitdruck an die Oberfläche gelangen:
Bei einer Untersuchung von Psychiatern und Psychotherapeuten, Anästhesisten und Intensivmedizinern sowie Zahnärzten waren in allen drei Gruppen Frauen bis zu doppelt so häufig ledig wie Männer. Sie hatten zudem seltener Kinder. Die männlichen Ärzte oder Therapeuten hingegen arbeiteten pro Woche in allen Fachrichtungen mehr als die weiblichen, die – vielleicht auch als eine Konsequenz daraus – seltener leitende Positionen besetzten. Dagegen waren sie häufiger emotional erschöpft und depressiv (Gießelmann 2019).
Die Arbeitszeiten für Ärzte sind auch heute noch inakzeptabel hoch. In einer Studie wurden bei Chirurgen im Mittel 84,3 Wochenarbeitsstunden gemessen, im Schnitt bei Internisten und Neurologen 69,2 Stunden. Entsprechend fehlt es an Schlaf: Chirurgen schliefen im Mittel 5,9 Stunden, Internisten und Neurologen 6,9 Stunden pro Tag (Mendelsohn et al. 2019).
Eine Studie mit niedriger Rücklaufquote von 37 % zeigte: 66 % der antwortenden Internisten waren zufrieden mit ihrer Arbeit und ebenso viele würden denselben Beruf wieder ergreifen – obwohl 71 % mehr als 50 Stunden pro Woche arbeiteten und 21 % mehr als 60 Stunden. Dementsprechend meinten 70 %, sie hätten nicht genug Zeit für ihr Privat- und Familienleben (Cohen Aubart et al. 2020).
Ärzte möchten anteilig mehr und qualitativ hochwertige Zeit mit ihren Patienten verbringen. Dies ist nur durch eine geringere Taktung (also weniger Patienten pro Zeiteinheit) und eine erheblich geringere Belastung mit nichtärztlichen Tätigkeiten wie Verwaltung möglich (Patel et al. 2018).
Wenn Ärzte ihren Ruhestand planen, dann auch, weil sie sich bestimmten Anforderungen nicht gewachsen fühlen. In einer Studie mit 3222 Anästhesisten, die älter als 50 Jahre waren, gab die Mehrzahl an, die Rufbereitschaften seien der Hauptgrund für die Planung des eigenen Ruhestandes (Orkin et al. 2012).
Man mag zwei Lager in der Ärzteschaft ausmachen. Die einen, ich nenne sie Traditionalisten, bleiben dem Berufsbild des sich aufopfernden, seine Berufung lebenden Arztes treu. Die anderen, ich nenne sie Deprofessionalisierer, möchten die akademischen Helferberufe zu einem Job machen, der mit anderen Berufen vergleichbar ist. Nur: mit welchen? Ich kenne keinen Beruf, der so zentral für das Wohl des Menschen werden kann und der eine so langjährige Ausbildung und Erfahrung erfordert. Gewiss, es lässt sich trefflich darüber streiten, ob dieser Beruf denn gleich eine Berufung sein muss. Aber mehr als ein Job sind der Arzt- und der Therapeutenberuf allemal. Dies bedeutet allerdings keinesfalls, dass nicht strikt auf Wochenarbeitszeitvorgaben geachtet werden sollte, damit neben dem Beruf ein hoffentlich ebenso erfüllendes Privatleben möglich wird.
Der Begründer der Stressforschung, der Arzt H. Seyle, sagte einmal: »Arbeitsüberlastung und stete Verfügbarkeit werden für jemanden, der den ärztlichen Beruf liebt, tausendfach kompensiert durch die Befriedigung, welche die Erfüllung dieser Aufgaben ihm schenkt« (zit. in Kesebom 2008). Ich hoffe, dass auch Hardcore-Traditionalisten über diese Aussage nur den Kopf schütteln können, impliziert sie doch, dass sich Menschen freiwillig einer Überlastung und ständiger Verfügbarkeit aussetzen, was als Masochismus bewertet werden kann. Es kommt immer auf das richtige Maß an, und hier ist es eindeutig überschritten, hier handelt es sich um selbstmissachtende Grenzverletzungen.
Das alles mag bei der Berufswahl keine bewusste Bedeutung besitzen. Die Antwort auf die Frage, weshalb Sie den Beruf als Arzt oder Therapeut ergriffen haben, mag Ihnen leichtfallen. Ob diese Antwort einer kritischen Analyse standhält, ist zweifelhaft. Einige meiner ärztlichen Klienten hatten letztlich ein zu schlechtes Bild von sich selbst, weil sie dachten, ihre materielle Absicherung, ihr Interesse an den Berufsinhalten oder der gesellschaftliche Status hätten ihre Berufsentscheidung maßgeblich beeinflusst. Dabei ist gerade eine Berufswahl für helfende Berufe meist komplex und kann mit einer prägenden Situation in der Kindheit oder Jugend in Verbindung gebracht werden. Wer verstanden hat, warum er tatsächlich diesen und keinen anderen Beruf gewählt hat, kann einen anderen Zugang zu seinen Gefühlen, die im Kontext mit der Berufsausübung entstehen, finden.
Der Zusammenhang zwischen der Berufswahl Arzt oder Therapeut und der persönlichen oder familiären Vorgeschichte ist oft nicht leicht zu verstehen. Je intensiver sich ein Arzt oder Therapeut mit seiner eigenen Vorgeschichte befasst, umso klarer wird, worum es ihm tatsächlich dabei geht oder ging. In aller Regel erfolgt diese Wahl aufgrund von Erfahrungen als Kleinkind, Kind oder Jugendlicher. Es gibt überaus häufig familiär bedingte frühe Erfahrungen der späteren Ärzte. Nicht wenige haben sich jedoch die Frage, warum sie einen dermaßen fordernden Beruf überhaupt ergriffen haben, noch nie gestellt oder beantwortet. Es geht dabei nicht immer nur darum, helfen zu wollen (vom Grundsatz her sich selbst helfen zu wollen), auch Ängste, Schuldgefühle, Nachgeben aufgrund des Drucks der Eltern und andere Inhalte der eigenen Biografie spielen eine Rolle. Manche mussten früh Erfahrungen eigener Hilflosigkeit durchmachen, der gewählte Beruf stellt dann so etwas wie der Versuch einer späten Heilung dar. Bei solch einer persönlichen Konstellation jedoch vom Schicksal und den Krankheitsverläufen vorgeführt zu bekommen, dass Leid, Schmerz, Tod, das Unaufhaltsame und Unvollkommene einen Gutteil des Lebens ausmachen, stellt die Berufswahl auf eine harte Probe.
Wer sich ohnmächtig fühlt, strebt gerne nach Macht. Auch unter diesem Metaaspekt kann eine Berufswahl verstanden werden. Ohnmacht als Kind und Jugendlicher ist immer wieder ein Anlass für Menschen, machtvolle Berufe anzustreben, zu denen ohne Zweifel der ärztliche und der therapeutische gehören.
Hinter dem Wunsch zu helfen stecken meistens zwar keine materiellen Beweggründe, aber auch keine wirklich hehren, eher eigene Enttäuschungen in der Kindheit. Man will dann quasi anderen das geben, was man früher selbst vermisst hat, und glaubt, nun in der machtvollen Position zu sein. Der Helfer degradiert – unbewusst – den Hilfesuchenden in eine Ohnmachtssituation, die durch die Anstrengungen des Helfers überwunden werden. Die Patienten werden dann unbewusst instrumentalisiert. Letztlich helfen sie dem Helfer, kindliches Leid scheinbar zu lösen. Dies wird in Abschnitt 3.2.1 noch weiter ausgeführt.
Historisch gehen viele der ungeschriebenen Regeln der Medizin auf den Stoizismus zurück, haben also ihre Wurzeln vor mehr als 2000 Jahren in Griechenland (Papadimos 2004). In der Medizin gibt es ein zum Teil inhaltlich daran adaptiertes, umfangreiches Hidden Curriculum (McFarland et al. 2019), wie es in den USA genannt wird. Gerade weil es nie direkt ausgesprochen wird, frisst es sich durch seinen unterschwelligen Charakter tief ins Unterbewusstsein eines jeden Arztes hinein. Unausgesprochen bleibt mitunter, dass man als Arzt möglichst wenig Rücksicht auf sich selbst nehmen sollte. Wer nun als vermeintliches Gegenbeispiel an einen wohlhabenden Arzt mit seinem Sportwagen denken mag: Das ist oft nichts, was dieser Mensch für sich selbst tut, sondern für die anderen, die ihn in diesem Wagen bewundern sollen. Selbstfürsorge ist vermutlich für die Mehrzahl der akademischen Helfer ein Fremdwort. Zu diesem verborgenen Curriculum zählt auch der Gedanke, übernatürliche Kräfte zu haben. Wie die Corona-Krise mit den furchtbar vielen toten Ärzten und Pflegekräften zeigt, stimmt dies offenbar nicht wirklich.
Bereits während ihrer universitären Ausbildung lernen die angehenden Ärzte weit mehr als medizinische Fakten. Sie erleben täglich, wie berufstätige Ärzte sich geben, was sie sagen und tun, was sie vermeiden. Ärzte haben fast immer eine Antwort, selbst wenn es eigentlich keine gibt. Sie wissen, Zeit ist Geld, und Geld ist knapp. Sie erleben, wie auch heute noch Patienten Ärzte anhimmeln, die Verantwortung für sich selbst gerne abgeben, einerseits blind vertrauen, andererseits aber Zweit- oder Drittmeinungen einholen; wie sie durch das Internet bereits mit (Pseudo-)Wissen versorgt sind und dennoch den leibhaftigen Arzt aufsuchen müssen. In vielfältiger Weise werden Studierende mit dem Hidden Curriculum vertraut gemacht – ein Lehrplan der besonderen Art, der Art, wie man als Arzt oder Ärztin, als Therapeutin oder Therapeut aufzutreten hat. Neben den fachlichen Inhalten werden also Riten und Einstellungen weitergegeben, die längst auf dem Friedhof des Altbackenen bis Überkommenden hätten entsorgt werden müssen. Ob diese Rolle »der Arzt als Halbgott« oder »der Arzt als guter Mensch« oder »Arzt ist, wer dazu berufen ist« lautet, ist letztlich unerheblich. Zudem sind grenzüberschreitende Äußerungen oder Taten, mit welchen die zukünftigen Ärzte bedacht werden, nicht selten.
Es gibt die Fähigkeit, sich an etwas zu gewöhnen, aber für manches gilt eben auch, dass man sich niemals daran gewöhnen sollte.
Wenn wir mit einer negativen Bewertung (»Wie wollen Sie jemals Arzt werden?«, »Wer hat Ihnen denn eingeredet, diesen Beruf zu ergreifen?«, »Manche lernen es nie«) konfrontiert werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir widersprechen. Wenn aber das Negative nicht aufhört, beispielsweise weil Ausbilder wieder und wieder an uns herumnörgeln, leisten wir irgendwann keinen Widerstand mehr dagegen. Wir finden uns damit ab, wir ertragen es, wir dulden es. Das mag bei bestimmten Dingen sinnvoll sein, aber im Beruf ist es das nicht. Es ist einfach nicht richtig, wenn man lange genug im Elend versunken ist, diesen Zustand als gegeben anzunehmen. Wer das tut, folgt dem Prinzip der erlernten Hilflosigkeit. Gerade das ist es aber, was im Hidden Curriculum als Lerneffekt aufgebaut wird, um eine steile Hierarchie zu akzeptieren (Kasten 1.4).
Oft ist die Kommunikation innerhalb der Ärzteschaft aggressiv, dies aber wenig offensichtlich, eben versteckt. Es sind die kleinen »Randbemerkungen«, die bei häufiger Wiederholung wie der stete Tropfen wirken (Smedley et al. 2003): »Ah, der Herr Kollege hat mal wieder die Laborwerte nicht kontrolliert«, »Die Frau Kollegin hat vermutlich den Brief noch nicht diktiert?«
Arzt zu sein hat noch immer etwas mit dem Mythos zu tun, alles zu wissen, unantastbar zu sein und zugleich attraktiv zu wirken. Es sind also Illusionen, mit denen auch heute die im Heilwesen Tätigen agieren und denen sich ihre Patienten gerne hingeben. Wenn aber Vertrauen auf einer Form von Mythos basiert, ist es dann erwachsen? Es hat ein wenig von einem kleinen Kind, das seine Mutter und seinen Vater als allwissend und allmächtig sieht, vielleicht sehen muss, um sich sicher zu fühlen. Ärzte haben nicht die Aufgabe, mangelnden Selbstwert ihrer Patienten auszugleichen. Therapeuten können daran arbeiten, aber mit den Themen des Patienten und nicht mit Mythen.
Das auch heute noch zentrale Ausbildungsfach der Vorklinik, also der ersten vier Semester im Medizinstudium, ist der Anatomiekurs. Als ich vor 40 Jahren den Sektionssaal der Universitätsklinik Erlangen erstmals betrat, erwarteten mich dutzende grüngraue, Formaldehyd ausdünstende Leichname – ein ungewohnter Anblick, die Aura des multiplen, konservierten Todes. Spielchen wie sich mit Gedärmen behängen oder Augapfelweitwurf hatten wir uns alle verkniffen; wir waren seriös und mit Achtung vor den Menschen tätig, die sich für unsere Lernaufgaben zu Lebzeiten zur Verfügung gestellt hatten.
Schon bald nach dem Beginn des Medizinstudiums stehen die Anatomiekurse auf dem Lehrplan. Die zukünftigen Ärzte werden so mit lebensbeendenden Erkrankungen und dem Tod konfrontiert, wenngleich durch die Art der Konservierung eine gewisse, quasi chemische Distanz zu diesen Themen erreicht werden mag. Außerdem stellen die bei den Kursen gemachten Erfahrungen auch eine Möglichkeit dar, eigene Schutzmechanismen aufzubauen, um das Erleben von Tod und Leid nur bis zu einer gewissen inneren Grenze zu erlauben. Wer es im Lauf der Zeit nicht schafft, entsprechende Bewältigungsstrategien zu etablieren, wird auf Dauer Probleme mit dem Arztberuf haben. Die Balance zwischen innerer Mauer einerseits und Empathie andererseits zu wahren, kann schwerfallen. Je stärker die Abwehr der negativen Eindrücke, desto geringer die Empathie (McFarland & Roth 2016).
Trotzdem sind diese Kurse ein markanter Bruch im Leben eines Menschen, der Arzt werden will. Denn das Sezieren von Leichen ist – auch wenn es fachgerecht ausgeführt wird – ein absoluter Tabubruch, der aber im Anatomiekurs gesellschaftlich-normativ legitimiert ist. Wesentliches, was die jungen Studierenden bis zu diesem Zeitpunkt zivilisatorisch gelernt hatten, müssen sie auf einmal verdrängen, ihre eigenen Hemmungen und Schüchternheit beherrschen, um dann ins nasskalte Fleisch eines Menschen zu schneiden. Dieser Kurs ist wie eine Blaupause für das zukünftige Leben als Arzt; die Einübung von gezielten Grenzüberschreitungen, wie sie bei jeder Blutabnahme, bei jeder Injektion und Operation notwendig sind. Der Anatomiekurs wirkt wie eine Initiation, in welcher es auch darum geht, sich selbst beherrschen zu lernen und die eigenen Bedürfnisse (wie alles abzubrechen) zu missachten. Beim Anblick der unbeweglichen Leichen sind viele der Studierenden innerlich bewegt. Sie lernen trotz von außen kommenden, belastenden Eindrücken, handlungsfähig zu bleiben – das Ganze in der Aura der Metaebene des Todes, den die Leichen auch repräsentieren. Der Tod ist da und nah, und dennoch arbeite ich weiter – eine der Botschaften dieses Kurses. Eine andere lautet: Etwas, das mir bislang unmöglich erschien, bin ich fähig zu tun; eine erste Andeutung des »erhabenen« Status als Arzt, ein erstes Aufflackern von Omnipotenzgehabe. Es ist aber auch ein erstes Verlangen der direkten Umgebung, nicht mitzuteilen, wie es in uns selbst tatsächlich aussieht. Eine Anleitung für die Unnahbarkeit und das Schauspiel des Arztes – ein Schauspiel, das durchaus auch von der Gesellschaft erwartet, ja abverlangt wird: Ärzte werden nicht krank, sie sind unverwundbar. Dieses Bild wird auch nicht aufgegeben, wenn wie bei der Corona-Pandemie hunderte Ärzte an dem Virus sterben. Implizit wird erwartet, dass ein Arzt allen Krankheiten gegenüber immun ist, zumindest aber sich bis zur Heilung selbst helfen kann. Nichts davon entspricht der Realität eines ebenso verletzlichen Menschen, der man als Arzt oder Therapeut ist.
Eine der sich durch den ärztlichen Beruf hindurchziehende, verborgene Botschaft ist: Bestehende Grenzen, die für andere gelten, sind, wenn man Arzt geworden ist, nicht mehr zu akzeptieren. Ein Arzt hat das Recht, Grenzen zu verletzen – das ist deshalb fatal, weil nicht wenige Ärzte dies auch gegen sich selbst einsetzen, ihre eigenen Leistungsgrenzen missachten oder die Grenzen, wie viel einer Droge ihr Körper zu verarbeiten fähig ist. Überspitzt formuliert: Wer Leichen zerlegen kann, schafft alles andere auch – eine fatale Fehleinschätzung und auch eine unnötige, weil selbstzerstörerisch wirkende Vorstellung. Denn gerade für Ärzte und ebenso für Therapeuten gilt: Ihre Fähigkeit, Grenzen rechtzeitig und korrekt wahrzunehmen und zu achten, ist zentral für den Erfolg ihrer Tätigkeit.
Auch heute gehört zum Hidden Curriculum die Botschaft an junge Ärzte, ein kontinuierliches Überforderungsgefühl sei einfach ein Bestandteil des ärztlichen Tuns: »Viele Ärzte arbeiten in einem Zustand, in dem sie eigentliche Patienten sind« (Christoph Freiherr Schoultz von Ascheraden in Richter-Kuhlmann 2019a).
Die Furchtlosigkeit, die für viele ärztliche (invasive) Eingriffe nötig ist, ist erlernt. Sie widerspricht dem Wesen so manches Arztes. Der Grund liegt darin, dass sich gerade besonders sensible Menschen ihrer Zartheit schämen und als Gegenbeweis eine besonders »harte« Haltung nach außen tragen.
Inhalte, bei denen es um die Gefühle und um das Befinden des Arztes geht, kommen im Rahmen des Medizinstudiums und auch in der Facharztausbildung de facto nicht vor. Alles dreht sich um Diagnostik und Therapie, die Lebensqualität des Patienten kommt erst an zweiter Stelle – aber die des Arztes spielt praktisch keine Rolle. Selbstachtung und Beachtung der eigenen inneren Welten sollten jedoch einen wichtigen Stellenwert für den Arzt haben. Das sollte er sich sozusagen wert sein.
Die zentralen Aussagen des Hidden Curriculum sind in Kasten 1.4 zusammengefasst.
Kasten 1.4: Die Kernaussagen des Hidden Curriculum
Alles bleibt bei dir und deiner Berufsgruppe.
Deine Gefühle spielen keine Rolle.
Deine obersten Werte haben zu sein: Idealismus, Altruismus, Selbstaufopferung und Selbstlosigkeit.
Der Zweck der Wissenschaft(-lichkeit) heiligt alle Mittel.
Du bist immer freundlich und zugleich unantastbar.
Du darfst Grenzen verletzen.
Du hast dich strikt an die vorhandenen Hierarchien zu halten.
Du hast für deine Patienten immer eine Antwort oder Lösung.
Du nimmst alles ernst – zumindest nach außen.
Du nimmst keine Rücksicht auf dich: Der Patient kommt immer zuerst.
Du stehst über vielen Dingen, meistens auch über dem Tod.
Du wirst den Mund halten, wenn immer möglich.
Fachliche Geheimnisse wirst du strikt für dich behalten.
Übermäßige Anforderungen sind dir abzuverlangen.
Wenn du Angst hast, zeigst du sie nicht.
Wenn du von einem Hierarchiehöheren angegriffen wirst, musst du es hinnehmen.
Die im Hidden Curriculum festgelegten Regeln bilden zusammen mit den individuellen Bedingungen – der Persönlichkeit und der Vorgeschichte – und den äußeren Bedingungen der Organisation das Trio infernale für mentale Krankheiten des Arztes (siehe Teil II des Buches).
Da das verborgene Curriculum sehr drastische Auswirkungen haben kann, ist es sinnvoll, bereits im Medizinstudium wichtige Änderungen zu etablieren, um die mentale Gesundheit von Ärzten langfristig zu verbessern. Diese Änderungen sind in Kasten 1.5 (nach Dyrbye et al. 2005) zusammengefasst.
Kasten 1.5: Sinnvolle Änderungen im Medizinstudium
Änderung von Bewertungsmaßstäben bei Prüfungen
Bereitwillige Integration junger Ärzte in universitäre Strukturen
Offenbaren des Hidden Curriculum und Abstimmen seiner Inhalte auf moderne Zeiten, also Aufgabe der meisten seiner Inhalte
Gesundheitserziehung für den Studierenden selbst
Wagen von mehr Autonomie
Einsatz von Mentoren
Einführen von Programmen zum Stressabbau
Einführen von Programmen, um Lernen zu lernen
Einschränken der Konkurrenz untereinander
Es gibt einen schlichten Grundsatz, der lautet: Wer das Geld kontrolliert, kontrolliert das System. Bis in die 1980er Jahre hinein war der Chefarzt einer Klinik zugleich der Oberste der Verwaltung. Er entschied über Einstellungen und Personalfragen, zumindest, was Ärzte anging. Dann wurden Verwaltungsleiter eingestellt, offiziell, damit sich der (Chef-)Arzt ganz auf seine ärztliche Tätigkeit konzentrieren könne. Abgesehen von der Perfidie, später dann überbordende Dokumentationspflichten einzuführen, welche weniger Zeit für die eigentliche ärztliche Tätigkeit ließen, war der Schritt, den Ärzten die Verwaltung und Personalverantwortung zu entziehen, eine Machtbeschneidung. Dieser schleichende und bis heute nicht beendete Machtentzug hat für Ärzte und Therapeuten negative Auswirkungen: Sie fühlen sich zu Recht fremdbestimmt, ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung von Burnout, wie in Kapitel 5 erläutert wird.
Dennoch gibt es im Alltag noch eine ganze Reihe von Machtinsignien, mit denen sich Ärzte für die Patienten schmücken können. Diese sind in Kasten 1.6 dargestellt (Bergner 2010).
Kasten 1.6: Ärzte und ihre Machtinsignien
Edle Praxisausstattung oder -lage
Hierarchie (Chef- oder Oberarzt)
Internetauftritte
Interviews für Publikumsmedien
Listenplätze der angeblich besten Ärzte des Landes
Mitgliedschaft in »teuren« Vereinen
Prominente als Patienten
Spezialisierung (»Für Haarspitzenkatarrh gibt’s nur einen – Dr. Haarig, zu dem müssen Sie gehen!«)
Stab von Mitarbeitern
Status allgemein
Titel
Teure Geräte wie Laser
Zahl der operativen Eingriffe
Zeitdruck
Die Tätigkeit als Therapeut und als Arzt basiert auf Macht. Wissen und Wissensvorsprung sind Machtvorteile. Ärzte und Therapeuten sind keine Nonnen, Priester oder Pflegekräfte. Die Hilfe und die Entscheidungen, die von ihnen erwartet werden, bedingen eine Machtposition. Gewiss haben sie nichts zu befehlen, sondern sollten verständlich kommunizieren und dem Patienten die Freiheit der Wahl lassen. Dennoch sind die Machtverhältnisse aufgrund des Informations- und Erfahrungsvorsprungs des Arztes oder Therapeuten asymmetrisch. Menschlich auf gleicher Augenhöhe zu sein bedeutet noch lange nicht, dass die Dysbalance in der Dyade Arzt-Patient oder Therapeut-Patient aufgehoben ist. Folgende Machtinstrumente stehen dem Arzt oder Therapeuten zur Verfügung (Bergner 2014), deren Bedeutung auf den ersten Blick verborgen bleiben mag:
Therapieempfehlung
Fast immer führen mehrere Wege nach Rom, auch in der Behandlung von Erkrankungen. Der Patient bekommt vom Arzt oder Therapeuten eine (fachlich fundierte und begründbare) Vorauswahl präsentiert.
Zeit
Auch wenn manche Patienten es verstehen, die ihnen zur Verfügung gestellte Zeit überzustrapazieren, hat grundsätzlich der Arzt oder Therapeut die Macht über die Zeit. Diese wird in den meisten Fällen jedoch nicht derart zur Schau gestellt, wie es von einer früher sehr bekannten Fernsehärztin kolportiert wurde. Sie soll beim Setzen des Patienten auf den ihm zugewiesenen Stuhl eine Stoppuhr gestartet haben mit dem Kommentar, diese Minuten müssten genügen. Auch Patienten mit Termin lange warten zu lassen, kann als Machtdemonstration gewertet werden.
Diagnosevermittlung
Es soll auch heute noch Ärzte geben, welche die Diagnose ganz verschweigen oder deren Bedeutung nicht konkret erläutern. Nur wenn ein Patient vorher erklärt hat, nicht aufgeklärt werden zu wollen, ist dies akzeptabel.
Entscheidung übernehmen
Die Entscheidung über seine Gesundheit und Krankheit hat ein Patient selbst zu treffen, nach vorhergehender, verständlicher Aufklärung durch den Arzt. Zu oft entscheidet letztlich der Arzt, das geschieht auch, wenn er einfach ein Rezept mit dem (fachlich korrekt verordneten) Medikament ausstellt, ohne vorher das Einverständnis des Patienten einzuholen.
Wissensunterschied
Der Arzt oder Therapeut entscheidet immer, was er von seinem Wissen preisgibt und was er für sich behält. Wissen ist Macht, Wissensvorsprung ist Machterhalt. In anderen Berufen ist das ähnlich. Wenn mir der KFZ-Meister sagt, die Lambdasonde an meinem Auto müsse ausgetauscht werden, muss ich ihm vertrauen.
Fachsprache
Es stellt für einen Arzt kein Problem dar, einen Laien mittels Fachsprache zu verwirren oder kleinzureden.
Kommunikationswerkzeuge
Die Möglichkeiten, die sich einem Arzt oder Therapeuten bieten, um zu manipulieren oder Macht auszuleben, sind vielfältig. Einige Beispiele sind loben, ermahnen, auffordern, drohen, flirten, auf andere verweisen, ablenken oder schweigen. Diese Instrumente dienen auch im positiven Sinne dazu, die therapeutischen Ziele zum Wohl des Patienten durchzusetzen. Dennoch sollte dies im Bewusstsein geschehen, damit Macht auszuüben. Grundsätzlich führt kein Patient das Gespräch, sondern der Arzt oder Therapeut. Es zu initiieren, in eine bestimmte Richtung zu lenken, zu unterbrechen oder zu beenden, all das geht fast nie vom Patienten aus.
Doch auch Patienten sind in der Lage, die ihnen zur Verfügung stehende Klaviatur der Macht dem Arzt gegenüber auszuspielen. Das tun sie beispielsweise, indem sie loben, lügen, Inhalte verschweigen, Mitleid einfordern, flirten, ihr langjähriges Vertrauensverhältnis thematisieren, die Möglichkeit des Arztwechsels ansprechen, zweifeln, lächeln oder aggravieren.
Auch wer einen machtvollen Beruf ausübt wie den des Therapeuten oder Arztes, ist de facto machtlos. Unser aller Ohnmacht beginnt spätestens mit unserer Geburt. Sie ist eine tödliche Diagnose, denn jedes Leben endet irgendwann. Macht wird uns also nur zeitweise gegeben, teilweise müssen wir sie uns erarbeiten – ohne Approbation, welche eine Machtbefugnis darstellt, darf kein Arzt tätig werden –, teilweise kommt sie uns einfach zu: wenn wir ein Kind bekommen beispielsweise. Dann werden wir erziehungsberechtigt, was auch erziehungsermächtigt genannt werden könnte.
Macht stammt vom Lateinischen magan ab, was »können« bedeutet. Wer Macht hat, kann etwas bewirken. Macht lässt sich gebrauchen und missbrauchen. Sie selbst stellt an sich kein Problem dar, sondern der Mensch, der nicht korrekt mit ihr umgeht. Man kann zwei Typen von Macht unterscheiden: die äußere, welche durch Insignien und Titel festgeschrieben wird – hierzu gehören auch die Approbation oder ein Doktortitel; und die innere, die auf Standfestigkeit, Begeisterung, Selbstkontrolle, Liebe und Kommunikation, Wissen und Ethik beruht; es handelt sich um die persönliche Autorität (Grieger-Langer 2006 in Bergner 2014). Sie unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von der äußeren Macht: Sie akzeptiert alle anderen mit deren Macht, während äußere Macht nach Alleinstellung strebt und das Wohl des Gegenübers grundsätzlich missachtet. Diese Macht will nicht wahrhaben, endlich zu sein, weil alles Hab und Gut, jeder Besitz, endlich ist.
Wer sich ohnmächtig fühlt und sein Gegenüber als machtvoll, entwickelt meistens Angst. Die wesentliche Angst ist die vor dem Tod, der ja den Verlust jeglichen Besitzes und aller Macht bedeutet, auch wenn manche mittels ihres Testaments danach streben, selbst nach dem Tod die Macht nicht aus der Hand zu geben.
Es genügt, sich einmal ehrlich zu verdeutlichen, dass wir allem Wesentlichen gegenüber machtlos sind – dem Leben und Tod an sich, gleich wie hoch entwickelt die Medizin ist, der Zeit an sich, also mitunter dem Altern gegenüber, und dem Geist an sich, denn kein Mensch kann beispielsweise physikalische Grundgesetzmäßigkeiten ändern. Wer einmal die Wucht des Geistes ahnt, erkennt, dass er als Mensch zwar für sich selbst von großer Bedeutung sein mag, nicht aber für die Welt. Wahrheit befreit, als Erstes von den eigenen Illusionen, deren wir uns bedienen, um unangenehme Inhalte nicht ertragen zu müssen. Wir täuschen uns eine Macht vor, die wir nicht besitzen. So wissen wir alle von der eigenen Sterblichkeit, nur: Wer verhält sich dementsprechend, gestaltet sein Leben bewusst und gezielt mit Inhalten, die zu ihm passen, die ihn erfüllen und zufriedenstellen, und verzichtet auf alles, das diesen Kriterien nicht genügt?
Macht bedeutet auch, Kontrolle zu erlangen. Ohnmacht ist Kontrollverlust.
Macht kann in zwei Richtungen wirken: Sie kann eine Entwicklung verhindern, die eigentlich ansteht, oder eine Entwicklung initiieren, die andere nicht wollen. Deshalb sind alle Veränderungen auch Machtfragen. Aber bereits uns selbst gegenüber sind wir nur sehr eingeschränkt veränderungsfähig. Unsere Identität ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht ändert – Ohnmacht pur. Wir sind wie wir sind, was nicht bedeutet, unser Verhalten nicht ändern oder unser Wissen und unsere Fähigkeiten nicht ausbauen zu können (Bergner 2014).
Als Arzt oder Therapeut tätig zu sein, ist immer wieder auch die Erinnerung an die Machtlosigkeit des Menschen. Wer sich dieser stellt, sie akzeptiert und daraufhin tut, was in seiner Macht steht, kann sein Wirken in gewisser Weise gelassener sehen. Wie schaffen es Ärzte, die eigene Ohnmacht möglichst nicht wahrzunehmen? Indem sie sich mit dem Über-Ich identifizieren. Das bedeutet, ein Arzt richtet sein Tun strikt an Normen aus. Einige Beispiele:
Das Studium ist ähnlich wie Schulunterricht.
Der Chefarzt hat das Sagen.
Es gibt Goldstandards in der Therapie.
Man hält sich im Beruf an Leitlinien.
Da diese Normen so gestaltet sind, dass man sie erfüllen kann, fühlt sich der Arzt immer imstande, tatkräftig zu agieren. Die Orientierung an der Erfüllung von Normen lenkt in dieser Weise vom Schicksal des Patienten ab: »Ich habe getan, was nur möglich war, und alles, was ich tat, entsprach den Regeln.« Das weniger Schöne an dieser Konstruktion: Ärzte sind damit eben zugleich auch ein wenig Marionetten ihrer eigenen Normen und des Gesundheitssystems. Insofern können sich deren »Partner« mit hoher Sicherheit darauf verlassen, dass Ärzte keine von der Norm abweichenden Forderungen stellen. Das ist vielleicht der wesentliche Grund, warum Ärzte bislang keine ausreichende Gegenwehr hinsichtlich ihrer eigenen Demontage ergriffen haben. Sie müssten zuvor die lange gewachsene und sie eben auch unterstützende und schützende Normativität ändern.
Es gibt zwei gleichwertig wichtige Instrumente, welche ein Arzt oder Therapeut nutzt: sein Fachwissen und seine Persönlichkeit. Beide haben Grenzen, auch Belastungsgrenzen, und beide können in gewisser Weise flexibel verwendet werden.
Die Arbeit als Arzt oder Therapeut findet in einem Raum statt, der gefüllt ist mit Erwartungen und Regelungen. Dieser Raum wird von drei Ebenen gebildet:
Ebene 1 sind die äußeren Faktoren, zu denen der Patient mit seinen Erwartungen und seinen Befürchtungen gehört und dessen soziales Umfeld. Es gibt stetig neue Richtlinien des Gesundheitssystems, auch was die Zulassung oder erweiterte Tätigkeitsbereiche angeht. Die Kosten spielen dabei eine zentrale Rolle.
Direkt vor Ort – auf Ebene 2 – sind die Arbeitsbelastung, das Wechselspiel zwischen Autonomie und Kontrollmechanismen bedeutsam, sowie die Unterstützung – oder auch deren Fehlen – von Kollegen und Mitarbeitern. Ihr Verhalten, eher fair oder misstrauisch, wirkt sich ebenso wie die technische Ausstattung und die Art, wie der Arbeitsplatz ausgestattet ist, auf die Behandlung aus.
Die Ebene 3 ist die des Helfers selbst. Wie fit ist er körperlich, seelisch und mental? Kann er, was er können sollte? Wie stark ist seine Resilienz? Hat er genügend Bewältigungsstrategien parat?
In jeder Ebene sind Entscheidungen vom Helfer gefordert und somit Fehler möglich. Fehler werden minimiert, je reibungsloser gearbeitet werden kann. Dazu gehören feste, vertrauensvolle Bindungen innerhalb des Teams. Das gilt in Kliniken genauso wie in Praxen. Fehler, die nicht geschehen, lösen auch keine Scham oder Schuld aus (Leape et al. 2009). In der Tat werden jedoch angstbasierte Motivationen genutzt, um die Fehlerquote des Arztes so gering wie möglich zu halten. So verständlich das auf den ersten Blick scheinen mag, steigert die Angst nur bis zu einem eher geringen Grad die Gewissenhaftigkeit und führt, wenn sie zu mächtig wird, eher zu Fehlern. Es gibt also eine Grenze zwischen Antrieb und (gewolltem) Effekt und Lähmung und ungewollten Auswirkungen. Wenn mit Mitmenschlichkeit und Empathie gelehrt und geführt wird, hält die Motivationssteigerung länger an und die Effektivität des Tuns nimmt über eine bestimmte Zeit zu. Erst bei zu großer Empathie kann sich der Effekt verkehren. Dann liegt eine Grenzüberschreitung zum zu Persönlichen vor. Es gibt somit (Menon & Trockel 2019) einen Bereich der professionellen Zone der Mitmenschlichkeit, der ganz ohne oder allenfalls mit wenig Angst auskommt und der Empathie ein weites Wirkungsfeld lässt (Abb. 1.1).
Abb. 1.1 Die professionelle Zone der Mitmenschlichkeit
Eine Organisation, die Motivation durch Verständnis fördert, bei der sich die einzelnen Teammitglieder wohlfühlen, wird bestmögliche Ergebnisse erzielen. Zum Verständnis gehören auch die Verletzlichkeit des Arztes oder Therapeuten, seine vielleicht gering ausgeprägte Fähigkeit, sich selbst nahe zu kommen, und dessen unzureichende Selbstfürsorge (Kapitel 12).
Patienten haben oftmals Angst, wenn sie sich in ärztliche Behandlung oder Beratung begeben, weil sie nicht wissen, an was sie leiden, was das bedeutet und was auf sie zukommt. Ärzte und Therapeuten hingegen wissen all das meistens und wollen verständlicherweise Fehler vermeiden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Beziehung zwischen Arzt und Patient oft von Angst unterschiedlicher Genese überschattet, ohne dass dies den Beteiligten bewusst werden muss.
Je stärker ein Arzt belastet ist, sei es durch von außen einwirkende Inhalte wie Partnerschaftsprobleme, sei es durch eigene Erkrankungen wie Depression oder Burnout, umso mehr tendiert er dazu, defensive Medizin zu betreiben. Sie zeichnet sich durch unnötige Tests oder Testwiederholungen, (unnötiges) Einholen von Zweitmeinungen oder Zögern bei therapeutischen Entscheidungen aus. Kurzum: Defensivmedizin in diesem Sinn ist teuer.
Viele Ärzte und Therapeuten haben Strategien entwickelt, damit es möglichst niemals zu Fehlern kommt. Abgesehen davon, dass dies ein kindliches Wunschdenken ist, bedeutet es noch lange nicht, unangreifbar zu sein. Die einzige Anzeige, die ich als Arzt in eigener Praxis bekam, war die einer Patientin, welche eine vorab klar und eindeutig besprochene und dokumentierte privatärztliche Behandlung erhielt, diese dann nicht zahlen wollte und es lieber auf einen Kunstfehlerprozess ankommen ließ, den sie prompt verlor, wodurch sie deutlich höhere Kosten hatte. Dennoch, der Moment der Klagezustellung war überaus belastend.
Wie gehen die meisten zur Fehlervermeidung vor? Sie füllen Formblätter aus, richten sich nach Leitlinien, verweisen an andere – wie Unikliniken –, und dies auch, wenn ihnen bereits klar ist, dass es keine wirklich richtige oder passende Behandlung gibt. Sie holen viele und teilweise vollkommen unnötige Laborwerte ein und so fort. Manche Ärzte verzweifeln daran, noch immer nicht alles zu wissen, und machen eine Fortbildung nach der anderen. In diesem inneren Raum der Angst finden so manche Arzt-Patienten-Kontakte statt. Wenn ein Pilot oder ein Busfahrer einen Fehler macht, kann dies auf einen Schlag zu deutlich mehr Toten führen, als wenn ein Arzt einen Fehler macht. Doch der Pilot oder Busfahrer zählt dann eher zu den Betroffenen. Der wesentliche Unterschied liegt in der Ethik des ausgeübten Berufs. Menschen zu transportieren ist wichtig und hilfreich, aber Menschen durch ihr Leben und ihre Leiden zu begleiten, ist höchste persönliche Verantwortlichkeit, die in aller Regel mit einer Bindung oder Beziehung zwischen Arzt und Patient einhergeht. Diese Bindung fehlt dem Piloten oder Busfahrer. Das bedeutet, die Ebene des Persönlichen ist es, die Fehler für Ärzte so belastend werden lässt.
Ärzte lernen, aus möglichst wenigen Informationen (wegen der Kosten der Untersuchungen) hinreichend valide Diagnosen zu stellen. Damit befinden sie sich in einer schwierigen Situation. Wenn sie ehrlich sind, wissen sie, dass sie im konkreten Einzelfall nur wenig wissen, und zugleich müssen sie dies ausblenden, um Entscheidungen zu treffen. Meistens sind diese Entscheidungen dann aufgrund ihrer Erfahrungen und ihres Könnens richtig.
Bitte beantworten Sie ohne großes Überlegen folgende Fragen:
Können Menschen Fehler machen?
Gibt es Menschen, die niemals Fehler machen?
Wenn Ihre Antworten stehen, beantworten Sie bitte ehrlich noch folgende Frage:
3.Dürfen Sie selbst im Beruf Fehler machen?Jeder Mensch macht Fehler. Ärzte und Therapeuten sind Menschen, also machen sie Fehler. Es wäre sinnvoll, ein System zu etablieren, das einsetzt, wenn ein Kunstfehler begangen wurde; ein System, das sowohl dazu dient, die Leistung des Helfers zu verbessern als auch ihm die moralische Last zu nehmen (Kessler 2011). Denn Kunstfehler scheinen für Patienten häufiger einschneidende Folgen zu haben, als man meinen würde. Eine Untersuchung aus den USA bezeichnet sie als dritthäufigste Todesursache in Krankenhäusern (Makary & Daniel 2016).
Weniger bedeutsame Fehler macht man vermutlich immer wieder, derart folgenschwere wohl nur selten. Trotzdem ist die Angst vor juristischer Verfolgung allgemein so groß, dass sie in Studien als eine der Hauptursachen für Suizid(-Versuche) von Ärzten benannt wird. Kunstfehler haben weitreichende Auswirkungen auf das emotionale Wohlbefinden des Arztes. Sie können zu Angst, Schuld, Traurigkeit und Scham führen und berufliche sowie private Aktivitäten negativ beeinflussen. Die Bewältigungsversuche sind sehr unterschiedlicher Art wie Gespräche mit Kollegen, künstlerische oder sportliche Aktivität, Arbeitswut, Alkohol- oder anderer Substanzmissbrauch. Als hilfreich werden folgende institutionelle Maßnahmen angesehen: Gespräche mit Mentoren, Änderungen am Arbeitsplatz, Etablierung von Protokollen, Weiterbildungsmaßnahmen und genaue Analyse der Ursachen (Srinivasa et al. 2019).
Grundsätzlich sind angstbasierte Einschätzungen und Reaktionen nach Fehlern also häufig – trotzdem sind sie wenig hilfreich. Wenn das System erbarmungslos Fehler verfolgt (wie dies in den USA der Fall zu sein scheint), dann ist es die Pflicht eines jeden, sich selbst gegenüber mehr Erbarmen zu zeigen, sonst bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke.
Ein schwerer Fehler bei der Ausübung des Berufs führt bei manchen Ärzten zu fast unerträglichen Schuldvorwürfen sich selbst gegenüber und zu manchmal realitätsfernen Ängsten davor, dass die Gesellschaft sie dafür bis zum Lebensende ächten wird oder dass damit ein immerwährender, finanzieller Ruin verbunden sei. Diese Ärzte können sich auf Dauer den Fehler selbst nicht verzeihen, was man aber lernen kann (Übung 12.6).
Nach einem Fehler steht gewiss an, sich bei dem betroffenen Patienten zu entschuldigen – dies vergessen die aufgewühlten Ärzte dann jedoch manchmal. Dabei ist es genau das, worauf der Patient berechtigterweise wartet. Unabhängig von juristischen Inhalten und der notwendigen Kontrolle dessen, was man nach einem Fehler tut, gilt für die positive Wirksamkeit einer Entschuldigung (Bergner 2014):
Man bedauert seinen Fehler wirklich.
Man fokussiert sich bei seiner Entschuldigung ausschließlich auf dieses Thema.
Man formuliert konkret, wofür man sich entschuldigt.
Man ist dabei glaubhaft.
Man nimmt sich zurück und wirkt weich.
Man ist sich über seine eigene Meinung zu dem Thema klar.
Der insuffiziente Umgang mit eigenen Fehlern basiert auf einer distanzierten und wenig liebenden Art sich selbst gegenüber. Sie kann in passiver, eher defensiver Ausprägung zu beständigen Schuld- und Schamgefühlen führen. Aktiv hingegen – und mindestens ebenso schädlich – sind Suchtverhalten oder Suizid. Kasten 1.7 listet die Gefühle und passiven Reaktionen, die bei Kunstfehlern auftreten, mit Prozentanteilen auf (Morganstein et al. 2017).
Kasten 1.7: Gefühle und Reaktionen bei Kunstfehlern
%-Anteil
54Schuld52Angst, in Zukunft wieder Fehler zu machen45Vertrauensverlust in die eigenen Fähigkeiten als Arzt43Scham38Angstvolle, zwanghafte Erinnerungen36SchlafstörungenErheblich sinnvoller wären andere Reaktionen auf eigene Fehler (Kasten 1.8):
Kasten 1.8: Was Fehler tatsächlich auslösen sollten
An erster Stelle: dem Patienten helfen, soweit nur möglich
Für sich selbst
Demut, Mensch zu sein und Fehler zu machen
Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, wenn es sich um einen Fehler aufgrund mangelnder Qualifikation handelt
Metaposition einnehmen, um durch den Abstand eine neue Bewertung zu ermöglichen (siehe auch Übung 12.6)
Selbstmitgefühl, um sich näher zu kommen oder bei sich zu bleiben (statt Abwertung)
Vergebung
Wachheit, damit sich der Fehler nicht wiederholt