Mich gibt es nur mit Mable - Simone Isenberg - E-Book

Mich gibt es nur mit Mable E-Book

Simone Isenberg

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Beschreibung

Schon als Kind beginnt Simone Isenberg, sich selbst zu verletzen. Als eine Magersucht, komplizierte Liebesbeziehungen und eine schwere Depression folgen, weiß sie einfach nicht weiter. Erst mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung ergibt auf einmal alles Sinn. Als Simone schließlich ihrem ersten Hund begegnet, ändert sich für sie einfach alles: Endlich spürt sie sich selbst wieder, sie fühlt sich gebraucht und verstanden. Simone Isenberg erzählt offen und authentisch von ihrer psychischen Erkrankung, von ihrem treuen Golden Retriever Mable, und davon, wie es ihr gelang, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen und als Hundetrainerin ein ausgeglichenes und zufriedenes Leben zu führen. Mit diesem Buch macht sie allen Mut und zeigt, wie man mit der Hilfe anderer Menschen und tierischen Begleitern den Weg zurück ins Leben findet. »Sie werden nicht einfach nur die spannende, hochemotionale Geschichte der Autorin lesen, Sie werden sie fühlen und eine sehr persönliche und echte Begegnung erleben.« Martin Rütter

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Seitenzahl: 289

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Simone Isenberg

Mich gibt es nur mitMABLE

Simone Isenbergmit Iris Rinser

Mich gibt es nur mitMABLE

Wie mich mein Hund zurück ins Leben führte

Eine Borderlinerin erzählt

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Wichtiger HinweisAusschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

TriggerwarnungIn diesem Buch werden sexualisierte Gewalt, Essstörung und Selbstverletzung thematisiert.

Originalausgabe

1. Auflage 2021

© 2021 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Sonja Vallant

Umschlagabbildung: Cedric Blomberg

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7474-0349-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-723-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-724-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Meinen Hunden,weil sie mich jeden Tag dankbar sein lassen dafür, dass ich lebe.

Inhalt

Vorwort von Martin Rütter

Wie Hunde heilen

Mich gibt es nur mit Mable

Das Mimöschen

Wo ist der Fehler?

Meine erste Liebe, mein erstes Entsetzen

Nur Schneiden hilft

Rollenvorbilder

Nähe und Distanz

Hilfe gibt es nicht

Die totale Kontrolle

Ich falle auf

Bis der Körper streikt

Gar nichts mehr fühlen ist schlimmer, als zu viel fühlen

Fort

Lektionen fürs Leben

Die Dämonen kehren zurück

Zurück im Leben?

Candy verändert mein Leben

Ich steige aus

Mein kunterbuntes neues Hundetrainerleben

Der Spieß wird umgedreht

Es geht heim

Mable

Danksagung

Über die Autorinnen

Vorwort von Martin Rütter

Jeder von uns sollte das Gefühl kennen, eine Begegnung mit einem Menschen gehabt zu haben, der einen besonders beeindruckt, emotional bewegt und fasziniert hat. Hatten Sie eine solche Begegnung? Ja? Ich gratuliere, halten Sie diese Gefühle, diese prägende Gedanken an diesen Menschen fest und machen Sie sich immer wieder klar, wie groß das Privileg ist, einem solchen Menschen begegnet zu sein.

Ich selber hatte das große Glück mehrere Begegnungen dieser Art gehabt haben zu dürfen. Ich habe einige Menschen getroffen, die für mich persönlich echte Gamechanger waren.

Einer dieser Menschen wird Ihnen in diesem Buch begegnen. Sie werden nicht einfach nur die spannende, hochemotionale Geschichte der Autorin lesen, Sie werden sie fühlen und eine sehr persönliche und echte Begegnung erleben. Haben Sie keine Angst davor. Lassen Sie sich nicht abschrecken vor einer vermeidlich schweren Lebensgeschichte. Haben Sie Mut.

Um einem Menschen zu begegnen, der einen wirklich packt und einen selber weiterbringt, dazu gehört auch eine kleine Portion eigener Mut.

Ich wünsche Ihnen beim Lesen eine spannende, intensive Zeit mit sich selbst und mit Simone.

Viel Spaß dabei.

Martin Rütter

Wie Hunde heilen

Ich bin Simone, 52 Jahre alt, Borderlinerin. Ich war essgestört, gefühlsgestört, autoaggressiv und depressiv. Borderlinerin bin ich noch immer, Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, die man nicht wirklich loswird, aber mittlerweile führe ich ein normales Leben, zumindest ist es das für mich. Die Krankheit hat mich nicht mehr im Griff, und das habe ich im Wesentlichen meiner Golden-Retriever-Dame Mable zu verdanken. Es mag sich komisch anhören, aber Mable hat mich geheilt. Natürlich hat sie das nicht bewusst getan. Sie ist mehr ein Gefühlskatalysator und bringt mich dazu, mich selbst zu reflektieren, mich selbst besser zu erkennen. Darin ist sie eine Meisterin. Hunde können für uns Menschen diese Fähigkeit haben, wenn wir uns mit ganzem Herzen auf sie einlassen. Wenn wir es zulassen, dass sie uns nahekommen. Das merke ich tagtäglich bei der Arbeit in meiner Hundeschule.

Es gab außer Mable noch einen besonders wichtigen Hund in meinem Leben. Er war es, der diesen Prozess angestoßen hat. Und zwar in einem Moment, in dem ich ganz unten war.

In dem es scheinbar nicht mehr weiterging. Das war der Moment, in dem meine Hunde-Heilung begann.

An diesen Tag im Winter 1998 erinnere ich mich noch sehr genau: Draußen war es usselig und kalt, ich saß in unserer warmen Wohnung in einem der schönsten Vororte von Köln. Die Wohnung war toll: gemütlich, kreativ, schick. Und neben mir lag unser frisch eingezogener Welpe Candy. Ich war dreißig Jahre alt und hätte der glücklichste Mensch der Welt sein müssen. Ich hatte einen liebevollen Mann, einen erfüllenden Job und nun endlich, endlich auch den lang ersehnten Hund.

Aber ich war nicht glücklich, und daran konnte auch Candy nichts ändern, obwohl ich mir das so gewünscht hatte. Und an diesem Tag war ich erst recht nicht glücklich, sondern verzweifelt. Nein, nicht bloß verzweifelt, sondern mit den Nerven am Ende. Candy war nämlich noch nicht stubenrein, obwohl sie das laut Hundebuch schon nach wenigen Tagen hätte sein müssen. Dort stand, man müsse einfach nur immer nach dem Fressen und Schlafen mit dem Hund rausgehen. Aber das funktionierte bei Candy einfach nicht. Außerdem kam sie nicht zuverlässig zu mir, wenn ich sie rief, und an der Leine zog sie dahin, wo sie hinwollte. Ich saß an diesem Nachmittag wie ein Häufchen Elend auf dem Teppich und heulte Rotz und Wasser.

Kurz zuvor war ich mit Candy draußen gewesen. Ich hatte mich auf einen schönen Spaziergang gefreut. Stattdessen war sie mir ausgebüxt und schnurstracks zu einer fremden Familie hingelaufen, die mit ihren kleinen Kindern unterwegs war. Candy sprang an ihnen hoch und jagte den Kindern eine Heidenangst ein. Wie peinlich! Die Familie schimpfte, meine Entschuldigung konnte sie nicht milder stimmen. Ich sah also einfach zu, dass ich Land gewann, und lief meiner kleinen Fellnase hinterher, um sie wieder einzufangen.

Ich hatte mich in dieser Situation total machtlos gefühlt, und dieses Gefühl brachte mich nun, da ich wieder zu Hause war, an den Rand der Verzweiflung. Immer wieder ging ich das Ereignis in Gedanken durch. Ich bemühte mich so sehr, mit Candy alles richtig zu machen. Ich übte wie verrückt und tat alles, was mein Hundetrainer Martin mir sagte. Trotzdem klappte es nicht so, wie ich es mir wünschte. Für mich war das eine Katastrophe. Ich war fix und fertig.

Für Borderliner ist es typisch, von Situationen komplett aus der Bahn geworfen zu werden, die andere Menschen vielleicht als »ärgerlich« oder »unangenehm« bezeichnen, dann aber auch schnell wieder vergessen würden. Schon seit ich denken kann, hauten mich kleinste Situationen um: Jemand war schlecht gelaunt und frustriert – und ich hatte das Gefühl, an allem schuld zu sein. Ein Mensch war traurig oder einsam – sofort war ich es auch und litt mit. Ich bekam eine Auseinandersetzung mit, die mit mir gar nichts zu tun hatte – ich war felsenfest davon überzeugt, dass hier jemand ungerecht behandelt wurde, und konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Ein ungeduldiges Wort an mich, der Hauch einer Kritik – ich war am Boden zerstört und zerstörte mich anschließend selbst. Ich sah einen überfahrenen Igel – und er ging mir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf, meine Stimmung war im Keller.

So war es auch nun wieder. Ich hatte keine Grenzen nach außen, keinen Schutz. Jegliche negative Energie ging mir durch und durch, fraß sich in meine Seele und tat unendlich weh. So weh, dass ich mir Rasierklingen holen und meine Haut zerschneiden musste. Ich hatte nie gelernt, mit überwältigenden Gefühlen umzugehen. Meine Emotionen machten mir wahnsinnige Angst, denn es waren so viele. Sie waren so intensiv. Manchmal zu extrem. Ich konnte sie nicht aushalten und brauchte deswegen eine Möglichkeit, diesen irrsinnigen Druck abzulassen.

Schon als kleines Kind hatte ich entdeckt: Wenn ich mir selbst wehtue, geht es mir besser. Als Jugendliche perfektionierte ich meine Autoaggression dann sozusagen, ich wurde über die Zeit Profi im Benutzen von allen möglichen Schneidewerkzeugen an meiner Haut. Nun, mit Anfang dreißig, spulte ich das volle Programm ab: meine Arme, meine Beine, meine Füße, mein Bauch – sie alle wurden malträtiert. Und so verrückt es für manche Menschen klingen mag: Ich tat das nicht gegen mich, sondern für mich. Denn hätte ich DAS nicht tun können, wäre ich geplatzt.

Zudem war ich in dieser Lebensphase essgestört. Ich hatte Angst vor Essen: Es machte dick, es könnte ungesund sein – und so gut ich mich mit Schneidewerkzeugen auskannte, so wenig wusste ich darüber, wie viel Essen für mich richtig oder falsch ist. Ich hatte kein natürliches Sättigungsgefühl. Schon als Kind beobachtete ich beispielsweise beim Abendbrot, was »man« so isst. Also: Zwei Scheiben Brot am Abend schienen »normal« zu sein. Na, dann machte ich das auch mal. Satt war ich danach nicht. Es hatte sich in mir einfach nichts verändert.

Und als ob das alles nicht schon genug gewesen wäre, war ich in dieser ersten Zeit mit Candy auch noch depressiv. Die Depressionen waren das Schlimmste von allem. Ich fühlte mich wie tot, obwohl ich noch lebte. Ganz egal, ob positive oder negative Gefühle, ich konnte sie nicht spüren, es gelang mir einfach nicht, sie zu greifen.

Obwohl ich mit Dietmar zu jener Zeit einen unglaublich lieben Mann an meiner Seite hatte, machten mich die Depression und die Borderline-Krankheit einsam. Einsamkeit ist ein Gefühl, das mich immer begleitete, auch wenn ich unter Menschen war.

Ich war noch jung und hatte schon so viel durchgemacht, dass es für mehrere Leben gereicht hätte. Einer der wenigen Lichtblicke in meinem Leben war mein Welpe Candy. Ich hatte mich so gefreut, dass dieser Wunsch Wirklichkeit geworden war, und nun diese Katastrophe. Überhaupt nichts haute hin. Dabei hatte ich so große Hoffnung in Candy gesetzt, ich hatte gedacht, mit dem Einzug eines Welpen würde es mir besser gehen. Ich dachte, nun könnte ich endlich leben, frei sein. Frei von meinen Ängsten, frei von diesen rabenschwarzen Gedanken, die mich täglich quälten. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich nach all der Zeit fröhlich und unbeschwert sein könnte, denn – so malte ich es mir aus – jetzt würde ich eine echte, wichtige Aufgabe haben und mein Leben einen echten Sinn. Aber stattdessen kam alles ganz anders. Alles brach auf einmal hervor, als hätte ich meine Symptome schmählich vernachlässigt und nun würden sie alle gleichzeitig meine Aufmerksamkeit fordern.

Als ich Candy bekommen hatte, war ich gleich Feuer und Flamme gewesen und so sehr in sie verliebt! Sie war zuckersüß, kess, fröhlich – einfach nur wunderbar. Und alles, was ich konnte, war, mich über mich selbst zu ärgern, weil ich in meinen Augen mal wieder nichts hinkriegte. Meine Gedanken kreisten in diesem Moment, als ich neben ihr auf dem Teppich saß, nur noch darum, wie schlecht ich doch war. Der Haushalt lag brach, überall waren Dinge verstreut, und in der Küche herrschte komplettes Chaos. Ich war einfach ein Nichtsnutz. Dass Dietmar mich überhaupt geheiratet hatte, grenzte an ein Wunder. Ich hasste mich für all meine Schwächen, für meine Unfähigkeit, und ich schämte mich fürchterlich für mich selbst. Ich war verzweifelt, ich weinte, ich schluchzte, ich wusste nicht weiter. Und so stand ich auf und holte wieder einmal meine Rasierklingen hervor. Ließ das Blut fließen, damit ich endlich etwas entspannen konnte.

Als ich so dasaß, während Candy friedlich vor sich hinschlummerte, gab ich all meine Hoffnungen auf, überhaupt jemals ein sorgenfreies und zufriedenes Leben zu führen. Noch weniger konnte ich ahnen, dass diese freche Hündin einen entscheidenden Beitrag dazu leisten würde. Ich glaubte, dazu verdammt zu sein, jeden Tag als eine große, schwere Qual erleben zu müssen. Ich war mir sicher, dass sich das niemals ändern würde.

Es war mir schon immer klar gewesen, dass ich niemals Mutter werden würde, das könnte ich keinem Kind antun. Aber einen Hund, den hatte ich mir zugetraut. Weil ich einfach keine Ahnung davon gehabt hatte, was da auf mich zukommen würde. Dank meiner Naivität hatte ich nun einen Welpen. Ich hatte mir geschworen, dass ich Candy nie wieder abgeben würde. Ich würde eine Löwenmama sein, ein Hundeleben lang. Nur wie, das war mir in diesem Moment ein Rätsel. Ich verstand Candy nicht. Ich hatte mir vorgestellt, dass wir tolle gemeinsame Spaziergänge unternehmen würden. Einfach so. Dass Candy top auf mich hören würde und immer bei mir sein wollte. Einfach, weil sie MEIN Hund war. Über das Wie hatte ich mir gar keine großen Gedanken gemacht. Klar, Hundetraining bei Martin. Ich hatte wirklich geglaubt, das genügt. Aber das genügte bei Weitem nicht. Erst viel später erkannte ich, dass so viel mehr dazugehört, einen Hund wirklich zu verstehen. Seine Sprache lernen, seine Denkweise begreifen, Lerntheorien, Disziplin, Klarheit, Struktur …

Gut, dass man vorher nie weiß, was einen alles erwartet. Sonst hätte ich vermutlich niemals gewagt, einen Hund in mein Leben zu holen und wäre niemals da gelandet, wo ich heute bin. Ich wollte einfach nur jemanden an meiner Seite haben, der mir meine Einsamkeit nimmt. Ich bekam aber noch viele Boni obendrauf. Die hatte ich gar nicht bestellt, und sie waren zunächst auch nicht erwünscht. Aber sie waren gut. Richtig gut. Sie waren meine Wegweiser in die richtige Richtung. Doch bis dahin verging leider noch sehr viel Zeit, und ich bin einfach kein geduldiger Mensch, zu jenem Zeitpunkt war ich das erst recht nicht. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sich meine Situation mit Candy noch drehen konnte.

Zum Glück kam dann doch alles ganz anders. Und davon erzähle ich dir in diesem Buch. Es gibt immer eine Chance, es gibt Wege, sich selbst von einer niederschmetternden Diagnose zu verabschieden, depressive Gedanken loszulassen, den Rasierklingen ade zu sagen, die mein tägliches Überleben erst ermöglicht haben.

Mich gibt es nur mit Mable

Heute liegt jeden Morgen, wenn ich aufwache, mein Mablechen bei mir. Und schwups, egal, wie wild ich geträumt habe, in diesem Moment empfinde ich einfach nur Liebe und Dankbarkeit. Dankbarkeit für das liebevollste Wesen an meiner Seite, das man sich nur vorstellen kann. Wie in langen Jahren zuvor Candy, weist auch Mable mir heute den Weg durchs Leben. Mable zeigt mir oft, wie es besser geht: Sie ist fast immer entspannt und nimmt die Dinge, wie sie kommen. Sie ist immer gelassen, und wenn doch mal was passiert, uns beispielsweise ein anderer Hund blöd anmacht, dann geht auch das vorbei. Und weiter geht‘s. Boah, ist das nicht der Hammer? Daran kann man sich doch nur orientieren, oder? Nie länger aufregen als nötig, gelassen durchs Leben gehen und einfach genießen, was da ist. Diesbezüglich ist sie wirklich mein Vorbild. Ja, mein Hund ist mein Vorbild. Findest du das merkwürdig?

»Hunde sind auch nur Menschen«, hat mein Hundetrainer und Mentor Martin mal mit einem Schmunzeln gesagt. An diesen Satz muss ich immer wieder denken, weil er so wahr ist. Hunde sind Rudeltiere wie wir Menschen. Sie wollen Aufmerksamkeit und Zuneigung. Sie wollen geliebt werden und wichtig sein. Sie wollen bevorzugt werden und ihren Willen durchsetzen. Sie sind lustig und traurig, unsicher und selbstbewusst, und manchmal tun sie auch nur so als ob.

Mable ist die Gelassenheit in Person, aber sie kann auch eifersüchtig sein. Sie ist sogar voll die eifersüchtige Zippe. Aber in Mable-Manier: Wenn ich mit einem anderen Hund kuschle, drängelt sie sich dazwischen und findet, ich sollte wirklich lieber sie streicheln und nicht diesen fremden Kerl. Zur Not fängt sie mit dem anderen Hund ein Spiel an, nur um ihn von mir abzulenken.

Candy, meine Hovawart-Dame, hätte den anderen Hund einfach in die Flucht geschlagen, wenn sie eifersüchtig gewesen wäre. Zum Glück war sie das nicht. Mable würde so etwas niemals tun. Sie ist das sanfteste Wesen, das man sich vorstellen kann. Sie ist jetzt sieben Jahre alt, und in dieser Zeit habe ich kein einziges Mal erlebt, dass sie aus der Haut gefahren wäre. Vor Katzen hat sie regelrecht Angst, und wenn sie von anderen Hunden blöd angemacht wird, ist sie immer konfliktvermeidend.

Hunde haben eine eigene Persönlichkeit – auch wieder so etwas, worin sie uns Menschen sehr ähnlich sind. Natürlich ist ihr Charakter von der Rasse abhängig, und trotzdem sind sie alle verschieden. Nicht jeder Hovawart ist wie Candy, nicht jeder Golden Retriever ist wie Mable. Eben wie wir Menschen auch. Ich komme beispielsweise aus Gütersloh, das liegt in Westfalen. Die Westfalen sind stur, zurückhaltend, nicht gerade Partylöwen – so sagt man zumindest. Viele Westfalen sind auch tatsächlich so, aber nicht alle. Viele Hovawarte sind misstrauisch gegenüber Fremden, aber eben nicht alle. Viele Golden Retriever sind freundlich, aber nicht alle.

Ich habe in meinem Leben viele Menschen kennengelernt und viele Hunde. Jeder Mensch, der in dein Leben tritt, lehrt dich etwas. Er ist dein Vorbild oder auch dein Spiegel. Du regst dich über ihn auf, weil er dich an etwas erinnert, das du vergessen hast oder nicht wahrhaben möchtest. Er ist dir ein Vorbild, manchmal ein abschreckendes Beispiel. Aber die Menschen, die auf irgendeine Art dein Herz berühren, verlassen dein Leben niemals, ohne irgendetwas in dir bewirkt zu haben. Und das geht mir mit Hunden ganz genauso. Vielleicht ist es mit Hunden noch intensiver, denn ich kann mich auf sie viel besser einlassen als auf Menschen. Ich lese Hunde, wie andere Menschen Menschen lesen. Ich sehe einen Hund, und ich sehe sofort, wie er ist. Ich kann ihn fühlen. Mit Menschen tue ich mich da eher schwer.

Wenn ich ein Tier in mein Leben hole, ist es irgendwie in mir. Es ist für mich immer eine ganz tiefe Beziehung. Ich bin früher geritten, hatte Isländer. Seit ich sie nicht mehr habe, habe ich nie wieder auf einem Pferd gesessen. Mich interessiert nicht das Reiten an sich, sondern die Beziehung zu den Tieren. Dasselbe gilt für meine Hunde. Ich versuche, sie zu verstehen und unsere Beziehung so zu gestalten, dass es für meine Fellnasen richtig ist. Sie sollen wohlerzogene, entspannte, zufriedene Tiere sein, glückliche Tiere. Ich möchte, dass sie wissen, dass ich für sie da bin. Ich weiß nicht, ob es allen Tier- und Hundebesitzern so geht. Aber mir geht es so, und das war ein großer Teil meiner Rettung. Denn ich wollte auch Candy verstehen damals. Ich wollte, dass sie bei mir glücklich ist. Dass sie sich wohl und sicher fühlt. Und deswegen habe ich mich in das Thema Hundehaltung und Hundeerziehung reingekniet. Candy war schwierig, also habe ich mich noch tiefer reingekniet. Ich bin von mir selbst weggegangen – und mir witzigerweise dadurch nähergekommen.

Durch Candy hat sich meine Welt nicht mehr nur um mich selbst gedreht, und das war ein ganz großer Teil meiner Heilung. Ohne Candy hätte ich keinen Grund gehabt, mein Borderline-Universum zu verlassen. Ich wäre immer weiter nur um mich selbst gekreist. Ich hätte weiter gelitten, hätte keine neuen Wege und Möglichkeiten gefunden, denn ich hätte keinen neuen Input bekommen.

Hunde konnten mir viel besser dabei helfen, mich zu stabilisieren, denn sie sind viel ehrlicher als Menschen. Mein damaliger Mann Dietmar war mir auch sehr nahe, aber er konnte mir gar nicht helfen, so lieb er auch war. Er hat – unbewusst – mein irrsinniges System unterstützt, so wie viele Menschen das System ihrer kranken Partner unterstützen. Es ist ein Teufelskreis. Bist du der Stärkere in einer Beziehung, möchtest du dem Menschen, den du liebst, helfen. Du möchtest ihn unterstützen und bist deswegen sehr liebevoll. Aber manchmal ist das das Allerfalscheste, was du tun kannst. Candy hat diesen Fehler nicht begangen, denn sie war einfach sie selbst. Sie wusste nichts von meiner psychischen Verfassung, sie kam nicht auf die Idee, meine Merkwürdigkeiten zu unterstützen. Als Hund kann man auch nicht Co-Abhängiger sein. Candy war Candy. Also musste ICH mich verändern. Und das war das Beste, was mir je im Leben passiert ist.

Candy war meine damalige Meisterin. Sie hat mich an meine Grenzen gebracht. Ich bin mit ihr so unglaublich gewachsen, wie ich es selbst nie für möglich gehalten hätte. Mable ist meine jetzige Meisterin. Aber auf einem ganz anderen Niveau. Unsere Beziehung ist eine komplett andere als die mit Candy damals. Sie ist erwachsener, gelassener. Ich handle nicht mehr aus einer Bedürftigkeit heraus. Jetzt kann ich wirklich die Mentorin sein, die ich immer sein wollte. Es ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Ich weiß, was Mable denkt, ganz ohne Worte. Ich verstehe sie. Ich fühle sie. Obwohl wir nicht mal die gleiche Spezies sind. Ich bin so unglaublich glücklich, Mable an meiner Seite zu haben. Sie hat mich verändert. Mich zu einem anderen Menschen gemacht. Heute weiß ich: Hunde lehren uns so viel. Und manchmal auf eine so feine Art, dass wir es selbst kaum merken.

Die Tatsache, dass ich Mable ausgewählt habe, zeigt mir ebenfalls, dass ich reifer bin als damals. Kennst du auch dieses geflügelte Wort, dass du immer den Partner bekommst, der so ist wie du? Genauso ist es auch mit unseren Hunden, da bin ich mir sicher. Ich brauchte erst eine Candy, um mich zu entwickeln. Ich brauchte es knüppeldicke, um meine Komfortzone zu verlassen. Heute habe ich selbst so viele neue, gute, feine Werkzeuge in meinem Lebenskasten, dass ich nicht mehr den Holzhammer brauche, um mich weiterzuentwickeln. Ein sanftes Wesen an meiner Seite reicht vollkommen aus, um mich immer wieder mal aus meiner Komfortzone herauszujagen. Klingt ein bisschen verrückt, oder? Verrückt und wunderschön. Bereichernd, einzigartig, vollkommen. Wie mein Leben. Und wie das alles anfing, davon erzähle ich dir jetzt.

Das Mimöschen

Ich komme aus einer tollen Familie, ich liebe meine beiden Geschwister und meine inzwischen verstorbenen Eltern. Meine Mutter hieß Gerda und war die liebste Frau, die man sich vorstellen kann. (Vielleicht ist ihr genau das zum Verhängnis geworden.) Ich habe sie innig geliebt. Wie oft habe ich sie über ihre Kindheit im Krieg befragt – und sie hat mir bereitwillig erzählt: vom Hunger, von den Bomben, von der Angst. So kam es, dass wir uns bis zu ihrem Tod sehr zugetan waren. Denn ich wusste: Sie hatte getan, was sie konnte, um mir, ihrer geliebten Tochter, zu helfen. Es war vielleicht nicht immer das Richtige, aber sie hatte ihr Bestes gegeben.

Der Güte meiner Mutter konnte der Krieg nichts anhaben. Sie war die gute Seele ihres Freundeskreises, ich kenne niemanden, der sie nicht mochte. Meine Mutter stiftete immer Frieden, hatte Empathie, konnte zuhören und war meinem Vater gegenüber stets treu und loyal. Ich bewunderte sie so sehr und übernahm wohl unbewusst viele Muster, die weder für sie noch später für mich gesund waren. Meine Mutter gab in ihrem Leben viel, nahm aber wenig. Ich denke, daran ist sie am Ende zerbrochen.

Auch die Kindheit meines Vaters war stark vom Krieg geprägt. Zudem war sein Vater Alkoholiker gewesen und hatte seine Mutter regelmäßig geschlagen. Schon früh übernahm er als Ältester für sich und seine fünf Brüder die Verantwortung. Nach dem Krieg lernte er Maurer, und er war fest entschlossen, es zu etwas zu bringen und es seinen eigenen Kindern an nichts fehlen zu lassen.

Ich durfte nahezu immer alles machen, was ich wollte. Ich wollte Voltigieren, durfte ich. Ich wollte Akkordeon spielen, durfte ich. Auch Volleyball und Ferien auf einem Ponyhof, ich war überall dabei, kein Problem. Es war meinem Papa sehr wichtig, dass wir drei Kinder alles hatten, was wir brauchten – zumindest im materiellen Sinne. Bald bekam er die Chance auf einen Bürojob bei Bertelsmann, wo er sich rasch zum Abteilungsleiter hocharbeitete. Nebenbei verkaufte er Versicherungen und in seiner knapp bemessenen Freizeit war er Fußballtrainer. Er war so fleißig, um seine Familie zu ernähren. Damit es uns allen gut ging. Als Jugendliche konnte ich das nicht sehen. Da nahm ich nur seine Ignoranz wahr und seine hohen Ansprüche an uns. Für Letzteres bin ich ihm allerdings heute sehr dankbar. Ich musste nie Not leiden. Geld war nie ein Thema für mich, das mir Angst gemacht hätte.

Im Vergleich zu meinen Eltern hatte ich objektiv betrachtet eine rosige Kindheit. Es gab so viele tolle Dinge, das Leben ist ja fast nie nur schwarz oder weiß. Und trotzdem war relativ schnell klar, dass da noch etwas anderes ist. Dass ich nicht so klarkam wie andere Kinder. Denn mit acht Jahren nahm ich diese verflixten Scherben und zerschnitt mein Gesicht. In meiner Jugend waren meine Arme ständig voller Blut, dicker Krusten und Narben. Trotz dieser scheinbaren Bilderbuchkindheit wurde ich magersüchtig und depressiv und bekam die Diagnose »Borderline«. Aber das kam alles erst viel später.

Als ich klein war, war ich für alle nur der Sonnenschein. »Als kleines Kind wollten dich alle ständig auf dem Arm haben«, erzählte meine Schwester Andrea mir mal. »Weil du immer gestrahlt hast.« Aber ich war auch immer schon das Mimöschen. Ich war sensibler als andere Kinder und litt immer darunter, wenn etwas Unvorhergesehenes oder Schreckliches passierte. Manchmal denke ich, es hat sich alles unbemerkt in mich eingegraben.

Meine Geschwister konnten Verletzungen besser wegstecken und Negatives schneller vergessen. Bis heute habe ich engen Kontakt zu meinen Geschwistern. Sie sind mit denselben Eltern aufgewachsen und haben trotzdem alles ganz anders erlebt als ich. Meine Schwester Andrea ist acht Jahre älter als ich, mein Bruder Jörg sogar zwölf. Im Gegensatz zu mir erinnert Andrea sich kaum noch an ihre Kindheit und Jugend. Sie war in vielerlei Hinsicht mein Vorbild, ohne dass mir das bewusst war. Dennoch könnten unsere Leben nicht verschiedener sein. Ich habe immer schon Dinge anders wahrgenommen. Meine Antennen waren meist auf die Emotionen meines Gegenübers gerichtet. Ich hatte für jeden Verständnis und Mitgefühl. Das machte es mir sehr schwer, für mich selber einzustehen, weil ich den Bedürfnissen der anderen unbedingt gerecht werden wollte.

Andrea dagegen war viel mehr sie selbst. Wenn sie sauer war, konnte das jeder auf fünfzig Meter sehen und ging in Deckung. Ich glaube, dass ihre Art viel gesünder war als meine. Sie ließ ihre Wut raus. Dazu war ich nicht in der Lage. »Es gab mal einen Jungen, der mich total beleidigt hat. Den hab ich einfach in den Bauch geboxt. Der hat sich nie wieder getraut«, erzählte Andrea mal bei einem Gespräch über unsere Kindheit. Sie konnte sich wehren. Ich dagegen war viel zu vorsichtig.

Da war zum Beispiel die Sache mit Axel. Ich ging mit ihm auf die Grundschule, und er radelte oft mit mir gemeinsam nach Hause, denn er wohnte nur ein paar Häuser weiter. Doch wenn keiner guckte, drängte er mich Richtung Graben. Er drängte mich so weit ab, dass ich vom Rad springen musste. Oder er befahl mir, dass ich den Rest des Heimwegs zu Fuß gehen sollte. Ich hatte so elende Angst vor ihm. Viele Tage und Wochen kam ich weinend nach Hause. Ich wusste nicht, wie ich mich wehren oder wie ich aus der Nummer rauskommen sollte. Da Axel mir verboten hatte, irgendjemandem davon zu erzählen, sagte ich nichts und litt im Stillen. Meine Mutter merkte es trotzdem, und als sie mich darauf ansprach, hatte ich zum Glück genug Vertrauen, um ihr die Wahrheit zu erzählen. Danach hörte Axel damit auf.

Wo ist der Fehler?

Lange Zeit hatte ich meine Kindheit nur schön in Erinnerung, das ist das Merkwürdige an meiner Geschichte. Das Schlimmste, an das ich mich erinnern konnte, war der Nachbarshund: ein Boxer, der mich umgerannt und mir Angst gemacht hatte. Und dass unser Wellensittich Pucki gestorben ist, weil er Gift gefressen hatte. Mit Pucki habe ich schon als Baby gemeinsam gebadet: ich in der Spüle und er daneben im Seifenschälchen. Als er starb, war ich noch sehr klein, aber ich begriff, dass er nie wieder mit mir baden, nie wieder bei mir sein würde. Und ich weinte sehr lange.

Ich habe lange gebraucht, um meine Vergangenheit aufzuarbeiten, wie man so schön sagt. Weil ich einfach nie das Gefühl hatte, dass da etwas war, das zu meiner Krankheit beigetragen haben könnte. Bis heute weiß ich nicht, ob da vielleicht etwas ist, das mein Gehirn einfach »gestrichen« hat. Ich erinnere mich an ein paar Vorkommnisse, aber sie sind entweder nicht negativ behaftet oder nur sehr schemenhaft in meiner Erinnerung.

Einmal, ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein, war ich zu Besuch bei den Großeltern einer Freundin. Eine Woche lang Urlaub auf dem Land. Eines Tages folgte mir der Opa in den Keller, wo wir Kinder unser Schlafzimmer hatten. Er griff mir unter meine Latzhose an den gerade entstehenden Busen. Ich konnte mich rauswinden und vermied es von diesem Moment an, mit ihm alleine zu sein. Auch meine Freundin wand oder drehte sich ständig vor ihm weg. Wir haben da nie darüber geredet. Machen das kleine Mädchen? Über »so etwas« miteinander reden? Wir haben es jedenfalls nicht gemacht, aber uns beiden war klar, dass das nicht okay war. Ich wollte nicht angefasst werden und von einem fremden Opa schon gar nicht.

Ich weiß nicht mehr genau, ob und wie ich mit meiner Mama darüber gesprochen habe. Aber sie muss es wohl mitbekommen haben, denn als Jugendliche – als ich bereits in Therapie war – wollte ich mehr darüber wissen: »Mutti, sag mal, hast du eigentlich mit Frau M. damals darüber gesprochen?«

»Nee, habe ich nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht, mich dann aber dagegen entschieden. Es war ja klar, dass du dort nie wieder hinfährst. Und so habe ich die Angelegenheit als erledigt betrachtet.« So ihre Antwort.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine Ausrede war, aber ich habe auch Verständnis für die Entscheidung meiner Mutter. Sie war damals mit der Mutter meiner Freundin sehr eng befreundet, und ich denke, dass sie unsicher war und keinen Staub aufwirbeln wollte. Immerhin handelte es sich um ein sehr sensibles Thema.

Ich habe es meiner Mama nie verübelt, dass sie nichts weiter unternommen hat, aber wenn ich das jetzt so schreibe,

fällt mir auf, wie groß dieses Thema ist und wie weitreichend. Mir fällt auf, dass es keineswegs eine Lappalie, sondern eine übergriffige Situation war. Und genau das ist vielleicht schon ein Vorbote für das Thema Borderline: unangenehme Gefühle unterdrücken, sie nicht zulassen, bis sie mich dann doch einholen. Ich erinnere mich an einen Satz aus dem Gutachten einer Therapeutin, bei der ich mit Ende zwanzig war: »Simone erzählt von Übergriffen mit einem Lachen, als würde es sie gar nicht betreffen.« Und ja, das ist richtig. Daher vielleicht mein fataler Irrtum, dass mir das alles gar nichts ausgemacht hat; dass mich negative Erlebnisse gar nicht so beeinflusst haben. Aber da ich so oft einfach gar nichts spürte, war da auch nichts, das ich verarbeiten musste. Dachte ich zumindest. Denn natürlich musste es irgendwann raus. Und dann brauchte ich die Rasierklingen. Damit es durch die Haut herauskonnte.

Erst später, in meinen vielen Therapiesitzungen, konnte ich meine Kindheit neu bewerten. In Teilen war sie unglaublich schön, aber in Teilen eben auch weniger schön. Ich lernte, dass es für Borderliner schwierig ist, mit Gefühlen umzugehen, weil sie so intensiv und verstärkt auf sie einprasseln. Lange Zeit dachte ich, dass mir schreckliche Ereignisse gar nichts ausmachen würden; ich fühlte ja nichts dabei. Aber vielleicht fühlte ich viel zu viel und unterdrückte alles, damit es mich nicht erdrückte? Immer weiter suchte ich nach Gründen, wodurch mein Borderline entstanden sein könnte. Ich wälzte die Vergangenheit, um Antworten zu finden.

Ich suchte immer nach etwas ganz Schrecklichem in meiner Vergangenheit. Nach dem, was man sich unter Borderline so vorstellt, hätte ich mindestens einen Mord miterlebt haben müssen oder jahrelang von jemandem missbraucht worden sein. Borderliner leben in Extremen. Ein paar simple Angrapschungen und Übergriffigkeiten – daraus kann doch kein psychisches Problem entstehen. So wenig, wie ich mich selbst wahr- und ernstnahm, so wenig Verständnis brachte ich für mich selbst auf. Sensibelchen sein, Mimöschen sein – alles falsch. Ich war falsch. Ich erlag dem Trugschluss, dass ich nur dann psychisch krank sein dürfte, wenn ich etwas sehr Schreckliches erlebt hätte. Das, was mir wirklich passiert war, konnte ich nie als »Rechtfertigung« für all meine psychischen Probleme gelten lassen. Wie knallhart ich mit mir war! Wie wenig wertschätzend, wie respektlos!

Ich bin so viele Jahre mit mir selbst so enorm schlecht umgegangen, dass es mir im Nachhinein wahnsinnig leidtut. Wie oft habe ich mich schon bei mir selbst dafür entschuldigt.

Es gab noch ein paar weitere merkwürdige Vorkommnisse in meiner Kindheit und Jugend, von denen ich bis heute nicht sagen kann, ob sie etwas mit meiner Erkrankung zu tun haben oder nicht. Da war zum Beispiel der Mann meiner Cousine. Auch daran erinnere ich mich nur dunkel, aber zu ihm hatte ich wohl eine nicht ganz alltägliche Beziehung. Gerhard und ich hatten ein Geheimnis: Wir liebten uns. Ein komisches Geheimnis zwischen einem erwachsenen, verheirateten Mann und einem Grundschulkind, oder? Ich erinnere mich nicht daran, dass er mich angefasst hätte, wenn ich es nicht wollte. Ich erinnere mich an ausgetauschte Küsse, aber die fand ich damals witzig. Meine Eltern küssten mich ja auch. Wenn man sich liebte, dann küsste man sich eben. Oder? So dachte ich als Kind jedenfalls und empfand unseren Umgang als ganz normal. Ich erinnere mich aber auch daran, dass mir manchmal übel war, wenn ich dort zu Besuch war.

Ein Tag ist mir noch gut im Gedächtnis geblieben: Ich war etwa zehn Jahre alt und ein paar Tage in den Herbstferien bei meiner Cousine zu Besuch. Am Sonntag kamen meine Eltern, um mich abzuholen, vorher sollte es noch Kuchen geben. Ich lief auf Strümpfen in der Wohnung herum. Als der Kaffeetisch gedeckt wurde, winkte Gerhard mich zu sich: »Kennst du unser Geheimnis noch?«, flüsterte er.

»Klar«, antwortete ich ganz leise und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir lieben uns.«

»Ja, genau«, flüsterte er zurück. »Denk dran, es ist unser Geheimnis. Das darf niemand wissen außer uns beiden.«

Das war natürlich Ehrensache. Ein Geheimnis ist Ehrensache zwischen den beiden einzigen Menschen, die das wissen dürfen. Komisch, oder? WENN Gerhard übergriffig gewesen sein sollte, dann weiß ich es nicht mehr. Ich verbinde mit ihm keine unangenehmen Gefühle, keine Ängste, kein Garnichts. Es ist müßig, immer weiter über unser »Geheimnis« nachzudenken. War es gut oder schlecht? Steckte etwas dahinter oder war es nur lieb gemeinte Spielerei? Hatte es Folgen oder nicht? Ich habe irgendwann aufgehört, das zu hinterfragen. Es war, wie es war. Letztendlich war es ein Teil von der Simone heute und somit war es gut, wie es war.

Noch schemenhafter, aber eindringlicher ist eine Erinnerung, bei der ich vermutlich noch kleiner war, vielleicht vier oder fünf Jahre. Ich konnte schon ganz gut Fahrrad fahren und fuhr vor der Haustür Kreise auf unserer Straße. Damals war es dort sehr ländlich. Da kam alle paar Stunden mal ein Radfahrer lang und ab und an mal ein Auto. Ansonsten Ruhe,