Micky halbiert sich (nicht) - Michael Klemsch - E-Book

Micky halbiert sich (nicht) E-Book

Michael Klemsch

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Beschreibung

Als Kind war Micky Klemsch ein agiles Kerlchen, als Jugendlicher und junger Erwachsener Leistungssportler. Mit 38 Jahren wog er dann etwas über 200 Kilogramm. Wie konnte es so weit kommen? Und: was nun? Klemsch sagt den Pfunden den Kampf an, doch ist sein Ziel, noch einmal unter hundert Kilo zu wiegen, realistisch? Offen und ungefiltert erzählt Klemsch davon, was es heißt, sich als dicker Mensch in einer Welt der Oberflächen zu bewegen. Er hat am eigenen Leib erfahren, wie sehr einem der Jojo-Effekt zusetzt. Er steht dazu, dass Leibesfülle und Eitelkeit einander nicht ausschließen. Er muss feststellen, was zu viele Kilos mit der Gesundheit machen. Er nimmt unter großem Widerhall der Öffentlichkeit an einer TV-Show rund ums Abnehmen teil, fühlt sich aber in der Therme im Bademantel unwohl. Er setzt sich nicht nur mit unzähligen Ernährungskonzepten auseinander, sondern auch mit den eigenen Hoffnungen und dem Scheitern. Denn dies ist keine Erfolgsgeschichte. Aber eine ehrliche Geschichte.

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Michael Klemsch

MiCKYHALBiERTSiCH (nicht)

Der ewige Kampf mit den Kilosund den Emotionen

INHALT

Vorwort

DICK WERDEN

Vom Langen zum Runden

Warum nur?

DICK SEIN

Platz nehmen

Blad und Eitel

Athlet im falschen Körper

Verschwitzt und zugenäht (oder: Meine Ballade vom Tschuri-Fetzen)

Ein Krebs als Wasserratte

Aquagym – Bewegung federleicht

Angst

Moppel auf Reisen

Der große Dicke locht ein

Das Gfrett mit dem Knie

Alkohol – Fallschirm und Rettungsboot?

Body Positivity

Amors Pfeil hat es nicht einfach

Der lustige Dicke

Kann ich mir Dicksein noch leisten?

ABNEHMEN (VERSUCHEN)

Durch alle Diäten gestolpert

Xenical Fatal

Du bist, was du isst

Die Sache mit der Kur

Der Bub als Motivation

Say No To Jo-Jo

Nur nicht an mir herumschnippseln

Nachwort

Quellenangaben

VORWORT

Ich sitze vor meinem Rechner, notiere meine Erfahrungen der letzten Jahre und erinnere mich zurück. An ein Projekt, das ich vor etwa neun Jahren gestartet habe. Micky halbiert sich, habe ich es genannt. Alles begann damit, dass meine Waage wieder einmal »Error« anzeigte. Irritiert bin ich von dem Ding runtergesprungen. Ausschalten – einschalten – nochmal rauf. Wieder »Error«. Es handelte sich bei dieser Fehlermeldung nicht etwa um eine leere Batterie oder eine andere Funktionsstörung. Nein. Die Waage hatte schlicht und einfach bemerkt, dass mein Gewicht außerhalb des messbaren Bereichs lag. Klassische Personenwaagen haben eine Spannweite von 0 bis 120kg, die meisten dieser Geräte können sogar ein Körpergewicht von bis zu 150 kg anzeigen. Im etwas spezielleren Bereich gibt es auch Waagen, auf denen sich Menschen mit mehr als 180kg beschämt über ihr Gewicht informieren können.

Meine Waage war etwas ganz Besonderes. Sie konnte sogar 200kg packen. Aber trotzdem hat sie »Error« angezeigt. Das heißt, mein Gewicht lag im Jänner 2010 tatsächlich über 200kg. Das ist schon mächtig viel. Über zwei Zentner oder auch über 400 Pfund, was nach noch mehr klingt.

Nun war das jetzt nichts, was mich besonders überrascht hat. Ich war damals wahrlich nicht in der Situation, über rutschende Hosen oder flatternde T-Shirts zu klagen. Trotzdem war es ein Schock für mich. Ein Meilenstein, den ich gehofft hatte, nicht noch einmal zu erreichen. Aber da war er, der Beweis, Schwarz auf Weiß – und ich musste damit jetzt irgendwie umgehen.

Umgehen hieß für mich aber nicht nur tolerieren, sondern verändern. Aber wie? Es war ja nicht so, dass ich die gesunden Methoden zur Gewichtsreduktion nicht gekannt hätte. Und auch nicht so, dass ich keine Ahnung gehabt hätte, warum ich wieder einmal diese markante Marke auf der Waage erreicht hatte. Ich war und bin Meister der Theorie. Ich konnte Ratschläge geben, Ernährungspläne verfassen, medizinische Zusammenhänge mit verschiedenen Nahrungsmitteln erklären. Aber mir selbst hat das nur selten geholfen. Es lag also nicht am Wissen, sondern an der Umsetzung. Ein Schicksal, das ich wohl mit vielen Menschen geteilt habe.

Schon früher einmal, kurz vor meinem 40. Geburtstag, habe ich ein ähnlich hohes Gewicht erreicht. Damals konnte ich aber schnell 50kg abwerfen. Klar, es war harte, disziplinierte Arbeit, das zu schaffen, aber es hat funktioniert. Leider nicht langfristig, zwei Jahre später war das meiste der Körper- vulgo Fettmasse wieder zurück. Was folgte, war klassisches Jo-Jo: ein bisserl abnehmen, wieder zunehmen und wieder abnehmen. Und dann bin ich wieder mit demselben alten Problem dagesessen.

Meine erste große Gewichtsabnahme habe ich mit Mediendruck geschafft. Als Kandidat einer Fernsehsendung habe ich erfolgreich viele Kilos verloren. Die Tatsache, dass dabei sehr viele Leute zusahen, hat mich unheimlich motiviert und meine übliche Disziplinlosigkeit beiseitegeschoben. Was also sollte ich tun, wie konnte ich diesen Lauf noch einmal wiederholen? Noch eine Fernsehsendung? Nein, das wäre unglaubwürdig gewesen und stand damals auch gar nicht zur Diskussion.

Im Winter 2010 habe ich mich entschlossen, einen Blog zu starten, in dem ich öffentlich meinen Weg in Echtzeit beschreiben wollte. Das Ziel: unter hundert Kilo Körpergewicht zu kommen. Um ein sogenannter UHU (UnterHUndert) zu werden, musste ich hundert Kilo abnehmen. Mich wirklich halbieren. Und so wurde der Name für dieses Projekt geboren: Micky halbiert sich.

Mein Arbeitgeber, ein Medienverlag mit angeschlossener Werbeagentur, wollte mich dabei sogar unterstützen. Unser Grafiker hat ein feines Logo angefertigt, dem ich viel abgewinnen konnte. Ein professionelles Fotoshooting sollte damals den Beginn meines Wegs dokumentieren. Als ich eben so richtig dick war. Mit wenig Gewand, in unvorteilhaften Posen – so, dass es wirklich aufgetragen hat. Es hat Spaß gemacht. Sogar eine Frau, die sich Make-Up-Artist genannt hat, war dabei und hat meine schwitzende Stirn immer wieder gepudert. Natürlich waren die Bilder ob des sehr voluminösen Körpers auf eine gewisse Art traurig. Aber wenn ich sie mir heute ansehe, dann erkenne ich in meinem Blick auch die Freude über die Möglichkeit eines Neustarts. Die Veränderung im Visier. Es war der »Jetzt geht es los – euch werde ich es zeigen«-Blick.

Ziel war natürlich das Wunschgewicht. Dem sollte ein Buch folgen, das den Weg dorthin als Erfolgsgeschichte dokumentieren und anderen schwer adipösen Menschen Hoffnung geben sollte. Soweit der Vorsatz. Zwei Jahre später, also etwa 2012, sollte das Buch erscheinen und mich und den Verlag reich machen. Auf der Straße sollte ich von anerkennenden Blicken geschmeichelt werden.

Nun gut. Inzwischen zählt der Blog Micky halbiert sich über 170 Einträge. Momentaufnahmen, die von 2010 bis 2019 mein Leben und meinen Versuch, nachhaltig abzunehmen, dokumentieren. Aber: Aus der Halbierung ist nichts geworden. Auch die letzten acht Jahre waren ein ständiges Auf und Ab. Gewicht rauf, Gewicht runter. Ein andauerndes Spiel, der Gesundheit nicht wirklich zuträglich. Trotzdem habe ich es nicht verloren. Immer wieder nehme ich den Kampf auf, und ein Kampf ist es oft wirklich. Ein Kampf mit mir selbst. Und dafür habe ich mir Unterstützung geholt. 2018 kommt diese nicht mehr von einem der diversen Ernährungsratgeber. Glauben Sie mir, die kann ich alle auswendig. Ich kenne alle Ernährungstheorien, die vielen Diäten und Verzichtsprogramme. Mir ist bekannt, dass mir knackige Salate zuträglicher sind als resche Pommes und Wasser einer Limonade oder Eistee vorzuziehen ist. Ich weiß das alles. Die Unterstützung, von der ich mir dieser Tage Hilfe verspreche, betrifft die psychische Ebene. Es gibt gute Therapeuten, Psychologen und Ärzte, die mich auf diesem Weg begleiten und mich unterstützen. Sie nehmen mir meine Probleme und Sorgen nicht ab, aber können mir dabei helfen, dass ich sie nicht mit unmäßigem Essen und Trinken kompensiere.

Ein Buch ist nun aber trotzdem entstanden. Das, was sie gerade in der Hand halten, ist der beste Beweis dafür. Anders als vor neun Jahren geplant, ist Micky halbiert sich (nicht) nun aber keine reine Erfolgsgeschichte geworden. Aber eine ehrliche Geschichte. Der Abriss eines Lebens, das über lange Strecken von Gewichtsproblemen dominiert war. Ein Buch über die Sorgen, die Erfahrungen und Hoffnungen eines wirklich dicken Menschen. Mit diesen Emotionen umzugehen, dabei soll mir diese Niederschrift helfen. Dabei, Verständnis für dicke Menschen zu vermitteln und Menschen mit ähnlichen Erlebnissen zu zeigen: Du bist nicht allein.

DICK WERDEN

VOM LANGEN ZUM RUNDEN

Als Kind und auch als Jugendlicher habe ich immer zu den Großen gehört. Auf Gruppenfotos habe ich daher immer hinten stehen müssen und mit meinem blonden Schopf und dem Sommersprossengesicht alle überragt. Auf den Klassenfotos in der Volksschule, am Gymnasium, auf den Erinnerungsfotos der Erstkommunion oder Firmung vor der Kirche.

Ich war immer lang und dünn. Natürlich nicht so dünn, dass man sich hätte Sorgen machen müssen. Nein. Aber eben dünn. Ich war kein dickes Kind. Ich betone das so besonders, weil man es im Vergleich zu meiner jetzigen Erscheinung mit über 150 kg sehen muss. Aber in den 1970er-Jahren waren wir Kinder halt wirklich immer in Bewegung. Statt vor irgendwelchen Spielkonsolen in Innenräumen zu hocken, sind wir im Garten oder auf der Straße herumgetollt. Kaum war die lästige Arbeit für die Schule daheim erledigt, rief schon der Fußballplatz nach uns. Wir sind in den Bäumen herumgeklettert und haben tiefe Löcher in den Boden gegraben. Am Wochenende sind wir – so es das Wetter zugelassen hat – mit den Eltern zumeist wandern gegangen. Mit dem Auto eine Stunde raus aus der Großstadt und dann auf irgendeinen Berg hinauf. Wir hatten in großen Dosen immer Proviant und auch reichlich zu trinken mit. Diese Wanderungen habe ich noch immer in sehr guter Erinnerung.

Auch den Weg zur Schule sind wir selber und zumeist zu Fuß gegangen. Zugegebenermaßen ist der Weg von daheim zur Volksschule nur ein paar hundert Meter lang gewesen, aber in kindlicher Tollerei sind diese Wege immer etwas verlängert worden. Weil man sich vor jemandem verstecken wollte, weil ein kleiner Umweg über den Fußballplatz genommen wurde oder am Weg noch Pläne mit den anderen Schulkameraden ausgeheckt wurden.

Der Weg zum Gymnasium nach Perchtoldsdorf ist dann schon ein längerer gewesen. Große Teile des Weges wurden mit dem Autobus zurückgelegt, doch das letzte Stück den Berg hinauf zur Schule hat mir niemand abgenommen. Wenn ich heute die Diskussionen, die Verkehrssituation und die Staus rund um Wiener Schulen im Morgenverkehr ansehe, dann kann ich nur sagen: Ich erinnere mich an keine einzige Situation, in der meine kleinere Schwester oder ich mit dem Auto zur Schule gebracht worden wären. Bewegung war damals etwas sehr Natürliches. Außerhalb der normalen Turnstunden, ich glaube damals hieß das noch Leibesübungen, haben wir an keinen speziellen Sportprogrammen teilgenommen. Wenn ich mir heute ein Klassenfoto aus der Volksschule oder auch dem Gymnasium in den frühen 1980er-Jahren ansehe, dann sehe ich darauf kein einziges dickes Kind.

Mit etwa 12 Jahren habe ich dann begonnen, in einer Landhockeymannschaft zu spielen. Einmal in der Woche war Training im Sportzentrum Südstadt, an den Wochenenden gab es zumeist ein Meisterschaftsspiel. In der Wintersaison fanden die Matches in der Halle statt. Mannschaftsbilder von damals haben folgendes Bild abgegeben: Ich bin neben den Mannschaftskollegen wie ein Kirchturm herausgeragt. Vielleicht ist darin auch der Erfolg unserer Mannschaft begründet gewesen, mit der wir damals öfters österreichischer Meister in unserer Altersklasse geworden sind. Ich bin der Torhüter gewesen und eigentlich habe ich mich bei den Hallenspielen bei meiner Größe nur hinlegen müssen, und schon konnte kein Ball mehr an mir ins Tor vorbeigeschoben werden. So groß war ich. In zwei aufeinanderfolgenden Hallensaisonen hatte ich mit meiner Mannschaft Wiener Neudorf eine Tordifferenz »zu Null«. Also keinen einzigen Treffer kassiert.

So hat sich mein jugendliches Leben damals dargestellt. Ich war mit 190 cm, die mir auch bei der Stellungskommission für das österreichische Bundesheer attestiert wurden, recht groß, aber eher schlank. Das hat sich allerdings so um das Alter von 23 oder 24 Jahren herum geändert. Von da an stieg mein Gewicht langsam und zuerst unmerklich von rund 75 kg auf 90 kg an. Ich war bereits seit ein paar Jahren berufstätig – und das hatte durchaus Auswirkungen: Ich hatte vor allem nicht mehr so viel Zeit, Sport zu machen. Gerade in den Herbst- und Wintermonaten war meine Motivation nicht immer ganz so groß, mich nach der Arbeit im Dunkeln noch aufzuraffen und meine Sporteinheiten zu absolvieren. In der Firma gab es damals ein dreigängiges Mittagsmenü, in den Pausen am Vormittag und Nachmittag hatte eine kleine Kantine geöffnet, in der man sich Snacks oder Süßigkeiten holen konnte. Ich war dort öfters Kunde – und die Spuren haben sich langsam knapp oberhalb des Gürtels gezeigt. Es entstand das erste – wohlgemerkt kleine – Bäuchlein.

Gänzlich unbemerkt blieb dies jedoch nicht. Eine etwas ältere Kollegin meinte damals, meine Krawatte würde sie ob der neuen Rundungen etwas an eine Sprungschanze erinnern. Ein treffender Vergleich, der mich aber innerlich doch etwas gewurmt hat. Zum ersten Mal beschlich mich das Gefühl: Jetzt musst du etwas unternehmen. Die Lösung war für mich das Joggen. Mannschaftssport mit regelmäßigem Training, wie früher Landhockey oder Fußball, hatte ich zu dem Zeitpunkt schon abgehakt. Laufen ging immer. Auch abends oder nachts auf der Straße.

Dazu kam: Anfang meiner Zwanziger hatte ich eine längere Beziehung mit einer Finnin. Sie arbeitete als Au-Pair-Mädchen meiner Nachbarn, und wir hatten recht rasch zusammengefunden. Unsere innige Liebe wurde damals aber immer wieder durch die große Entfernung zwischen uns auf die Probe gestellt. Denn über weite Strecken dieser fast fünfjährigen Beziehung war es eine Liebe auf Distanz. Ich am Stadtrand von Wien, sie in Jyväskylä in Mittelfinnland. Nachdem ihr Au-Pair-Jahr in Wien zu Ende gegangen ist, habe ich jeden Urlaub genutzt, um nach Finnland zu fliegen. Umgekehrt war sie oft in Wien. Hat hier sogar ein Praktikum gemacht und längere Zeit bei mir gewohnt. Aber immer wieder war da über viele Wochen die Entfernung von über 2000 Kilometern. Zu Zeiten, in denen Telefongespräche ins Ausland noch extrem teuer waren. Wir haben uns damals minutiös die Telefongespräche vereinbart, nebenher ist die Stoppuhr gelaufen und wir haben jedes Mal gewusst: Das wird wieder teuer.

So eine Fernbeziehung kann für die Seele eine ganz schöne Strapaze sein, vor allem, wenn die Liebe und die Sehnsucht so groß sind. Seelentrost fand ich damals erstmals durch Nahrungsaufnahme. »Naschen« könnte man auch sagen. Die Fernbeziehung nach Finnland ist trotz geschlossener Verlobung nach fast fünf Jahren gescheitert. Und schon einige Zeit vor meinem 30. Geburtstag hat die Waage eine dreistellige Kilozahl angezeigt. Die erste Barriere war also früh durchbrochen.

In älteren Aufzeichnungen sehe ich, dass ich ein paar Monate nach meinem 30. Geburtstag bereits 138 kg auf die Waage gebracht habe. Bin ich in meinen ersten Lebensjahren also enorm in die Höhe gewachsen, habe ich in der Breite gegen Ende der 1990er-Jahre stark aufgeholt. Und ich entsinne mich heute, dass das Abnehmen damals schon ein großes Thema war. Ich habe mich viel bewegt, auch noch mit über 100 kg bin ich längere Strecken gelaufen. Aber die Kalorienzufuhr hat den Verbrauch leider stets weit übertroffen. Wenn ich genau hinschaue, dann erkenne ich: Die wirklich signifikante Gewichtszunahme passierte erst ab dem Zeitpunkt, als ich bewusst versucht habe, abzunehmen. Blöd, nicht?

Ich habe mich also zwischen meinem 20. und 30. Geburtstag fast verdoppelt.

Ein weiteres markantes Datum war der Oktober 1997. Ich hatte einen kleinen Unfall mit großen Folgen. Beim Wischen des Fußbodens bin ich auf dem nassen Parkett so blöd ausgerutscht, dass ich mir den Mittelfußknochen gebrochen habe. Im Spital dachte man, der könnte vielleicht von selbst zusammenwachsen, was sich nach einer Woche Liegegips bestätigt hat. Nach einer weiteren Woche daheim hat das Röntgen dann aber etwas anderes ausgesagt. Ich musste unters Messer, bekam ein paar Schrauben und eine Platte ins Gelenk und an den Unterschenkel und musste für weitere vier Wochen einen Gips tragen. Für insgesamt fast drei Monate war ich in meiner Bewegung sehr eingeschränkt, habe allerdings vergessen, das Essen und Trinken dementsprechend zu reduzieren. So sind nach diesem denkwürdigen Ereignis noch weitere Kilos dazugekommen. Lang hat es dann auch nicht mehr gedauert, bis meine damals aktuelle Partnerschaft – wieder eine Finnin – zerbrochen ist. Und ich damit eigentlich auch irgendwie.

Die Trennung verlief nicht als Schnitt, sondern in kleinen Etappen. Wir haben gemeinsam in Wien gelebt, ich als Vertreter im Dienste einer Brauerei, sie als Servicekraft in einem großen Hotel an der Donau. Das hat sehr gut funktioniert und wir haben so auch mehrere Jahre zusammengelebt. Doch irgendwann packte meine Freundin ein klein wenig das Heimweh nach Finnland. Während eines gemeinsamen Urlaubs in Skandinavien nutzte sie die Gelegenheit, um in Helsinki einen Bewerbungstermin für einen ausgeschriebenen Job in einem tollen Hotel wahrzunehmen. Den Gedanken daran habe ich zwar eher verdrängt, aber nach dem Gespräch waren die Chancen recht gut, dass sie diesen Arbeitsplatz in ihrem Heimatland bekommt. Wenig später – wir waren bereits wieder zurück in Wien – ist dann der entscheidende Anruf aus Helsinki gekommen. Sie hat nicht lange überlegt und ist zurück nach Finnland gegangen. Also wieder eine Fernbeziehung, jedoch nicht für lang. Die Entfernung hat uns nicht nur räumlich, sondern auch emotional immer mehr auseinandergebracht. Das haben wir bei den nächsten beiden Besuchen deutlich gespürt. Man könnte sagen, die Beziehung ist sanft ausgelaufen. Sanft, aber traurig, denn ich war und bin nicht gerne alleine.

Die nächsten Jahre, also eigentlich bis kurz vor meinem 40. Geburtstag, hat sich am Alleinsein nichts geändert. In diesen etwa sieben Jahren bin ich stets Single geblieben. Kein Kuscheln, keine Berührungen und kein Sex – zumindest nicht unter Beteiligung anderer. Das hat mich natürlich sehr betrübt und frustriert. War ich in dieser Zeit nach außen oft der Kasperl und der lustige Typ, so hat sich in mir eine große Traurigkeit breit gemacht, es fehlte die sogenannte Tiefenentspannung. Wenn ich abends nach Hause gekommen bin, dann hat statt einer Partnerin der gefüllte Kühlschrank auf mich gewartet – und ich habe regelmäßig dafür gesorgt, dass er nicht lange voll blieb.

Während dieser Zeit wurde ich von einem dicken Menschen zu einem sehr dicken. Durch meine Größe sind die beinahe 200 kg, die ich um das Jahr 2005 erreicht hatte, nicht ganz so sehr aufgefallen. Man schätzte mich eher auf 150 kg. Trotzdem war das massig viel, und ich konnte das Gewicht bei jeder Bewegung spüren. Und je höher die Zahl auf der Waage kletterte, desto eingeschränkter wurde mein Leben als sehr dicker Mensch.

WARUM NUR?

Es hat sie zuhauf gegeben, und natürlich immer abwechselnd: Die Phasen, in denen ich abgenommen habe – und die Phasen, in denen mein Gewicht wieder in die Höhe geschossen ist. Man braucht wohl nicht lange überlegen, in welchem dieser Zeiträume es mir besser gegangen ist, genauer gesagt, wann ich mich besser gefühlt habe.

Abnehmen ist super. Man fühlt sich von Tag zu Tag leichter und die Waage wird zum besten Freund. Mehrmals die Woche ein Glücksgefühl, wenn es zumindest hinter der Kommastelle wieder einmal bergab gegangen ist mit dem Gewicht. Ich spüre auch, wie mein Selbstbewusstsein von Tag zu Tag stärker wird. Auch wenn man eine Gewichtsreduktion von sagen wir 2 kg bei 180 kg Lebendgewicht kaum äußerlich erkennen kann: Ich spüre das und trete selbstbewusster auf. Alles macht viel mehr Spaß, auch wenn man als Elefant der Gazelle noch sehr fern ist. Ich bemerke, dass ich auch viel freundlicher auf andere Personen wirke, offener an alles herangehe und den Optimismus, der mich innerlich trägt, auch anderen Menschen gegenüber ausstrahlen kann.

In der zunehmenden Phase – und ich spreche hier nicht vom Mond, sondern von etwas anderem ziemlich Runden – ist die emotionale Situation natürlich eine ganz andere: Ich bin eher mürrisch und grantig, wobei zweiteres für einen Wiener wohl ohnehin grundtypisch ist. Die Waage im Badezimmer übersehe ich absichtlich, und durch das Leben trabe ich eher missmutig. Im kreativen Bereich bin ich einfallslos und kann kaum mit neuen guten Ideen und Einfällen aufwarten.

Den Unterschied zwischen den beiden Phasen kann ich eigentlich am besten mit Wettersituationen beschreiben: Abnehmen ist wie ein sonniger Frühlingstag. Zunehmen ist ein nebliger Herbsttag. Und zumeist waren die jeweiligen Situationen in den letzten beiden Jahrzehnten auch wirklich an diese Jahreszeiten gebunden.

Im Frühling war es für mich immer leichter abzunehmen. Das liegt jetzt aber nicht – so wie bei vielen anderen – daran, dass man nach den üppigen Weihnachtstagen lang darum kämpft, die Bikinifigur für den Sommerurlaub zurückzuerlangen. Auch zähle ich mich eher nicht zu den religiös ambitionierten Menschen, die nach dem Aschermittwoch eine traditionelle Fastenzeit beginnen. Der Frühling signalisiert mir immer eine positive Aufbruchsstimmung. Wenn die Natur aus dem Winterschlaf erwacht und alles wieder erblüht und wächst, dann legt sich das auch positiv auf mein Gemüt. Dazu kommen die so schönen, immer länger werdenden Tage. Und die steigende Temperatur lässt natürlich auch wieder mehr Outdoor-Aktivitäten zu, die ich in direkten Zusammenhang mit Kalorienverbrennung setze.

Rad fahren zum Beispiel. Natürlich gibt es die Hardcore-Radler, die auch bei Temperaturen um und unter null Grad Celsius ihren Drahtesel nutzen. Ich habe vollen Respekt vor diesen Menschen, aber für mich ist das nichts. Abgesehen davon, dass ich mit den zwei Rädern natürlich leicht Umständen wie Glatteis ausgeliefert bin.

Mein Problem ist jedoch ein anderes: In meinem Fall scheitert es vor allem am passenden Gewand. Klar gibt es wärmende Funktionskleidung, aber mit meinen Kleidungsgrößen bin ich da immer an natürliche Grenzen gestoßen. Auswahl gleich null. Und ganz ehrlich: Es macht mir auch keinen Spaß, kalte Luft einzuatmen und Regen oder Schnee ausgesetzt zu sein. Im Frühling ist das anders. Es wird wärmer, ich kann auch am Abend bei Tageslicht noch länger meine Entspannungsrunden durch den Bezirk drehen. Da macht mir Rad fahren Freude. Das trifft auch auf Spaziergänge zu. Auch wenn die bunten Blätter und das herabfallende Laub am Wegesrand seine Reize haben, im Frühling gehe ich einfach leichter raus. Im Herbst und Winter muss ich mich eher zwingen.

So steigt im Frühling natürlich auch der Kalorienverbrauch. Schon immer ist der Frühling damit die Jahreszeit, in der ich am einfachsten abnehmen kann. Wo und wann aber sind die Wendepunkte zwischen diesen beiden Phasen? Warum nehme ich immer wieder zu, warum gehe ich dem Jo-Jo-Effekt immer wieder auf den Leim und kann nicht dauerhaft abnehmen?

Vorrangig sieht man den Unterschied natürlich an der Ernährungsart und den Unterschieden meiner Nahrungsaufnahme. Klar esse ich in der abnehmenden Phase viel weniger – und stopfe mich voll in der Phase des zunehmenden Gewichts. Warum neige ich aber immer wieder zu zweiterem? An Diäten hat es wohl nicht gelegen. Ich habe sehr viel ausprobiert, mein Bücherregal biegt sich vor lauter Ratgebern, Erfahrungsberichten und »gesunden« Kochbüchern. Fast alle Diäten, die ich im Laufe der Zeit einmal ausprobiert habe, haben zu kurzfristigen Erfolgen geführt: FDH (Friss die Hälfte), Dinner Cancelling (Abendessen ausfallen lassen), Low Carb, 10in2, vegetarische Kost und so weiter und so fort. Manche Ernährungsformen davon waren gar nicht mal so ungesund und haben mir längerfristig gutgetan. Aber eben nicht für immer. Irgendwann kam dann wieder der Moment, in dem mir das alles egal war und ich wieder völlig unnötiges Zeug in großen Mengen in mich reingefressen habe!

Völlig unnötig?

Also völlig unnötig – oder zumindest grundlos – kann es wohl nicht gewesen sein, sonst hätte ich es ja nicht getan. Zeit also für eine Bestandsaufnahme.

Ich habe vor Jahren die Ausbildung zum Ernährungsvorsorgecoach gemacht und diese mit einem Diplom und einer ausgezeichneten Abschlussarbeit beendet. In der Theorie bin ich also Weltmeister. Kenne mich mit Verdauung und Stoffwechselvorgängen aus, kenne die ideale Zusammensetzung der Ernährung, kann zwischen »guten« und »bösen« Lebensmitteln unterscheiden. In der Theorie weiß ich das alles. Aber in der Praxis? Da fühle ich mich manchmal wie ein kettenrauchender Arzt. Man spürt, da ist was falsch, aber man tut es trotzdem.

Da muss es also dahinter etwas geben, das den Verstand gekonnt ausspielt. Und da kommen wir wohl zu des Pudels Kern. Denn der Grund, warum ich so dick bin, mal mehr und mal weniger, hat wohl vorrangig mit der Psyche, der Seele etwas zu tun. Es muss emotionale Auslöser geben, wiederkehrende Momente, in denen ich mich mit dem Essen und Trinken nicht mehr zurückhalten kann.

Im letzten Jahr bin ich auf das Buch »Kochbuch für die Seele« von Romana Wiesinger gestoßen. Schon am Format erkannte ich, dass dieses Buch kein klassisches Kochbuch war. Kleiner als die großformatigen Prachtbände und komplett ohne Fotos. Aber schon der Untertitel hat Aufschluss gegeben: »Wie die Psyche unser Essverhalten beeinflusst«. Auch wenn ich mich zum Kreis der Leseratten zähle, bin ich eher ein langsamer Leser. Ich lese normalerweise oft, aber dann immer nur einige wenige Seiten. Mit diesem Buch war es anders, ich habe es wortwörtlich verschlungen und mich in vielen Kapiteln wiedererkannt. Das Buch war mir eine große Hilfe bei der Frage, warum ich esse, was ich esse. In ihrer therapeutischen Tätigkeit beschäftigt sich Romana Wiesinger übrigens insbesondere mit Klienten, die von Essstörungen geprägt sind. Also nicht nur mit dicken Menschen wie mir, sondern auch mit dem anderen Extrem: Bulimie oder Magersucht.