Merah - Annissa Runa - E-Book

Merah E-Book

Annissa Runa

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Beschreibung

Was wäre, wenn Frauen herrschen – und Männer dienen? Als Sandra und Beate auf rätselhafte Weise in die Welt Merah geraten, scheint sich ein feministischer Traum zu erfüllen: Frauen verfügen über Macht, Lust gilt als heilig, männliche Körper stehen im Dienst weiblicher Bedürfnisse. Doch hinter der sinnlichen Oberfläche verbirgt sich eine strenge Ordnung. Magie sichert Gehorsam. Männer besitzen kaum Rechte. Gewalt wird legitimiert – solange sie von den Richtigen ausgeübt wird. Während Sandra sich von Freiheit und Verführung dieser Welt angezogen fühlt, erkennt Beate die dunkle Kehrseite: Unterdrückung bleibt Unterdrückung – auch wenn die Rollen vertauscht sind. Als ein Übergriff auf einem Markt eskaliert, stellt sich erstmals eine Frau von der Erde offen schützend vor einen Mann. Diese Tat entfacht eine Bewegung, die Merahs Grundfesten erschüttert. Ein provokanter, sinnlicher Roman über Macht, Geschlechterrollen und sexuelle Selbstbestimmung – politisch, erotisch und erschreckend nah an unserer Realität.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Merah

Welt der Frauen

Annissa Runa

Als die Freundinnen Sandra und Beate auf rätselhafte Weise in die Welt Merah gelangen, glauben sie zunächst, eine utopische Gesellschaft von starken Frauen entdeckt zu haben. Doch hinter der strahlenden Fassade lauern rigide Regeln, Magie – und eine tief verankerte Hierarchie, in der Männer ein Leben im Schatten führen.

Während Sandra sich von der sinnlichen Freiheit dieser Welt angezogen fühlt, erkennt Beate immer deutlicher die Ungerechtigkeiten, die unter der Oberfläche brodeln. Und Norbert, Beates Ehemann, gerät zwischen die Mühlsteine einer Ordnung, die Macht für selbstverständlich hält und Widerspruch hart bestraft.

Ein brutaler Angriff auf einem Markt wird zum Wendepunkt: Zum ersten Mal stellt sich eine Erdenfrau offen schützend vor einen Mann – und entfacht damit eine Bewegung, die die Grundfesten Merahs erschüttert.

Ein Roman für Erwachsene über Mut, Verführung, Unterdrückung und die Frage: „Wer bestimmt eigentlich, was ein Mensch ‚von Natur aus‘ ist?“

Packend, politisch, sinnlich – und erschreckend nah an unserer Realität.

Inhaltsverzeichnis

1 Ungebetene Gäste5

2 Gleitzeit für Geheimnisse31

3 Linien der Vergangenheit46

4 Willenlose Gefangene59

5 Jagd auf der Autobahn74

6 Luxusherberge für Geiseln90

7 Freiwillig – oder auch nicht109

8 Blutopfer126

9 Vollmond über den Menhiren144

10 Willkommen auf Merah163

11 Im Tempel der Göttin181

12 Andere Länder, andere Sitten199

13 Kraft ja, Kopf nein?217

14 Zwischen den Welten234

15 Stadt aus Licht und Schatten253

16 Gefährliche Blicke267

17 Die Last der Geschichte280

18 Die Gnade der Göttin299

19 Eine Welt voller Urteil310

20 Diplomatie im Seidenhandschuh327

21 Training für Körper und Stolz343

22 Maidfest360

23 Heilige Lust im Licht der Göttin378

24 Ihr Höhepunkt, seine Freude398

25 Ein Tag voller Vorzeichen417

26 Schatten auf dem Markt der Männer439

27 Jägerinnen und Beute457

28 Auslöschungsfunke478

29 Danksagung498

30 Fenster zur Realität499

31 Impressum535

32 Über die Autorin536

1 Ungebetene Gäste

Sandra schaltete das Handy stumm. Schon wieder diese Nummer.

Nervös schob sie eine blonde Strähne hinter das Ohr. Seit Tagen rief eine gewisse Helene Weißhaupt immer wieder an, sprach in rätselhaften Andeutungen und drängte auf eine Begegnung – ohne je zu sagen, worum es ging.

„Wir müssen uns treffen! Es ist von größter Wichtigkeit. Es geht um die Zukunft der Menschheit!“

„Warum?“

„Das kann ich Ihnen nur persönlich sagen.“

Sandra hatte die Frau sofort in eine vertraute Kategorie eingeordnet. Apokalyptische Schlagworte, geheimnisvolle Andeutungen, das Beharren auf Dringlichkeit – davon bekam sie als Journalistin mehr als genug. Normalerweise hätte sie die Nummer längst blockiert.

Und doch tat sie es nicht.

Die Stimme war alt, brüchig. Zugleich ruhig. Klar geführt. Ohne wirre Abschweifungen, keine emotionale Erpressung. So klang kein Wahn.

Ein ungutes Gefühl meldete sich jedes Mal, wenn das Display aufleuchtete. Eine Irritation, die sich nicht abschütteln ließ.

Ihr Spürsinn sagte ihr: Diese Anrufe waren keine wirre Belästigung. Sie klangen nach jemandem, der wusste, was er tat.

Sandra atmete aus. Wenn sie sich täuschte, könnte sie die Nummer später immer noch blockieren!

Jetzt brauchte sie erst einmal einen Realitätsanker.

Es war Zeit, mit jemandem zu sprechen, der das Leben im Griff hatte: Beate, ihrer besten Freundin.

Entschlossen wählte sie die Nummer.

„Hast du Zeit für ein Gläschen Sekt? Ich brauche deinen Rat.“

 

Eine halbe Stunde später saßen sie in einer kleinen, stimmungsvoll beleuchteten Bar. Sandra lehnte sich entspannt zurück, nachdem sie sich alles von der Seele geredet hatte.

„Ich sag’s dir, das ist so eine verrückte Esotante. Will dir wahrscheinlich Steine mit positiver Energie verkaufen oder dein Chakra reinigen.“

Beate schüttelte amüsiert den Kopf.

„Wahrscheinlich“, murmelte Sandra. „Deshalb geh ich ja nicht mehr ran.“

„Vielleicht ist es ja dein Ex-Mann, der sich unter falschem Namen meldet, um sich endlich zu entschuldigen“, meinte Beate grinsend.

Dann legte sie sich dramatisch die Hand an die Brust, verzog das Gesicht und krächzte mit brüchiger Stimme: „Sandra, ich muss dich sehen!“

Sandra prustete los. Genau das hatte sie gebraucht.

Doch sobald das Gelächter verklungen war, hallte Helenes Satz wieder in ihrem Kopf nach:

Es geht um die Zukunft der Menschheit.

Ein Satz, so absurd und überdimensioniert, dass er schon wieder an ihr nagte.

Was, wenn sie die Zukunft tatsächlich verändern könnte? Nur um den winzigen Hauch eines Schmetterlingsflügels? Ein Traum von ihr würde wahr.

 

Durch das Murmeln der Menschen in der Bar schnitt ein anderer Ton – tief, selbstzufrieden, wie ein schiefer Akkord. Zwei Männer am Nebentisch diskutierten laut über einen Artikel. Der eine lachte und tippte auf sein Display.

„Hier steht, Frauen verdienen immer noch weniger“, sagte der eine und lachte kurz auf.

„Ja klar“, meinte der andere. „Wenn sie halt Teilzeit arbeiten und dauernd fehlen.“

„Oder halt Berufe machen, wo nix drin ist.“

„Eben. Kann ja keiner was dafür, wenn sie sich freiwillig so entscheiden.“

„Und dann jammern sie rum von wegen Ungerechtigkeit.“

Ein Schluck Bier.

„Solln sie halt auch mal Überstunden machen.“

Sandra zuckte kaum sichtbar zusammen, als hätte jemand eine wunde Stelle getroffen.

Beate warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.

„Nicht hinhören.“

„Ich höre nicht hin“, flüsterte Sandra. „Ich kann nur nicht mehr weghören.“

Sie stellte das Glas ab. Härter als beabsichtigt.

„Ich hab‘ diesen Gender-Pay-Gap-Artikel gegen so viel Widerstand durchgesetzt. Wirklich durchgeboxt. Und dann in der Konferenz…“

Sie lächelte bitter.

„Du sitzt da mit Fakten, Stimmen von Frauen, Lebensrealitäten – und kaum schlägst du vor, regelmäßig etwas über systematische Benachteiligung von Frauen zu bringen, sehen sie dich an, als hättest du ihnen den Tag versaut. Schon wieder Feminismus.“

 

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Zwischen Fantasie und Wirklichkeit liegt ein Thema, das uns alle angeht.

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Sandra schnaubte.

„Vielleicht ist es ja genau das, was Helene meinte. Zukunft der Menschheit… und nicht mal die Gegenwart kriegen wir ordentlich hin.“

 

Beate legte den Kopf leicht schief.

„Das sitzt tief bei dir.“

„Weil ich es kenne. Dieses Wegdrücken. Dieses Nicht-Hinschauen.“

„Bei meinem Ex war das genauso. Sie wollen die Realität einfach nicht hören!“

Sandra zog die Mundwinkel nach unten und wich etwas zurück. Die Arme vor dem Körper verschränkt.

„Sorry, Beate… ich will dir nicht schon wieder meinen ganzen Scheidungsfrust abladen.“

„Immer gern! Das ist Freundschaft.“ Beate hob ihr Glas. „Also stoßen wir darauf an.“

„Vielleicht ist es ja genau das, warum ich diese Weißhaupt dauernd im Kopf habe. Sie redet von der Zukunft der Menschheit… und nicht mal die Gegenwart kriegen wir ordentlich hin.“

Sandra prostete ihrer Freundin zu – und genau da fiel ihr Blick auf die Tür.

 

Eine Gruppe junger Männer trat ein. Sportliche Kleidung, lässige Bewegungen, zwei davon mit dieser magnetischen Unbekümmertheit, die sie fast vergessen hatte.

Sandra zwang ihren Blick zurück ins Glas, obwohl sie hätte starren wollen.

Für Beate war Hingucken nicht einmal eine Option. Sie war glücklich verheiratet. Sie hätte es unanständig gefunden, einen anderen Mann anzuschmachten.

Aber Sandra…

Sandra wollte leben.

Der Anfall hatte sich ihr eingebrannt wie ein Stempel.

Nichts Lebensbedrohliches.

Noch mal Glück gehabt!

„Weißt du, was das Beste daran ist, wenn man glaubt zu sterben?“

„Das war knapp“, sagte Beate leise. „Ich hatte wirklich Angst um dich.“

Sandra hob ihr Glas und hielt es gegen das Licht. „Alles schmeckt und riecht plötzlich wunderbar. Sogar diese Kneipenluft!“

Ihre Hand glitt kurz an ihre Brust, dorthin, wo das Pochen manchmal stolperte.

Sandra nahm einen kleinen Schluck, schmeckte das Aroma des Weins bewusster als zuvor.

„Ich hab’s begriffen“, sagte sie schließlich ruhig. „Das Leben ist kurz.“

Jetzt saß sie hier, 42 Jahre alt, lebendig, verletzlich – und mit dem Wunsch, wenigstens einmal wieder das Spiel des Flirtens zu spüren. Wer wusste schon, wie viele Chancen sie noch bekam?

Sandra richtete sich unwillkürlich ein wenig auf. Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ein Blick aus der Gruppe der jungen Männer blieb an ihr hängen. Nur einen Moment zu lang.

Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem vorsichtigen Lächeln.

Der Mann erwiderte es.

Hitze stieg Sandra ins Gesicht. Fast sofort senkte sie den Blick, als hätte sie etwas Verbotenes getan, und schüttelte kaum merklich den Kopf über sich selbst.

Beate folgte ihrem Blick und grinste. „Na los, Sandra. Feier dein Leben.“

„Ja, klar.“ Sandra lachte trocken. „Ich hätte ja keine Ahnung, wie man mit denen ins Gespräch kommt. Außerdem bin ich zu alt für die – die sind höchstens fünfundzwanzig.“

 

Bevor Beate antworten konnte, erklang eine raue, selbstbewusste Stimme vom Tresen:

„Eine Runde für die ganze Gruppe – ich geb aus!“

Sandra wandte sich um.

Eine Frau in Schwarz lehnte am Tresen, als sei das ihr Revier. Stiefel, Flechtfrisur, markante Gesichtszüge – nichts an ihr wirkte weich.

Sandra empfand sie auf Anhieb als unangenehm. Etwas an der Mundpartie, dem Vorbiss, der breiten Haltung – sie erinnerte Sandra entfernt an eine Bulldogge in Kampflaune.

Die Fremde legte mehrere Scheine auf den Tresen, ohne hinzusehen, und wandte sich den jungen Männern zu.

„Ihr seht aus, als könntet ihr einen guten Abend vertragen“, sagte sie mit einem rauen Lachen. „Vor allem du.“

Sie deutete auf den attraktivsten der Gruppe.

„Du hast schöne Augen.“

Der Mann errötete leicht, seine Freunde tauschten grinsende Blicke.

Sie ging auf ihn zu – nicht vorsichtig, sondern mit einer lässigen Selbstverständlichkeit, als wüsste sie genau, was ihr zustand.

„Ich bin Creosa. Darf ich?“

Sie zog sich einen Hocker heran, ohne auf Antwort zu warten.

Sie saß schon, bevor der Mann die Chance hatte, etwas zu sagen.

Kaum setzte er sich ein Stück von ihr ab, rutschte sie wieder näher. Eine unaufdringliche Geste – wäre sie nicht so beständig gewesen. Schulter an Schulter, ein Knie, das seins streifte, eine Hand, die wie zufällig länger an seinem Arm ruhte, als notwendig war.

Der Mann räusperte sich.

„Äh… ich weiß nicht, ob –“

„Magst du mutige Frauen?“, unterbrach sie ihn.

Der Mann blinzelte verwirrt.

„Äh… kommt drauf an.“

Einer seiner Kumpels flüsterte seinem Nebenmann zu:

„Ist die betrunken?“

Die Schwarzhaarige grinste ihren Gesprächspartner an.

„Schau mal.“

Sie schob ihr Shirt etwas zur Seite und berührte eine längliche Narbe, die sich oberhalb ihres Brustbeins entlangzog.

„Die hab ich mir beim Klippenspringen geholt. Zehn Meter freier Fall. Ich hab den Fels blöd erwischt – aber ich bin gesprungen.“

Sie hob das Kinn ein Stück, fast stolz.

„Mut fühlt sich an wie Fliegen.“

„Krass…“, murmelte einer der anderen.

 

Der junge Mann, der im Mittelpunkt stand, wirkte zunehmend abweisender.

„Alles gut bei dir?“, fragte einer seiner Kumpels leise.

„Ich… weiß nicht“, murmelte er.

„Das ist nur die hier.“

Die Frau tippte erneut auf ihre Narbe.

„Ich hab noch eine bessere. Willst du die sehen?“

„Äh – nein, danke“, sagte der Mann sofort und hob beide Hände.

Diesmal rutschte er deutlich zurück.

Creosa schob ihren Arm hinter ihn und zog ihn wieder zu sich heran.

Jetzt starrten mehrere Gäste herüber. Gespräche verstummten kurz, dann flackerte das Murmeln wieder auf – mit einem anderen Unterton.

In diesem Moment legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

Nichts Aggressives – aber eine Präsenz, die sofort die Luft veränderte.

Die Schwarzhaarige erstarrte.

„Genug, Creosa.“

Eine zweite Frau stand hinter der Schwarzhaarigen. Schlanker als Creosa, in ein changierendes Blau-Violett gekleidet. Kein Schmuck. Kein Make-up. Nur ein schmaler, hellblauer Stein auf ihrer Stirn, der im Barlicht kaum auffiel – und doch unmöglich nicht zu bemerken war.

„Wir wollen nicht auffallen!“, ermahnte sie leise. Doch Sandra verstand sie deutlich.

„Ich hab‘ nichts Unrechtes getan“, murrte Creosa. „Soll ich mich verstecken wie ein Schulmädchen? Die Männer hier dürfen alles. Warum sollten wir uns klein machen?“

Ein kaum sichtbares Lächeln glitt über das Gesicht der Blauen.

„Weil wir nicht hier sind, um sie zu lehren. Noch nicht.“

Ihr Blick streifte Sandra – präzise, scharf, als würde er durch sie hindurchgehen. Sandra erstarrte. Ein kalter Schauer wanderte ihren Nacken hinunter.

Creosa griff nach ihrem Glas und leerte es mit einem Schluck.

„Immer diese Regeln…“. Dann stand sie auf und folgte der anderen Frau.

 

Sandra atmete flach.

„Was war das eben?“

„Keine Ahnung“, flüsterte Beate. „Aber irgendwas stimmt mit denen nicht.“

„Die beiden. Die sind… anders. Nicht im modischen Sinn. Mehr so… falsch im Raum. Als gehörten sie hier nicht her.“

Beate lächelte unsicher.

„Vielleicht sind’s Performancekünstlerinnen. Oder eine neue Realityshow. Wenn gleich eine Kamera hinterm Tresen auftaucht, wundert mich das nicht.“

Wortlos tranken Sandra und Beate ihre Drinks aus.

Sandra stellte ihr leeres Sektglas mit einem leisen Klang auf den Tisch und rieb sich über die Arme, als hätte sie eine Gänsehaut.

„Weißt du, was mich daran so wütend macht?“, sagte sie leiser, rauer. „Dass ich diese Art von Übergriffigkeit kenne. So. Genau so.“

Beate nickte.

„Ja. Erst nett, dann mehr als erlaubt, dann beleidigt, wenn man Stopp sagt.“

Sandra atmete scharf ein. „Genau. Dieses Muster. Jemand bietet etwas an, freundlich, scheinbar harmlos – und wenn du annimmst, glauben sie, du hättest viel mehr erlaubt.“

Sie schüttelte sich. „Und wenn du dich wehrst, bist du die Empfindliche.“

„Oder die Undankbare“, ergänzte Beate.

Sandra lachte kurz, hart.

„Ja. Dabei ist Danke kein Freifahrtschein. Und heute hab ich’s aus der anderen Richtung gesehen.“

 

Drei Tage später, nach der Arbeit, wollte Sandra gerade die Haustür aufschließen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte.

Ein schwarzer Wagen stand am Straßenrand. Unbeweglich. Fremd genug, um ihr Herz schneller schlagen zu lassen – seit dem Infarkt reagierte sie auf Unvorhergesehenes stärker als früher.

Die Fahrertür öffnete sich.

Ein Mann stieg aus und umrundete den Wagen. Schlank, elegant, in einem geschmackvollen Anzug – und darüber ein grauer Hoodie, als hätte jemand versucht, ihn alltagstauglich wirken zu lassen und sei daran gescheitert.

Er wirkte ruhig, fast sanft, sein Blick eher aufmerksam als prüfend.

Sandra spürte trotzdem die alte, unangenehme Spannung in der Brust aufsteigen. Unerwartete Situationen konnten sie aus dem Gleichgewicht bringen – und dieser Mann war unerwartet, Punkt.

Dann öffnete er die Beifahrertür.

Eine alte Frau stieg aus.

„Danke, Marco.“

Diese Haltung – aufrecht, würdevoll, fast heiter in ihrer Ruhe. Die violett schimmernden Perlen, die viel zu groß waren, um gewöhnlich zu sein. Das schlohweiße Haar, kunstvoll gesteckt.

Es dauerte, bis es klickte.

„Frau Weißhaupt“, sagte Sandra – schärfer, als sie beabsichtigt hatte.

Die alte Dame lächelte. Ein echtes, sanftes Lächeln.

„Korrekt!“

Sandra verschränkte die Arme.

„Ich habe Ihnen gesagt, dass ich keinen Kontakt möchte.“

„Sie fragen sich, warum ich ausgerechnet zu Ihnen komme“, sagte Frau Weißhaupt.

„Ja“, antwortete Sandra sofort. „Das tue ich.“

„Gut.“ Ein kaum merkliches Lächeln. „Dann sind wir ehrlich miteinander.“

Sie machte eine kleine Bewegung mit der Hand, als würde sie einen Gedanken ordnen.

„Sie beobachten. Sie hören zu. Sie stellen Fragen, auch dann, wenn es unbequem wird. Und Sie haben aufgehört zu glauben, dass das bedeutungslos ist.“

„Die Welt“, fuhr Helene fort, „verändert sich nicht durch die Lautesten. Sondern durch die, die Zusammenhänge erkennen, bevor sie offensichtlich werden.“

Sandra wollte widersprechen. Etwas sagen wie: Das klingt gut, aber…

Doch der Satz kam nicht.

„Ich brauche niemanden, der mir glaubt“, sagte Helene. „Ich brauche jemanden, der hinsieht.“

Sandra räusperte sich. „Worum geht es denn nun konkret?“

„Nehmen Sie Urlaub“, fuhr Frau Weißhaupt fort. „Sagen Sie niemandem etwas. Begleiten Sie mich für einige Wochen. Danach können Sie entscheiden.“

Sandra lachte kurz auf. Es kam schärfer heraus, als beabsichtigt.

„Sie erwarten ernsthaft, dass ich einfach verschwinde?“

„Ich erwarte gar nichts.“

Frau Weißhaupt neigte den Kopf leicht. „Ich biete Ihnen einen Weg.“

Sandra spürte ein Stechen hinter dem Brustbein. Stark genug, um ihre Aufmerksamkeit einzufordern. Zu viel Stress.

„Nein“, sagte sie.

Ein Schritt zurück. Noch einer. Die Tür hinter ihr. Holz. Verlässlichkeit.

„Ich will das nicht.“

Sie griff nach der Klinke.

Marco trat vor.

„Dame Helene… vielleicht sollten wir ihr mehr Zeit lassen.“

„Ja“, sagte Helene leise. „Vielleicht hast du recht.“

Doch der Satz kam zu spät. Sandra war bereits im Haus. Die Tür fiel ins Schloss, fester als nötig. Sie lehnte sich kurz dagegen, ließ die Stirn sinken, bis der Boden unter ihren Füßen wieder stillstand.

Im Flur zog sie das Handy aus der Tasche.

Ein Tippen. Dann noch eines.

Blockieren. Bestätigen.

Erst danach atmete sie tiefer ein

***

„Wow“, sagte Beate langsam, als sie ihr später bei einem Kaffee alles erzählte. „Und du dachtest, die Anrufe wären gruselig.“

Sandra lachte nervös. Irgendetwas ließ ihr keine Ruhe.

***

Wenige Tage später fand Sandra im Briefkasten einen Umschlag aus luxuriösem, weinrotem Papier, und ein kunstvoll eingeprägtes Wappen schimmerte im Licht. Das Material fühlte sich seltsam an – wie etwas, das sie hätte kennen müssen und doch noch nie berührt hatte: seidig, dicht, mit eingewebten Fäden, die im Gegenlicht fast organisch wirkten.

„Wer zur Hölle schickt mir sowas?“, murmelte sie.

Als sie den Umschlag öffnete, stieg ein Duft auf – weich, warm, vielschichtig. Vanille, Zimt… und etwas, das sie nicht benennen konnte. Kein Parfum, eher ein Ton, der direkt irgendwo tief in ihr andockte.

Sandra hielt inne.

Ein sanftes Kribbeln breitete sich in ihren Armen aus, als hätte jemand eine warme Decke über ihre Gedanken gelegt.

„Was… ist das?“, flüsterte sie.

Eine seltsame Stille breitete sich in ihr aus.

Die Gereiztheit des Tages wich in Sekunden, aber nicht wie Erleichterung – eher wie ein Gefühl der Betäubung. Ihre Brust wurde leichter, ihr Atem ruhiger.

Sie blinzelte irritiert und legte die freie Hand an ihre Stirn, als müsste sie prüfen, ob sie fieberte.

Da war diese heitere, beinahe euphorische Klarheit, die sie nicht einordnen konnte. Ein Fremdkörper in ihrer Stimmung – und gleichzeitig verführerisch wohltuend, wie ein unverdientes Hochgefühl.

Ein Hauch von Alarm huschte durch ihren Hinterkopf.

So fühle ich mich sonst nie, wenn ich Post öffne.

Sie schloss für einen Moment die Augen, als müsse sie ihre Gedanken sortieren. Der Impuls, den Brief SOFORT zu lesen, war plötzlich so stark, dass ihre Hand den Brief von alleine zu öffnen schien.

„Beruhig dich“, murmelte sie, mehr zu sich als zum Raum. Doch die Neugier zog an ihr, als hätte sie ein Gewicht.

Sie entfaltete das Blatt. Der Duft wurde intensiver, als würde er von dem Papier selbst aufsteigen. Ein verträumtes Lächeln glitt über ihr Gesicht – und für einen winzigen Moment erschrak sie, weil es sich nicht nach ihr anfühlte.

 

In kunstvoller, verschnörkelter Schrift stand dort:

Liebe Sandra Hettich,

Bitte finden Sie sich morgen,

am Freitag, um 14 Uhr,

in der Kanzlei von Notar Schöneberg,

Kientenstraße 10, Heidelberg, ein.

Alles Nähere werde ich beim Termin erklären.

In der Erwartung auf ein langes Gespräch

Helene Weißhaupt.

 

„Weißhaupt?! Die Alte wieder…“ Sandra holte wütend Luft – doch der Ärger verpuffte, kaum dass er aufstieg. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. Zufriedenheit, anstelle von Wut. Wo kam denn das so plötzlich her?

„Okay…, was zur Hölle…?“, flüsterte sie und fuhr sich über den Nacken. Ein Kribbeln war da. Überdeutlich und fremd.

Gleichzeitig drängte etwas in ihr vorwärts. Ein Ziehen. Eine merkwürdige Gewissheit. Wie ein „Du musst“.

Sie stand da, den Brief in der Hand, den Blick auf den Teppich geheftet. Ein Teil von ihr wollte sagen: Nein. Unsinn.

Ein anderer seltsam ruhiger Teil sagte: Ruf an. Jetzt.

Der Zwiespalt war so stark, dass sie kurz die Augen schloss.

Und dann – noch ohne dass sie wusste, weshalb – griff sie zum Telefon.

„Ich kann morgen nicht zur Arbeit kommen“, sagte sie knapp zu ihrem Chef – und erschrak über sich selbst, während sie sprach.

Noch während die Worte über ihre Lippen kamen, dachte sie:

Was mache ich hier? Warum?

Am anderen Ende entstand eine Pause. „Nicht? Morgen ist Abgabe Ihres Artikels – das Thema, für das Sie monatelang gekämpft haben.“

Sandra rieb sich unruhig die Hand, in der sie das Kuvert gehalten hatte, wo der Duft noch an ihrer Haut zu hängen schien. Der Gedanke an ihre Arbeit war plötzlich wie unter Watte. Und doch spürte sie darunter etwas, das sich wehrte – ein dumpfer Rest Widerstand.

„Ich weiß. Aber… ich muss zu diesem Termin.“

„Was ist los?“

„Ich… kann das nicht erklären. Es ist privat.“

Sie hörte sich selbst reden, als würde sie neben sich stehen. Ihr Chef seufzte schließlich. „Gut. Aber ich brauche den Artikel übermorgen.“

„Ja, natürlich.“

 

Kaum hatte sie aufgelegt, stand sie schon vor dem Kleiderschrank. Es fühlte sich an, als hätte sie den Weg dorthin übersprungen. Ihre Beine waren schneller als ihre Gedanken. Kleidung flog durch die Luft, ohne dass sie wusste, wonach sie suchte – nur, dass es wichtig war. Übertrieben wichtig.

So fand Beate sie später: Sie war völlig aufgelöst, die halbe Garderobe lag auf dem Bett verteilt.

„Okay… das ist neu“, sagte sie vom Türrahmen aus. Ihre Stimme schwankte zwischen Sorge und Fassungslosigkeit.

Sandra fuhr herum. „Oh Gott. Bauchtanz! Ich hab’s vergessen!“

„Ich hab dreimal geklingelt. Ich dachte schon, du liegst wieder irgendwo.“

Beates Blick huschte über den Kleiderberg.

„Was ist denn los?“

„Helene Weißhaupt hat mir geschrieben. Ich muss morgen hin.“

Beate runzelte die Stirn.

„Du ignorierst diese Frau wochenlang, und jetzt lässt du alles stehen und liegen? Und dein Artikel ist plötzlich egal?“

Sandra rieb sich die Schläfe.

„Ich… weiß nicht, was mit mir los ist. Es fühlt sich… falsch an, und gleichzeitig völlig richtig. Ich weiß nur, dass ich hingehen muss.“

„Um mit ihr einige Wochen zu verschwinden? Das ist kannst du doch nicht wirklich wollen! Was ist denn mit dir los?“

Beate sah sie eindringlich an, suchte nach Worten, die nicht übergriffig waren. „Du bist… so anders. Wie jemand, der unter zu viel Druck steht. Oder…“. Sie brach kurz ab, schüttelte den Kopf. „Ach egal… du machst mir gerade Sorgen.“

Das traf Sandra.

Sie wollte Beate den Brief reichen, doch bei der Bewegung wurde sie erneut von dem Duft eingehüllt – und sie zog ihn wieder an sich.

Beate reagierte sofort.

Sie schnappte sich den Brief und warf ihn zum offenen Fenster hinaus.

Sandra keuchte – überrascht darüber, wie heftig sie reagierte. Als hätte der Umschlag ein Stück von ihr enthalten.

„So.“

Beate stellte sich direkt vor sie, Hände auf den Schultern. Warm. Fest.

„Du rufst jetzt an und sagst ihr: Nicht Heidelberg. Hier. Café um die Ecke.“

Der Druck in Sandras Brust löste sich ein wenig.

Sandra seufzte schwer. „Okay… okay.“

Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer, die sich sicher zwanzigmal in ihrer Liste befand. Ihre Finger zitterten leicht.

Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine Männerstimme – ruhig, höflich, mit einem seltsamen, fast altmodischen Klang.

„Marco“, sagte er knapp.

„Äh, hier ist Sandra Hettich. Ich bin bereit für das Treffen, aber nicht in Heidelberg. Ich schlage das Café an der Ecke vor. Sie wissen ja, wo ich wohne. Morgen, Freitag, 15 Uhr.“

Eine kurze Pause. Dann ein zustimmendes „Wie Sie wünschen, gnädige Frau.“

Sandra legte auf und runzelte die Stirn. „Gnädige Frau?“

Beate griff ein Kissen und warf es ihr an den Kopf. „Na super. Ein geheimer Adelszirkel. Wenn der noch ‚Hochwohlgeboren‘ sagt, raste ich aus!“

Trotz all der Nervosität musste Sandra lachen.

Beate lächelte erleichtert.

„Na also. Und jetzt such dir was aus, das nicht nach Vorstandssitzung aussieht. Und dann ab zum Bauchtanz.“

Als Sandra später die Haustür hinter sich schloss, blieb sie einen Moment stehen. Das Tanzen hatte gutgetan.

Aber der Gedanke an Helene Weißhaupt… ließ sie nicht los.

Er klebte an ihr wie dieser seltsame Duft.

Warmer Nebel, der den klaren Blick sanft in eine Richtung schob, die nicht ganz ihre war.

Arbeitszimmer der Gewählten Ersten

Raweynee strich über den Rand der Schale, als könne der glatte Ton ihr eine Antwort geben.

Helenes Atem hatte bei ihrem letzten Treffen seltsam geklungen, brüchig, wie ein Faden, der zu oft gespannt wurde.

Sie arbeitet zu viel, dachte Raweynee. Sie brennt heller, als ein Körper ertragen kann. Und ich sehe zu, wie sie sich verzehrt.

Die Heilkundigen sprachen von Erschöpfung, doch Raweynee hörte mehr darin, ein leises, unheilvolles Klingen.

Sie braucht Ruhe. Zeit. Ein Ende der Lasten, die sie allein schultern will.

Helene hat schon seit langer Zeit nach einer Verwandten gesucht. Endlich!

Vielleicht… vielleicht ist sie die Antwort.

Möge sie stark genug sein für das Erbe, das auf sie wartet.

Möge Helene nicht zu lange zögern, sich endlich zu schonen.

Raweynee neigte den Kopf zu einem stillen Gebet.

2 Gleitzeit für Geheimnisse

„Ah, du bist da.“ Norberts Stimme kam aus dem Wohnzimmer.

Beate zuckte zusammen. Sie hatte gehofft, dass Norbert schon schlief, damit sie ungestört nachdenken konnte. Doch da saß er.

„Ich sags dir!“, begann er. „Heute war wieder so ein Tag! Ich habe die Sicherheitsprotokolle neu aufgesetzt, aber natürlich dauert das jetzt alles länger. Mein Chef ist am Nörgeln. Und der Elektriker, der mir beim Anschließen des neuen Geräts helfen sollte – keine Zeit! Natürlich.“

Er schnaubte.

Beate nickte abwesend. Norbert redete weiter, aber sie hörte nur noch Wortfetzen. IT-Sicherheit … inkompetente Kollegen … Druck von oben. Alles wie immer. Ein Monolog, bei dem es genügte, wenn sie ab und zu nickte. Beate beobachtete, wie ihr Mann sich über den Kopf strich.

„Hörst du überhaupt zu?“, fragte er plötzlich.

Beate zuckte zusammen. Ihre Gedanken waren noch ganz woanders.

„Äh … ja klar. Die Kollegen ...“

***

„Mhm“, machte Norbert und sah Beate prüfend an. Sie wirkte irgendwie … abwesend und verschwand im Schlafzimmer.

Norbert runzelte die Stirn.

Er suchte seine Lesebrille, wie fast jeden Abend, und warf einen Blick ins Schlafzimmer.

Beate stand vor dem offenen Kleiderschrank und wühlte in ihrer Kleidung. Ein schickes Kostüm, ein beiger Trenchcoat, ein eleganter Schal landeten auf dem Bett.

Sie betrachtete ihn kritisch, murmelte:

„Nein, zu auffällig. Keine leuchtenden Farben.“ Dann verschwand sie kurz im Flur und kam mit einer Sonnenbrille und Schuhen zurück.

Norbert lehnte sich an den Türrahmen. „Was hast du denn vor, Schatz?“

Beate zuckte erschrocken zusammen. Ihre Finger krallten sich einen Moment in den Stoff des Trenchcoats, bevor sie ihn hastig glatt strich.

„Och, nichts Besonderes. Sandra und ich sind morgen im Café Rittersaal verabredet.“ Nebenbei packte sie die ausgesuchten Kleidungsstücke in eine Tasche.

Norbert hob eine Augenbraue. Beate zog sich für gewöhnliche Kaffeetreffen nicht so sorgfältig an.

„Aha“, machte er nur und trat zurück.

Eine halbe Stunde später hörte er Beates Stimme aus dem Schlafzimmer. Sie telefonierte.

Norbert beugte sich leicht zur Seite, um besser zu hören.

„Bestimmt bringt sie wieder diesen wahnsinnig attraktiven Marco mit …“

Norbert erstarrte.

Marco? Wer zur Hölle war Marco?

„Klar, ich passe auf, dass er mich nicht sieht …“

Er runzelte die Stirn. Nicht sieht? Wer? Marco oder er, Norbert?

„Das wird sicher sehr aufregend. Ich finde, dass ich endlich mal ein bisschen Spaß und Abwechslung verdient habe!“

Sein Magen zog sich zusammen.

Beate kicherte noch, dann beendete sie das Gespräch.

Norbert ließ sich hastig in seinen Sessel sinken und schaltete den Fernseher ein. Sein Blick blieb starr auf den Bildschirm gerichtet.

Sie trifft sich heimlich mit einem Mann!

Fehlt ihr etwas in unserer Ehe? Aufregung? Abwechslung? Leidenschaft?

Norbert fuhr sich über die Stirn.

Der Gedanke traf ihn härter, als er zugeben wollte.

***

Die Haarbürste rutschte Beate aus der Hand. Verflixt, und ihre Unterwäsche hatte sie auch im Schlafzimmer vergessen.

Sie erwischte sich dabei, wie sie ins Leere starrte, anstatt ihre gewohnte Morgenroutine abzuarbeiten.

Alles fiel ihr schwerer als sonst. Ihr Blick glitt zur Uhr.

„Ich muss heute früher ins Büro, wenn ich am Nachmittag eher gehen will!“, grübelte sie.

***

Norbert trat in die Küche, runzelte die Stirn.

„Du hast ja mein Essen noch gar nicht vorbereitet“, sagte er vorwurfsvoll. „Ich muss gleich los.“

Sie wirbelte herum. Ihre roten Locken wippten, als sie ihn ansah – und die Gereiztheit, die sie seit Minuten unterdrückte, brach durch ihren Ton.

„Du bist doch ein erwachsener Mann und kannst das selbst machen!“, fuhr sie ihn an. „Ich muss schließlich auch zur Arbeit. Und vorher mache ich noch die Betten, lüfte die Wohnung, starte die Wäsche. Hast du wenigstens deine dreckigen Sachen in den Wäschekorb getan?“

Norbert zögerte.

Natürlich nicht.

Beate schloss kurz die Augen, als müsste sie Kraft sammeln.

„Seit Jahren wasche ich freitags, weil ich da später arbeite“, sagte sie, leiser – erschöpft, nicht wütend. „Jede Woche bitte ich dich, deine Sachen einfach direkt in den Korb zu werfen. Jede Woche erinnere ich dich am Tag vorher. Und trotzdem liegt überall etwas herum. Jede Woche.“ Ihre Stimme brach fast unmerklich. „Ich kann nicht alles im Kopf behalten, Norbert.“

Er verschränkte die Arme. „Ich vergesse es halt manchmal, mein Gott. Ist ja nicht so, als würde die Welt untergehen.“

Einen Moment lang sah Beate ihn nur an.

„Dann wasch doch einfach selber!“

Die Worte waren nicht laut, aber scharf vor angestauter Müdigkeit. Sie schnappte sich den Wäschekorb und rauschte an ihm vorbei. Kurz darauf fiel die Kellertür ins Schloss.

Norbert stand wie angewurzelt da. Was zur Hölle war das gerade gewesen? So gereizt reagierte Beate sonst nicht.

Hat das mit diesem Marco zu tun?

Oder ist sie wirklich so wütend auf mich?

Norbert trank einen Schluck Kaffe und griff nach dem Handy, zögerte, und wählte dann die Nummer seines Chefs.

„Du, ich muss heute spontan Überstunden abbauen“, sagte er. „In letzter Zeit war’s ja öfter länger. Geht das in Ordnung? ... Super, danke.“

Er legte auf und starrte einen Moment aufs Display.

Sein Entschluss stand fest. Heute Nachmittag würde er Beate folgen und herausfinden, was sie wirklich vorhatte.

***

Den Morgen verbrachte Sandra damit, ihren Artikel für die Zeitung fertigzustellen. Zum Glück hatte sie bereits das meiste vorbereitet, denn es fiel ihr unglaublich schwer, sich zu konzentrieren.

Eigentlich wollte sie den Text mit ihrem Chef durchsprechen, doch nun schickte sie die E-Mail ohne weiteren Kommentar ab. Sie hatte einfach den Kopf nicht dafür frei.

Immer wieder nahm sie den Brief von Frau Weißhaupt zur Hand, den sie im Garten aufgehoben hatte, kaum dass Beate gegangen war. Es gab keinen Zweifel, das Treffen mit der alten Dame ging vor.

Endlich war es 14 Uhr. Ihre Freundin klingelte an der Tür. Sie sprachen den Plan nochmals durch und brachen dann auf.

Wie ausgemacht betrat Sandra als Erste das Café, wo sie schon von Frau Weißhaupt und ihrem Fahrer erwartet wurde. Die alte Dame hatte die hinterste Ecke ausgesucht.

Sandra warf einen kurzen Blick in den Raum – und stutzte.

Das Café war für diese Uhrzeit ungewöhnlich leer. Normalerweise war es an Freitagnachmittagen voll, mit Laptopmenschen, Müttern, Rentnern, Touristen. Heute jedoch… nichts. Nur die zwei schwarz gekleideten jungen Frauen am Eingang, die seltsam abgeschottet wirkten, als hätten sie eine kleine Insel aus Stille um sich herum errichtet.

Komisch. So leer habe ich es hier noch nie erlebt.

Im gleichen Moment, als sie ihr die Hand zur Begrüßung reichte, wurde Sandra von einem Duft umhüllt, der ihr bekannt vorkam. Eine verführerische Mischung aus Vanille, Zimt und einem geheimnisvollen, unbekannten Aroma.

Dasselbe Parfüm, das sie am Brief wahrgenommen hatte.

Sie nahm wahr, wie Beate nur wenige Augenblicke später hereinkam und plötzlich leicht zusammenzuckte.

Mitten im Türrahmen blieb ihre Freundin wie angewurzelt stehen. Langsam, fast widerwillig drehte sie sich, als wolle sie auf der Stelle wieder gehen.

Sandra beobachtete sie irritiert. Wo wollte Beate hin? War etwas passiert?

Ihr Blick blieb an den beiden Frauen am Eingang hängen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die zwei gestikulierten. War das Gebärdensprache?

Irgendetwas an der Art, wie sie Beate fixierten, wirkte seltsam aufmerksam.

Ihre Lippen formten stumme Worte, und die erhobenen Hände schimmerten im Licht, als hielten sie etwas Glänzendes zwischen den Fingern. Sandra starrte sie mit offenem Mund an.

Sandra erhob sich halb von ihrem Sitz, um zu Beate zu eilen.

In diesem Moment hatte Frau Weißhaupt eine heftige Hustenattacke und zog dadurch den Blick der beiden an der Türe auf sich. Sie schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung!“

Die Frauen ließen die Hände sinken und lehnten sich zurück.

Als Sandras Blick zu Beate zurückkehrte, suchte diese sich gerade einen Tisch, von dem aus sie ihre Freundin gut sehen konnte. Es schien alles in Ordnung zu sein.

Beate schob ihre Handtasche vor sich auf den Tisch – mit dieser ruhigen, fast methodischen Art, die Sandra gut kannte. Nur die leichte Starrheit in Beates Schultern verriet, wie angespannt sie war.

Schließlich lehnte sie das Handy sauber am Rand der Handtasche an und rückte nur noch eine Zuckerdose zurecht, um den Winkel etwas zu verbessern.

Kaum hatte sich Beate gesetzt, trat eine junge Frau aus dem Hinterraum – schlank, dunkelblonder Pferdeschwanz. Sandra hatte sie noch nie hier gesehen.

„Was darf’s sein?“ fragte sie freundlich, aber ungewöhnlich knapp.

„Für mich einen Cappuccino, bitte“, sagte Sandra.

Die Kellnerin wandte sich Beate zu.

„Ich nehme einen Milchkaffee.“

Die Kellnerin nickte – kein Lächeln, kein Zögern – und war schon wieder um die Ecke verschwunden. Kurze Zeit später stellte sie beide Tassen vor den Freundinnen ab.

Beate blinzelte. „Das ging ja schnell.“ Dann sah sie sich suchend um. „Wo ist denn Corinna heute?“

Die junge Frau – schon halb im Rückzug – drehte sich kurz um.

„Krank.“

„Oh! Dann gute Besserung“, rief Beate hinterher.

Die Kellnerin nickte nur und verschwand wieder lautlos im Hinterraum, bevor einer der beiden Freundinnen mehr fragen konnte.

Jetzt versuchte Beate, möglichst natürlich zu wirken – Hände um die Kaffeetasse, Blick auf die Speisekarte. Wer sie nicht kannte, würde wahrscheinlich nichts Verdächtiges sehen. Aber Sandra schon: das leichte Zittern ihrer Hände, die angespannten Schultern und die Falte auf der Stirn.

Beate gab ihr Bestes.

Als Frau Weißhaupt das Wort ergriff, vergaß Sandra diese Gedanken.

„Ich schlage vor, dass wir uns duzen. Das ist mir angenehmer!“

Sandra blinzelte. NEIN! Sie wollte von dieser Fremden, die sie ständig belästigte, nicht geduzt werden!

Doch bevor sie eine schlagfertige Antwort finden konnte, hörte sie sich selbst sagen: „Aber gerne!“ Ihre eigene Stimme klang überraschend sanft, fast vertraulich.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Beate ungläubig die Augenbrauen hochzog. Was soll das denn jetzt?, sagte ihr Blick.

Irgendwo im Hinterkopf wusste Sandra noch genau, warum sie hier war. Sie wollte dieser Frau klarmachen, dass sie sie in Ruhe lassen sollte. Und falls sie sich immer noch nicht daran hielt, würde Beates Video alles beweisen.

Sandra öffnete den Mund – und machte ihn wieder zu.

Frau Weißhaupt sprach unbekümmert weiter.

„Deine Ururgroßmutter Milda Weigelt war meine Tante. Wir sind also verwandt – über die mütterliche Linie. Und genau das ist entscheidend.“

„Milda war… eigen.“

Helene sprach ruhig, aber mit einem Nachdruck, der Sandras Aufmerksamkeit fesselte.

„Sie sammelte Kräuter, mischte Tees, kannte seltsame Bräuche. Viele im Dorf hielten sie für eine Heilerin – manche für verschroben. Aber sie bewahrte Wissen, das weit älter war als sie selbst.“

Ein kurzer Schatten huschte über Helenes Züge.

„Herzlich war sie nicht. Umso überraschender war es, als sie mich Jahre später bat, zu ihr zu kommen.“

Helene atmete leise aus, als würde die Erinnerung sie immer noch wundern.

„Sie sprach kaum ein Wort, drückte mir nur ein Paket in die Hand – und schloss die Tür wieder. Drinnen war diese Schatulle.“

Ihr Fahrer stellte den Holzkasten vor Sandra auf den Tisch.

Sandra öffnete den Deckel, schob das Tuch beiseite – und eine Steinplatte kam zum Vorschein.

Feine Linien waren darauf eingeritzt: zwei Hände, die eine Gebärde formten.

Nach und nach entblätterte sie die restlichen Tücher.

Zehn Platten. Zehn Gesten.

Jede mit einem anderen Ausdruck, einer anderen Spannung in den Fingern.

„Das ist der Grund, warum ich dich aufgesucht habe“, sagte Helene leise. „Diese Platten werden seit Generationen weitergegeben. Und sie reagieren nur auf Frauen unserer Linie.“

* * *

Norbert kam erst kurz nach drei an. Er wollte sicher sein, dass er Beate nicht aus Versehen begegnete. Sein Herz schlug schneller, als er das Café Rittersaal in Sichtweite hatte. Mit gesenktem Kopf schlenderte er die Straße entlang, als wäre er zufällig hier. Doch sein Blick huschte immer wieder unauffällig zu den Fenstern des Cafés.

Dort saß Beate. Allein.

Er zog sich schnell zurück und blieb hinter einem großen Werbeplakat stehen. Die Passanten um ihn herum verschwammen – wichtig war nur, dass Beate ihn nicht bemerkte.

Erneut spähte er über den Rand des Plakats.

Beate hatte es sich mit einer Tasse Kaffee gemütlich gemacht und blickte immer wieder auf ihr Handy. Nicht gelangweilt – eher prüfend. Erwartend. So wirkte sie, wenn sie auf jemanden wartete, der zu spät dran war.

Sandra war nicht bei ihr. Nach ein paar Minuten erhärtete sich sein Verdacht: Sandra kam nicht.

Und wenn Beate nur auf ihre Freundin gewartet hätte, würde sie nicht so… nervös wirken. So angespannt. So darauf fixiert, das Handy griffbereit zu halten.

Dann fügten sich alle Details zusammen:

Das Gespräch vom Vorabend. Die Bemerkung über „Aufregung“ und „Abwechslung“. Ihr Kichern. Dieses „Ich passe auf, dass er mich nicht sieht.“ Die sorgfältig ausgesuchten, gedeckten Farben. Die Sonnenbrille. Die Tasche, die sie hastig gepackt hatte.

Nicht schön, aber verdammt plausibel.

Norbert schluckte schwer.

Es konnte praktisch nur einen Grund geben:

Marco.

Langsam sickerte der Gedanke in ihm ein, bis er sich zu einem harten, unbequemen Gefühl verdichtete:

Beate wartete tatsächlich auf ihn.

Und der Kerl hatte nicht mal den Anstand, pünktlich zu sein.

Villa Hajante, Männerhaus

Nachdem Kratloom um die Hausecke gebogen war, warf er einen schnellen Blick über die Straße, um sicherzustellen, dass sich niemand in Sichtweite befand. Blitzschnell huschte er in den schmalen Spalt zwischen zwei Häusern. In der späten Abenddämmerung war der Schatten hier undurchdringlich. Vorsichtig wartete er einige Sekunden, bis er sich sicher war, dass ihm niemand folgte, und legte dann seinen grauen Umhang ab. Sauber gefaltet steckte er ihn unter sein schmuddeliges Hemd, wo er einen ansehnlichen Bauch formte.

Seine gepflegte Frisur verbarg er mit einer schäbigen Mütze, an der strähnige, lange Haare befestigt waren. Nichts an ihm erinnerte mehr an den muskulösen Mann von 1,85 Metern, als er gebeugt und breitbeinig zum Treffpunkt schlurfte. Seine Vorsicht ließ keine Sekunde nach, bis er schließlich durch die Gartentür in das Männerhaus der Villa Hajante schlüpfte.

Er sah aus wie ein verwahrloster Bettler, und die Hausmänner Hajantes würden für ihre Nachsicht mit ihm bestraft werden, falls er hier entdeckt wurde. Doch wenn der wahre Grund für sein Hiersein ans Licht käme, würde Hajante alle auf grausame Weise töten. Dennoch war genau das der Grund, warum dieser Ort der sicherste für die Treffen der MfF war. Niemand würde sie hier vermuten.

3 Linien der Vergangenheit

 

„Studiere die Platten ganz genau, Sandra“, sagte Frau Weißhaupt mit entschlossener Ruhe. „Und berichte mir alles, was du wahrnimmst.“

Der Vanilleduft legte sich wie ein weicher Schleier über Sandra. Sie spürte Helenes Blick. Aufmerksam, prüfend.

Sie nahm die erste Platte. Zwei Hände waren darauf abgebildet, in einer präzisen, fremdartigen Gebärde. Sandra hob ihre eigenen Hände und versuchte, die Positionen nachzuahmen – schwieriger, als es auf den ersten Blick erschien. Die Gelenke zwickten, die Haltung wirkte unnatürlich, beinahe ritualhaft.

Helenes Augen funkelten, zufrieden.

Sandra runzelte die Stirn.

Ein Teil von ihr wollte den Kasten zuschieben, aufspringen. Doch der andere Teil beugte sich noch ein Stück näher über die Platte.

Ihr Blick wanderte kurz zu Beate, die ihr gegenüber saß. Die hob eine Augenbraue, machte eine kleine, deutliche Geste. Sandra wusste, was sie bedeutete: Sag ihr endlich, dass sie dich in Ruhe lassen soll!

Sandra öffnete bereits den Mund – da strich sie mit den Fingerspitzen über die Rückseite der Platte. Uneben.

Was war das?

Sie drehte die anderen Platten um. Überall ähnliche Strukturen. Wie ein verborgener Code,.

„Interessant …“, murmelte sie.

Beate verdrehte die Augen, doch Sandra sah es kaum noch. Der Sog war zurück.

 

Der Fahrer beugte sich vor, nahm die erste Platte an sich und begann, eine nach der anderen wieder in den Holzkasten zu legen.

„Moment mal!“, protestierte Sandra – doch er hatte den Deckel schon geschlossen.

Helenes Stimme zog sie wieder in ihren Bann.

„Diese Platten haben mich von Anfang an fasziniert“, begann sie. „Also stand ich wenige Stunden später wieder vor Tantes Tür. Ich kann genauso stur sein wie sie.“

Sandra sah, wie Helenes Gesicht einen Moment traurig wurde.

„Durch alle Fenster habe ich nach ihr gesucht, bis sie mich endlich hereinließ. Und dann erzählte sie mir, warum sie diese Steinplatten für gefährlich hielt. Wie froh sie war, sie loszuwerden.“

Helenes Finger glitten über den Deckel des Kastens.

„Generation für Generation wurden sie weitergegeben. Im Verborgenen. Mit wachsender Angst.“

 

„Ungläubig hörte ich mir Tante Mildas Geschichte an. Sie behauptete, dass die Tafeln der Schlüssel zum Tor seien. Leider wusste sie selbst nicht, was damit gemeint war. Ich brauchte Monate, bis ich es verstand.“

Sie musterte Sandra kurz und fuhr dann fort.

„Milda erzählte Dinge, die sie seit Jahrzehnten verschwiegen hatte. Aber vieles davon war… düster. Verfolgungen, Drohungen, Gewaltversuche—Frauen unserer Familie seien über Jahrhunderte bedroht gewesen. Ich hielt das damals für übertriebene Familienmythologie.“

Sandra hob die Augenbrauen.

„Und jetzt weißt du es besser? Woher?“

Ein kurzes Zögern.

„Du wirst die Berichte später selbst lesen können“, wich Helene aus.

***

Beate beobachtete Sandra besorgt.

Was soll das? Warum jagt sie die Frau nicht endlich zum Teufel? Das sind doch alles Hirngespinnste, was diese Weißhaupt erzählt!

Sag es endlich: Ich fühle mich belästigt, bitte lassen Sie mich in Ruhe!

Aber Sandra tat nichts. Hörte nur zu.

Beate presste die Fingerspitzen gegen die Kaffeetasse. Hat die Geschichte sie gepackt? Typisch Journalistin!

Warum stellt sie dann keine Fragen?

Etwas stimmte ganz und gar nicht.

Los, Sandra. Sag es. Jetzt.

Doch ihre Freundin blieb stumm.

Beate rückte ein Stück vor, bereit, jederzeit einzugreifen.

***

Sandra richtete den Blick wieder auf Helene, als diese den Faden ihrer Geschichte aufnahm.

„Damals hielt ich es für alte Geschichten. Paranoia. Doch inzwischen weiß ich es besser. Hebammen, Heilerinnen, Frauen, die über ihren Körper bestimmen wollten… sie alle waren besonders gefährdet. Wissen war gefährlich. Und gefährliches Wissen musste verschwinden – so dachte man. Mit jeder Frau, die man zum Schweigen brachte, verschwand ein Teil der Rechte jeder Frau, über sich selber zu bestimmen.“

Helene fuhr leiser fort:

„Unsere Geschichtsforschung streitet, ob diese Verfolgungen gezielt zur Unterdrückung von Frauen dienten oder nur ein Ergebnis kollektiver Hysterie waren.“

Sie hob die Schultern ein wenig.

„Für das Leben der Frauen machte es keinen Unterschied.“

„Jeder weiß ein wenig über Hexenverfolgungen“, fuhr Helene leise fort. „Aber das war nur der Gipfel vieler Ereignisse. Ein sichtbarer Ausbruch von etwas, das Frauen über Jahrhunderte begleitet hat.“

„Lange bevor Scheiterhaufen brannten, verschwanden Frauen, die zu viel wussten oder zu viel konnten – Hebammen, Heilerinnen, alleinstehende Bäuerinnen, Witwen mit eigenem Land. Es sind Femizide, Sandra.“

Ein Schatten glitt über ihr Gesicht.

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Haben Hexenverfolgungen wirklich der Unterdrückung von Frauen gedient?

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„Aber einige Frauen haben einen Weg gefunden. Keine großen Fluchten – eher leise Linien durch die Geschichte. Gesten, ein Ritual, ein Stück Wissen, das man im Dunkeln weitergab. Ein Weg, den Verfolgungen zu entkommen. Frauen unserer Familie schüzten das Tor. Das ist unsere Berufung. Wir sind die Hüterinnen.“

Sandra schüttelte den Kopf.

„Ein Ritual? Hüterin? Das meinen Sie nicht ernst, oder?“

Frau Weißhaupt wedelte mit einer Hand. Ein Luftzug gemischt mit feinem Duft wehte zu Sandra. Sie verstummte.

***

Norbert wurde aus seinen Gedanken gerissen, als eine raue Stimme von der gegenüberliegenden Straßenseite ertönte.

„Na, so allein unterwegs, Süßer?“

Er drehte sich unauffällig in Richtung des Geräuschs und bemerkte zwei junge Frauen, die lässig am Heck einer Limousine lehnten.

Ein junger Mann – blond, mit Brille und einem lässigen Bun – wollte gerade an ihnen vorbeigehen, als die Schwarzhaarige ihm plötzlich den Weg versperrte. Er hielt irritiert inne, musterte sie kurz und setzte dann an, um sie zu umgehen. Doch sie ließ ihn nicht so leicht entkommen.

„Du bist ja ein niedliches Sahnestückchen!“

Die zweite Frau kicherte, während sie ihn mit amüsierten Blicken musterte. Der junge Mann beschleunigte seine Schritte – doch kaum war er an ihnen vorbei, klatschte die Schwarzhaarige ihm spielerisch, aber deutlich spürbar auf den Hintern.

Er fuhr empört herum. „Was fällt Ihnen ein?!“

Die Frau lachte ungerührt und zuckte mit den Schultern. „Reg dich nicht auf! Das war doch nur ein Kompliment. Nen sexy Hintern hast du.“

Sein Blick flackerte zwischen Wut und Fassungslosigkeit. Er drehte sich abrupt um, um weiterzugehen – doch da schlang die Schwarzhaarige plötzlich ihren Arm um seine Schultern und zog ihn näher zur Limousine.

„Na? Lust auf eine Spritztour?“

In diesem Moment trat eine weitere Frau aus dem dunklen Hinterhof des Cafés – älter als die anderen beiden, jedoch nicht weniger auffällig. Sie trug ebenfalls Schwarz, ihre Stiefel hallten auf dem Pflaster.

Norbert hielt den Atem an.

Die Frau an der Limousine sprang auf und ihr ganzer Körper spannte sich an, als würde sie stramm stehen. Die Schwarzhaarige hingegen hatte den Ankömmling noch nicht bemerkt – bis plötzlich eine kalte, durchdringende Stimme die Luft zerschnitt:

„Creosa! Sofort mitkommen!“

Die Schwarzhaarige zuckte zusammen, als hätte sie eine Stromladung bekommen. Hastig ließ sie den jungen Mann los.

Der wiederum hatte sich inzwischen vom Schock erholt. Seine Wut kehrte zurück. „Hey! Hiergeblieben! Das war Belästigung! Ich erstatte Anzeige.“ Er zog sein Handy hervor und tippte hastig Ziffern ein.

Die Ältere richtete ihre dunklen Augen auf ihn und machte eine beiläufige Handbewegung, ein paar gemurmelte Worte.

Der junge Mann hielt plötzlich inne. Sein Blick wurde leer, seine Finger erstarrten auf dem Display. Dann runzelte er verwirrt die Stirn, fuhr sich über den Kopf.

„Was … wollte ich gerade?“ Er blinzelte, als würde er aus einem Traum erwachen. Dann schüttelte er den Kopf und murmelte: „Oh, die Vorlesung.“

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging.

Norbert starrte ihm fassungslos nach.

Was zur Hölle ist hier gerade passiert?

* * *

Frau Weißhaupt räusperte sich.

„Ich bin sehr krank, deshalb ist es dringlich. Du bist eine geeignete Nachfolgerin. Allerdings müssen wir erst testen, ob du das Tor wirklich öffnen kannst.“

„Und… was genau für ein Tor sollen die Platten öffnen?“

Sandra versuchte, sachlich zu klingen, doch Skepsis schlich sich in ihre Stimme.

Die alte Dame lächelte – nicht überlegen, sondern wissend.

„Das wirst du selbst herausfinden müssen.“

Sandra wollte weiterfragen, doch Frau Weißhaupt hob sanft die Hand. Unmissverständlich.

„Weil es deine Aufgabe ist, Sandra. Meine Erbin trägt die Verantwortung, die ich nicht mehr lange tragen kann.“

Ihre Stimme blieb warm – aber darunter lag etwas, das keinen Widerspruch kannte.

„Deshalb möchte ich, dass du deine Arbeitsstelle kündigst. In deiner zukünftigen Funktion als Hüterin der Steintafeln wirst du über ein großes Vermögen verfügen und keine weiteren Einkünfte benötigen. Mehr noch – du wirst die Möglichkeit haben, für die Gleichberechtigung der Frauen wirklich etwas zu bewirken. Ich möchte, dass du eine Minute nachdenkst und mir dann sagst, ob du diese Aufgabe freiwillig übernehmen willst.“

Sandra blinzelte. Erbin? Hüterin? Die Worte schwebten zwischen ihnen, schwer und seltsam unwirklich.

Bevor sie überhaupt verstand, was Helene da verlangte, fiel etwas anderes über sie: diese sachte, warme Ruhe, die nichts mit ihr zu tun hatte. Ein Gefühl, das eher von außen kam als aus ihr selbst.

***

Gegenüber beobachtete Beate die Szene mit wachsendem Misstrauen. Das war alles viel zu glatt. Und Sandras Schweigen traf sie wie ein Warnschuss.

Sandra saß da, vollkommen still. Wie benebelt.

Beate beugte sich vor.

„Sandra?“

Keine Reaktion.

Beates Entschluss fiel in einer Sekunde.

Sie schob ihren Stuhl zurück, sprang auf und trat zu Sandra.

„Sandra? Hörst du mich?“

Nichts.

Da packte Beate ihre Freundin an den Schultern. „Hey!“ Ihre Stimme hatte einen ungewohnten Ernst.

Sandra blinzelte, aber wie durch sie hindurch.

Das genügte.

Beate zog die widerstrebende Sandra hoch und schob sie entschlossen Richtung Tür.

Doch da erhoben sich plötzlich die beiden Frauen am Eingang und stellten sich ihnen in den Weg.

„Was soll das? Lassen Sie uns durch!“

Man hörte die Angst in Beates Stimme.

In diesem Moment öffnete sich die Tür automatisch. Strömte kühle Luft herein. Ein leiser Abendwind, der nach Regen roch – klar, frisch, ohne einen Hauch des süßlichen Aromas, das im Raum gelegen hatte.

Und genau da, im ersten Atemzug draußen, flackerte etwas in Sandras Gesicht.

Ein Riss im Schleier.

Ein Aufwachen.

Sie holte tief Luft. Sehr tief. Fast gierig. Und dann kam die Sprache zurück, als hätte jemand einen Kanal freigeschaltet.

„Nein.“

Ein einziges Wort – klar, fest, unverrückbar.

Beate spürte, wie ihre eigenen Schultern sich lösten.

Sandra drehte sich zu Frau Weißhaupt um. Die Schwere fiel sichtbar von ihr ab, und mit ihr dieser fremde Einfluss, der im Raum gehangen hatte.

„Ich werde auf gar keinen Fall meine Stelle kündigen.“

Ihre Stimme war wieder ihre. Pointiert, ein wenig scharf, mit diesem Funken, den Beate so gut kannte.

„Ich liebe meinen Beruf. Und ehrlich – deine Geschichte ist völlig unglaubwürdig, auch wenn du einen sehr seriösen Eindruck machst. Und du willst mir Vorschriften machen. Das mache ich nicht mit. Also nein.“

Frau Weißhaupt beobachtete sie schweigend.

Kein Zorn, keine Überraschung – nur ein Schatten von Bedauern, weich und schwer.

Dann seufzte sie und nickte den beiden schwarz gekleideten Frauen am Eingang zu.

Ein stummer Befehl.