Messias und Zeichenprophet - Frank Zimmermann - E-Book

Messias und Zeichenprophet E-Book

Frank Zimmermann

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Beschreibung

Was lässt sich heutzutage an Historisch-Verbindlichem über Jesus von Nazareth berichten? Wie kann sein Aufstieg vom einfachen Zimmermannssohn zur Hauptfigur einer Weltreligion erklärt werden? Durch die Einbettung des historischen Jesus in den gesellschaftlichen, religiösen und politischen Kontext des ersten Jahrhunderts wird hier ein Jesus-Portrait geschaffen, das diesen ganz als Kind seiner Zeit und als ersten in einer Reihe von gescheiterten patriotischen Zeichenpropheten und Messiasanwärtern dieser unruhigen Jahrzehnte erscheinen lässt. In der zweiten Buchhälfte wird ausführlich dargelegt, dass erst der Heidenapostel Paulus aus dem gläubigen und patriotischen Juden Jesus aus Nazareth jenen heute von Milliarden Christen weltweit verehrten himmlischen Gottessohn Jesus Christus gemacht hat. Hierfür griff Paulus auf Elemente aus den seinerzeit populären religiösen Bewegungen der Gnosis und der Mysterienkulte zurück. Seine Briefe stellen die ältesten Schriften des Neuen Testaments dar und sind unsere frühesten Quellen für die Vorstellungen von Jesus als für die Menschheit geopfertes Passahlamm, von Brot und Wein als Leib und Blut Jesu und vom für die Sünden der Menschen gestorbenen Erlöser und vom Gottmenschen Jesus Christus. Als 20-60 Jahre nach den Paulusbriefen die Evangelien niedergeschrieben wurden, hatte sich das paulinische Gedankengut nahezu überall durchgesetzt und beeinflusste tiefgreifend die Evangelisten, die die Geschichte Jesu auf der Basis von authentischen Überlieferungen so umschrieben, dass er nicht mehr als Protestler gegen die römische Fremdherrschaft, sondern als Reformer des Judentums erschien. Gespickt mit viel Zeitkolorit erzählt der 1971 in Bad Kreuznach geborene, freischaffende Autor Frank Zimmermann die Geschichte Jesu neu und beleuchtet kritisch die von Auseinandersetzungen um das wahre Evangelium und die Heidenmission geprägten Ursprünge des frühen Christentums.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

Einführung

I - Der Ort und die Zeit

1) Ein leidgeplagtes Volk

2) Das Zentrum der Welt

3) Kein Land, wo Milch und Honig fließen

4) In Erwartung des Messias und des Gottesreiches

II – Abstammung, Geburt, Familie

1) Zu Bethlehem geboren?

2) Der Stern der Weisen

3) Die Jungfrau und das göttliche Kind

4) Die Familie Jesu

III – Die verlorenen Jahre

1) Eine Kindheit in Nazareth

2) Die Zierde Galiläas

3) Zeloten, Pharisäer, Sadduzäer und Essener

4) Jesus und die Pharisäer

5) Ein ungebildeter Rabbi?

IV – Öffentliches Wirken

1) Der Lehrer Jesu

2) Heilungen, Exorzismen und Wundertaten

3) Der Messiasanwärter

4) Einzug in Jerusalem in

5) Tempelreinigung und Steuerfrage

V – Die Passionsereignisse

1) Das letzte Mahl

2) Am Ölberg

3) Der Messiasanwärter Tag des Herrn

4) Prozessakte „Jesus von Nazareth“

5) Der gescheiterte Zeichenprophet

VI – Nach Jesu Tod

1) Auferstehungsglaube

2) Ein leeres Grab?

3) Erscheinungen in Galiläa

4) Der Traditionsbruch

VII – Paulus und die Jerusalemer Urgemeinde

1) Die Quellen

2) Die frühen Jahre des Paulus

3) Stephanus und die „Hellenisten“

4) Anführer der Bewegung

5) Ein römischer Bürger

VIII – Streit um die Heidenmission

1) Der Galaterbrief und das Treffen in Jerusalem

2) Der Antiochenische Zwischenfall

3) Der Römerbrief und die Kollekte für Jerusalem

4) Der Siegeszug der paulinischen Lehre

Anhang I:

Chronologie der frühapostolischen Zeit

Anhang II:

Tiberius Julius Abdes Pantera t

Anhang III:

Paulus – ein Herodianer?

Literaturverzeichnis

Einführung

„Darum steht die Geschichte der Erforschung des Lebens Jesu an elementarem Wert höher als die Geschichte der Erforschung des alten Dogmas und der Versuche des neuen. Sie stellt das Gewaltigste dar, was die religiöse Selbstbesinnung je gewagt und getan hat.“1

Albert Schweitzer (1875-1965)

Rund 2,5 Milliarden Menschen weltweit bekennen sich derzeit zum christlichen Glauben und damit zu jenen Lehren, die einem gewissen Jesus von Nazareth zugeschrieben werden, der zur Zeit der Kaiser Augustus und Tiberius im römisch beherrschten Palästina gelebt und gewirkt haben soll. Was lässt sich heutzutage – wenn überhaupt – an Historisch-Verbindlichem über diesen Jesus berichten?

Seinem Zeitgenossen, dem jüdischen Philosophen und Theologen Philon von Alexandria, von dem zahlreiche Schriften auf uns gekommen sind, scheint er nicht bekannt gewesen zu sein. Falls er tatsächlich in der Regierungszeit Herodes‘ des Großen zur Welt gekommen sein sollte, müsste er spätestens im Jahr 4 vor unserer Zeitrechnung geboren sein, denn dies war dessen Todesjahr. Und wenn er unter dem römischen Präfekten Pontius Pilatus zum Kreuzestod verurteilt und hingerichtet wurde, so muss dies zwischen 26 und 36 unserer Zeitrechnung geschehen sein, denn in diese Jahre fällt Pilatus‘ Amtszeit in Judäa. Die frühesten schriftlichen Erwähnungen finden sich in den Briefen des Apostels Paulus, die etwa zwischen den Jahren 50 und 60, also zwei bis drei Jahrzehnte nach Jesu Tod, verfasst wurden und somit die ältesten Texte des Neuen Testaments darstellen. Doch wie sich noch zeigen wird, ist Paulus nicht gerade der beste Gewährsmann, wenn es um das Leben des historischen Jesus geht, denn „Leben und Lehre des Jesus von Nazareth spielen, so merkwürdig das klingen mag, in Leben und Lehre des Paulus nur eine ganz geringe Rolle.“2 Wir werden zu gegebener Zeit auf diesen Umstand zurückkommen.

Eine wichtige Errungenschaft der neutestamentlichen Forschung war die Erkenntnis, dass die Evangelien nicht von Zeitgenossen Jesu verfasst wurden, sondern erst in den Jahrzehnten nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, also nach dem Jahr 70, entstanden sein konnten.3 Daher liefern auch sie keine Lebensberichte aus erster Hand und waren von ihren Verfassern auch gar nicht als solche angedacht. Es „steht außer Diskussion, daß die Evangelisten ein historisches Interesse in unserem Sinne nicht gehabt haben, auch Lukas nicht. Sie wollen verkündigen, Glauben wecken, nicht eine historische Neugier befriedigen.“4

Das Wort Evangelium kommt vom griechischen evangelion und bedeutet soviel wie „gute Nachricht“ oder „frohe Kunde“. Nach der sogenannten Zweiquellentheorie5, die heute von der Mehrzahl der Gelehrten vertreten wird, entstand zunächst das nach Markus benannte.6 Es diente den unabhängig voneinander arbeitenden Verfassern des Matthäus- und des Lukas-Evangeliums als Vorlage, die sie zwischen 80 und 90 um Geburtslegenden und Auferstehungserzählungen erweiterten. Als zweite von diesen beiden verwendete Quelle wird eine wohl schon recht früh verbreitete, Aussprüche Jesu enthaltende Schrift angenommen. Zwar ist von dieser sogenannten Logienquelle Q kein einziges Fragment erhalten, doch wird darauf aus Versen geschlossen, die sowohl bei Matthäus als auch bei Lukas, nicht jedoch bei Markus zu finden sind. Von diesen drei sogenannten synoptischen Evangelien, die untereinander vergleichbar und verhältnismäßig ähnlich sind, ist das Johannes-Evangelium zu trennen, das als letztes der vier entstand und hinsichtlich seines Aufbaus, der Sprache und des Erzählstoffs bisweilen beträchtliche Unterschiede aufweist. Es verklärt Jesus endgültig zu einem vergeistigten Wesen und wird daher in der Leben-JesuForschung kaum noch in Betracht gezogen.

Neben den vier bekannten, kanonischen Evangelien, der vom gleichen Verfasser wie das Lukas-Evangelium geschriebenen Apostelgeschichte und den Paulus-Briefen gibt es noch eine ganze Reihe weiterer recht früher christlicher Schriften. Sie haben keinen Eingang in den Kanon des Neuen Testaments gefunden und werden daher als apokryph (griech. „verborgen“) bezeichnet. Zu ihnen zählen etwa das Thomas-Evangelium, das Protevangelium des Jakobus, Pseudo-Matthäus, die Petrus- und die Paulus-Akten und noch einige Texte mehr.

Außerhalb der kanonischen und apokryphen Schriften frühchristlicher Autoren finden sich in einigen Werken von Schriftstellern des späten ersten und frühen zweiten Jahrhunderts Hinweise auf Jesus und die frühen Christen. So erwähnte etwa der Kaiserbiograph Sueton, dass Claudius, der in den Jahren 41-54 regierte, die Juden aus Rom vertrieben habe, weil sie unter dem Einfluss eines gewissen „Chrestos“ gestanden und Unruhe gestiftet hätten.7 Ebenso kannte und erwähnte Plinius der Jüngere (61-114) die Sekte der Christen und ihren „minderwertigen Aberglauben.“8 Auch Tacitus (etwa 55-120) berichtete von den abergläubischen Christen, deren Name auf einen gewissen Christus zurückgehe, der während der Regierungszeit des Kaisers Tiberius unter dem Landpfleger Pontius Pilatus hingerichtet worden sei.9 Der Messiasanwärter jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus (37- ca.100), unsere wichtigste zeitgenössische Quelle, beschreibt in seinem Werk Antiquitates Iudaicae („Jüdische Altertümer“), das um das Jahr 95 fertiggestellt wurde, sehr ausführlich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zur Zeit Jesu. Er berichtet u. a. auch von Johannes dem Täufer. Jesus findet nur beiläufig im Rahmen der Steinigung des Jakobus Erwähnung, der laut Josephus „ein Bruder des Jesus war, den man Christus nennt.“10

Dies sind im Wesentlichen die uns zur Verfügung stehenden literarischen Quellen, zu denen sich noch bestätigend und ergänzend einige archäologische Funde hinzugesellen. Das Gros dieser Quellen steht der Leben Jesu-Forschung im Prinzip schon seit ihren Anfängen zur Verfügung. Dass jedoch die verschiedenen Autoren, seien es nun christliche Theologen, Historiker oder jüdische Rabbiner11, in vielerlei Fragen zu mitunter vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, hängt damit zusammen, welche Passagen der Evangelien der jeweilige Autor für historisch glaubwürdig hält. Auf diese Weise gelangten einige extreme Skeptiker, indem sie den Evangelien jeglichen historischen Gehalt absprachen, zu dem radikalen Schluss, dass Jesus als historische Person niemals real existiert habe.12

Für gläubige Christen waren bei der Leben-Jesu-Forschung einige hohe Schranken zu überwinden – sowohl psychologische als auch gesellschaftliche. So hatte Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), der Pionier dieses Fachgebiets, es zu seinen Lebzeiten aus Angst um seine bürgerliche Existenz nicht gewagt, seine Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes drucken zu lassen. Fragmente daraus wurden erst nach seinem Tod durch Gotthold Ephraim Lessing veröffentlicht – zum Schutz der Familie Reimarus ohne Angabe des Autorennamens. Diese Fragmente eines Ungenannten, wie Lessing sie in seiner Zeitschrift Zur Geschichte und Literatur betitelte, führten zum sogenannten Fragmentenstreit, einer so zuvor nicht gekannten theologischen Kontroverse zwischen dem Aufklärer Lessing und zahlreichen orthodoxen lutherischen Theologen.

So mancher Forscher des 18. und 19. Jhs. musste seine Wahrheitssuche und Aufrichtigkeit mit dem Ende seiner akademischen Laufbahn bezahlen. Neben Karl Friedrich Bahrdt (1740-1792) und Bruno Bauer (1809-1882) kann als Musterbeispiel hierfür David Friedrich Strauß angeführt werden, dessen zweibändiges Werk Das Leben Jesu der Forschung ihren Namen gab.13 Am Ende des Vorworts zu seiner Übersetzung der Gespräche des Ulrich von Hutten blickte er zurück: „Eben in diesen Tagen ist es ein Vierteljahrhundert, dass mein Leben Jesu zum erstenmal in die Welt ausgegangen ist. Die Theologen werden das fünfundzwanzigjährige Jubiläum dieses Buches schwerlich feiern wollen, unerachtet es mehr als Einem von ihnen erst zu allerlei hübschen Gedanken, dann zu Amt und Würden verholfen hat. […] Ich selbst sogar könnte meinem Buche grollen, denn es hat mir (von Rechtswegen! rufen die Frommen) viel Böses getan. Es hat mich von der öffentlichen Lehrtätigkeit ausgeschlossen, zu der ich Lust, vielleicht auch Talent besaß; es hat mich aus natürlichen Verhältnissen herausgerissen und in unnatürliche hineingetrieben; es hat meinen Lebensgang einsam gemacht. Und doch bedenke ich, was aus mir geworden wäre, wenn ich das Wort, das mir auf die Seele gelegt war, verschwiegen, wenn ich die Zweifel, die in mir arbeiteten, unterdrückt hätte: dann segne ich das Buch, das mich zwar äußerlich schwer beschädigt, aber die innere Gesundheit des Geistes und Gemüts mir, und ich darf mich dessen getrösten, auch manchem Andern noch, erhalten hat.“14

Entgegen der drohenden gesellschaftlichen Ächtung hatte Strauß die mythische Deutung, die damals bereits in der alttestamentlichen Forschung gang und gäbe war, auch bei den Evangelien angewandt. Der Messiasanwärter Philosophie seines Lehrers Hegel folgend sah er sie als Synthese aus der naiven Wundergläubigkeit (Supranaturalismus) und den „vernünftigen“ Erklärungsversuchen der Rationalisten an. Sein Werk leitete eine fruchtbare Zeit in der Leben-Jesu-Forschung ein, da ihm eine ganze Flut von Widerlegungsversuchen „traditioneller“ Theologen folgte.

Auf die Tatsache, dass die dadurch entwickelten Vorstellungen von Jesus stets den höchsten ethisch-moralischen Idealvorstellungen ihrer jeweiligen Verfasser entsprachen, hat Albert Schweitzer in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ hingewiesen.15 Hatte doch der projektive Charakter der Forschung dazu geführt, dass diejenigen, die sich als Humanisten von den Bevormundungen der Kirche lösen wollten, in Jesus, der doch auf dem Tempelhof gewütet hatte, einen Gegner religiöser Institutionen sahen, dass die der sozialistischen Gesellschaftsidee zugeneigten Forscher ihn, der doch die Reichen kritisiert und die Tische der Geldwechsler umgestoßen hatte, zum Vorläufer des Sozialismus erklärten, usw. Auf diese Weise hat jeder moderne Zeitabschnitt, jede politische Strömung, jede Mode, ihren Jesus hervorgebracht.

Der Messiasanwärter in diesem Buch dargestellte Jesus soll jedoch ganz Kind seiner Zeit sein. Während die Evangelien ihn fast vollkommen isoliert vom turbulenten Zeitgeschehen im Palästina des frühen 1. Jhs. präsentieren – nicht ohne Grund, wie wir gleich noch sehen werden –, wollen wir versuchen, ihn wieder in den gesellschaftlichen, politischen und religiösen Kontext seiner Zeit einzubetten. Hierdurch wird sich fast zwangsläufig ein anderes Jesusbild ergeben, als dasjenige, welches den meisten Christen geläufig ist. Drei ebenso schlichte wie bedeutsame Tatsachen weisen uns hierbei den Weg:

Jesus war Jude. Nach dem Lukas-Evangelium wurde er – wie es das jüdische Gesetz verlangte – an seinem achten Lebenstag beschnitten.

16

Da seine Eltern nach seiner Geburt vorschriftsmäßig und toratreu die nötigen Opfer darbrachten

17

und Jahr für Jahr nach Jerusalem zum Passahfest gingen

18

, dürfen wir auch davon ausgehen, dass sie ihn im jüdischen Glauben erzogen.

Jesus wurde gekreuzigt. Römische Bürger waren von der Kreuzigung ausgenommen und wollten von solch einer schmachvollen, entehrenden und grausamen Hinrichtungsmethode nach Möglichkeit auch gar nichts wissen.

19

Die Kreuzigung war vielmehr eine politische Strafe für flüchtige Sklaven, Deserteure, Hochverräter und Aufständische. Nach übereinstimmendem Bericht der Evangelien war der Grund für Jesu Kreuzigung auf einer an seinem Kreuz angebrachten Tafel vermerkt. Demnach bestand sein Vergehen darin, sich als König der Juden ausgegeben

20

, mithin aus römischer Sicht ein politisches Verbrechen begangen zu haben, das nach der

lex Iulia de maiestate

die Herrschaft des Kaisers bzw. des Statthalters gefährdete.

21

Alle vier kanonischen Evangelien stammen erst aus der Zeit nach dem Jüdischen Krieg (66–73), als die Juden im gesamten Römischen Reich verhasst waren.

22

Nach Punkt 1 und 2 verehrten nun aber die frühen Christen einen Juden, der ein politisches Verbrechen gegen Rom begangen hatte. Daher mussten die Evangelisten darauf bedacht sein, mit der Abfassung der Geschichte dieses Mannes keinen Argwohn bei den Römern hervorzurufen. Mit authentischen Überlieferungen als Ausgangsbasis wurde Jesu Geschichte so umgeschrieben, dass er nicht mehr als Protestler gegen die römische Fremdherrschaft, sondern als Gegner der jüdischen Autoritäten und als Reformer des Judentums erschien. Gewisse historische Tatsachen konnten jedoch auch die Verfasser der Evangelien nicht leugnen, und da sie bei ihrer Geschichtsklitterung bisweilen nicht besonders geschickt vorgingen, können die tatsächlichen Begebenheiten bis zu einem gewissen Maß noch rekonstruiert werden. Nur auf diese Weise lassen sich auch die zahlreichen Ungereimtheiten und Widersprüche in den Evangelien erklären, z. B. dass die römische Besatzungsmacht kaum Erwähnung findet, dass ein sehr negatives Bild von den Pharisäern gezeichnet wird, dass das turbulente Zeitgeschehen unerwähnt bleibt und stattdessen Jesu Werdegang vor einem friedvollen Hintergrund geschildert wird, dass Pontius Pilatus, der nach Ausweis außerbiblischer Quellen ein äußerst grausamer und korrupter Statthalter war

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, im Prozess gegen Jesus als milde, wohlwollend und nachgiebig dargestellt wird und dass dieselben Juden, die Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem zugejubelt hatten, bei diesem Prozess seinen Tod gefordert haben sollen. Gerade die neutestamentlichen Schilderungen dieses Prozesses mitsamt der fiktiven Barabbas-Episode, in der die Juden für den Tod Jesu verantwortlich gemacht werden, bilden die Quelle eines nunmehr fast zweitausendjährigen, nicht immer nur unterschwelligen christlichen Antisemitismus.

Auch die in die Evangelien eingebauten mythologischen Motive vernebeln den Blick auf den historischen Jesus. Obwohl praktisch alle diese Motive längst ausgemacht und durch den Nachweis ihres vorchristlichen Alters als Entlehnungen aus anderen Zeiten oder Kulturen entlarvt sind, halten sich einige von ihnen immer noch hartnäckig. So gibt es beispielsweise noch immer einige Gelehrte, die den Stern von Bethlehem in irgendeinem astronomischen Phänomen rund um die Zeitenwende aufspüren zu können glauben. Daher werden wir im Verlauf dieses Buches auch das Netz von Mythen, das in frühchristlicher Zeit rund um die historische Person Jesus von Nazareth gesponnen wurde, einzureißen haben.

Wie schon Schalom Ben-Chorin feststellte, ist es „in der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung […] eine bekannte Erscheinung, daß Autoren, die ein Buch über Jesus geschrieben haben, sich nach einiger Zeit gedrängt fühlen, ein Buch über Paulus folgen zu lassen.“24 Dies ist natürlich kein Zufall, denn schließlich gilt es ja auch zu erklären, wie aus der historischen Person, dem patriotischen Juden Jeschua aus Nazareth, jener himmlische Christus werden konnte, zu dem sich heute über zwei Milliarden Menschen bekennen. Die Verklärung Jesu zu einem himmlischen Wesen von gottgleicher Natur spielte selbstredend auch bei der Umschreibung der Geschichte Jesu durch die Evangelisten eine nicht ganz unerhebliche Rolle. Der Messiasanwärter Glaube an ein solches Wesen, an einen Gottmenschen, war dem Judentum nicht nur vollkommen fremd, sondern verstieß auch gegen das erste der Zehn Gebote, weshalb die Jünger Jesu, die ja selbst allesamt Juden waren, nach Jesu Tod niemals in einen solchen Glauben verfallen wären. Hierauf werden wir in der zweiten Hälfte des Buches näher einzugehen haben. Dort wird sich zeigen, dass für die Verklärung des geschichtlichen Jesus zu einem präexistenten, gottgleichen Wesen aus einem Reich „nicht von dieser Welt“ zu einem großen Teil der Apostel Paulus verantwortlich zu machen ist. Auf sein sogenanntes Damaskuserlebnis, seine Lehren und auf die Auseinandersetzungen, die er mit der Jerusalemer Jesusbewegung über den Inhalt seiner Predigten und den Umgang mit den von ihm bekehrten Heiden führte, muss daher ebenfalls eingegangen werden. Zunächst ist jedoch ein Blick auf den historischen und gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem sich das Leben Jesu abspielte, unerlässlich.

1 Schweitzer,1906(19849),45

2 Ben-Chorin,1986,37

3 Es gilt als sicher, dass zur Zeit der Abfassung des ältesten, des Markus-Evangeliums der jüdischrömische Krieg (66-74) zumindest bereits begonnen hatte. Mk 13,2 ist sehr wahrscheinlich auf eine bereits erfolgte Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 zu beziehen.

4 Grass,1970,108

5 Diese geht zurück auf Weisse,1838, Wilke,1838 und Holtzmann,1863.

6 Keines der Evangelien ist von jener Person geschrieben, nach der es benannt ist. Eine Zuordnung der wohl anonym verfassten Evangelien zu bestimmten Namen und Personen aus dem Umfeld von Petrus, Paulus oder gar Jesus erfolgte erst später.

7Claudius 25,4

8Epistula X,96

9Annales XV,44

10Antiquitates Iudaicae (im Folgenden Jos. Ant.) XX,9,1; XVIII,3,3; Das sogenannte Testimonium Flavianum (Jos. Ant.XVIII,3,3) bleibt hier unberücksichtigt, da es sich hierbei zur Gänze oder zum größten Teil um einen christlichen Einschub in den Josephus-Text handelt, der irgendwann zwischen dem 2. und 4. Jh. vorgenommen wurde.

11 Zahlreiche jüdische Religionsforscher und Historiker haben sich mit dem Leben Jesu beschäftigt (etwa Montefiore,1909; Eisler,1929-30; Klausner,1952; Ben-Chorin,1967; 1970; Flusser,1968; Vermes,1973). So stammt auch die früheste neuzeitliche Auseinandersetzung mit dem historischen Jesus von einem venezianischen Gelehrten und Rabbiner namens Leone da Modena (1571–1648).

12 Exemplarisch seien hier genannt Volney, 1791; Dupuis, 1796; Bauer,1840, 1841-42, 1850-51; Kalthoff,1902, 1904; Robertson, 1900, 1902a, 1902b; Smith,1906, 1911; Jensen,1906, 1910; Drews,1909, 1911; Niemojewski,1910; Fuhrmann,1912; Dujardin,1938; Raschke,1954; Allegro,1979; Doherty,1999

13 Strauß,1835-36

14 Strauß,1860,LIV-LV

15 Schweitzer,1906(19849)

16 Lk 2,21

17 Lk 2,22-24

18 Lk 2,41

19 So etwa Cicero - Pro Rabirio perduellionis reo V,16

20 Mk 15,26; Mt 27,31; Lk 23,38; Joh 19,19-20

21 Ulpian - Digest 48,4,1; 48,4,11

22 „Um die Zeit der Kriegserklärung, als Vespasian gerade in Syrien gelandet war und überall der Haß gegen die Judäer stark war …“ (Flavius Josephus - Bellum Iudaicum (im Folgenden Jos. Bell.VII,3,3). „Es gibt in der damaligen Welt einen scharfen Antisemitismus mit literarischer Propaganda, Pogromen usw. Solange das Christentum eine jüdische Sekte darstellt, wird es durch den Antisemitismus in seiner Mission ebenso gehemmt wie das Judentum selbst. Macht sich das Christentum vom Judentume frei, so fällt die Hemmung weg.“ (Leipoldt,1961,171)

23 Nach Philon von Alexandria (Legatio ad Gaium XXXVIII, 301–303) zählten zu seinen Vergehen u.a. Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, Raub, Bestechung, Beleidigung, wiederholte Gewalttätigkeit, Grausamkeit und Zügellosigkeit. Flavius Josephus berichtet von mehreren Vorfällen, bei denen Pilatus das Volk durch provokante Aktionen zum Aufruhr anstachelte, um es dann - teilweise mit Hinterlist – niedermetzeln zu lassen (Jos. Bell. II,9,2-4; Jos. Ant. XVIII ,3,1-2; XVIII,4,1-2).

24 Ben-Chorin,1986,9

(I)

DER ORT UND DIE ZEIT

Ein leidgeplagtes Volk

„Das Meer hat keinen Grund, und das Leiden der Juden kein Ufer.“

(Jüdisches Sprichwort)

Nachdem sie aus der ägyptischen Knechtschaft geflohen und das ihnen von Gott verheißene Land Kanaan blutig in Besitz genommen hatten, schufen sich die Israeliten unter Saul, David und Salomo ein unabhängiges Königreich mit Jerusalem als Hauptstadt, das jedoch nur kurzzeitig Bestand hatte und nach dem Tod Salomos, des Erbauers des ersten Tempels, in ein Nordreich Israel und ein Südreich Juda zerfiel. So berichtet es die Bibel.

Diese beiden Kleinstaaten, im Spannungsfeld zwischen Ägypten und Mesopotamien gelegen, mussten stets ums Überleben kämpfen. Das Nordreich Israel mit Sichem, später mit Samaria als Zentrum wurde Opfer der assyrischen Expansion, Teile der Oberschicht Samarias wurden nach Assyrien deportiert und Fremde aus anderen Teilen des Assyrerreiches in Samaria angesiedelt. Das Südreich Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem, das sich zeitweilig unter den Schutz Ägyptens gestellt hatte, überlebte nur wenig länger und wurde schließlich von den Babyloniern unter Nebukadnezar II. erobert. Der Messiasanwärter Jerusalemer Tempel wurde zerstört und wieder kam es zu umfangreichen Deportationen der Bevölkerung.

Die Rückkehr aus dem Babylonischen Exil wurde ihnen durch die Eroberungen des Perserkönigs Kyros II. ermöglicht, der – 539 auch Babylon einnahm. Unter der Herrschaft der Perser wurde auch der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut und die jüdische Nation, die seit – 586 keinen König mehr hatte, unterstand nun dem Hohenpriester des Jerusalemer Tempels. Doch nachdem die Streitkräfte Alexanders des Großen – 333 in der Schlacht bei Issos das Heer des persischen Großkönigs bezwungen und im Jahr darauf nach achtmonatiger Belagerung die phönizische Stadt Tyros eingenommen hatten, fiel ihnen auch das Gebiet nach Süden hin bis Gaza widerstandslos in die Hände.

Das Gelobte Land wurde zunächst Teil des Alexanderreiches und später dann Teil der hellenistischen Staatenwelt, wie sie sich in den langjährigen Nachfolgekriegen nach dem Tod Alexanders herausgebildet hatte. Das Schicksal wollte es, dass das Gebiet der jüdischen Nation, zwischen dem Ägypten beherrschenden Ptolemäerreich und dem das ehemalige Perserreich beherrschenden Seleukidenreich gelegen, besonders hart umkämpft war. Ab – 200 geriet das Gebiet durch die Schlacht am Paneion unter die Herrschaft der Seleukiden, nachdem es seit – 301 den Ptolemäern unterstellt gewesen war. Viele tausend Juden waren in diesem Jahrhundert der Zugehörigkeit zum Ptolemäerreich nach Alexandria ausgewandert oder waren als Kriegsgefangene dort gelandet. Ebenso wurde nach der Eroberung des jüdischen Gebietes durch Antiochos III. die seleukidische Hauptstadt Antiochia am Orontes zum Bezugspunkt für jene Teile der jüdischen Aristokratie, die sich der hellenistischen Kultur mit ihren Theatern und Gymnasien gegenüber aufgeschlossen zeigten.

In den Augen gesetzestreuer Juden war diese Anpassung an die griechische Leitkultur nur als Abfall von dem mit Jahwe geschlossenen Bund zu bewerten. In der Bibel findet diese Ansicht im ersten Makkabäer-Buch ihren Ausdruck: „In jener Zeit traten in Israel gesetzesfeindliche Leute auf. Sie redeten auf viele ein und sprachen: »Wir wollen uns mit den Heiden, die rings um uns wohnen, gut vertragen! Seitdem wir uns nämlich von ihnen abgesondert haben, traf uns allerlei Unglück.« Der Messiasanwärter Vorschlag gefiel ihnen sehr. Einige aus dem Volk erklärten sich bereit, zum König zu gehen; heidnische Gewohnheiten einzuführen. Man errichtete in Jerusalem eine Ringschule.“25

Die Situation eskalierte unter dem prohellenischen Hohenpriester Menelaos, als der seleukidische König Antiochos IV. Epiphanes (ca. – 215 bis – 164) den Jahwekult verbieten ließ und stattdessen Opfer für Zeus forderte. Flavius Josephus beschreibt ein bedrückendes Szenario von unter Strafe verbotener bzw. aufgezwungener Religionsausübung: „Dann zwang er (Antiochos IV.) die Juden, die Verehrung ihres Gottes aufzugeben, seine eigenen Götter anzubeten, ihnen in jeder Stadt und in jedem Dorfe Altäre zu erbauen und täglich Schweine zu opfern. Weiterhin verbot er ihnen, ihre Söhne zu beschneiden, und bedrohte die Zuwiderhandelnden mit Strafe. Um aber das Volk zur Befolgung seiner Befehle zu zwingen, stellte er besondere Beamte an. Leider kamen denn auch teils freiwillig, teils aus Furcht vor der angedrohten Strafe viele Juden den Geboten des Königs nach. Die Vornehmsten und Edelmütigsten jedoch kümmerten sich nicht um ihn und hielten ihre väterlichen Gesetze höher als die Strafen, welche den Widerspenstigen angedroht waren. Deshalb wurde tagtäglich eine Anzahl von ihnen unter grausamen Martern hingerichtet: Man geißelte und verstümmelte sie und schlug sie dann noch lebend ans Kreuz. Die Weiber aber und die beschnittenen Knaben wurden auf Geheiß des Königs erwürgt, und die Letzteren am Halse ihrer gekreuzigten Eltern aufgehängt. Fand sich ein heiliges Buch oder eine Gesetzesrolle, so wurden sie verbrannt, und diejenigen, bei denen sie gefunden worden waren, wie Übeltäter hingerichtet.“26

Auch in Modiin, einem Dorf nordwestlich von Jerusalem, weigerte sich der jüdische Priester Mattathias aus dem Geschlecht der Hasmonäer, das heidnische Ritual zu vollziehen. Er tötete den königlichen Abgesandten und floh mit seinen Söhnen in die judäischen Berge, von wo aus sie gemeinsam mit anderen Aufständischen eine Art Guerilla-Krieg gegen die seleukidischen Truppen führten. Von Thronstreitigkeiten nach dem Tod Antiochos‘ IV. profitierend gelang es nach dem Ableben des Mattathias dessen Sohn Judas Makkabäus, Jerusalem einzunehmen und den durch pagane Schweineopfer entweihten Tempel wieder zu reinigen und neu einzuweihen (Ursprung des Chanukka-Festes). Der Messiasanwärter auch von seinen Brüdern Jonatan Apphus und Simon Thassi später weitergeführte Aufstand führte schließlich im Jahr – 134 unter Johannes Hyrkanos, dem Sohn des Simon, zu einem Friedensschluss mit den schwächelnden Seleukiden.27

Abb.1. Karte Palästinas zu Zeiten Jesu mit im Text erwähnten Orten und Landschaften

Die Herrscherdynastie der Hasmonäer, von denen einige sogar den Königstitel führten, konnte ihre Unabhängigkeit rund ein Jahrhundert behaupten und betrieb zeitweilig sogar eine aggressive Expansionspolitik. Als es jedoch zwischen Johannes Hyrkanos II. und seinem Bruder Aristobulos II. zu Thronfolgestreitigkeiten kam, nutzte der römische Feldherr Pompeius, an den sich dummerweise beide Brüder mit der Bitte um Hilfe gewandt hatten, dies aus und eroberte im Jahr – 63 Jerusalem, wo sich die Anhänger des zuvor von Pompeius gefangengesetzten Aristobulos II. im Tempelbezirk verschanzt hatten. Rund 12.000 Juden verloren dabei ihr Leben und die Überlebenden sahen sich wieder von einer fremden Macht unterworfen. Johannes Hyrkanos II. durfte nun als Marionette Roms das Hohepriesteramt bekleiden.28 „An diesem Unglück Jerusalems trug nur der Streit zwischen Hyrkanus und Aristobulus die Schuld. Dadurch wurde uns die Freiheit entrissen: Wir kamen unter die Botmäßigkeit der Römer und mussten das Land, welches wir den Syrern mit Waffengewalt abgenommen, denselben wieder zurückgeben. Außerdem brandschatzten uns die Römer in kurzer Zeit um mehr als zehntausend Talente und ließen die Königswürde, die früher dem hohepriesterlichen Geschlechte allein zukam, an Männer aus dem niederen Volke gelangen.“29

Im Jahr – 40 fielen die Parther, der große Widersacher Roms im Osten, in Judäa ein. Die dadurch entstandenen Wirren machte sich der Idumäer Herodes, dessen Vater als Verwalter des Johannes Hyrkanos II. tätig gewesen war, zu Nutze. Letzteren hatten die Parther abgesetzt und durch Antigonos Mattathias, ein mit Hyrkanos rivalisierendes Familienmitglied, ersetzt.30 Herodes floh, nachdem ihm in Alexandria Kleopatra VII. die Unterstützung verweigert hatte, nach Rom zu Marcus Antonius, der nach der Ermordung Gaius Iulius Caesars gemeinsam mit Octavian und Marcus Aemilius Lepidus eine Dreimännerherrschaft gebildet hatte und u.a. für die Ostprovinzen zuständig war. Unter seiner Fürsprache wurde Herodes vom Senat zum König ernannt. Kurioserweise konnte er jedoch zunächst noch über keinerlei Territorium verfügen. Dieses musste erst in den Jahren – 39 bis – 37 mit Unterstützung einer römischen Legion von Antigonos und den Parthern zurückerobert werden. Antigonos Mattathias, der letzte Vertreter der Hasmonäerdynastie, wurde auf Befehl von Marcus Antonius, der von Herodes hierfür eine hohe Geldsumme erhalten hatte, hingerichtet.31

Herodes verfügte über wenig Rückhalt in der Bevölkerung - einerseits, weil er Idumäer und damit lediglich ein Konvertit war32, andererseits, weil er mit den verhassten römischen Besatzern paktierte und durch ein umfangreiches Bauprogramm versuchte, „sein Reich“ zu hellenisieren bzw. zu romanisieren und bei seinen Freunden in Rom Eindruck zu schinden. Auch durch die zu Ehren des Kaisers eingerichteten prachtvollen und aufwendigen Kampfspiele zog er sich den Unmut der Bevölkerung zu: „Für die Fremden war nun freilich dieser Aufwand und der Anblick der gefährlichen Kämpfe eine Augenweide und ein Gegenstand der Bewunderung; für die Einheimischen dagegen bedeutete das alles eine offenbare Auflösung der bei ihnen in so hoher Ehre gehaltenen väterlichen Sitte. Denn es schien ihnen eine Gottlosigkeit zu sein, Menschen den wilden Tieren vorzuwerfen zur Ergötzung anderer Menschen, und nicht weniger verwerflich kam es ihnen vor, die Landesgebräuche mit fremden Sitten zu vertauschen. Nichts aber verletzte sie mehr als die Trophäen; denn da sie dieselben für in Rüstungen eingehüllte Bilder hielten, vermochten sie, weil nach ihren Gesetzen die Verehrung von Bildern verboten war, diesen Anblick nur mit höchstem Unwillen zu ertragen.“33

Ein durch zehn Männer von langer Hand geplanter Anschlag bei einem Theaterbesuch des Herodes wurde in letzter Minute entdeckt und vereitelt und die Verschwörer hingerichtet.34 „Da jedoch das Volk eine große Standhaftigkeit und Unerschrockenheit in der Verteidigung seiner Gesetze bewies, ward die Lage des Herodes allmählich so schwierig, dass er Maßregeln zu seiner größeren Sicherheit treffen musste. Er beschloss deswegen, das Volk von allen Seiten einzuschließen, damit diese kleinen Unruhen nicht zu offenem Aufruhr anwüchsen. In der Stadt besaß er an Befestigungswerken schon den Palast, in dem er selbst wohnte, und die Feste des Tempels, welche Antonia hieß; dazu glaubte er nun noch ein drittes Bollwerk gegen das Volk in Samaria, welches er Sebaste nannte, errichten zu müssen […]. Auch erbaute er noch eine andere Festung zur Bezwingung des Volkes an dem Orte, der früher Stratonsturm hieß, von ihm aber Caesarea genannt wurde. Desgleichen errichtete er einen festen Platz in der großen Ebene, in den er eine auserlesene Besatzung legte, und befestigte auch Gaba in Galiläa und Eschbonitis in Peräa. So umgab er das ganze Volk mit Festungen, damit es nicht nach Belieben Unruhen erregen könnte…“35

Darüber hinaus ließ er nichts unversucht, um sein Königtum auch in den Augen der jüdischen Bevölkerung zu legitimieren. Doch das Volk, insbesondere die Landbevölkerung, litt zunehmend unter den immer höher werdenden Steuern, mit denen er seine Bauprojekte finanzierte und die Tributzahlungen an Rom entrichtete. Und die Pluspunkte, die er durch sein fähiges Krisenmanagement und seine Freigiebigkeit während mehrerer Hungersnöte in Dürrejahren sammeln konnte, gingen ihm durch seinen tyrannischen Herrschaftsstil und seine Grausamkeit wieder verloren.

Schon während des Krieges gegen die Parther hatte er, um Anschluss an die Hasmonäer-Dynastie zu gewinnen, die 16jährige Mariamne, die Tochter der Prinzessin Alexandra und Enkelin des Johannes Hyrankos II. geehelicht. Ihre ersten beiden gemeinsamen Söhne bekamen die dynastischen Namen Alexander und Aristobulos.

Zudem ließ er sich von seinem engen Freund und Vertrauten, dem griechischen Philosophen und Geschichtsschreiber Nikolaos von Damaskus einen fiktiven Stammbaum schreiben, der bis zu den ersten Rückkehrern aus dem Babylonischen Exil zurückreichte.36

Schliesslich glaubte er, durch ein weiteres gigantisches Bauprojekt die Herzen der Juden für sich gewinnen zu können – durch den Umbau des Tempels in Jerusalem.

25 1 Makkabäer 1,11-14

26 Jos. Ant.XII,5,4

27 Die Bücher 1 und 2 Makkabäer behandeln beide die Zeit von der Vorgeschichte des Makkabäeraufstands bis zum Tod Simons bzw. Nikanors. Sie werden nur von der katholischen Kirche als kanonisch anerkannt, von der protestantischen und orthodoxen Kirche jedoch als apokryph angesehen. Das ursprünglich wohl auf hebräisch verfasste erste Makkabäerbuch wurde nach dem Regierungsantritt Johannes Hyrkanos‘ I. (– 135), jedoch vor der römischen Eroberung Jerusalems (– 67) mit stark prohasmonäischer Tendenz, vielleicht sogar von einem hasmonäischen „Hofchronisten“, geschrieben. Beim 2. Makkabäerbuch handelt es sich um die mehrfach überarbeitete Zusammenfassung eines ursprünglich fünfbändigen Geschichtswerks des ansonsten unbekannten Jason von Kyrene, dem zwei Briefe (einer davon gefälscht) vorangestellt sind und durch das die Darstellung von 1 Makkabäer ergänzt, teilweise auch korrigiert wird. Für den gleichen Geschichtsabschnitt bis zum Friedensschluss mit den Seleukiden siehe Jos. Ant.XII,5,3 – XIII,8,4

28 Jos. Ant. XIV,1,1 – XIV,4,4

29 ebenda,XIV,4,5

30 ebenda,XIV,13,3-10

31 ebenda,XIV,14,1 – XV,1,2

32 Die südlich von Judäa ansässigen Idumäer waren erst wenige Jahrzehnte zuvor nach der Eroberung dieses Gebietes durch Johannes Hyrkanos I. zum Judentum zwangsbekehrt worden (Jos. Ant. XIII,9,1).

33 Jos. Ant.XV,8,1

34 ebenda XV,8,4

35 ebenda,XV,8,4-5

36 ebenda,XIV,1,3

Das Zentrum der Welt

„Im achtzehnten Jahre seiner Regierung nahm Herodes, nachdem er die oben erwähnten Bauten ausgeführt hatte, noch ein schwieriges Werk in Angriff. Er ging nämlich daran, den Tempel Gottes in weit größerem Umfang und viel höher zu errichten; denn er glaubte, dieses Werk müsse, wenn er es vollendete, wie es auch wirklich der Fall war, herrlicher sein als alles, was er bisher zustande gebracht, und er würde sich dadurch ein dauerndes Andenken sichern.“37

Unter allen Bauprojekten des Herodes war die Neugestaltung des Tempels in Jerusalem sicherlich das anspruchsvollste und ambitionierteste. Dort, wo sich heute Felsendom und Al-Aqsa-Moschee erheben, stand zu Zeiten Jesu der größte sakrale Baukomplex der damals bekannten Welt.38 Allein die Verdoppelung der Tempelplattform auf eine Fläche von rund 500 x 300 m stellte an sich schon ein gewaltiges Unternehmen dar. Der Messiasanwärter gesamte Komplex war von einer aus gewaltigen Quadern errichteten Umfassungsmauer umgeben, die gemeinsam mit den Aufschüttungen das Areal auf der Bergkuppe stützte. Im Nordwesten von der Burg Antonia, einem weiteren Baudenkmal des Herodes, begrenzt (siehe Abb. 2 oben rechts), war der gesamte Bereich von einem mächtigen, überdachten Säulengang umgeben, der an der Südseite in die sogenannte königliche

Abb.2. Der Messiasanwärter Jerusalemer Tempel nach dem Holyland-Modell

Säulenhalle mündete. Dort pflegte unter Vorsitz des Hohepriesters der Sanhedrin zu tagen, die Ratsversammlung, die zugleich höchste religiöse und politische Gerichtsbarkeit der Juden zur Zeit Jesu war und sich aus einigen adligen Sadduzäern, Pharisäern und Ältesten zusammensetzte.

Über mehrere Tore und Aufgänge war der riesige Innenhof, der sogenannte Heidenvorhof, zu erreichen, der auch nichtjüdischen Besuchern zugänglich war. Hier hatten, meist im Schatten der Säulenhalle und des umlaufenden Säulengangs, unzählige Händler und die Geldwechsler ihre Stände aufgeschlagen. Diese Geldwechsler tauschten die „schlechte“ ausländische Währung unter Einbehalt einer gewissen Gebühr in tyrische Schekel um. Dies war das einzige gültige Zahlungsmittel im Tempel. Aufgabe der Geldwechsler war auch das Einziehen der Tempelsteuer für den Unterhalt des Kultes, die einen halben Schekel jährlich betrug und die jeder männliche Jude zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr zu entrichten hatte.39

Im Heidenvorhof lagen auch die Gehege der Opfertiere, die nur zu diesem Zweck aufgezogen wurden und ohne Makel sein mussten. Das Opfer war der eigentliche Daseinsgrund des Tempels.40 Je nach Anlass und Größe des Geldbeutels konnten Rinder, Ziegen, Lämmer oder auch Tauben geopfert werden. Nach Erwerb des Opfertieres übergab man es entweder direkt an einen der Priester, die sich zuhauf auf dem Platz tummelten und an ihren reinweißen Leinengewändern gut zu erkennen waren, oder aber man konnte – rituelle Reinheit und körperliche Unversehrtheit vorausgesetzt – gemeinsam mit dem Priester den sogenannten Frauenhof, den ersten Hof des eigentlichen Tempelbezirks betreten, wo auch das Holz und das Öl für das Opfer gelagert wurden. Nichtjuden, Aussätzigen und Gelähmten war der Zutritt zum Tempelbezirk unter Androhung der Todesstrafe verboten, wie eine Warntafel am Steingitterzaun des Frauenhofes kundtat. Während jüdischen Frauen nur noch zum Frauenhof Zugang gewährt wurde, durften jüdische Männer auch noch den darauf folgenden Israelitenhof betreten. Von dort aus konnten sie die Darbringung ihres Opfers im Priesterhof, wo – etwas erhöht – der Altar mit dem ewigen Feuer stand, beobachten. Zunächst wurde dem Tier die Kehle aufgeschlitzt und sein Blut in einer Schale aufgefangen. War das Tier ausgeblutet, so wurde es ausgeweidet und mit seinem Blut die Spitzen des Altars besprengt. Fett und Eingeweide landeten im Opferfeuer, während der Priester die Haut zum Verkauf und das beste Fleisch (Brust und Schenkel) zum Verzehr erhielt.41

Auf den Priesterhof folgte nur noch das Allerheiligste, der höchstgelegene Raum Jerusalems, den selbst der Hohepriester nur einmal im Jahr, an Jom Kippur, dem Versöhnungstag, betreten durfte. Während das Allerheiligste des ersten Tempels aus der Zeit Salomos die verschollene Bundeslade mit den Gesetzestafeln beherbergte, stand dieser Raum zur Zeit Jesu leer. Doch leer war er nur im ordinären, profanen Sinn, denn dort, im Herzen des Jerusalemer Tempels, berührten sich nach jüdischem Glauben die irdische und die himmlische Sphäre. Dieser Raum war erfüllt vom Geist Gottes, war die Quelle der göttlichen Präsenz und stellte für einen Juden das Zentrum und den höchsten Punkt der Welt dar, von dem aus sich Heil und Segen ringsherum verbreiteten.42 Während Griechen, Römern und anderen heidnischen Völkern eine Vielzahl von Tempeln zur Opferung an ihre Gottheiten zur Verfügung stand, konnten die Juden nur in diesem einen Tempel in Jerusalem ihrem Gott Opfer darbringen.43

Doch aller Einzigartigkeit und Heiligkeit dieses Ortes zum Trotz konnten sich um die Zeitenwende viele Juden des Eindrucks nicht erwehren, dass auf dem Berg Morija neben JHWH noch einem anderen Herrn gedient wurde, denn der Tempel war zugleich auch das Zentrum der jüdischen Handels- und Finanzwelt. So mag denn Jesus mit seinen Worten, wie sie Mt 6,24 wiedergegeben sind, vielen seiner toratreuen jüdischen Zeitgenossen aus der Seele gesprochen haben: „Niemand kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den andern lieben; oder er wird sich dem einen zuneigen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“

Schon allein die Beschreibung des hohepriesterlichen Festgewandes, die wir Flavius Josephus verdanken, zeugt von dem überbordenen Reichtum, den der Tempel und seine Priester durch die Tempelsteuer, die Abgaben der Händler und Geldwechsler, die Pilgergeschenke und durch die Bewirtschaftung ausgedehnter, fruchtbarer Ländereien erwirtschafteten: „Wenn er Dienst tat, trug er zuunterst einen Schurz, der Hüften und Schenkel bedeckte, ferner einen Leibrock aus Leinen und darüber ein bis an die Knöchel reichendes, hyazinthblaues […] Oberkleid, das mit Fransen besetzt war. An den Fransen hingen abwechselnd goldene Glöckchen und Granatäpfel, jene Sinnbild des Donners, diese des Blitzes. Die Binde, die das Oberkleid über der Brust befestigte, war aus fünf Streifen bunt gewirkt, nämlich aus Gold, Purpur, Scharlach, Byssus und Hyazinth […]. Über diesem Gewand trug er noch ein in denselben Farben gesticktes Schulterkleid, in dem jedoch das Gold vorherrschte. Der Messiasanwärter Schnitt dieses Kleidungsstücks glich einem Panzerhemd. Zusammengehalten wurde es von zwei goldenen Spangen mit sehr schönen und großen Sardonyxen, in die die Namen der Stammväter des Volkes eingraviert waren. An der vorderen Seite hingen zwölf Steine herab, je drei in vier Reihen geordnet, nämlich: Karneol, Topas, Smaragd; Rubin, Jaspis, Saphir; Achat, Amethyst, Bernstein; Onyx, Beryll, Chrysolith. Auf jedem dieser Steine stand wieder der Name eines Stammvaters. Den Kopf des Hohenpriesters deckte eine Tiara aus Byssus mit Hyazinth durchwoben. Um diese schlang sich ein goldener Reif, auf den die heiligen Buchstaben geschrieben waren […].“44

Die Besetzung des Hohepriesteramtes, das in der Hasmonäerzeit lebenslang bekleidet worden und erblich gewesen war, wurde seit Herodes dem Großen durch den jeweiligen Machthaber bestimmt. Da Herodes aufgrund seiner idumäischen Herkunft das Hohepriesteramt nicht selbst ausüben durfte, präsentierte er mit Ananel, einem unbekannten jüdischen Priester aus Babylon, einen ihm wohlgesonnenen Kandidaten, der zudem seine Abstammung auf Aaron und Zadok zurückführte. Doch dieser stieß weder beim Volk noch bei seiner Gattin Mariamne und seiner Schwiegermutter Alexandra auf Zustimmung. Letztere hatte aufgrund der ihrer Meinung nach noch bestehenden Ansprüche der Hasmonäerdynastie mit der Nominierung ihres Sohnes Aristobulos Jonathan, des Enkels von Johannes Hyrkanos II., gerechnet. Unter ihrem Druck – sie hatte u. a. die ägyptische Königin Kleopatra VII. um Fürsprache bei Marcus Antonius gebeten – gab Herodes schließlich nach und setzte, entgegen jüdischem Gesetz, Ananel ab und Aristobulos als neuen Hohepriester ein. Nachdem der gerade Siebzehnjährige am Laubhüttenfest bei seinem ersten großen Auftritt als Hohepriester vom Volk frenetisch bejubelt und somit für Herodes zu mächtig und zu gefährlich wurde, ließ dieser ihn durch einige seiner Vertrauten während eines Familientreffens in einem Fischteich ertränken. „So kam Aristobulus im blühenden Alter von noch nicht achtzehn Jahren ums Leben, nachdem er nur ein Jahr lang die Hohepriesterwürde bekleidet hatte, die nun wieder auf Ananel überging.“45

Auch später noch berief Herodes ganz nach Belieben Hohepriester und setzte sie wieder ab. Simon, den Sohn des alexandrinischen Juden Boethos, machte er nur deshalb zum Hohepriester, weil er dessen Tochter, die genau wie seine zweite Frau Mariamne hieß und als schönste Frau ihrer Zeit galt, ehelichen wollte.46 Bis zum Tod des Herodes im Jahr – 4 und auch noch unter seinem Sohn Herodes Archelaos durfte die Familie des Boethes den Hohepriester stellen. Doch im Jahr 6 war es auch mit dem Klientelkönigtum vorbei. Nachdem sich eine jüdisch-samaritanische Delegation bei Augustus über die Grausamkeit und Tyrannei des Archelaos beklagt hatte, wurde dieser abgesetzt und sein Herrschaftsgebiet in die Provinz Syrien eingegliedert. Von nun an bestimmte Rom den Hohepriester. Quirinius, der neue Statthalter der Provinz Syrien, entschied sich für einen gewissen Hannas, Sohn des Seth (Ananus ben Seth).47 Als im Jahr 15 Valerius Gratus Präfekt von Judäa wurde, „entsetzte [er] den Hohepriester Ananus seines Amtes und übertrug dasselbe an Ismaël, den Sohn des Phabi, entzog aber auch diesem bald die Würde wieder und verlieh sie Eleazar, dem Sohne des Hohepriesters Ananus. Kaum ein Jahr später ward auch Eleazar abgesetzt, und Kamiths Sohn Simon trat an seine Stelle. Diesem folgte wieder nach einem Jahre Joseph, der auch Kaiaphas hieß.“48 Dieser in den Evangelien schlicht Kaiphas genannte Würdenträger war der Schwiegersohn des Hannas49 und konnte sich bis zum Jahr 36, bis zur Abberufung des Pontius Pilatus, im Amt halten. Sein Ossuarium wurde in einem 1990 bei Bauarbeiten freigelegten Grab im sogenannten Friedenswald beim Jerusalemer Nobelviertel Talpiot entdeckt.50 Seine lange Amtszeit und die Tatsache, dass er gemeinsam mit Pilatus abgesetzt wurde, lassen auf eine enge Zusammenarbeit mit dem für seine Gewalttätigkeit und Grausamkeit bekannten römischen Präfekten51 schliessen.

Durch den ständigen, mitunter sehr raschen Wechsel seiner Träger verlor das Amt des Hohepriesters an Autorität und nicht wenige glaubten, dass sich die vier Priesterfamilien des Hannas, des Boethos, des Phiabi und des Kamithos ihre Amtszeiten als Hohepriester vom Präfekten oder vom Statthalter von Syrien erkauft hatten. In den Augen so mancher Juden waren der Hohepriester und auch die wohlhabenden Familien, aus deren Reihen der Träger dieses Amtes ausgewählt wurde, nur Handlanger der römischen Besatzungsmacht, die ihr Volk an Rom verraten und ihren Gott zugunsten des schnöden Mammon aufgegeben hatten.

Ohnehin gehörte es zur Praxis der römischen Imperialismuspolitik sich die herrschende Oberschicht eines eingenommenen Gebietes zum Verbündeten zu machen und somit deren Schicksal mit jenem der römischen Oberherrschaft zu verknüpfen. Hierdurch wurde sichergestellt, dass zumindest die Reichen und Mächtigen, die der römischen Vorherrschaft im jeweiligen unterworfenen Gebiet am ehesten hätten gefährlich werden können, an der Aufrechterhaltung und dem Weiterbestehen des imperialen Systems interessiert waren. „Der Messiasanwärter normale Evangelienleser nimmt an, was ja nahe genug liegt, der Hohepriester sei eine Figur gewesen, die im Judentum dem katholischen Papst oder dem anglikanischen Erzbischof von Canterbury entsprach. Dieser Fehler erwächst aus der Tatsache, daß im Christentum die Rolle der religiösen Lehrautorität stets mit derjenigen des Zeremonienleiters kombiniert war: der christliche Priester hält die Messe, und ebenso lehrt er das Volk durch Predigt und Unterricht. Christen sind daher nicht mit der Tatsache vertraut, daß im Judentum […] diese beiden Rollen stets getrennt gewesen waren: wer die Opfer vollzieht, macht keine theologischen Aussagen und entscheidet nicht über Fragen des Religionsrechts, er schlüpft auch nie in die Rolle eines Verkünders oder Propheten. Diese jüdische Funktionszerlegung hat sich für das Überleben der jüdischen Religion als unschätzbarer Vorteil erwiesen […]. Sogar die Zerstörung des Tempels, die aus nichtjüdischer Sicht das Erlöschen des Judentums hätte herbeiführen müssen, bewirkte dieses nicht, da die Lebensfähigkeit dieser Religion, wie wir gesehen haben, nicht vom Tempeldienst oder dessen Vollzugsberechtigten abhing.“52 Dennoch glaubten die Römer, den jüdischen Kult und die Priesteraristokratie auf ihre Seite zu ziehen und kontrollieren zu müssen. Um die römischen Interessen auch gebührend wahren zu können, wurden dem Hohepriester die Mittel zur Verfügung gestellt, sich eine Art Polizeiapparat zusammenzustellen, der ganz im Sinne der Römer gegen politische Oppositionelle vorgehen sollte und befugt war, Leute zu verhaften und zu züchtigen.

Da die Ernennung und Absetzung des Hohepriesters durch den Statthalter von Syrien bzw. den Präfekten von Judäa erfolgte, waren die wohlhabenden Priesterfamilien in diesem Punkt auf das Wohlwollen Roms angewiesen und suchten dies natürlich durch entsprechendes Verhalten dem römischen Oberherrn gegenüber zu erlangen. Den jüdischen Kult und den Hohepriester hielt man u. a. auch dadurch unter Kontrolle, dass man – wie dies zuvor schon Herodes und Archelaos praktiziert hatten – das hohepriesterliche Gewand, dass in einem steinernen Behälter in der Burg Antonia verwahrt wurde, unter Verschluss hielt.53

Im Großen und Ganzen zeigte sich Rom den in ihren Augen seltsamen religiösen Vorstellungen der Juden gegenüber recht tolerant und befreite sie aufgrund ihres Eingottglaubens sogar vom Kaiserkult, verlangte als Loyalitätsbezeugung lediglich die Opferung eines Stieres und zweier Lämmer täglich für das Wohlbefinden des Kaisers, wobei sogar die Opfertiere noch aus römischer Kasse bezahlt wurden.54 Solange also die täglichen Kaiseropfer vollzogen und die zu entrichtenden Steuern und Tribute pünktlich gezahlt wurden, gab es für Rom keinerlei Veranlassung in Judäa anders als durch die Präsenz einiger weniger Offiziellen, Verwaltungsbeamten und Hilfstruppen in Erscheinung zu treten.55

Zeittafel I

- 164Makkabäer-Aufstand- 140Gründung der Hasmonäer-Dynastie- 63Eroberung Jerusalems durch Pompeius- 40Parther-Einfall- 37Beginn der Herrschaft Herodes‘ des Großenab – 20Um- und Ausbau des Jerusalemer Tempels- 4Tod des Herodes, Revolte Judas des Galiläersab t - 3Sepphoris wird Hauptstadt des Herodes Antipas6Zensus des Quirinius18Josef Kaiaphas wird Hohepriester19Tiberias wird neue Hauptstadt des Herodes Antipas26Pontius Pilatus wird Präfekt von Judäa27/28Beginn des Wirkens Johannes des Täufers36Revolte des Samariters44Revolte des Theudas46Revolte der Söhne Judas des Galiläers56Revolte des Ägypters62Steinigung von Jesu Bruder Jakobus66Jüdischer Aufstand70Zerstörung Jerusalemsca. 70Abfassung des Markus-Evangeliumsca. 80Abfassung des Matthäus-Evangeliumsca. 90Abfassung des Lukas-Evangeliumsi um 100Abfassung des Johannes-Evangeliums

37 Jos. Ant.XV,11,1

38 Das Tempelareal umfasste rund 144.000 m2. Im Vergleich dazu nahmen sich jene des Zeus-Heiligtums in Athen (26.000m2) und des Forum Augustum in Rom (12.000m2) geradezu klein aus (Jacobson,2007,146).

39 Siehe hierzu die Musterungsabgabe in Exodus 38,25f. Zur Entrichtung der Tempelsteuer nur in tyrischen Schekeln siehe Mischna Scheqalim 2,4

40 Zu den verschiedenen Opferformen im Jerusalemer Tempel, ihren Anlässen und Zeremonien siehe Lev 1-7

41 Dies war zumindest das Prozedere an den Feiertagen. Bei den beiden täglichen Opfern morgens und am späten Nachmittag sowie bei Brandopfern von Privatleuten wurden die Tiere mit Ausnahme der Haut komplett verbrannt.

42 Siehe hierzu etwa Jes 2,2-3; Ez 5,5; 38,1; Mi 4,1 vgl. auch Ez 47,1-9; Joel 4,18 und Sach 14,8

43 Beschreibungen des Tempels finden sich bei Philon von Alexandria - De specialibus legibus I,13 und Jos. Ant. XV,11,1-7 sowie Jos. Bell. V,5,1-6

44 Jos. Bell. V,5,7; Eine Beschreibung des Hohepriestergewandes auch im Aristeasbrief 96-98

45 Jos. Ant.XV,2,4 – XV,3,3

46 ebenda,XV,9,3

47 ebenda,XVIII,2,1

48 ebenda,XVIII,2,2

49 Joh 18,13

50 Greenhut,1992; 1994

51 Philon von Alexandria - Legatio ad Gaium XXXVIII(301-303)

52 Maccoby,2007,28

53 Erst mit der Absetzung von Pontius Pilatus und dem Hohepriester Kajaphas wurde diese Anordnung durch Vitellius, den damaligen Statthalter von Syrien, aufgehoben (Jos. Ant.XVIII,4,3).

54 Philon von Alexandria - Legatio ad Gaium XXIII(157); XL(317)

55 Dem Präfekten von Judäa stand ein Stab von etwa 200-400 Personen sowie eine Kavalerie- und fünf Infanterieeinheiten an Hilfstruppen zur Verfügung, die wohl schon unter Herodes und Archelaos aus der nichtjüdischen Bevölkerung des Gebietes rekrutiert worden waren (Eck,2007,107f; 201f).

In Erwartung des Messias und des Gottesreiches

„Die Überlieferung läßt Jesus in den letzten Jahren des Königs Herodes geboren sein (Mt 2,1; Lk 2,5) […]. Sie waren solche einer starken messianisch-apokalyptischen Stimmung […]. Die Aufstandsbewegung des Judas Galiläus, nach guter Tradition ein Messiasprätendent, dürfte bereits aus dieser Zeit datieren. […] Es ist wohl nicht zuviel behauptet, daß dieses blinde messianische Kämpfertum den jüdischen Staat an den Rand einer Katatstrophe brachte. […] Für den heutigen Betrachter mutet das damalige Hoffen und Wollen des jüdischen Volkes geradezu irrational an. Tatsächlich dürften aber auch, was die nähere Beschäftigung mit der Überlieferung lehrt, apokalyptische Berechnungen mit im Schwange gewesen sein, die für führende Kreise und für das Volk einsichtig und zwingend anmuteten, so daß man das Kühnste nicht nur erhoffte, sondern sogar zu erzwingen suchte. Wenn nun auch Jesus in diesen Jahrzehnten auftrat und wirkte, dann kann er schwerlich aus der verbreiteten Strömung einer terminbestimmten Apokalyptik ausgeklammert werden.“76

Palästina, wenige Jahre vor der Zeitenwende. Auf dem Gelobten Land lag der Schatten des römischen Adlers. Gottes auserwähltes Volk war geknechtet und fristete größtenteils ein Dasein in Armut. Das von Gott verheißene Land, welches den Schriften nach einst von Josua erobert und auf Geheiß des Herrn unter viel Blutvergießen von allem Fremden gereinigt worden war77, wurde von fremden Götzenanbetern beherrscht, die zudem zahlreiche Fremde aus allen Ecken ihres Reiches mitbrachten. Unter fleißiger Mithilfe des Idumäers Herodes, der die Unverfrorenheit besaß, sich selbst als König der Juden zu bezeichnen, verbreiteten sie ihre heidnischen Sitten im Land. Musste man als frommer Jude wirklich tatenlos mitansehen, wie in der Heiligen Stadt in Gottes Tempel tagtäglich Brandopfer für den römischen Kaiser dargebracht wurden?

Die römische Besetzung des Landes, die stetig steigende Armut und der tägliche Kampf ums Dasein der Kleinbauern im Kontrast zu dem wachsenden Wohlstand der Reichen ließen gepaart mit Herodes‘ Anbiederung an die fremde Kultur und dem allgemeinen Verfall der Sitten bei vielen frommen Juden der Unter- und Mittelschicht Wut und Verbitterung aufkommen. Viele suchten Zuflucht und Hoffnung in den Schriften. Sie hielten die von den Propheten vorhergesagte Zeit der Drangsal für angebrochen und erwarteten den gleichsam von diesen angekündigten neuen Messias aus dem Hause Davids und mit ihm die nahe Endzeit.

Messias (Μεσσίας) ist die griechische Umschrift des hebräischen ח ישמ(Maschiach) und bedeutet wörtlich „Gesalbter“. Die griechische Übersetzung dieses Wortes lautet Χριστός (Christós), im Lateinischen Christus. Nach mittlerweile fast zwei Jahrtausenden Christentum ist das Wort „Christus“ in der westlichen Welt derart fest mit der Vorstellung von etwas Göttlichem behaftet, dass man ohne ausführliche Erläuterung nicht mehr auskommen kann: Im Judentum der Zeit Jesu und auch in den ihm vorangegangenen Jahrhunderten stand das Wort Messias/Christus nicht etwa für etwas Göttliches, sondern bezeichnete ursprünglich einen gesalbten König, also einen weltlichen Herrscher, der nach altorientalischem Brauch durch das Bestreichen mit Öl oder Salbe rituell zur Regierung ermächtigt worden war. Mit wachsender Not des jüdischen Volkes erfuhr der Messiasbegriff eine Erweiterung vom einfachen weltlichen Herrscher zum Heils- und Friedensbringer, der die Götzenanbeter endgültig vertreiben und mit der Hilfe des Herrn ein neues „Reich Gottes“ errichten sollte, worunter jedoch kein himmlisches Hoheitsgebiet, sondern ein neues weltliches, unabhängiges jüdisches Königreich theokratischer Prägung zu verstehen ist.78

„Vor dem ersten Jahrhundert war das messianische Interesse nicht übermäßig hoch. […] Das erste Jahrhundert jedoch, insbesondere die Generation vor der Zerstörung [des zweiten Tempels – F.Z.], war Zeuge eines bemerkenswerten Ausbruchs messianischer Emotionalität. Dies ist […] nicht etwa auf eine Intensivierung der römischen Verfolgung zurückzuführen, sondern auf den vorherrschenden Glauben, der durch die populäre Chronologie jener Zeit hervorgerufen wurde, dass das Zeitalter an der Schwelle zum Millennium stand. […] Als Jesus nach Galiläa kam und – die frohe Botschaft vom Reich Gottes verbreitend – sagte, dass ‚die Zeit erfüllt und das Reich Gottes nahe sei‘, brachte er nur die allgemein verbreitete Meinung zum Ausdruck, dass das Jahr 5000 im Schöpfungskalender nahe bevorstand, welches das sechste Jahrtausend – das Zeitalter des Reiches Gottes – einläuten sollte. Es war eher diese chronologische Tatsache, die die messianischen Hoffnungen entzündete als die römischen Verfolgungen.“79 Die hier von dem amerikanischen Zionistenführer Rabbi Abba Hillel Silver wiedergegebene chronologische Ansicht ist nur eine von mehreren, denn entsprechend den verschiedenen Zeitschemata der einzelnen jüdischen Gruppierungen gelangte man über unterschiedliche Kalkulationen auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten für das Erscheinen des Messias und den Tag des Herrn, an dem Gott selbst in die Geschichte eingreifen, ein schreckliches Strafgericht über die Feinde der Juden halten und Israel zum Sieg verhelfen würde. Eine dieser Berechnungen deutete auf die Jahre vor der Zeitenwende.80

Kurz vor Beendigung der Tempelumbauten ließ der fast 70jährige, schwerkranke Herodes über dem größten Eingangstor des Heiligtums einen riesigen goldenen Adler anbringen. Das römische Herrschaftszeichen an Gottes Tempel war ein Dorn im Auge eines jeden rechtschaffenen Juden, zumal nach der Tora die Erstellung solcher Bildwerke verboten war. Angestachelt von den populären und einflussreichen Pharisäern Judas, Sohn des Sariphaeus, und Matthias, Sohn des Margaloth, zog eine Schar aufgebrachter junger Juden zum Tempel hinauf, riss den Adler herunter und zerstörte ihn. Vierzig Aufständische wurden jedoch von den königlichen Soldaten gefangengenommen. Die Rädelsführer ließ Herodes bei lebendigem Leib verbrennen.81

Als er kurz darauf im Jahr – 4 verstarb, entlud sich die ganze, während seiner autoritären Regierung angestaute und unterdrückte Wut der Bevölkerung. Noch während der Zeit der ungeklärten Nachfolge82 forderten einige aufrührerische Juden Rache für den Tod der Pharisäer Judas und Matthias sowie die Absetzung des noch von Herodes bestimmten Hohepriesters. Ein erster größerer Aufstand wurde von Publius Quinctilius Varus, dem späteren Verlierer der nach ihm benannten Varus-Schlacht und damaligen Statthalter der Provinz Syrien, weitgehend niedergeschlagen. Vorsorglich ließ er bei seiner Rückreise nach Antiochia eine seiner drei Legionen in Jerusalem zurück und übergab sie dem Kommando des Sabinus. Doch „sobald Varus abgereist war, machte Sabinus […] den Juden mancherlei zu schaffen, indem er hoffte, mit der ihm zu Gebote stehenden nicht geringen Truppenmacht ihrer Herr werden zu können. Er nahm überall hin eine Schar bewaffneter Trabanten mit, durch welche er die Juden bedrückte und zu neuem Aufruhr reizte […]. Als nun das Fest Pentekoste herannahte, strömten in Jerusalem nicht nur zum Gottesdienste, sondern auch aus Erbitterung über die Gewalttätigkeit des Sabinus eine Menge Einwohner aus Galiläa, Idumäa und Jericho, die nach Tausenden zählten, zusammen. Außerdem fanden sich alle Bewohner der jenseits des Jordans gelegenen Landesteile ein, und endlich schloss sich eine große Anzahl Juden an, die noch mehr als alle anderen vor Begierde brannten, sich an Sabinus zu rächen.“83

In drei Gruppen aufgeteilt versuchten sie die Römer, die sich auf dem Tempelberg bzw. in der Burg Antonia verschanzt hatten, einzukesseln. Nach einem erfolgreichen Vorstoß der Römer schwenkten die jüdischen Aufrührer aus und erklommen die Dächer der rund um den Tempelvorhof liegenden Hallen, um von einer erhöhten Position aus den römischen Truppen mit Steinschleudern und Pfeil und Bogen zuzusetzen.

Diese wussten sich schließlich nur noch mit Feuer zur Wehr zu setzen, dass sie in die Hallen warfen. Dabei fingen auch die mit Pech, Gold und Wachs überzogenen Hallendächer rasch Feuer. „Alle, die auf den Hallen standen, fanden auf diese Weise unversehens den Tod. Denn die einen stürzten mit dem einbrechenden Dache herab, die anderen wurden von den Feinden niedergemacht, und viele, die keinen Ausweg zur Rettung erspähen konnten und vor Entsetzen außer sich waren, warfen sich ins Feuer oder töteten sich, um den Flammen zu entgehen, mit dem eigenen Schwert. […] Die Römer aber drangen durch die Flammen, wo dies möglich war, in das Heiligtum und bemächtigten sich des Tempelschatzes, von dem die Soldaten einen großen Teil an sich rissen, während Sabinus selbst vor aller Augen vierhundert Talente wegnahm. Das Unglück, welches ihre im Kampf gefallenen Freunde betroffen, sowie die Plünderung des Tempelschatzes und der Weihgeschenke erfüllte die Juden mit größtem Schmerz. Gleichwohl scharte sich eine Anzahl der tapfersten Männer zusammen, welche nun die Königsburg belagerten ...“84 Sabinus, der schon gleich zu Beginn des Aufruhrs einen Boten mit brieflicher Nachricht zu Varus gesandt hatte, beschloss, die Belagerung bis zu dessen Eintreffen auszuhalten.

Neben dem Aufruhr in der Hauptstadt hatten sich in Judäa zweitausend ehemalige Soldaten des Herodes zusammengeschlossen und belagerten die königliche Familie, deren Truppen unter Achiab, dem Vetter des Herodes, Widerstand leisteten. „Um diese Zeit brachen auch an vielen anderen Orten im Lande Unruhen aus, und mancher hielt die Gelegenheit für günstig, sich die Königskrone aufzusetzen“85, d.h. sich zum Messias zu machen.