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Diese Studie zielt auf narratologische Analysen und poetologische Interpretationen von Metalepsen im höfischen Roman. Ausgehend von einer narratologisch fundierten, mediävistisch kontextualisierten und diachron applikablen Präzisierung des Metalepsen-Begriffs widmet sie sich in eingehenden Fallstudien Hartmanns von Aue >ErecParzivalWildhelm von Österreich<. Metalepsen, die als vorübergehende Simultaneisierungen von narration und histoire im Horizont nachzeitigen Erzählens gefasst werden, können etwa nicht nur die Fiktionalität, sondern je nach Kontext auch die Fidealität eines Werkes indizieren und reflektieren. Die Studie leistet nicht nur einen Beitrag zum Verständnis der höfischen Romanpoetik, sondern auch zum Großprojekt einer diachronen Narratologie. Die Arbeit wurde im Jahr 2024 mit dem Preis für herausragende Promotion der Universitätsgesellschaft Oldenburg e.V. ausgezeichnet.
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Seitenzahl: 545
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Martin Sebastian Hammer
Metalepsen im höfischen Roman
Narratologische Analyse und poetologische Interpretation anhand von ›Erec‹, ›Parzival‹ und ›Wildhelm von Österreich‹
Zugleich: Dissertation, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fakultät III: Sprach- und Kulturwissenschaften, 2024.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Dr. Martin Sebastian Hammer
Technische Universität Braunschweig
Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften
Institut für Germanistik
Bienroder Weg 80
38106 Braunschweig
https://orcid.org/0009-0000-8611-4372
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381132225
© 2025 · Martin Sebastian Hammer
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 0067-7477
ISBN 978-3-381-13221-8 (Print)
ISBN 978-3-381-13223-2 (ePub)
… und ist daz durh ein wîp geschehn,
muoz ich ir süezer worte jehn.
(nach ›Parzival‹ 827,29f.)
mîn kunst mir des niht witze gît,
daz ich gesage disen strît
bescheidenlîch als er regienc.
(›Parzival‹ 738,1−3)
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2024 von der Fakultät III: Sprach- und Kulturwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet.
First and foremost danke ich meinem Betreuer Prof. Dr. Albrecht Hausmann und meiner langjährigen Vorgesetzten Prof. Dr. Ursula Kocher – dafür, dass sie mich bescheidenlîch durch disen strît geleitet, mich immer wieder herausgefordert, vor allem aber mit einem Höchstmaß an kunst und witze gefördert haben. Ohne ihr beider scharfen Blick fürs große Ganze und die kleinsten Details, ohne ihr Vertrauen und ihre Geduld gäbe es diese Arbeit nicht.
Prof. Dr. Sonja Glauch und Prof. Dr. Christian Schneider danke ich sehr herzlich für die Übernahme der beiden Korreferate sowie – gemeinsam mit Prof. Dr. Gun-Britt Kohler und Prof. Dr. Sabine Kyora – für ihre Mitwirkung an einer ebenso anregenden wie angenehmen Disputation. Für die Aufnahme in die Reihe ›Bibliotheca Germanica‹ und ihre hilfreichen Überarbeitungshinweise schulde ich Prof. Dr. Udo Friedrich, Prof. Dr. Susanne Köbele und Prof. Dr. Henrike Manuwald großen Dank; Tillmann Bub danke ich herzlich für die verlässlich-kompetente Betreuung des Publikationsprozesses, Robert Narr für die hervorragende Unterstützung in Sachen Open Access. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung verdanke ich einen gewichtigen Kostenzuschuss zur Druckfassung; der Universitätsgesellschaft Oldenburg e. V. danke ich für die Zuerkennung des Preises für herausragende Promotion und für die schöne Preisverleihung, deren Rahmen passenderweise – als Ausklang des fünfzigsten Jubiläumsjahres der Oldenburger Universität – unter dem Motto ›Offen für neue Wege‹ stand.
So geht auch am Ende dieses Weges der Blick zurück zu seinen Anfängen: PD Dr. Susanna Brogi und Prof. Dr. Friedrich Michael Dimpel inpfeten daz êrste rîs – für weichenstellende Begegnungen mit Metalepsen und Mediävistik im ersten Studiensemester bin ich beiden ebenso tief verbunden wie für freundschaftliche Wegbegleitung bis heute. Für vielfältigen Austausch danke ich den Teilnehmenden der Oldenburger und Wuppertaler Kolloquien; zu besonderem Dank bin ich meiner ersten und unübertroffenen Bürokollegin Dr. Britta Bußmann verpflichtet, die mir gerade im ersten Promotionsjahr so umfassend mit Rat und Tat zur Seite stand, wie man es sich nur wünschen kann. Auf Wuppertaler Seite danke ich dem wunderbaren Team für freundschaftliches Miteinander über lange Jahre hinweg – und nicht zuletzt für manch dringend gebotene Aufmunterung bei (mehr oder minder) frisch gebrühtem Kaffee. Schließlich gilt mein herzlicher Dank Prof. Dr. Andrea Schindler für das Eröffnen neuer Wege – und mit ihr all den lieben Kolleg:innen für nunmehr zwei Jahre großartiger Zusammenarbeit an der TU Braunschweig, die den Endspurt zu diesem Buch erträglich gemacht und oft genug versüßt haben.
Unmittelbar vor der heißesten Phase dieses Projekts startete das DFG-Netzwerk ›Diachronic Metalepsis‹ (2022–2025), dessen Mitgliedern ich für ebenso lebhafte wie produktive interdisziplinäre Diskussionen gleichfalls herzlich danken möchte. Besonderen Dank schulde ich hier PD Dr. Thomas Kuhn-Treichel und Dr. Daniel Zimmermann, die mir auch jenseits des metaleptischen Tellerrands zu wichtigen Gesprächspartnern geworden sind. In diesem Sinne sei auch Prof. Dr. Amelie Bendheim für unsere langjährige Zusammenarbeit und den allzeit heiteren Austausch gedankt.
Last, not least, gilt mein wichtigster Dank aber Freund:innen und Familie – genannt seien nur Gabi mit René und Sascha, Nina und Klaus sowie die Alfi-Runde – für liebevolle Unterstützung und manch förderliche Ablenkung; stellvertretend für all jene, die noch an sie denken, meinen Großeltern dafür, dass sie mir Wegbereiter und -begleiter waren, die ich voll dankbarer Erinnerung im Herzen habe; mehr als allen zuvor Genannten meinen Eltern Claudia und Heimo für kleine Mutmacher und immer größer wachsende Care-Pakete, für offene Ohren und guten Rat, für ihre Liebe, die mich trägt … und meiner Frau Nadine für ihre unschätzbare Expertise, für ihre aufopfernde Unterstützung in jedweder Lage und für noch so unendlich viel mehr, als ich je in süeze worte fassen könnte: dir gehœret diz buoch.
Braunschweig, im Oktober 2025 MSH
Gérard Genette hat den Begriff der auktorialen Metalepse (im frz. Orig. métalepse de l’auteur)1 nicht an mittelalterlichen Werken exemplifiziert, aber er hätte es tun können: Anstelle der Adressatenapostrophen aus Denis Diderots ›Jacques der Fatalist‹ – »›Was könnte mich hindern, den Herrn zu verheiraten und ihn zum Hahnrei zu machen‹ […], ›Wird Ihnen seine Geschichte Vergnügen bereiten oder nicht? Wenn ja, dann setzen wir die Bäuerin wieder auf die Kruppe hinter den Lenker des Rosses, lassen die beiden ziehen und kehren zu unserem Reisenden zurück‹«2 – hätte sich Genettes Begriff von »jener narrativen Figur, […] die darin besteht, so zu tun, als ›bewirke der Dichter selbst die Dinge, die er besingt‹«,3 ebenso gut an Renauts de Beaujeu Artus- und Feenroman ›Le Bel Inconnu‹ aus dem späten 12. Jahrhundert illustrieren lassen.4 Dessen Erzähler wendet sich im Romanepilog mit folgenden Worten seiner Angebeteten zu:
Mais por un biau sanblant mostrer
Vos feroit Guinglain retrover
S’amie, que il a perdue,
Qu’entre ses bras le tenroit nue.
Se de çou li faites delai,
Si ert Guinglains en tel esmai
Que ja mais n’avera s’amie.5
D’autre vengeance n’a il mie,
Mais por la soie grant grevance
Ert sor Guinglain ceste vengance,
Que ja mais jor n’en parlerai
Tant que le bel sanblant avrai. (›Le Bel Inconnu‹, V. 6255–6266)
Für den schönen Schein Eures Blicks ließe er [= Renaut de Beaujeu] Guinglain die verlorene Liebste um Euretwillen wiederfinden und nackt in seinen Armen halten. Doch wenn Ihr damit geizt, dann verfällt Guinglain der Pein, die Geliebte nie mehr zu besitzen. Eine andere Rache gibt es nicht, und die wird zu seinem argen Kummer Guinglain treffen: Ich werde nimmermehr von ihm erzählen, bis ich den schönen Schein des Blicks bekomme. (Übers. Olef-Krafft, S. 216f.)
Die Stelle zeige, so Ricarda Bauschke, nicht allein »auf die Willkür des Erzählens«, vielmehr »insistiert Renaut zusätzlich auf der Variabilität des Erzählten« – nicht nur der discours, sondern auch die histoire von Renauts ›Bel Inconnu‹ sei demnach »definiert […] als sein literarisches Produkt.«6 Von einer ähnlichen auktorialen Souveränität zeugt folgende Stelle aus Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹:
wê wie gefüege ich doch pin,
daz ich den werden Berteneis
sô schône lege für Kanvoleis,
dâ nie getrat vilânes fuoz
(ob ichz iu rehte sagen muoz)
noch lîhte nimmer dâ geschiht. (›Parzival‹, 74,10–15)
Auch hier sind Erzählvorgang und erzähltes Ereignis auf bemerkenswerte Weise kurzgeschlossen: Beim Wort genommen, preist der Sprecher sich nicht dafür, auf sô schône Weise erzählt zu haben, wie der Bretonenkönig Utepandragûn zu Boden geschickt wird; er reklamiert vielmehr den Ruhm für sich, ihn erst dorthin zu legen. Anstatt wie üblich im Präteritum von vergangenen Begebenheiten zu berichten, scheint der ›Parzival‹-Erzähler hier selbst jene Taten zu bewirken, die er ansonsten nur vermittelt.7
Bei einer im wertneutralen Sinne ahistorischen Betrachtung wird man kaum bestreiten können, dass die mittelalterlichen Beispiele aus ›Bel Inconnu‹ und ›Parzival‹ ähnlich ›funktionieren‹ wie die rund 600 Jahre jüngeren Diderot-Zitate – und so müsste es, will man narratologische Analyse mit einem gewissen Universalitätsanspruch verbinden, auch bedenkenlos möglich sein, sie gemeinsam unter dem Rubrum ›auktoriale Metalepse‹ zu fassen. Genau hier beginnen allerdings die Schwierigkeiten: Der übergeordnete Terminus ›Metalepse‹ ist als Baustein eines Beschreibungsgebäudes etabliert, das – vom Blickwinkel der literaturwissenschaftlichen Mediävistik aus betrachtet – »nicht an ihren Gegenständen entwickelt worden ist und das deshalb – unreflektiert gebraucht – Konnotationen transportiert, die kontrolliert sein wollen.«8 Eine solche kontrollierte Reflexion muss nun einerseits schon bei den Voraussetzungen von Genettes Theorie ansetzen – und andererseits möglichst scharf zwischen den Ebenen der (im engeren Sinne narratologischen) Analyse und der (hermeneutischen) Interpretation differenzieren.9 Beide Probleme stellen sich unmittelbar bei Genettes grundlegender Definition der narrativen10 Metalepse:
Jedes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten ins diegetische Universum (bzw. diegetischer Figuren in ein metadiegetisches Universum usw.) oder auch […] das Umgekehrte, zeitigt eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist (wenn man die Sache, wie Sterne oder Diderot, in scherzhaftem Ton präsentiert), mal phantastisch. Wir wollen den Ausdruck narrative Metalepse so weit fassen, dass er alle diese Transgressionen abdeckt.11
Vorausgesetzt ist hier ein Begriff von ›diegetischen Universen‹, der ebenfalls auf seine überzeitliche Anwendbarkeit überprüft werden muss – darauf gehe ich weiter unten noch ausführlich ein. Unmittelbar problematisieren lässt sich indes Genettes Festlegung der Metalepse auf ihre »bizarre Wirkung, die mal komisch ist […], mal phantastisch.«12 Es ist, insbesondere in transhistorischer Sicht, weder notwendig noch sinnvoll, die Definition der Metalepse von vornherein mit ihren Effekten zu vermengen, mithin die ästhetischen Potenziale eines Analysebegriffs qua Definition a priori einzuschränken. Viel eher ist anzunehmen, dass strukturell analoge Sprechweisen wie die auktorialen Metalepsen bei Diderot und Sterne, bei Renaut und Wolfram, bei Vergil und Homer diachron auf ganz unterschiedliche Weisen interpretierbar sind – und wohl auch schon von Zeitgenossen auf ganz unterschiedliche Weisen interpretiert wurden.13
Die vorliegende Studie ist vor diesem Horizont einem im engeren Sinne narratologischen Vorgehen verpflichtet: Sie setzt an bei der Arbeit am Begriff ›Metalepse‹ und zielt zuerst auf eine möglichst beobachterunabhängige, voraussetzungsarme und transhistorisch applikable Definition. Deren anschließende Anwendung auf mittelalterliches Erzählen möge zugleich – von der Warte einer allgemeinen oder diachronen Narratologie aus betrachtet – einen Lückenschluss bedeuten: Während zu Metalepsen in der Antike14 und seit der Renaissance15 inzwischen zahlreiche Monographien, Sammelbände und Einzelbeiträge vorliegen, existiert zur Metalepse im Mittelalter bis dato kaum ein eigentlicher Forschungsstand;16 benutzt wird der Terminus von mediävistischer Seite zwar durchaus, doch bleibt sein Gebrauch auf wenige Kardinalstellen konzentriert17 und insgesamt uneinheitlich.18 Wohl auch deshalb lagen die Metalepsen der mittelalterlichen Literatur noch bis zuletzt fast zur Gänze außerhalb des Horizonts der allgemeinen Narratologie.19
Die in der vorliegenden Arbeit angestrebte (Trans-)Historisierung des Metalepsen-Begriffs20 anhand der Epik des Mittelalters soll sowohl in narratologischer als auch in mediävistischer Perspektive einen Mehrwert generieren. In narratologischer Hinsicht dürfte dieser Mehrwert paradoxerweise gerade dort liegen, »wo die [Genette’schen] Kategorien weniger überzeitlich anwendbar sind als gedacht«:21 Die Metalepse gehört zu jenen Querschnittsbegriffen in Genettes Theorie, die zwei der zuvor getrennten Bereiche unmittelbar wieder miteinander verzahnen; im Fall der Metalepse sind dies die Kategorien ›Stimme‹ und ›Zeit‹.22 Sie gleicht darin der Fokalisierung, die in Genettes Modell ›Stimme‹ und ›Modus‹ miteinander verquickt.23 Doch gerade als einer der Knotenpunkte in Genettes Begriffsnetz eignet sich die Metalepse in besonderem Maße zur (trans-)historischen Reflexion: Je zentraler ein Begriff innerhalb eines Instrumentariums ist, umso mehr handelt es sich bei seiner Reflexion zugleich auch um eine Reflexion der gesamten Theorie.
Von mediävistischer Seite wurde das methodologisch-reflexive Potenzial der Metalepse am deutlichsten von Eva von Contzen benannt: »Metalepsis, among others, is a common feature; its analysis can shed light on the conceptualization of narrative levels and their permeability.«24 Mediävistische Untersuchungen, die den Begriff der Metalepse systematisch ins Zentrum rücken, gibt es gleichwohl bisher nicht; Hinweise auf Chancen und Herausforderungen der Begriffsapplikation finden sich daher eher verstreut in thematisch angrenzenden Studien. Diese Perspektiven seien im Folgenden, anstelle eines eigentlichen Forschungsüberblicks, zusammengetragen:
Durchweg optimistisch hinsichtlich der Rede von Metalepsen im mittelalterlichen Erzählen äußern sich Beate Kellner und Peter Strohschneider, die in einem gemeinsamen Beitrag zum ›Wartburgkrieg‹-Komplex notieren, dass »metaleptische[] Verschränkungen von Ausdrucksseite und Inhaltsseite der Rede […] in der mittelalterlichen Literatur ubiquitär«25 seien. Im Vergleich zu Genettes recht weitem Metalepsen-Begriff ist vor allem die Eingrenzung auf »Verschränkungen von Ausdrucksseite und Inhaltsseite der Rede«,26 also von narration und histoire, zu begrüßen – ich komme darauf noch genauer zurück. Eher an eine Entgrenzung lässt dagegen die Behauptung von Ubiquität denken: Gegen Kellner/Strohschneider bezweifle ich entsprechend, dass metaleptische Sprechweisen darauf zeigten, dass »die analytisch unhintergehbare Differenz von Redeakt und Redegegenstand mehr oder weniger irrelevant sein«27 könne. Vielmehr markieren Metalepsen, wie ich im Verlauf der Arbeit noch genauer argumentieren werde, die ihnen qua Definition gerade vorausliegende Relevanz der ›Repräsentationalität‹28 von Narration.
In jüngerer Zeit hat Linus Möllenbrink einen anregenden Aufschlag zu metaleptischen Potenzialen im höfischen Roman, insbesondere im ›Tristan‹ (der im Fokus seiner figurentheoretischen Arbeit steht) und im ›Parzival‹, gemacht. Sein ›Parzival‹-Beispiel, nämlich die Hartmann-Apostrophe (143,21–144,4), halte ich dabei für das überzeugendste; dies aber weniger allein deshalb, weil »hier nicht nur Figuren aus einem anderen Text (Hartmanns ›Erec‹) auftreten, sondern auch dessen Autorfigur«,29 als vielmehr deshalb, weil hier eine auktoriale Metalepse – das Eingreifen eines Autors in den Text – ›über Bande‹, das heißt: als erbetenes Eingreifen eines fremden Autors Hartmann in den eigenen Wolfram’schen Text inszeniert wird.30 Über die Grenzen eines für den höfischen Roman adäquaten Metalepsen-Begriffs hinaus scheinen mir dagegen Möllenbrinks Beispiele aus dem ›Tristan‹ zu führen: Dass eine »Figur ihre eigene Umwelt mithilfe literarischen Wissens [interpretiert]«,31 impliziert nicht zwingend einen einen »Verstoß gegen die Regeln der Erzählung«32 bzw. eine Metalepse. Entscheidend ist vielmehr, ob man einer Figur Wissen über ihren eigenen Status als literarische Figur zuschreiben, das heißt: ob man für sie von »metaleptischem Figurenbewusstein«33 sprechen kann; das ist jedoch weder in den von Möllenbrink beigebrachten Beispielen noch überhaupt im ›Tristan‹ der Fall.34 Insgesamt scheint mir Möllenbrink in seinem Ausblick denn auch zu stark von einer ontologischen Grenze zwischen erzählter Welt und Erzählerwelt auszugehen; gegen seine an Genette anknüpfende Formulierung, »dass Grenzüberschreitungen immer auch die Wirkung haben, die Grenze, die sie überschreiten, zugleich sichtbar zu machen«,35 werde ich im Laufe dieser Arbeit Schritt für Schritt argumentieren, dass es sich bei Metalepsen im höfischen Roman eher um punktuelle Grenzziehungen denn schon um Grenzüberschreitungen handelt, die eine ontologische Grenze bereits voraussetzen würden.
Auf ebendiese Schwelle, die eine Historisierung von Genettes Metalepsen-Begriff überwinden muss, weisen Sonja Glauch und Seraina Plotke hin: Glauch betont in einer für mein Vorhaben wichtigen Anmerkung, dass Genettes Vorstellung einer distinkten diegetischen Welt des Erzählten für das Mittelalter gerade nicht greife,
da es sich bei dieser Welt um unsere eine, gemeinsame Welt handelt (zwischen den narrativen Welten um Artus und um Karl den Großen besteht also kein grundsätzlicher, ontischer Unterschied; beide sind historische Phasen der realen Welt). Von homodiegetischen Erzählungen lassen sich heterodiegetische unter diesen Umständen nur dadurch abgrenzen, daß in ihnen der Erzähler an der Handlung nicht beteiligt ist. Direkter Kontakt zur erzählten Welt ist aber nicht kategorisch ausgeschlossen: nicht wenige Erzählungen lassen den Erzähler das gehört oder gesehen haben, was er dann heterodiegetisch erzählt, lassen ihn direkt oder indirekt mit Relikten aus der erzählten Geschichte in Berührung kommen etc. All dies sind keine Metalepsen und Fiktionsbrüche, sondern vielmehr Belege dafür, daß keine ontische Grenze zwischen Erzähler und erzählter Welt besteht.36
In dieselbe Kerbe schlägt Plotke, wenn sie zur Erzählerkommentierung eines Edelsteinfunds im ›Herzog Ernst‹37 anmerkt:
Unter den Maßgaben eines modernen Fiktionalitätsverständnisses könnte man diese Passage als Metalepse bestimmen, doch ist die vorgenommene Transgression der Ebenen im vorliegenden Kontext eher vor dem Hintergrund des die mittelalterliche narrative Literatur prägenden rhetorischen historia-Begriffs zu lesen, der Augenzeugenschaft als zentrales Kriterium für die Glaubhaftmachung des Erzählten definiert. Die Sprechinstanz wendet sich an die Zuhörerschaft […] und spricht die Adressaten als Teile des berichteten Universums an, indem sie sie zu Zeugen der Handlung ausruft.38
Aus den beiden Zitaten folgt wohlgemerkt nicht, dass es im mittelalterlichen Erzählen keine Metalepsen geben könne – es wäre lediglich verfehlt, solche Stellen als metaleptisch zu bezeichnen, die vielmehr eine temporale Sukzession statt einer ontologischen Differenz von erzählter Welt und Erzählerwelt ausstellen.
Glauchs und Plotkes Einwände zielen jeweils auf solche Fälle, die anstelle eines fiktionalen eher einen faktualen bzw. historialen Produktions- und Rezeptionsmodus nahelegen. Für religiöse Texte gelten möglicherweise andere pragmatische Vorzeichen; Elke Koch schlägt für diesen Rahmen den Begriff ›Fideales Erzählen‹ vor.39 Gleichwohl finden sich auch in genuin religiösen Texten Belegstellen, die einer strukturellen Definition der Metalepse problemlos genügen, so etwa bei Bernhard von Clairvaux: Nunc vero redeamus usque Bethlehem et videamus hoc verbum quod fecit Dominus et ostendit nobis.40 Ähnliche Wendungen, die den Wechsel zwischen Schauplätzen oder parallelen Handlungssträngen einer Erzählung (im Folgenden: Szenen- bzw. Strangwechselformeln) metaleptisch moderieren, finden sich auch mehrfach in Wolframs ›Parzival‹.41
Das Beispiel Bernhard von Clairvaux unterstreicht zugleich: Fiktionalität ist weder eine notwendige Bedingung noch eine notwendige Konsequenz metaleptischen Sprechens. Eher sind Metalepsen, gleichsam als ›Präsenzeffekte‹, im Kontext der Medialität höfischer Literatur zwischen Oralität, Skripturalität und Performativität zu sehen.42 So argumentiert Carsten Morsch:
Die besonderen medien- und literarhistorischen Voraussetzungen höfischer Dichtung, die im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine noch nicht institutionalisierte und gegenüber anderen Interaktionen abgegrenzte Kommunikationsform ist, bedeuten m. E. nicht, dass die Rede von Metalepsen zum Anachronismus wird; sie machen es vielmehr überaus plausibel, dass (die Möglichkeit) erzählte(r) Situationen hier permanent auch in Erzählsituationen und Situationen des Erzählens reflektiert werden.43
Tatsächlich dürften (semi-)orale Erzählsituationen – seien sie real, virtuell oder fingiert44 – auch diachron eine deutliche »Metalepsen-Affinität«45 aufweisen: Leonie von Alvensleben verweist für die Antike auf metaleptische Potenziale weiterer »Textgattungen, die ebenfalls einen mündlichen Aufführungskontext implizieren (beispielsweise Hymnen, Oden, Tragödien)«;46 René Pérennec hat an teils metaleptischen Beispielen aus Hartmanns ›Erec‹ und Laurence Sternes ›Tristram Shandy‹ den Begriff des ›Konversationsstils‹ geprägt,47 der sich auch auf den kolloquialen Erzählstil eines Wolfram, Cervantes oder Diderot anwenden ließe. Über die ›Schwelle zur (Schrift-)Literatur‹ hinweg dürfte demnach eine signifikante Korrelation von (inszenierter) Oralität und Metaleptizität einer Erzählung fortbestehen.
Gerade solche Parallelen zwischen zeitlich weit voneinander entfernten Werken zeigen allerdings an, dass es verfehlt wäre, die Metalepse für ganze Epochen oder Gattungen zum medialen ›Normalzustand‹ zu erklären. Diese Tendenz ist vor allem in jüngeren Arbeiten zur antiken Literatur zu erkennen, exemplarisch in den einleitenden Überlegungen zur Homer-Dissertation von Alvenslebens:
Im epischen Gesang herrscht […] ein fortwährendes Nebeneinander (und Miteinander) zweier Ebenen – der Gegenwart und Vergangenheit, des Sängers und der mythischen Figuren –, welche ein ›kontingentes Chronotop‹ bilden. Zu diesem Nebeneinander steht metaleptisches (›Ebenen-durchlässiges‹) Erzählen in einem doppelten Verhältnis: es folgt aus diesem Nebeneinander, und es verstärkt es gleichzeitig, ja macht es mitunter überhaupt erst wahrnehmbar. Aus diesen Überlegungen zur Medialität folgt nicht nur, dass metaleptisches Erzählen in mündlichen Erzählkontexten illusionskompatibel ist […], sondern auch, dass es sogar in gewisser Weise den ›Normalfall‹ oder eine ›Notwendigkeit‹ mündlichen Erzählens bildet: Das fortwährende Neben- und Miteinander von (in den Text ›eingeschriebener‹) Erzählsituation und mythischer Figurenwelt impliziert zugleich auch ein fortwährendes Überschneiden und Ineinander-Übergehen dieser beiden Ebenen.48
Ich halte diese Ausführungen zur Medialität vormodernen Erzählens durchweg für richtig und wichtig, doch geben sie meines Erachtens Anlass zu einer noch weiterreichenden Schlussfolgerung: Das »fortwährende Neben- und Miteinander von […] Erzählsituation und mythischer Figurenwelt«49 zeigt doch vielmehr darauf, dass es sich bei »Erzählsituation« und »mythischer Figurenwelt« gar nicht um a priori distinkte diegetische Ebenen handelt; wo aber keine distinkten Ebenen im Genette’schen Sinne voraussetzbar sind, kann metaleptisches Sprechen auch nicht sinnvoll als »›Ebenen-durchlässiges‹[] Erzählen«50 definiert werden. Daraus folgt: In einer (trans-)historischen Perspektive, die vormodernes Erzählen einschließt, ohne (post-)moderne Werke ausklammern zu wollen, müssen die Parameter eines validen Metalepsen-Konzepts grundlegend anders gefasst werden als mit Genettes voraussetzungsreichem Begriff von diegetischen ›Universen‹.
Hier setzt das Programm meiner vorliegenden Studie an, das vorab in groben Zügen vorgestellt und um einige Anmerkungen zur Textauswahl ergänzt sei: Zunächst tritt sie, um die systematischen Grundlagen für das Folgende zu schaffen, einen Schritt hinter Genette sowie die auf ihn aufbauende Forschung zurück, um mittels einer kurzen Wort- und Phänomengeschichte der Metalepse in der Rhetorik historisch relevante Andockstellen für die folgende Begriffsschärfung zu schaffen. Eine Schlüsselposition zwischen rhetorischem und narratologischem Diskurs kommt dem niederländischen Rhetoriker Gerardus Vossius zu, der zur Mitte des 17. Jahrhunderts erstmals die Wortgeschichte der metalepsis mit der Phänomengeschichte ihres narratologischen Begriffsinhalts zusammenführt. Von hier aus führt der Weg über die französischen Rhetoriker Dumarsais (18. Jh.) und Fontanier (19. Jh.) geradewegs zu Genette, der schließlich die Metalepse als Baustein der Narratologie etabliert.
In Auseinandersetzung mit den tragenden Säulen des Genette’schen Beschreibungsgebäudes – den Begriffen histoire, discours und narration – erarbeite ich im folgenden Schritt eine möglichst beobachterunabhänige, voraussetzungsarme und transhistorisch anwendbare Definition der Metalepse, deren einzige Prämisse die basale Zeitstruktur von Narration als Repräsentation ist: jene Eigenschaft also, dass Narration »in einer bestimmten Situation erzählend […] eine andere Situation […] vergegenwärtig[t]«.51 Ich knüpfe hierbei an Arbeiten aus der Romanistik an, die Metalepsen und Sprechsituationen zusammengedacht haben und so schon um die Jahrtausendwende einen Grad an definitorischer Präzisierung des Phänomens ›Metalepse‹ erreicht haben, der – jedenfalls, was die transhistorische Anwendbarkeit von Begriff und Modell angeht – bis heute meines Erachtens unübertroffen geblieben ist: Zu nennen ist hier speziell Bernd Häsners Modell metaleptischer ›Akzentuierungen‹, das ich meinen Analysen als wesentliche Heuristik zugrunde lege. Gleichwohl erscheint es mir unverzichtbar, Häsners Modell im Kontext der jüngeren Metalepsenforschung zu situieren – nicht zuletzt, um auch von dieser Warte aus zu verdeutlichen, weshalb ich dessen Begriff und Typologie für bestmöglich geeignet halte, um eine Analyse und Interpretation von Metalepsen der mittelalterlichen Erzählliteratur zu fundieren. Den Abschluss des systematischen Grundlagenkapitels bildet schließlich die Frage nach metaleptischem Figurenbewusstsein vor der Moderne.
Notwendiges Korrelat dieses genuin narratologischen Zugriffs ist seine historische Rahmung: Noch einmal bei den Eingangsbeispielen von Renaut de Beaujeu und Wolfram von Eschenbach einerseits sowie von Denis Diderot andererseits ansetzend, lässt sich nicht nur der Blick für deren strukturelle Parallelen, sondern auch für literatur- und kulturhistorische Differenzen öffnen; diese betreffen insbesondere das Verhältnis von Situation und Stimme sowie den pragmatischen Status der höfischen Epik. Im entsprechenden Kapitel gebe ich zuerst einen knappen Überblick über jüngere Positionen zu Medialität und Autor/Erzähler-Frage der höfischen Erzählliteratur, bevor ich aus der exemplarischen Auseinandersetzung mit poetologischen (Selbst-)Inszenierungen in Hartmanns ›Iwein‹ und Wolframs ›Parzival‹ eine eigene Begriffsopposition entwickle, die wie mein Metalepsen-Begriff auf der basalen Zeitstruktur von Narration als Repräsentation gründet: Für Hartmanns ›Iwein‹ möchte ich eine programmatische Sukzession von histoire, autorseitiger Produktion des récit und erzählerseitiger Narration des discours aufzeigen, die eine distinkte Unterscheidbarkeit der Textfunktionen ›Autor‹ und ›Erzähler‹ impliziert. In Wolframs ›Parzival‹ liegt das Gegenteil vor: Hier fallen Autor- und Erzählerfunktion in einem einzigen ich, Wolfram von Eschenbach (114,12) zusammen, insofern Produktion und Narration der ›Parzival‹-âventiure zu einem einzigen performativen Akt zusammengeschlossen sind; diese Gleichzeitigkeit von Produktion und Narration bezeichne ich als performative Simultaneität. Sie bedingt zugleich eine Verkürzung der Distanz des metaleptischen ›Sprungs‹ über den discours-Aspekt des Erzählens hinweg: Wenn der Narrationsakt grundsätzlich als ein Akt der Produktion – und nicht etwa der Reproduktion oder der Aktualisierung – einer Erzählung inszeniert ist, kann dieser produktive Akt leichter mit der erzählten Handlung kurzgeschlossen, das heißt: punktuell zur histoire in ein Simultaneitäts- oder gar in ein (zum Alltagserzählen umgekehrtes) Kausalitätsverhältnis gesetzt werden.
Im zweiten literatur- und kulturhistorischen Teilkapitel steht die Frage nach dem pragmatischen Rahmen metaleptischen Sprechens im höfischen Roman im Fokus. Ausgangspunkt der dortigen Überlegungen ist die bereits oben angedeutete Einsicht, dass Metalepsen weder notwendigerweise Fiktionalität voraussetzen, noch diese zwingend zur Folge haben. Als Brüche mit der Sukzession von histoire und narration führen Metalepsen zwar tendenziell weg von der Historialität einer Erzählung, dies allerdings in zwei mögliche Richtungen: Fiktionalität und Fidealität, so der Kerngedanke des Teilkapitels, lassen sich als zwei potenzielle frames metaleptischen Sprechens im höfischen Roman konzeptualisieren. Für die nachfolgenden Textinterpretationen wird so ein Rahmen aufgespannt, innerhalb dessen sich die Funktionen metaleptischer Sprechweisen zumindest heuristisch verorten lassen.
Auf dem doppelten Boden der narratologisch-pragmatischen Grundlegung sowie der literatur- und kulturhistorischen Rahmung ruht der Hauptteil der vorliegenden Arbeit – ›Metalepsen im höfischen Roman‹ – mit werkzentrierten Unterkapiteln zu ›Erec‹, ›Parzival‹ und ›Wildhelm von Österreich‹.
Sowohl die Einschränkung auf die Gattung (spät-)höfischer Roman als auch auf die drei fokussierten Texte bedarf einer kurzen Rechtfertigung, die in engem Zusammenhang mit meinem Metalepsen-Begriff steht – ich muss also zur Begründung der Textauswahl der noch zu entwickelnden und zu erläuternden Definition ein wenig vorgreifen: Im Rahmen von Kapitel 1 wird sich Schritt für Schritt zeigen, dass Metalepsen – jedenfalls für die Vormoderne – im Wesentlichen Spezialfälle metanarrativer Präsensverwendung sind; heuristisch lassen sie sich als Sonderfall des von Hugo Herchenbach geradezu katalogisierten ›Präsens historicum im Mittelhochdeutschen‹ fassen. Schon Herchenbachs Definition des ›mittelhochdeutschen‹ in Abgrenzung zum ›modernen‹ historischen Präsens überschneidet sich dabei signifikant mit meiner späteren Definition der Metalepse; seine zahlreichen Beispiele für »Vergenwärtigung«,52 »Apostrophen«,53 »Ausruf, Segen und Fluch«54 und »Wendungen an die Hörer«55 sind denn auch zum Großteil, wenngleich nicht durchweg, metaleptisch. Für mein Vorhaben folgt daraus zweierlei: Einerseits ist Herchenbachs reicher Belegfundus sowie sein abschließender »[k]urzer historischer Überblick über das Auftreten des Präsens hist. bei den einzelnen Dichtern der mhd. Periode«56 ein äußerst nützliches Hilfsmittel, um zu einer Sammlung einschlägiger Textstellen und einer ersten Eingrenzung nach Gattungen und Werken zu gelangen; andererseits kann Herchenbachs breit angelegte Untersuchung naturgemäß kaum je in die Tiefe gehen, insbesondere bleiben die narrativen Kontexte der einzelnen Präsenswendungen konsequent auf der Strecke. Mein Vorhaben geht gewissermaßen den umgekehrten Weg: In drei Fallstudien sollen die Rahmenbedingungen, die zentralen Ausprägungen und Funktionalisierungen metaleptischen Sprechens in ›Erec‹, ›Parzival‹ und ›Wildhelm von Österreich‹ herausgearbeitet werden. Die Eingrenzung auf drei Vertreter des (spät-)höfischen Romans lässt sich aus der Belegsituation begründen: In den übrigen Gattungen – von der frühmittelhochdeutschen Dichtung über die Heldenepik und Legendarik bis hin zur Novellistik – finden sich deutlich weniger Fälle metaleptisch-präsentischen Sprechens, und sie reflektieren zumal kaum in jenem Maße die erzählte Handlung, dass eine poetologische Interpretation metaleptischen Sprechens über vereinzelte Schlaglichter hinaus sinnvoll möglich wäre. Im höfischen Roman Hartmann’scher und Wolfram’scher Prägung ist dies anders:
Bereits im ›Erec‹ finden sich metaleptische Funktionalisierungen von Gott, Zeit und Raum, wobei insbesondere – so der Leitgedanke des ›Erec‹-Kapitels – Gott als Katalysator metaleptischer Simultaneität fungiert: Das Sprechen zum zeitenthobenen Schöpfer ist einerseits Ermöglichungsrahmen von Metalepsen, die andererseits sukzessive auch über diesen ursprünglichen Ermöglichungsrahmen hinausweisen können. Wolfram baut im ›Parzival‹ gleichsam auf Hartmanns Vorarbeit auf, geht aber – wie ich leitthesenhaft argumentieren werde – einen entgegengesetzten Weg; meine Kapitelüberschrift deutet diesen Weg an, indem sie auktoriale Potenz als verworfene Alternative anspricht. Speziell im Zuge der Gahmuret-Handlung, darüber hinaus aber noch während Parzivals Weg von Soltane über den Artushof nach Pelrapeire, entwirft der Erzähler einen auktorial-metaleptischen Fiktionsoptimismus, der mit der merklich determinierten Handlung auf Munsalvæsche erheblich relativiert wird. In chiastischer Bewegung zum ›Erec‹ ist zudem die metaleptische Funktionalisierung Gottes im ›Parzival‹ äußerst selten: Ganz so, wie Gott erst handelnd »eingreif[t] […], wenn niemand mehr mit ihm rechnet«,57 schöpft Wolfram auch die metaleptische Anrufung Gottes erst in der finalen Kampfszene seiner Erzählung poetologisch aus.
Bevor ich mich der Begründung meiner dritten Textwahl widme, möchte ich kurz bei den vier höfischen ›Klassikern‹ der ›Blütezeit‹ verweilen: Zu Beginn der Konzeptionsphase dieser Studie sollte insbesondere dem ›Iwein‹ ein größerer Stellenwert zukommen als dies nun der Fall ist; so ließe sich etwa das Gespräch des Erzählers mit jener Frau Minne, die zuvor schon aktiv an Iwein gehandelt hat (vgl. V. 1537f.), a priori durchaus im Sinne einer metaleptischen Überschreitung diegetischer Grenzen interpretieren.58 Mit der Ablösung meines Metalepsen-Begriffs von der Präsupposition diegetischer Grenzen fiel indes auch die ›Metaleptizität‹ des ›Iwein‹ dahin: Im geschärften terminologischen Horizont erwies sich Hartmanns zweiter Artusroman als zwar stark metanarrativer, aber eben kaum mehr metaleptischer Text; seinen Wert für das vorliegende Buch hat er insofern dennoch behalten, als seine poetologischen Passagen immer wieder als auch begrifflich erhellende Kontrastfolie zu den handlungsstrukturell parallelen Partien des ›Parzival‹ dienen werden.59 Noch mehr als Hartmanns ›Iwein‹ prägt Gottfrieds ›Tristan‹ Metanarration statt Metalepse: Abgesehen von der metaleptischen Relationierung von Erzählvorgang und ›Wartezeit‹ der Figur bei Tristans Schwertleite60 und einer singulären metaleptischen Apostrophe vor dem Drachenkampf (Nu ist es zît, nu kêre zuo! V. 8925) nutzt Gottfried überhaupt keine metaleptischen Sprechweisen. Für die Romanerzähler des 13. Jahrhunderts hat dies letztendlich zur Folge, dass das (Nicht-)Vorliegen von Metalepsen signifikant mit stilistischer Gottfried- bzw. Wolfram-imitatio korreliert.61
Mit Johanns von Würzburg ›Wildhelm von Österreich‹ von 1314 gilt mein abschließendes Analysekapitel einem Roman, der gut ein Jahrhundert jünger ist als Wolframs ›Parzival‹; durch seine Berücksichtigung ist ein zeitlicher Rahmen abgesteckt, der von Anfangs- und erstem Höhepunkt (Hartmann und Wolfram) bis zum mindestens quantitativen Gipfelpunkt metaleptischen Sprechens im deutschsprachigen Mittelalter reicht. Mir geht es für den ›Wildhelm‹ gleichwohl nicht um das Ziehen von Entwicklungslinien, sondern um den Aufweis einer poetologisch-programmatischen metaleptischen ›Verwilderung‹ im ›Wildhelm von Österreich‹: Der Text ist wie kein zweiter mittelhochdeutscher Roman derart von metaleptischen Apostrophen und Erzählereingriffen ›überwuchert‹, dass er in der vorliegenden Studie keinesfalls fehlen darf.
Das umrissene Programm meiner Arbeit lässt sich von hier aus auf die Formel ihres Untertitels herunterbrechen: Narratologische Analyse und poetologische Interpretation. Es wäre freilich reizvoll gewesen, die zeitliche Lücke zwischen Wolfram und Johann durch die Berücksichtigung weiterer Texte zu füllen (genannt sei nur das naheliegendste Brückenglied: Albrechts ›Jüngerer Titurel‹), doch wäre eine solchermaßen vergrößerte Breite notwendigerweise zu Lasten jener Tiefe gegangen, die gerade die poetologische Interpretation dreier nicht wenig beforschter Texte zwingend erfordert. Insofern sei das Folgende auch als Angebot an die (trans-)historische Erzählforschung verstanden: Durch die Bereitstellung eines narratologisch möglichst präzisen Metalepsen-Begriffs sowie eines korrelativ offenen Spektrums metaleptischer Akzentuierungen als Deutungshorizont soll eine Grundlage für Folgeuntersuchungen bereitgestellt werden; die hermeneutischen Potenziale und damit die Leistungsfähigkeit des Analyse- und Interpretationswerkzeugs werden hier an drei zentralen Werken illustriert, sie beanspruchen darüber hinaus aber auch exemplarischen Charakter. Letztlich geht es im Folgenden also darum, zu zeigen, was die Analyse und Interpretation von Metalepsen in ihrem narrativen Kontext zum Verständnis einer (trans-)historischen Poetik des (höfischen) Romans beitragen kann – und wie sie ganz konkret das Verständnis der historischen Poetik von ›Erec‹, ›Parzival‹ und ›Wildhelm von Österreich‹ bereichert.
Sowohl die Bezeichnung ›Metalepse‹ als auch deren Gegenstand im narratologischen Sinne gibt es schon lange vor Genette – und ein Blick in die Wort- und Phänomengeschichte der Metalepse erscheint umso vielversprechender angesichts des einleitend formulierten Ziels, die Parameter des Metalepsen-Begriffs in der vorliegenden Arbeit unabhängig von Genettes Diegese-Modell zu fassen. In diesem Horizont zielen die folgenden Ausführungen zuerst darauf, Konstanten und Variablen in der Begriffsgeschichte des Metaleptischen vor Genette herauszuarbeiten.
Gemäß Armin Burkhardt lassen sich »[a]llein für die Zeitspanne von der Antike bis in die Barockrhetorik […] drei recht unterschiedliche M[etalepsen]-Begriffe ausmachen«,1 wovon nur einer direkt mit der narratologischen Bedeutung verwandt ist.2 Es handelt sich dabei um die Metalepse im Sinne einer »einfache[n] Metonymie auf der Basis der Grund-Folge-Relation«,3 also um die Ersetzung eines Vorausgehenden durch ein daraus Folgendes oder vice versa. In dieser Bedeutung verzeichnet die Metalepse schon Isidor von Sevilla (Etym. I, 37,7), doch fristet sie bis ins 16. Jahrhundert ein terminologisches Schattendasein.4
Für die Phänomengeschichte der narratologischen Metalepse kommt dem niederländischen Rhetoriker Gerardus Vossius (1577–1649) eine Schlüsselrolle zu,5 denn erst bei ihm treffen Signifikant und erzähltheoretisches Signifikat der Metalepse zusammen. Ausgangspunkt seiner insofern wichtigen Erläuterung ist folgendes Vergil-Zitat:
[T]um Phaethontiadas musco circumdat amarae corticis atque solo proceras erigit alnos. (Publius Vergilius Maro, Ecloga VI, 62–63)
[Der Silen] umgibt dann Phaëthons Schwestern mit Moos auf der bittren Rinde und lässt sie als schlanke Erlen vom Grund sich erheben. (Übers. Holzberg)
In seinen ›Commentariorum rhetoricorum‹ zitiert Vossius den Vergil-Beleg nicht isoliert, sondern im Verbund mit dem Kommentar des Servius (4./5. Jh. n. Chr.):
[M]ira autem est canentis laus, ut quasi non factam rem cantare, sed ipse eam cantando facere videatur. (Servius Grammaticus, Comm. in Verg. Buc. VI, 62)
[E]rstaunlich ist das Lob des Sängers […], daß er die geschehene Begebenheit nicht zu besingen, sondern sie selbst durch sein Singen gleichsam zu erschaffen vorgibt. (Übers. Lieberg 1982, S. 9, Hervorh. MSH)
Von hier aus ist der Weg zur auktorialen Metalepse sensu Genette nicht weit. Anhand der Vergil-Stelle und ihres Kommentars exemplifiziert Vossius einen Metalepsen-Typus, bei dem facere an die Stelle von dicere oder narrare tritt: ita fuerit μετάληψις antecedentis, cum facere ponitur pro dicere, aut narrare.6 Dieser Erläuterung genügt nicht nur das obige Vergil-Zitat, sondern auch mein Eingangsbeispiel aus dem ›Parzival‹: wê wie gefüege ich doch pin, / daz ich den werden Berteneis / sô schône lege für Kanvoleis (74,10–12). legen ersetzt hier sagen, ein gegenwärtiges Handeln des Erzählers tritt an die Stelle des nachzeitigen Berichtens von vorhergehenden Taten. Auktoriale Metalepsen finden sich demnach sowohl bei Vergil7 als auch bei Wolfram von Eschenbach, sie werden schon vom spätantiken Kommentator Servius als rhetorisch bemerkenswert identifiziert, jedoch erst im 17. Jahrhundert durch Gerardus Vossius dem Begriff der Metalepse zugeordnet.
Von Vossius aus lässt sich über die französischen Rhetoriker Dumarsais (1676–1756) und Fontanier (1765–1844) eine direkte Linie zu Genette ziehen.8 Dabei geht insbesondere Fontanier über seine beiden Vorgänger hinaus: Seinem Dumarsais-Kommentar entstammt die Formulierung, dass die Metalepse »fait bien plus encore que […] représenter [les poètes] comme opérant eux-mêmes les effets qu’ils peignent ou chantent« (»noch mehr leistet, als [die Dichter] so darzustellen, als bewirkten sie selbst die Effekte, die sie schildern oder besingen«),9 was Genette später als Definiens der auktorialen Metalepse zitieren wird.10 In seinem Hauptwerk findet Fontanier zu folgender Erläuterung:
La Métalepse […] consiste à substituer l’expression indirecte à l’expression directe, c’est-à-dire, à faire entendre une chose par une autre, qui la précède, la suit ou l’accompagne […]. On peut rapporter à la Métalepse le tour par lequel un poëte, un écrivain, est représenté ou se représente comme produisant lui-même ce qu’il ne fait, au fond, que raconter ou décrire. […] Il faut aussi sans doute rapporter à la Métalepse […] ce tour non moins hardi que le précédens, par lequel, dans la chaleur de l’enthousiasme ou du sentiment, on abandonne tout-à-coup le rôle du narrateur pour celui de maître ou d’arbitre souverain, en sorte que, au lieu de raconter simplement une chose qui se fait ou qui est faite, on commande, on ordonne qu’elle se fasse: comme quand Voltaire dit, dans son poëme de Fontenoi: Maison du roi, marchez, assurez la victoire …11
Fontaniers Ausführungen sind vor allem in zwei Punkten bemerkenswert: Erstens erkennt er, dass die Metalepse nicht nur »eine Sache durch eine andere [zum Ausdruck bringt], die ihr vorausliegt [oder] aus ihr folgt«, sondern auch die Option der ›Begleitung‹ vorsieht. Damit ist er der erste Rhetoriker, der das simultaneisierende Moment der (auktorialen) Metalepse erkennt.12 Zweitens erweitert Fontanier das Begriffsspektrum der Metalepse um eine ihrer – zumindest für die Vormoderne – wichtigsten Ausprägungen, nämlich die direkte Apostrophe einer handelnden Figur durch ihren Erzähler. Einschlägige Beispiele finden sich nicht nur in der antiken Literatur,13 sondern auch in der mittelhochdeutschen Epik seit Wolframs ›Parzival‹14 und speziell bei Johann von Würzburg.15
Ich fasse zusammen: Genettes Metalepsen-Begriff wurzelt in der Rhetorik,16 allerdings nur in einer von drei Entwicklungslinien: Als Urvater des Genette’schen Begriffs darf Gerardus Vossius gelten, der zuerst die Ersetzung von facere (tun, handeln) durch dicere (sagen) oder narrare (erzählen, berichten) der Metalepse zuschlägt – und so Genettes Begriff der auktorialen Metalepse präfiguriert. Die Mittlerposition zwischen Vossius und Genette nehmen Dumarsais und Fontanier ein, wobei letzterer die Metalepse recht allgemein als Ersetzung einer indirekten durch eine direkte Sprechweise charakterisiert. Diese Erläuterung nehme ich im Folgenden zum Ausgangspunkt einer sprachhandlungstheoretisch fundierten narratologischen Präzisierung des Metalepsen-Begriffs.
Um die Metalepse als Baustein von Genettes erzähltheoretischem Begriffsgebäude genauer fassen zu können, müssen im Folgenden zuerst dessen tragende Säulen eingeführt werden: die »drei Aspekte des Narrativen«1histoire, récit/discours2 und narration. In Bezug auf die Nutzung dieser drei Kernbegriffe ergibt sich nicht nur in der mediävistischen Erzählforschung ein disparates Bild. Als Beispiel für die terminologische Problematik sei eine durchaus symptomatische Passage aus Armin Schulz’ ›Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive‹ zitiert:
[Genettes] Instrumentarium zielt vor allem auf den Akt der Narration, nicht aber auf den Inhalt der Narration. Es zielt auf die Ebene dessen, was in der Erzähltheorie discours (›Diskurs‹) heißt, nicht aber auf die komplementäre Ebene der histoire (›Geschichte‹).3
Beide Gleichungen, ›Akt der Narration‹ = discours sowie ›Inhalt der Narration‹ = histoire, stehen im Widerspruch zu Genettes Begriffsverständnissen. Um diese Kritik zu rechtfertigen, ist etwas theoriegeschichtlicher Kontext nötig: Vor Genette etabliert bereits Tzvetan Todorov die histoire/discours- Dichotomie in der Erzählforschung:
Auf der allgemeinsten Ebene hat das literarische Werk zwei Seiten: es ist zugleich histoire und discours. Es ist histoire, weil es eine bestimmte Realität evoziert, Geschehnisse, die geschehen sein könnten, Personen, die von diesem Gesichtspunkt aus mit Personen des wirklichen Lebens ineinander verschwimmen. […] Aber das Werk ist zugleich discours; es gibt einen Erzähler, der die histoire berichtet, auf der anderen Seite gibt es einen Leser, der sie aufnimmt. Auf dieser Ebene zählen nicht die berichteten Geschehnisse, sondern die Weise, in der der Erzähler sie uns vermittelt.4
Ein literarischer Text vergegenwärtigt eine fiktive ›Realität‹, deren Begebenheiten zusammengenommen die histoire bilden – so weit stimmen Todorovs und Genettes Begriffe überein.5 Anstelle des Todorov’schen Begriffs discours führt Genette nun aber zwei unterschiedliche Termini ein – narration und récit/discours (von Genette synonym verwendet) –, weshalb discours bei Genette in engerem Sinne zu verstehen ist als bei Todorov.6 Während der Aspekt der narration gemäß Genette »dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt«,7 ist mit discours bei Genette das Produkt dieses Narrationsakts, also die Erzählung selbst gemeint. Der Erzählakt – und ebenso der Erzähler als dessen Produzent – ist damit kategorial vom Produkt (der Erzählung) getrennt; gleichzeitig ist dieses Produkt der narration eines (fiktiven) Erzählers Wort für Wort identifizierbar mit dem realen literarischen Text. Genettes Verständnis von ›Erzählung‹, auf das ich mich im weiteren Verlauf der Arbeit mit den entsprechenden Termini durchweg beziehe, sei daher wie folgt zusammengefasst:
Aus einem Erzählakt (einer narration) resultiert eine Erzählung (ein discours) von einem erzählten Inhalt (einer histoire).
Im Horizont dieser Begriffsklärungen komme ich auf die Problematik des obigen Schulz-Zitats zurück: Dem ›Akt der Narration‹ entspricht in Genettes Kategorien die narration (nicht, wie Schulz insinuiert, der discours), ›Inhalt der Narration‹ kann demnach nur der durch die narration unmittelbar hervorgebrachte discours, nicht aber die wiederum erst durch den discours evozierte – und damit nur mittelbar durch die narration hervorgebrachte – histoire sein. Symptomatisch habe ich das Zitat deshalb genannt, weil solche Begriffsverwischungen regelmäßig dort begegnen, wo einerseits die binäre Dichotomie histoire vs. discours – eigentlich im Sinne Todorovs – aufgerufen wird, diese Kategorien jedoch fälschlich Genette zugeschrieben werden. Meine nachfolgenden Ausführungen sollen verdeutlichen, wieso für eine präzise Definition der Metalepse gerade auf den bei Genette hinzutretenden Aspekt der narration nicht verzichtet werden kann.8
Für die weiteren Überlegungen sind folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Begriffen histoire, récit/discours und narration wichtig: Zunächst ist der récit im Sinne Genettes »die einzige der drei soeben unterschiedenen Ebenen […], die sich direkt einer textuellen Analyse unterziehen lässt« und »die selbst wiederum das einzige Untersuchungsinstrument ist, über das wir im Feld der literarischen und speziell der Fiktionserzählung verfügen«,9 um auf Aspekte der histoire oder der narration zu schließen. Während histoire und narration »für uns also nur vermittelt durch die Erzählung«10 greifbar sind, ist der vermittels einer narration hervorgebrachte discours Wort für Wort mit dem realen literarischen Text identifizierbar. Das heißt: ›Derselbe‹, im Wortlaut identische Text koexistiert als récit bzw. discours in zwei ›Welten‹ – er ist sowohl das Produkt eines fiktiven Erzählers als auch eines realen Urhebers, eines Autors. Ich nehme diese Scheinparadoxie bei Genette zum Anlass einer terminologischen Präzisierung und unterscheide fortan zwischen:
dem récit (dem literarischen Werk) als Gegenstand der realen Welt, das überhaupt erst die Vorstellung einer histoire evoziert – ebenso wie die Vorstellung einer narration, die ebendiesen Text hervorbringt. Um ein Beispiel zu geben: Wir können nur anhand des ›Parzival‹-récit erfahren, dass Parzival Gralskönig wird – was fraglos ein zentrales histoire-Ereignis ist – oder dass der ›Parzival‹-Erzähler Wolfram von Eschenbach heißt (114,12) und ein teil mit sange [kan] (114,13). Diese beiden letzten Informationen gehören nicht der histoire, sondern narration an.
dem discours als Produkt einer (potenziell fiktiven) narration bzw. Produkt eines (potenziell fiktiven) Erzählers: Insofern die narration selbst nur über den realen literarischen Text rekonstruierbar ist, ist auch ihr Produkt Gegenstand jener (potenziell fiktiven) Erzählerwelt. Der discours des ›Parzival‹ ist in dieser Sicht nichts anderes als die Aussage eines Erzählers, eines ›Sprechers‹, den wir aufgrund des Verses 114,12 beim Namen des realen Autors nennen dürfen: Wolfram von Eschenbach.
Ich trenne im Folgenden also zwischen zwei auf kategorial unterschiedlichen Ebenen liegenden Bedeutungen von récit/discours, die Genette ohne entsprechende Scheidung verwendet. Freilich gibt es – gerade in der Vormoderne – literarische Werke, die eine scharfe Trennung zwischen realer Welt und Erzählsituation, zwischen Autor und Erzähler, und damit letztlich auch zwischen récit und discours im soeben präzisierten Sinne zumindest textintern kaum bis gar nicht indizieren – ich werde darauf anhand eines Vergleichs der Erzähler- bzw. Autorschaftsinszenierungen in ›Iwein‹ und ›Parzival‹ zurückkommen.11 Um jedoch zunächst den Begriff der Metalepse möglichst exakt definieren zu können, ist insbesondere das präzisierte Verständnis von discours als Produkt einer narration – unabhängig von deren Realitäts- oder Fiktivitätsstatus – essenziell.
Mit Genette lässt sich einzig der récit, also der literarische Text, ontologisch in der realen Welt verankern. Damit stellt sich zunächst die Frage nach dem ›Ort‹ der im discours referenzierten histoire. Für diesen Zusammenhang steht der Begriff der Diegese bereit: Dieser bezeichnet – strikt im Sinne Genettes – »nicht die Geschichte [die histoire], sondern das Universum, in dem sie spielt«1 – und damit ein prinzipiell fiktives Universum, das ebenso wie die histoire nur vermittelt durch den literarischen Text, den récit, existiert. Spricht man von ›Diegesen‹ sensu Genette, sind also verschiedene ›Universen‹, nicht einfach nur sprachlogisch-temporal geschiedene Rahmen- oder Binnenerzählungen innerhalb eines ›Universums‹ gemeint.2
Analog bleibt der ›Ort‹ der narration, also der ›Ort‹ des den discours »produzierenden narrativen Akt[es] sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation […], in der er erfolgt«,3 zu bestimmen. Dem Zitat ist zu entnehmen, dass es sich für Genette auch hier um eine potenziell fiktive Welt handelt. Er bezeichnet sie als Extradiegese und definiert: »Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächst höheren4 diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.«5 Idealtypisch lassen sich die im Text referenzierten ›Universen‹ demnach wie folgt schematisieren, wobei zwischen Extra- und Intradiegese6 eine ontische Grenze verläuft:
Extradiegese: Erzähler- und Adressatenwelt
›Ort‹ der narration und des aus ihr resultierenden discours
(Intra-)Diegese: Figurenwelt
›Ort‹ der im discours referenzierten Inhalte der histoire
An dieser Stelle erscheint ein Mahnruf von mediävistischer Seite angebracht: Genettes ontologischer Begriff von distinkten diegetischen ›Universen‹ ist voraussetzungsreicher als die zuvor in die vorliegende Studie eingeführte Unterscheidung von histoire, discours und narration. Während letztere allein auf der ›Repräsentationalitäts‹-Eigenschaft von Narration beruht – das heißt: auf der Eigenschaft, dass Erzählen real oder fiktiv Vergangenes vergegenwärtigt –, hat das Diegese-Modell letztlich die Fiktionalität erzählter Welten zur Bedingung. Eine feste ontische Fiktionsgrenze zwischen Erzähler- und Figurenwelt ist für (höfische) Romane des Mittelalters aber nicht voraussetzbar; sowohl Bernd Schirok als auch Sonja Glauch haben für den Primat eines zeitlichen Abstands statt einer ontologischen Differenz zwischen Figuren-histoire und Erzähler-narration argumentiert:
[D]er Roman [stellt] eine geschlossene eigene Welt, einen autonomen Bereich dar[]. Damit ist m. E. in der Mehrzahl der Fälle der Aspekt der Fiktionalität noch nicht direkt ins Spiel gebracht. Denn die Autonomie könnte sich aus dem zeitlichen Abstand von (historisch gedachtem) werc und dargebotenem mære erklären, wenn man sich die Argumentation des ›Iwein‹-Beginns vor Augen hält.7
Während aber die ›Zugehörigkeit zur Diegese‹ für fiktionales Erzählen der Neuzeit aus gutem Grund ontologisch bestimmt wird, sind mittelalterliche Erzähler eigentlich immer Mitbewohner der erzählten Welt, da es sich bei dieser Welt um unsere eine, gemeinsame Welt handelt (zwischen den narrativen Welten um Artus und um Karl den Großen besteht also kein grundsätzlicher, ontischer Unterschied; beide sind historische Phasen der realen Welt).8
Wichtig ist mir zu betonen, dass mit dem Wegfall der Genette’schen Begriffe von Extra- und Intradiegese für das Mittelalter nicht auch schon der Begriff der Metalepse in sich zusammenfällt: Zwar definiert Genette die Metalepse primär als ein »Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten ins diegetische Universum […] oder auch […] das Umgekehrte«,9 doch ist die Implikation von Fiktionalität – die Genette ohnehin weitgehend mit Literarizität kurzschließt – systematisch gar nicht notwendig. Die von mir vorgeschlagene und im Folgenden zu begründende Lösung des Defintionsproblems lautet, Metalepsen prinzipiell – ebenfalls mit einer Formulierung Genettes – als »[S]piele[] mit der doppelten Zeitlichkeit von Geschichte und Narration«10 zu begreifen. So kann auf die in (trans-)historischer Perspektive prekäre Voraussetzung von Fiktionalität verzichtet werden, ohne deshalb den Boden der Genette’schen Narratologie zu verlassen.
Ziel der obigen Ausführungen war es einerseits, die drei Aspekte der literarischen Erzählung (histoire, discours und narration) präzise in die vorliegende Arbeit einzuführen, und andererseits zu begründen, warum ich die Metalepse im Folgenden anhand von Parametern der ›Zeit‹ anstelle von ontologischen Kriterien definiere. Auf der Grundlage dieser Vorarbeit wende ich mich nun dem Kapitel ›Metalepsen‹ in Genettes ›Discours du récit‹ und damit der eigentlichen narratologischen Begriffsadaptation zu. Zu Beginn wird dort noch einmal das Verhältnis von narration, discours und histoire rekapituliert:
Der Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen kann prinzipiell nur von der Narration bewerkstelligt werden, einem Akt, der genau darin besteht, in einer bestimmten Situation [einer narration, MSH] erzählend – durch einen Diskurs – eine andere Situation [einer histoire, MSH] zu vergegenwärtigen.1
Genettes folgende Reihe von Metalepsen beginnt mit einem ›Extrembeispiel‹, er kommt aber rasch auf konventionellere Ausprägungen zu sprechen:
Cortazar erzählt die Geschichte eines Mannes, der von einer der Personen des Romans ermordet wird, den er gerade liest: das ist eine umgekehrte (und extreme) Form jener narrativen Figur, die die Klassiker die Metalepse des Autors nannten und die darin besteht, so zu tun, als ›bewirke der Dichter selbst die Dinge, die er besingt‹, etwa wenn man sagt, dass Vergil Dido im IV. Gesang der ›Äneis‹ ›sterben läßt‹, oder wenn Diderot, etwas zweideutiger, in ›Jacques le fataliste‹ schreibt: ›Was könnte mich hindern, den Herrn zu verheiraten und ihn zum Hahnrei zu machen‹ […]. Sterne ging dabei so weit, den Leser aufzufordern, doch bitte die Tür zu schließen oder Mister Shandy ins Bett zu bringen, aber das Prinzip ist dasselbe: Jedes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten ins diegetische Universum (bzw. diegetischer Figuren in ein metadiegetisches Universum usw.) oder auch, wie bei Cortazar, das Umgekehrte, zeitigt eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist (wenn man die Sache, wie Sterne oder Diderot, in scherzhaftem Ton präsentiert), mal phantastisch. Wir wollen den Ausdruck narrative Metalepse so weit fassen, dass er alle diese Transgressionen abdeckt.2
Aufschlussreicher als das ›extreme‹ (und obendrein »zweifelhaft[e]«)3 Cortázar-Beispiel sind für mittelalterliches Erzählen allemal die Metalepsen bei Vergil, Sterne und Diderot. Hier handelt es sich jeweils um auktoriale Metalepsen bzw. auf einer abstrakteren Ebene: um »[S]piele[] mit der doppelten Zeitlichkeit von Geschichte und Narration«.4 Diese Charakterisierung erfasst auch das folgende, zum Standardbeispiel der Metalepsenforschung avancierte Zitat aus Honoré de Balzacs ›Verlorene Illusionen‹:
›Während der ehrwürdige Geistliche in Angoulême die Stufen emporsteigt, dürfte es nicht verkehrt sein, ein Wort über das Interessengeflecht zu verlieren […]‹, als erfolgte die Narration zeitgleich mit der Geschichte und müsste deren ereignislose Stellen füllen.5
Ausgehend von diesem Beispiel lässt sich das von Genette genannte »Prinzip« metaleptischen Erzählens konturieren: Zentral ist die Formulierung »als erfolgte die Narration zeitgleich mit der Geschichte«.6 Denn bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass auch allen weiteren von Genette angeführten Beispielen gemein ist, dass Zeit der narration und Zeit der histoire vorübergehend simultaneisiert werden. Metaleptische Sprechweisen sind insofern dadurch charakterisiert, dass sie auf eine spezifische Weise mit der konventionellen Nachzeitigkeit des Erzählaktes gegenüber der erzählten Geschichte brechen7 – eben jener Nachzeitigkeit, die sich in der Konvention des Erzählens im Präteritum widerspiegelt.8 Um diesen Konventionsbruch genauer bestimmen zu können, lohnt ein sprachhandlungstheoretisch geschärfter Blick auf den Begriff der ›Situation‹.
Fast zeitgleich zu Genettes ›Discours du récit‹ (1972) erscheint mit Klaus W. Hempfers ›Gattungstheorie‹ (1973) ein Werk, das literarische Gattungen unter anderem über die Differenz von berichtender und performativer Sprechsituation zu unterscheiden sucht. Um Verwechslungen von vornherein vorzubeugen: Hempfer geht es dabei um die Unterscheidung eines narrativen (= berichtenden) von einem dramatischen (= performativen) Modus, nicht etwa um Austins oder Searles Bestimmungen des Performativen im Kontext der Sprechakttheorie.1 Auf der Grundlage der narratologischen Arbeiten Genettes (1972, 1980) und der pragmatisch fundierten gattungstypologischen Studien Hempfers (1973, 1977) fußt denn auch Franz Penzenstadlers Konzeptualisierung der Metalepse (1987), die nun schrittweise in die vorliegende Studie eingeführt werden soll. Die sprachhandlungstheoretischen Termini erläutere ich vorab, zur Motivation sei noch einmal auf Genettes Nutzung des Situationsbegriffs zu Beginn seines Metalepsen-Kapitels hingewiesen:
Der Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen kann prinzipiell nur von der Narration bewerkstelligt werden, einem Akt, der genau darin besteht, in einer bestimmten Situation [einer narration, MSH] erzählend – durch einen Diskurs – eine andere Situation [einer histoire, MSH] zu vergegenwärtigen.2
Was macht die erstgenannte (Sprech-)Situation, also die einer narration, aus? Grundsätzlich, das heißt: in Bezug auf natürliche Sprachverwendung, bedürfe verbale Kommunikation laut Hempfer einer Sprecher-Hörer-Relation, einer Zeit und eines Ortes.3 Nun ist literarische keine natürliche Kommunikation, und man macht sich schnell klar, dass nicht alle Konstituenten einer Sprechsituation im literarischen Kontext benannt werden müssen – ein Ort der narration wird etwa in den wenigsten heterodiegetischen Erzählungen explizit gemacht.
Wichtig ist die Unterscheidung von performativem und berichtendem Sprechsituationstyp: Der performative Sprechsituationstyp kongruiert wesentlich mit der normalsprachlichen mündlichen Kommunikation: Definiert ist er durch die »prinzipielle Umkehrbarkeit der Sprecher-Hörer-Relation«,4 der Sprecher kann also zum Hörer werden und vice versa. Der performative Sprechsituationstyp eignet in literarischer Sicht nun einerseits dem dramatischen Spiel auf Figurenebene – worauf Hempfer mit dem Begriff des Performativen erkennbar abhebt –, andererseits genauso den direkten Figurenreden in Erzähltexten, die in der Regel leicht als in einen narrativen Zusammenhang eingebettete performative Sprachhandlungen zu identifizieren sind, etwa anhand einer inquit-Formel: dô sprach.5 Nicht ›eingebettet‹ ist dagegen der folgende, unvermittelt einsetzende Dialog aus Hartmanns ›Erec‹:
nû swîc, lieber Hartman:
ob ich ez errâte?
ich tuon: nû sprechet drâte.
ich muoz gedenken ê dar nâch.
nu vil drâte: mir ist gâch.
dunke ich dich danne ein wîser man?
jâ ir. durch got, nû saget an.
ich wil diz mære sagen.
[…]
ir sult michz iu sagen lân. (›Erec‹, V. 7493–7525)6
Die Passage ist aus sprachhandlungstheoretischer Perspektive bemerkenswert, weil sie sich durch den performativen Sprechsituationstyp abrupt vom ansonsten im ›Erec‹ (wie überhaupt in narrativen Texten) dominanten berichtenden Sprechsituationstyp abhebt. Eine berichtende Sprechsituation ist »wesentlich dadurch gekennzeichnet […], daß ihre Referenz nicht bzw. nicht nur ein kognitiver Inhalt ist, sondern eine andere Sprech- bzw. Handlungssituation«7 – im narrativen Kontext also die jeweilige Situation eines histoire-Ereignisses. Als weitere Definitionsmerkmale einer berichtenden Sprechsituation führt Hempfer an, dass
der Berichterstandpunkt […] nachzeitig zum Zeitpunkt der berichteten Äußerung bzw. Handlung [ist]. Spezifisch für die berichtende im Unterschied zur performativen Sprechsituation ist also, daß der Diskurs in ersterer nicht erst einen Sachverhalt erstellt, sei dies nun ein irgendwie gearteter kognitiver Gehalt oder eine Handlung, sondern daß er der Vermittlung einer von der aktuellen Sprechsituation unabhängigen Sprech- und/oder Handlungssituation dient.8
Ebenso zentral für die folgenden Überlegungen ist das zusätzlich zur Nachzeitigkeit eingeführte Kriterium der Unabhängigkeit einer berichteten (vermittelten) von der berichtenden (vermittelnden) Sprechsituation: Hempfer begreift die Unabhängigkeit als logische Konsequenz der Nachzeitigkeit, was für Alltagserzählungen ebenso berechtigt ist wie als Regelfall für literarisches Erzählen. In dieser Konvention liegt jedoch ein Schlüssel, um Metalepsen gerade als Abweichungen vom Regelfall – und damit im Wortsinn als narrative ›Para-doxa‹, die ›gegen die Doxai‹, die Konventionen der Narration verstoßen9 – zu profilieren. Ich zitiere zu diesem Zweck noch einmal das Eingangsbeispiel aus dem ›Parzival‹, nun aber in seinem Erzählzusammenhang:
dô stach der künec von Arragûn
den alten Utepandragûn
hinderz ors ûf die plâne,
den künec von Bertâne.
ez stuont dâ bluomen vil umb in.
wê wie gefüege ich doch pin,
daz ich den werden Berteneis
sô schône lege für Kanvoleis,
dâ nie getrat vilânes fuoz
(ob ichz iu rehte sagen muoz)
noch lîhte nimmer dâ geschiht. (›Parzival‹, 74,5–15)
Die Pointe besteht darin, dass in den hervorgehobenen Versen 74,10–15 – im Gegensatz zur konventionellen Nachzeitigkeit und Unabhängigkeit der Verse zuvor – einerseits eine Gleichzeitigkeit, andererseits eine direkte Abhängigkeit der berichteten von der berichtenden Situation inszeniert wird. In genau diesen zwei Punkten unterscheidet sich die Kanvoleis-Passage vom zuvor zitierten ›Erec‹-Dialog: Während jener richtiges – und insbesondere nachzeitiges – Erzählen zum Gegenstand hat (ir sult mich’z iu sagen lân; ›Erec‹, V. 7525), die performative Sprachhandlung auf Ebene der narration also direkt auf das Hervorbringen des discours und nur indirekt auf die Begebenheiten der vermittelten histoire zielt, wird in der Kanvoleis-Partie des ›Parzival‹ der discours-Aspekt ›übersprungen‹. Die performative Sprachhandlung auf Ebene der narration zielt auf ein direktes Erzeugen von histoire-Elementen: legen statt sagen. In der Gleichzeitigkeit von narration und histoire manifestiert sich damit die Metalepse, im direkten Hervorbringen der histoire qua narration ihre auktoriale Akzentuierung.
Mit den obigen Ausführungen ist nun einerseits Fontaniers Erläuterung der Metalepse als Ersetzung einer indirekten durch eine direkte Sprechweise10 sowohl narratologisch als auch sprachhandlungstheoretisch fundiert, andererseits kann ich mich von hier aus der wegweisenden Definition und Typologie metaleptischen Sprechens bei Franz Penzenstadler zuwenden: In treffender Weise begreift Penzenstadler Metalepsen als Brüche mit der »spezifischen Struktur der berichtenden Sprachhandlung, die durch die Nachzeitigkeit und Unabhängigkeit des Erzählaktes […] von dem erzählten Geschehen gekennzeichnet ist.«11 Seine folgende Typologie von Realisierungsformen der Metalepse ist wichtig, weil sie den direkten Nachvollzug einer definitorischen Schärfung ermöglicht; sie sei hier zunächst zitiert, um anschließend ihre kritische Prüfung durch Bernd Häsner zu referieren. Im Wesentlichen differenziert Penzenstadler drei Realisierungsformen der Metalepse:
eine kausale Ursache-Wirkung-Relation, die
von Sit [der Vermittlungssituation, MSH] […] nach Sitk [der vermittelten Situation, MSH] […] verläuft […],
von Sitk [der vermittelten Situation, MSH] nach Sit [der Vermittlungssituation, MSH] verläuft ([…] z. B. affektisches Einwirken des Erzählten auf den Erzähler oder fiktiven Rezipienten, der Erzähler bricht beim Erzählen eines tragischen Vorkommnisses in Tränen aus),
als temporale Relation: die Illusion der Gleichzeitigkeit von Sit und Sitk (der Erzähler unterbricht seine Erzählung und ruht sich aus, während die Figuren der histoire schlafen),
als räumliche Relation: die Illusion des gleichen Raumes für Sit und Sitk; um in diesem Fall von Metalepse sprechen zu können, muß allerdings zugleich die Bedingung der Gleichzeitigkeit von Sit und Sitk erfüllt sein (der Erzähler fürchtet von der heftig um sich schlagenden Figur getroffen zu werden).12
Zur Kritik dieser Typologie:13 Typ 1a) beschreibt genau den Fall der auktorialen Metalepse, wie ich ihn oben unter anderem am ›Parzival‹ (74,10–15) illustriert habe. Problematisch ist dagegen Penzenstadlers Typ 1b): Dass ein »Erzähler […] beim Erzählen eines tragischen Vorkommnisses in Tränen aus[bricht]«,14 impliziert gerade keinen Bruch mit, sondern eine Bestätigung der Nachzeitigkeit der berichtenden gegenüber der berichteten Situation – und damit keine Metalepse. Kurz gesagt: (Emotionale) Affizierung des Erzählers durch die histoire ist nicht per se metaleptisch, sondern mit der Repräsentationalität des Erzählens problemlos kompatibel.
Gegen die Unterscheidung von Penzenstadlers Typen 2) und 3) lässt sich einwenden, dass beide nicht – wie man von einer Typologie erwarten dürfte – disjunkt sind: Metaleptische Gleichräumlichkeit setzt, wie Penzenstadler unter Punkt 3) selbst vermerkt, Gleichzeitigkeit voraus, um metaleptisch zu sein. Typ 3) fällt damit ebenfalls weg, weil er – jedenfalls in definitorischer Hinsicht – in Typ 2) aufgeht.15 Kurz gesagt: Ontologische Identität von narration und histoire ist ebenfalls nicht per se metaleptisch.16
Die Kritik an Penzenstadlers Typologie lässt sich noch einen letzten Schritt weitertreiben: Wie Häsner zu Recht argumentiert, sind auch die noch verbleibenden Typen 1a) und 2) nicht disjunkt, weil Typ 1a) ebenfalls eine metaleptische Gleichzeitigkeit im Sinne von Typ 2) voraussetzt:17 Damit ein Erzähler qua narration Ereignisse der histoire kausal bewirken kann, müssen beide vorübergehend simultaneisiert sein. Da die umgekehrte Aussage nicht gilt – Simultaneität also nicht zwingend Kausalität zur Folge hat –, ist mit Häsner der einzig verbliebene Typ 2), die temporale Relation, nicht »als Variation einer Basisstruktur, sondern […] diese Basisstruktur selbst«18 anzusetzen. Ich definiere daher wie folgt:
Notwendiges und hinreichendes Kriterium für das Vorliegen einer narrativen Metalepse ist die vorübergehende Simultaneisierung von narration und histoire vor der Folie nachzeitigen Erzählens, also die Durchbrechung der Konvention späterer Narration durch eine markierte Gleichzeitigkeit beider Ebenen.
