Miele im Nationalsozialismus - Andrea H. Schneider-Braunberger - E-Book

Miele im Nationalsozialismus E-Book

Andrea H. Schneider-Braunberger

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Beschreibung

Der erste wissenschaftliche Blick auf die Rolle von Miele im Nationalsozialismus

Im Jahr 1899 gegründet und seit vier Generationen in Familienbesitz, ist Miele vor allem als Hersteller von Hausgeräten weltweit bekannt. Doch war das Unternehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch im Zweirad- und sogar im Automobilbau tätig. Aufgrund der schwieriger gewordenen wirtschaftlichen Bedingungen zur Zeit des Nationalsozialismus entschloss man sich 1937, zwei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, mit der Fertigung eines Artilleriezünders auch in die Rüstungsproduktion einzusteigen. Es war der Startpunkt einer Entwicklung, die Miele in den nächsten Jahren wie ungezählte andere Unternehmen auch in die völlige Abhängigkeit von der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft führte – bis hin zum Einsatz von Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.

Angestoßen und unterstützt durch die Inhaberfamilien, zeichnet die vorliegende Studie erstmals die Rolle der Unternehmer und des Unternehmens in den Jahren des Nationalsozialismus nach. Dabei wird auch sichtbar, wie die Verantwortlichen im Kontext ihrer Zeit versuchten, das wirtschaftlich Notwendige mit dem menschlich Richtigen zu verbinden. Doch konnten sie Widersprüchlichkeiten nicht vermeiden, so etwa die pflichtgetreue Erfüllung der Rüstungsvorgaben einerseits und die ideologische Distanz zur Diktatur andererseits. Gerade die Ablehnung des Regimes war es jedoch auch, die den Inhabern persönlich wie auch Miele als Unternehmen nach Ende des Krieges eine hoffnungsvolle Zukunft ermöglichte.

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Im Jahr 1899 gegründet und seit vier Generationen in Familienbesitz, ist Miele vor allem als Hersteller von Hausgeräten weltweit bekannt. Doch war das Unternehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch im Zweirad- und sogar im Automobilbau tätig. Aufgrund der schwieriger gewordenen wirtschaftlichen Bedingungen zur Zeit des Nationalsozialismus entschloss man sich 1937, zwei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, mit der Fertigung eines Artilleriezünders auch in die Rüstungsproduktion einzusteigen. Es war der Startpunkt einer Entwicklung, die Miele in den nächsten Jahren wie ungezählte andere Unternehmen auch in die völlige Abhängigkeit von der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft führte – bis hin zum Einsatz von Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.

Angestoßen und unterstützt durch die Inhaberfamilien, zeichnet die vorliegende Studie erstmals die Rolle der Unternehmer und des Unternehmens in den Jahren des Nationalsozialismus nach. Dabei wird auch sichtbar, wie die Verantwortlichen im Kontext ihrer Zeit versuchten, das wirtschaftlich Notwendige mit dem menschlich Richtigen zu verbinden. Doch konnten sie Widersprüchlichkeiten nicht vermeiden, so etwa die pflichtgetreue Erfüllung der Rüstungsvorgaben einerseits und die ideologische Distanz zur Diktatur andererseits. Gerade die Ablehnung des Regimes war es jedoch auch, die den Inhabern persönlich wie auch Miele als Unternehmen nach Ende des Krieges eine hoffnungsvolle Zukunft ermöglichte.

Dr. Andrea H. Schneider-Braunberger promovierte 1996 an der Goethe-Universität Frankfurt und ist seitdem Geschäftsführerin der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e. V. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt bei Banken und familiengeführten Firmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu Familienunternehmen in der NS-Zeit veröffentlichte sie bereits Studien über den Autozulieferer Borgers (2016), das Bankhaus L. Seeliger (2019), den Künstlerfarbenhersteller H. Schmincke (2021) sowie das Bankhaus Metzler (2022).

Andrea H. Schneider-Braunberger

Miele im Nationalsozialismus

Ein Familienunternehmen in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft

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Copyright © 2023 Siedler Verlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

ISBN 978-3-641-32037-9V002

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Einleitung 7

Gegenstand und Gang der Untersuchung 11

I. Die Rüstungs- und Kriegswirtschaft im Nationalsozialismus 16

Anfänge der Aufrüstung ab 1933 17

Wende nach Kriegsbeginn 23

Folgen für die Unternehmen 28

Strukturen der Rüstungs- und Kriegswirtschaft in Gütersloh und Bielefeld 29

II. Miele – ein Familienunternehmen in Gütersloh und Bielefeld 33

Von der Gründung bis zum Vorabend des ­Nationalsozialismus 34

Miele & Cie. und die Mielewerke A.G. in der frühen Phase des Nationalsozialismus 42

Der erste ­Generationswechsel 48

Vertreter von Miele & Cie. in der Organisation der Kriegswirtschaft 78

III. Wachstum und Einbruch im ­Kerngeschäft von Miele 83

Ausweitung des Filialnetzes 84

Erwerb von Geschäftshäusern aus jüdischem Eigentum 86

Bedeutung des Exports für Unternehmen und Staat 105

Einbruch der Produktions- und Umsatzzahlen im Kerngeschäft 108

IV. Rüstungsproduktion bei Miele 114

Anfänge der Fertigung von Rüstungsgütern 115

Zivile und militärische Produkte in der ­Unternehmensbilanz 121

Rüstungsgüter und Auftraggeber 127

V. Arbeit und Zwangsarbeit bei Miele 144

Entwicklung der Beschäftigtenzahlen 145

Soziale Einrichtungen der Miele & Cie. und der Mielewerke A.G. 155

Die politische Orientierung der Belegschaft 158

Zwangsarbeit in den Werken Gütersloh und Bielefeld 165

Lage der Zwangsarbeiter, Zwangsarbeiterinnen und Kriegsgefangenen 181

Kein Einsatz von KZ-Häftlingen 192

Weiteres Schicksal der Zwangsarbeiterinnen, ­Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen bei Miele & Cie. 196

VI. Kriegsende, Kriegsfolgen und Friedenszeit aus Sicht von Miele 202

Letzte Luftangriffe auf Miele & Cie. 203

Kriegsschäden und Restitutionen 217

Umstellung auf Friedensproduktion 222

Entnazifizierung 232

VII. Schlussbetrachtung 246

Einstieg in die Rüstungsproduktion und ­Parteieintritte 1937/38 247

Die »Arisierung« der Immobilien in Görlitz und Breslau 249

Miele in der NS-Kriegswirtschaft 251

Zwangsarbeit bei Miele 253

Die Haltung von Carl Miele jun. und Kurt Christian Zinkann – neue Einsichten 1941/42? 254

Die Entnazifizierung 258

Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen für das Gütersloher Unternehmen 259

VIII. Anhang 262

Quellenverzeichnis 263

Literaturverzeichnis 268

Verzeichnis der Grafiken, Abbildungen und Tabellen 273

Bildnachweis 279

Anmerkungen 307

Einleitung

Die Miele & Cie. KG (Miele & Cie.) ist heute ein weltweit ­bekanntes Familienunternehmen mit langer Tradition. 1899 von Carl Miele sen. und Reinhard Zinkann in Herzebrock gegründet, hat die Konstellation als Zwei-Familien-Unternehmen bis heute Bestand, da das Unternehmen weiterhin zu 100 Prozent im Eigentum der Nachkommen der beiden Gründer steht. Bis heute sind auch Vertreter beider Fami­lien Miele und Zinkann sowohl in der operativen Geschäftsleitung als auch im Gesellschafterausschuss tätig, der hier Familienrat genannt wird.

Abb. 1 Carl Miele sen. (1869–1938)

Abb. 2 Reinhard Zinkann (1869–1939)

Gestartet zunächst als Hersteller von Milchzentrifugen, gilt Miele heute als weltweit führender Anbieter von Premiumgeräten für Haushalt und Gewerbe, mit Hauptsitz in Gütersloh seit 1907 und wichtigstem Zweigwerk in Bielefeld seit 1916. Das hauseigene Museum und eine Reihe von Jubiläumsbroschüren, Anekdoten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie kurze Biografien zum Beispiel zu Carl Miele jun. sind Ausdruck des Traditionsbewusstseins im Unternehmen und in den Eigentümerfamilien.[1]

Gleichwohl ist eine umfassende Aufarbeitung der Firmengeschich­te insgesamt, insbesondere aber auch für die Zeit des Nationalsozialismus, bisher nicht erfolgt. Allerdings war immer auch öffentlich bekannt, dass die Firma zwischen 1941 und 1945 im Rahmen der Kriegswirtschaft Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen[2] vor ­allem aus der damaligen Sowjetunion eingesetzt hatte. Daher beteiligte sich Miele & Cie. im Jahr 2000 auch an den Entschädigungszahlungen zugunsten der ehemaligen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen im Rahmen der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft.[3] Auch engagierte sich das Unternehmen, als ehemalige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in den Jahren 1997 und 1998 Bielefeld und Gütersloh besuchten. Diese Treffen bestätigten die Eigenwahrnehmung des Unternehmens bzw. der Eigentümerfamilien, dass Miele & Cie. nicht auffällig in der Rüstungsindustrie engagiert gewesen sei und die eingesetzten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen verhältnismäßig gut behandelt worden seien.[4] In den Familien erinnerte man sich auch, dass Miele & Cie. gezwungen gewesen sei, Rüstungsgüter zu produzieren, unter anderem (wenige) Lufttorpedos.[5]

Dass eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung vor allem dieses Abschnitts der Firmengeschichte bisher nicht vorliegt, erschien den Eigentümerfamilien und der Geschäftsleitung den eigenen Ansprüchen nicht angemessen und auch nicht zeitgemäß. Deshalb stießen beide die vorliegende Studie der Geschichte der Firma Miele & Cie. zur Zeit des Nationalsozialismus im Jahr 2020 an, die nach umfassenden Recherchen 2023 abgeschlossen wurde. Mein Dank gilt daher insbesondere den Familien Miele und Zinkann sowie der Geschäftsleitung von Miele & Cie., die mit der gebotenen Distanz, aber großem Interesse das Entstehen der Studie begleiteten und unterstützten. Hierfür wurden mir auffindbare Altaktenbestände auf den Werksgeländen von Miele & Cie. in Gütersloh und Bielefeld zur Verfügung gestellt[6] und die Suche nach Aktenmaterial in externen Archiven unterstützt. Dank gilt auch den Archivarinnen und Archivaren im Stadt- und Kreisarchiv Gütersloh sowie im Stadtarchiv Bielefeld, im Bundesarchiv Berlin, im Bundesarchiv Freiburg-Militärarchiv, dem Kommunalarchiv in Wrocław sowie dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Ostwestfalen-Lippe, Detmold, die alle auch in schwierigen pandemischen Zeiten halfen, das Aktenmaterial zusammen­zustellen. Danken möchte ich des Weiteren den beiden Mitarbeitern der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, Michael Bermejo-Wenzel und Tobias Stingel-Böcking, die mich in verschiedenen Formen bei der Aktenrecherche unterstützten, sowie Tanja Roos und Fabian Bergmann für das Lektorat.

Die Quellenbestände, die hierbei zusammengetragen werden konnten, waren sehr unterschiedlicher Art. Ausführliche Aktenkonvolute zu den Immobilien sowie Steuerunterlagen des Unternehmens und der Familien erlauben eine teils detaillierte Rekonstruktion der Entwicklungen. Zu Fragen der Mitarbeiterentwicklung sowie zur Zwangsarbeit finden sich nur wenige Bestände im eigenen Archiv von Miele & Cie. Hier wurde vor allem auf die Akten in öffentlichen Archiven zurückgegriffen. Zur Einbindung des Unternehmens in die Rüstungs- und Kriegswirtschaft finden sich zahlreiche Quellen in öffentlichen Archiven, während zu den Produktionsarten und -umfängen Informationen der Steuerabteilung Auskunft geben. Vereinzelte Schriftwechsel der persönlich haftenden Gesellschafter sowie in leitenden Funktionen tätigen Gesellschafter sowie Aktennotizen, die sich in den verschiedenen Quellenbeständen finden, lassen Rückschlüsse auf deren persönliche Haltung zu. So ist das Quellenmaterial zwar nicht durchgängig gleichgewichtig, detailliert oder gar umfassend, es bleibt jedoch in Summe ausführlich genug, um die Kernfragen dieser Studie nach der Rolle des Unternehmens und der im Unternehmen tätigen Gesellschafter in der Zeit des Nationalsozialismus weitgehend zu beantworten.

Generell ist die Zahl der Studien zur Geschichte von Unternehmen und ihrer Rolle im Nationalsozialismus in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Nach den Frühwerken in den 1980er Jahren[7] setzte mit der Studie zur Deutsche Bank AG[8] eine erste Welle von Aufarbeitungen in den 1990er Jahren ein, deren Schwerpunkt aufgrund des durchaus als wirtschaftspolitisch zu wertenden Hintergrunds auf Studien zu Banken und Versicherungen lag.[9] Neben einer ­regionalen ­Ausdehnung[10] folgte eine nicht geringe Anzahl von Studien zu meist großen ­Unternehmen bzw. Konzernen auch anderer Branchen.[11] Dies war der Moment, als sich auch die ersten Familienunternehmen ihrer Geschichte im Nationalsozialismus zu stellen begannen.[12] Aus diesen vielfältigen Studien wird ersichtlich, dass ein gründliches Aktenstudium zur Einschätzung der jeweils konkreten Handlungsmuster und Rahmenbedingungen im Einzelfall unerlässlich ist. Denn es zeigt sich, dass die Handlungsspielräume der Unternehmen und ihrer Eigentümer oft durchaus sehr viel weiter waren als anfangs gedacht; auch die Handlungen selbst sind deutlich variantenreicher, bedingt durch die Komplexität der jeweiligen Situation, Rahmenbedingungen und Sachlagen. Zudem änderten sich die Variablen in Zeiten der Diktatur dramatisch und mit ihnen manchmal die Haltungen der Akteure. Auch sind im Lauf der Zeit sich widersprechendes Verhalten oder die Gleichzeitigkeit von Widersprüchlichem zu beobachten. Somit lassen sich weder für die Kategorie Familienunternehmen noch für bestimmte ­Branchen Antworten auf die Fragen, die sich im Zusammenhang mit deren Rolle im Nationalsozialismus stellen, vorher­sagen.

Die Forschungslage erlaubt jedoch, Tendenzen der Antworten zu erwarten. So sind häufiger Staatsunternehmen NS-nah, frühzeitig gleichgeschaltet und willfährige Vollstrecker des Systems. Großunternehmen sind eher an der Expansion in die besetzten Gebiete beteiligt und beschäftigen – je nach Branche – eine große Anzahl von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern; auch finden sich dort eher Häftlinge aus den Konzentrationslagern unter den Arbeitskräften.

Gegenstand und Gang der Untersuchung

Bei Miele & Cie. und der Mielewerke A.G. handelt es sich um einen damaligen Hersteller von landwirtschaftlichen Maschinen, Fahr­rädern und Hausgeräten, der in der Zeit der Weimarer Republik einen Aufschwung erlebte, den die Folgen der Weltwirtschaftskrise nur marginal betrafen, der dann in der Zeit des Nationalsozialismus aber mit der zunehmenden Kontingentierung von Rohstoffen konfrontiert war. Engpässe in der Fahrradproduktion und bei den Hausgeräten waren die Folge. Dank des Exports war Miele & Cie. ein dem NS-Regime willkommenes Unternehmen, das durch den Absatz im Ausland dringend benötigte Devisen für Deutschland erwirtschaftete.

Zunächst lässt sich bei Miele & Cie. bzw. der Mielewerke A. G. eine Expansionsphase beobachten, sodass sich die Frage nach etwaigen »Arisierungen« jüdischer Unternehmen, also deren Überführung in das Eigentum »arischer« Hände, stellt. Solche »Kaufoptionen« und deren Umsetzungen finden sich über alle Branchen und in allen Unternehmensformen. Die jüdischen Eigentümer, die Verkäufer, standen unter Zwang. Die Motivationen der Käufer waren denkbar unterschiedlich und reichten von der nachweislichen Absicht, den Verkäufern mit einem fairen Angebot die erzwungene Emigration zu ermöglichen, bis hin zu brutalem Vorgehen unter Hinzuziehung von Gestapo und anderen Reichsstellen, um den Druck auf die Eigentümer zum Verkauf unter Preis zu erhöhen. Zu »Arisierungen« gezwungen wurde kein kaufendes Unternehmen.

Nicht wenige Unternehmen profitierten später während des Zweiten Weltkriegs von der Besatzungszeit und von Expansionen in die durch die vorrückende Wehrmacht besetzten Länder. Großbanken rollten ihre Geschäfte aus, und auch Großunternehmen gingen auf Einkaufszüge in den eroberten Gebieten. Die Konkurrenz konnte günstig erworben werden, Rohstoffe wurden geplündert, Logistiker transportierten die Güter »heim ins Reich«. So manches Unternehmen dachte ähnlich gigantomanisch wie die NS-Führung.

All diese Zuschreibungen finden wir bei Miele & Cie. oder der Mielewerke A. G. allerdings nicht. Weder übernahm Miele & Cie. Konkurrenten, sei es aus jüdischem Besitz oder in den besetzten Ländern, noch weitete das Unternehmen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs sein Vertriebsnetz oder die eigenen Produktionsanlagen in die besetzten Länder aus. Im Falle von Miele & Cie. ist keine »Arisierung« jüdischer Unternehmen festzustellen. Hingegen wurden im Bereich der Geschäftshäuser (Niederlassungen) zwei »Arisierungsfälle« aktenkundig, die ausführlich behandelt werden.

So ist zu fragen, wie Miele & Cie. überhaupt wirtschaftlich durch die Zeit des Nationalsozialismus kam und ob das Unternehmen wirtschaftlich profitierte. Fakt ist, dass alle Unternehmen, die den Zweiten Weltkrieg überstanden, an der Kriegswirtschaft beteiligt gewesen sein mussten, wenn sie nicht der Grundversorgung dienten oder andere Privilegien genossen.[13]

Miele & Cie. befindet sich mit der hier gezeigten Geschichte inmit­ten eines zwischen zwei Experten der NS-Geschichte ­geführten ­Disputs. Peter Hayes sieht die Entwicklung hin zu einer staatlich gelenkten Wirtschaft und der eingeführten Rohstoffkontrolle in Kombination mit exemplarisch ausgeübtem Druck als maßgeblich für die Zwanghaftigkeit der sich daraus ergebenden Verhaltensmuster der Unternehmer und Unternehmen, die jedoch ihrerseits eine Art der »Komplizenschaft« mit dem NS-System eingingen. Christoph Buchheim hingegen interpretiert das Verhalten der Unternehmer als Anpassung an das NS-System unter Beibehaltung der Gewinnorientierung als oberste Maßgabe im Rahmen der bestehenden Konkurrenzsituation. Die vornehmliche Orientierung am Überleben des eigenen Hauses habe dabei die Unternehmen zu »Mittätern« werden lassen.[14] Im hier untersuchten Fall finden sich Merkmale beider Interpretationen, die sich aus dem Wandel im Laufe der Zeit erklären und abschließend bewertet werden sollen.

In diesem Spannungsfeld bewegten sich das Unternehmen und seine Leitung. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass diese Entwicklung mit ersten Wehrmachtsaufträgen schon vor 1939 begann und schrittweise in einen Rüstungsanteil an der Gesamtproduktion von 95 Prozent im Jahr 1944 mündete. Wie diese Entwicklung voranschritt, welches Verhältnis sich zwischen dem Rüstungsgüter fertigenden Unternehmen Miele & Cie. und den Wehrmachtsstellen abzeichnete und welche Rolle das Unternehmen in der Organisation der Rüstungs- und Kriegswirtschaft spielte, ist einer der Schwerpunkte dieser Studie.

Daran anschließend wird zudem der Einsatz von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen bei Miele & Cie. untersucht. Dass mit fortschreitendem Arbeitskräftemangel eine Notwendigkeit bestand, sich um Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zu bemühen, um Produktionsvorgaben zu erfüllen, ist ein Aspekt dieser Geschichte. Währenddessen ist die teils bis heute verbreitete Vorstellung, der NS-Staat habe die Unternehmen gezwungen, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen einzusetzen, so pauschal nicht korrekt. Unternehmen beantragten Zwangsarbeiter, die ihnen dann von Amts wegen zugewiesen wurden. Vorwegzuschicken ist, dass jüdische KZ-Häftlinge, wie KZ-Häftlinge überhaupt, bei Miele & Cie. nicht eingesetzt wurden.

Mit Blick auf die Frage nach dem Umgang mit jüdischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen lässt sich gleichfalls keine generalisierende Aussage für die Unternehmenswelt treffen. Die Spannbreite erstreckte sich von vorauseilendem Gehorsam bis hin zu sehr lange aufrechterhaltenen Hilfen gegenüber jüdischen Beschäftigten. Zu einzelnen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Hause von Miele & Cie. gibt es kaum Unterlagen. Aus den gefundenen Quellen lässt sich lediglich die Entlassung eines jüdischen Mitarbeiters in den Niederlanden rekon­struieren. Daneben findet sich die Aussage eines Mitarbeiters, er habe einen »Halb-Juden« im Unternehmen weiter beschäftigt. Unter den leitenden Angestellten gab es keine Juden, sodass auf dieser aktenkundig nachvollziehbaren Ebene eine Verdrängung aus dem Arbeitsalltag bei Miele & Cie. nicht vorkommen konnte. Da in Gütersloh die jüdische Gemeinde sehr klein war, gab es unter den sonstigen Arbeitskräften und Angestellten, wenn überhaupt, nur eine sehr geringe Anzahl Beschäftigter jüdischen Glaubens. Dokumentiert ist jedoch kein Fall.

In der historischen Bewertung und Ausleuchtung von Handlungsspielräumen geht es nicht nur um die Rolle des Unternehmens in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern ebenso um die seiner Akteure und deren politischer Motivation. Auch hier ist die Bandbreite der Möglichkeiten, die uns in historischen Beispielen begegnen, sehr groß und reicht vom überzeugten Ideologen bis hin zum Widerstandskämpfer. Tendenziell lassen sich Unternehmer überwiegend in der Mitte dieser Bandbreite ansiedeln. Wir finden selten Widerstandskämpfer[15] – außer diejenigen, die sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs reihenweise dazu erklärt haben – und auch selten überzeugte Ideologen.

Häufig befanden sich Unternehmer in einer gewissen Interessenkongruenz mit den Zielen der Nationalsozialisten; dabei verkannten oder ignorierten sie nicht selten die weitreichende Dimension der politischen Ideen der NSDAP. Viele folgten dem vermeintlichen oder realen wirtschaftlichen Druck und wurden Mitglied verschiedener Parteiorganisationen. Andere gingen den Schritt zur Parteimitgliedschaft freiwillig, um Geschäfte machen zu können. Es war also weniger ideologische Nähe zur NSDAP, sondern häufiger wirtschaftliches Kalkül. Dass dieser politische Opportunismus das System festigte, steht auf einem anderen Blatt und wurde zumindest in Kauf genommen.

Bevor sich die Studie den beiden zentralen Fragen nach der Rolle von Miele & Cie. in der NS-Kriegswirtschaft sowie dem Umgang des Unternehmens mit den eingesetzten Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen widmet, wird zunächst eine ­Übersicht über die Entwicklung der Rüstungs- und Kriegswirtschaft im Allgemeinen zur Kontextualisierung der dann anschließenden Darstellung erfolgen. Die Tatsache, dass sich Miele & Cie. von einem im weitesten Sinne Maschinenbauunternehmen zu einem fast 100-prozentigen Rüstungsunternehmen wandelte, verlangt nach einer vertiefenden Erklärung der Rahmenbedingungen.

Danach wird in einem kurzen Überblick die Entwicklung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens bis zum Ende der Weimarer Republik geschildert, um die ökonomische Ausgangslage bei Miele & Cie. einordnen zu können. Da zu diesem Zeitpunkt der für ein Familienunternehmen essenzielle Moment des Generationswechsels von der Gründergeneration der beiden Familien auf ihre Nachfolger nahte, wird auch dieser zum Verständnis der Verfassung von Miele & Cie. in den 1930er Jahren eingehender erläutert.

Das dann folgende Kapitel geht der Frage nach, warum sich Miele & Cie. 1937 entschloss, verstärkt in die Rüstungsproduktion einzusteigen. Dazu werden die Entwicklung des Unternehmens in den ersten Jahren des Nationalsozialismus aufgezeigt sowie die Rahmen­bedingungen seines Wirtschaftens erläutert. In diesem Zusammenhang fragt die Studie auch nach den Beweggründen hinter der »Arisierung« zweier Geschäftshäuser in Breslau und Görlitz.

Im Anschluss werden das Verhältnis von Unternehmen zu Wehrmacht und NS-Stellen im Rahmen der Rüstungsproduktion sowie die Umfänge und Abläufe der Produktion selbst im Detail erläutert, um daraus die Bedeutung von Miele & Cie. für die deutsche Kriegswirtschaft ableiten zu können. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit den Beschäftigten von Miele & Cie. sowie den ab 1941 zum Einsatz gekommenen Zwangsarbeiterin­nen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen – und der Frage, wie Miele & Cie. mit diesen umgegangen ist.

Gegenstand des abschließenden Kapitels sind für die Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Umstellung auf eine Friedenswirtschaft bei Miele & Cie., die Abwicklung der Kriegsschäden und offenen Rechnungen gegenüber der Wehrmacht sowie die Entnazifizierung der maßgeblichen Akteure. Hier lässt sich zugleich auch Bilanz ziehen, inwiefern Miele & Cie. von der Zeit des Nationalsozialismus profitierte.

I. Die Rüstungs- und Kriegswirtschaft im Nationalsozialismus

Anfänge der Aufrüstung ab 1933

Nachdem Adolf Hitler 1933 von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war, setzten die Nationalsozialisten direkt umfassende Gleichschaltungsmaßnahmen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft um. Zu diesem Zeitpunkt waren die Folgen des Ersten Weltkriegs für Rüstungsunternehmen noch immer greifbar, wobei diese aber naturgemäß nur einen verschwindend kleinen Teil der deutschen Unternehmen ausmachten. Der Versailler Vertrag hatte die Demontage der Fertigungslinien verlangt und den Fortgang der Rüstungsproduktion untersagt; diese Verbote galten auch nach Ende der Weimarer Republik noch. So wurden Rüstungsprogramme von den Nationalsozialisten im Geheimen umgesetzt, um nicht offen den Bruch mit dem Versailler Vertrag zu vollziehen. Dabei wurde schon im Sommer 1933 seitens der Nationalsozialisten das erste Aufrüstungsprogramm mit 35 Mrd. Reichsmark aufgelegt. Anfangs arbeiteten die Militärbehörden jedoch insbesondere mit unternehmerischen Neugründungen, um die Aufmerksamkeit der internationalen Welt nicht auf ihr Vorhaben, Deutschland wieder aufzurüsten, zu lenken.[16] Daher blieben die eigentlichen Rüstungsunternehmen zu ­diesem Zeitpunkt noch überwiegend von diesen im Verborgenen ausgeführten Programmen ausgeschlossen.

Der Aufbau der Wehrmacht sowie die damit verbundenen offiziellen Rüstungsaufträge an die Rüstungsunternehmen waren allerdings schon seit Mitte der 1920er im ersten und zweiten Rüstungsprogramm der Weimarer Republik umgesetzt worden. Hitler führte Letzteres jedoch in eine neue Qualität und Quantität; mit dem Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund am 14. Oktober 1933 und dem offenen Bruch mit den Beschränkungen des Versailler Vertrages durch die Einführung des Wehrgesetzes und der Wehrpflicht im Jahr 1935.

In Bezug auf die Rüstungsindustrie wurden im nächsten Schritt brachliegende Fertigungsoptionen von vormaligen Rüstungsunternehmen, wie zum Beispiel den Mauser-Werken in Oberndorf, reaktiviert. Gerade wenn es schon Kooperationen im Ersten Weltkrieg gegeben hatte und damit verbunden gute Erfahrungen gemacht worden waren, vergaben das Heer und die Luftwaffe nun wieder Aufträge an die betreffenden Unternehmen.[17] In diesem Zusammenhang unterstützte der Staat durch finanzielle Anreize die Firmen dabei, neue Kapazitäten zu schaffen. Diese hatten in der Regel aber zunächst noch die volle Freiheit, ob sie solche Bestellungen und die damit verbun­denen staatlichen Förderungen annahmen. Einen Zwang, diese Aufträge anzunehmen, gab es – so der Stand der Forschung – bis 1943 nicht.[18]

Dabei meint Zwang direkt drohende Maßnahmen des NS-Staates gegen ein Unternehmen. Der daneben und vor allem schon weit früher ausgeübte Druck auf Unternehmen, sich den Erwartungen gemäß zu verhalten, war sehr unterschiedlich ausgeprägt und hing oft mit den örtlichen NS-Größen, der Bedeutung des Unternehmens für die Ziele des »Dritten Reiches« oder sogar persönlichen Konstellationen zusammen. Inwieweit sich Unternehmen zur Auslastung ihrer Produktion und Sicherung der Arbeitsplätze, also aus wirtschaftlichen Gründen, gezwungen fühlten, (auch) auf Rüstung zu setzen, steht auf einem anderen Blatt. 1943 nahm durch die Reorganisation der Kriegswirtschaft der Zwang für die kriegsrelevant produzierenden Unternehmen dann aber deutlich zu.

Die Diskussion um die Handlungsspielräume der Unternehmen ist eine intensiv und lang geführte. Häufig war es eine Gratwanderung zwischen Notwendigkeit und Zwang. Oft jedoch kamen die Offerten der Nationalsozialisten den Unternehmern auch durchaus gelegen. Neben prestigeträchtigen Posten in der NS-Wirtschaftsorganisation lockten geschäftliche Vorteile bei politischem Wohlverhalten.[19] Allerdings lässt sich festhalten, dass Zwang und Druck im Laufe der Zeit immer stärker zunahmen. So fand sich direkter Zwang gegenüber der Großindustrie, wenn der NS-Staat etwa Investitionen in zweifelhafte und unerprobte Techniken forderte. Zur Kooperation gezwungen wurden Unternehmen häufig eher indirekt. So indem die NS-Führung Staatsunternehmen wie zum Beispiel die Hermann-Göring-Werke ­gründete oder existierende Staatsunternehmen wie die VIAG (Vereinigte Industrieunternehmungen AG) mit NS-Ideologen durchdrang. Damit sicherte sich der NS-Staat direkten Einfluss auf diese Großkonzerne und vergab bevorzugt Aufträge an sie. Dies führte dazu, dass die Privat­unternehmen immer weniger Handlungsspielraum hatten, ihre Rolle marginalisiert wurde und sie schlussendlich zum Spielball der Kriegswirtschaft werden konnten.

Erste staatliche Eingriffe in das Wirtschaftssystem erfolgten hingegen schon bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Die Lenkungsmechanismen des nationalsozialistischen Staates gegenüber der Wirtschaft griffen ab 1934 mit Überwachungs- und Prüfstellen und einer strikter durchgreifenden Devisen- und Rohstoffzuteilung.[20] Damit waren Unternehmen nicht mehr grundsätzlich frei in ihren Produktionsentscheidungen, mussten sie doch nun zunehmend ihre Bedarfe begründen. Andererseits brachte die NS-Wirtschaftspolitik neue Aufträge, Deutschland erlebte einen rasanten Aufschwung; die Arbeitslosigkeit verschwand. Dass die NS-Politik nebenbei auch Gewerkschaften und deren Einfluss ausschaltete, kam vielen Unternehmen ebenfalls nicht ungelegen. Ein allgemein gegenüber der Gesellschaft zu beobachtendes System von »Zuckerbrot und Peitsche« hielt auch im Bereich der Wirtschaft Einzug.

Durch entsprechende Verfügungen dazu ermächtigt, etablierte das Reichswirtschaftsministerium zeitgleich die »Organisation der deutschen Wirtschaft«, indem es Wirtschaftsverbände auflöste und neu formierte.[21] Die so entstandene Reichsgruppe Industrie wurde als Zwangsorganisation nach dem Führerprinzip aufgestellt. Alle Unternehmen wurden in entsprechenden Wirtschaftsgruppen innerhalb der Reichsgruppe Industrie zwangsorganisiert. Damit waren Zugriff und Lenkung der deutschen Wirtschaft möglich.

Die schnelle Aufrüstung führte das »Dritte Reich« jedoch an finan­zielle Grenzen sowie Kapazitätsengpässe. Um diese zu steuern, beauftragte Adolf Hitler Hermann Göring mit einem stufenweisen Ausbau der Rüstungsindustrie. Hierzu etablierte und leitete Göring 1936 die »Vierjahresplan«-Behörde. Als zentrale Stelle organisierte diese die Zuteilung von Arbeitskräften und Rohstoffen, was zulasten der Entschei­dungsbefugnisse des Reichswirtschaftsministeriums ging. Dabei wurde die Großindustrie klar bevorzugt. Die »Vierjahresplan«-­Behörde griff immer weiter aus und erreichte 1938 einen fast staatsmonopolistischen Charakter.[22]

Hatten also Unternehmer und Unternehmen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler erste Rüstungsaufträge noch freiwillig angenommen, um ihre Arbeiter beschäftigen zu können und die Umsätze zu erhöhen, überließ der NS-Staat die Planungen für eine systematische Aufrüstung bald nicht mehr dem Zufall. Die Nationalsozialisten bereiteten sich ab 1937 auf die Mobilmachung vor, indem ein »Kriegsproduktionsprogramm« entwickelt wurde. Im September 1938 begann die Reichsgruppe Industrie die deutsche Wirtschaft auf einen bevorstehenden Kriegsfall vorzubereiten. Hierfür stellte sie die Einsatzfähigkeit der benötigten Betriebe für den Kriegsfall sicher, traf besondere Vorbereitungen für die Produktionen und prüfte Entschädigungsfragen bei Stilllegungen.[23] Es ging also um nicht weniger, als die gesamte deutsche Industrie für den Kriegsfall zu optimieren. In diesen Vorbereitungen wurden den einzelnen Unternehmen Aufgaben im Rahmen einer Mobilmachung zugewiesen. Die Vorschläge, welche Unternehmen was produzieren sollten, kamen dabei aus den Wirtschafts- und Fachgruppen der Reichsgruppe Industrie selbst. Hier zahlte sich also aus, wenn Unternehmensvertreter Aufgaben im Rahmen der NS-Wirtschaftsorganisation übernommen hatten und in diesen Gremien präsent waren. Die in der Unternehmensleitung vertretenen Gesellschafter von Miele & Cie. hatten keine derartigen Ämter übernommen.

Die Wirtschafts- und Fachgruppen erstellten für den Fall der Mobilmachung Karteien über die ihnen jeweils angeschlossenen Unternehmen, um so in wenigen Monaten die gesamte Industrie einbeziehen zu können. Ermittelt wurden auf diesem Wege die sogenannten kriegs- und lebenswichtigen Betriebe, die Lieferfirmen für den öffent­lichen Bedarf, die sogenannten Wehrmachts-Kriegslieferanten sowie Firmen mit einer eventuellen Exportrelevanz im Mobilisierungsfall (Mob-Fall).[24] Diese Gruppe bildete die KL-Betriebe (kriegs- und lebenswichtige Betriebe, Kriegslieferanten), mit deren Hilfe das Kriegsauftragsvolumen ermittelt und daraus der Rohstoff- und Fertigungsbedarf abgeleitet wurde.

Die Vorgaben kamen dabei von den militärischen Beschaffungs­stellen. Bis 1940 war die Reichsgruppe Industrie hieran nur »ausführend beteiligt«.[25] Diese Auswahl bzw. Einteilung war für die Unternehmen essenziell, denn nur als KL-Betrieb konnten die Firmen weiterhin Rohstoffe bestellen, die ihnen nun nur noch über Bezugsscheine zugeteilt wurden. Wann immer die verteilenden Behörden zögerlich waren, finden sich in den Anträgen die entsprechenden Hinweise der Unternehmen, dass sie als KL-Betrieb kriegsrelevant produzierten und daher die beantragten Rohstoffe benötigten. Ohne diese Aussage war die Zuteilung von Rohstoffen nicht mehr möglich. So hatten die Unternehmen also auch ein eigenes Interesse, als KL-Betrieb eingestuft zu werden bzw. sich als solcher registrieren zu lassen.

Kriegsrelevanter Betrieb zu sein, führte auch dazu, dass Miele & Cie. in vielfältiger Weise bevorzugt behandelt wurde und sich gegen »bürokratische Massnahmen von Behörden« wehren konnte.[26] Auch gegen die Wirtschaftsgruppe Eisen, Stahl- und Blechwarenindustrie setzte sich Miele & Cie. mit diesen Argumenten zur Wehr:

»Es ist uns unbegreiflich, warum Sie als einzige der sechs Wirtschaftsgruppen, denen wir angehören, noch die Ausfüllung eines Fragebogens verlangen […] Wir sind in der heutigen Zeit mit kriegswichtigen Arbeiten aller Art übermässig beschäftigt, sodass es uns daher schwer fällt, für rein bürokratische Massnahmen in der heutigen Zeit Verständnis aufzubringen.«[27]

In diesem Mobilmachungs-Plan (Mob-Plan) der Kriegswirtschaft hatte auch Miele & Cie. ab 1939 einen festen Platz und wurde W-Be­trieb (Wehrmachtsbetrieb) bzw. KL-Betrieb. Wehrmachtsbetriebe fertigten direkt für die Wehrmacht, Kriegslieferanten waren Zulieferfirmen für die Wehrmachtsbetriebe. Miele & Cie. war sowohl Endproduzent einiger Rüstungsgüter als auch Lieferant von Teilen, sodass das Unternehmen in beide Kategorien fiel.[28]

Dabei war die Eingruppierung als W- und KL-Betrieb nicht nur positiv im Sinne der Rohstoffzuteilungen für die Unternehmen. Denn gleichzeitig waren diese der Volatilität der Auftragsvergabe unterworfen. So »wurde ihnen eine besondere Verantwortung auferlegt, da sie sich ständig fähig halten müssen, die vorgesehenen Wehrmachtsaufträge prompt und zuverlässig auszuführen«.[29] Dies bedeutete, dass Unternehmen Kapazitäten vorhalten mussten, um bei Bedarf schnell produzieren zu können.

Wehrmachtsbetriebe hatten wiederum im Verhältnis zu den Zulieferfirmen eine leitende Aufgabe in den Produktionsprozessen, ­insofern sie die Ansprechpartner für die Wehrmachtsstellen waren und die Produktion samt nachgelagerter Prozesse organisierten.[30] Auch Miele & Cie. war damit nicht nur ein Betrieb, der bestimmte Rüstungs­güter fertigte, sondern übernahm, wie später zu zeigen ist, auch Organisationsaufgaben im Rahmen der Kriegswirtschaft.

Faktisch bedeutete dies, dass also bereits vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Zuteilung von Wehrmachtsaufträgen seitens der Reichsgruppe Industrie und ihren Wirtschaftsgruppen in Abstimmung mit der Wehrmacht geplant und vorgedacht war. Dieser »Selbstorganisation« der deutschen Wirtschaft konnte sich aufgrund ihres Zwangscharakters kein Unternehmen entziehen. Je näher ein Unternehmen an der Rüstungsproduktion war, desto besser die Aussichten auf Versorgung mit den Mangelwaren. Gewisse Handlungsspielräume ergaben sich dabei aber innerhalb der Unternehmen, so etwa bei der Frage, welche Rohstoffe für die zivile oder militärische Produktion eingesetzt wurden; wobei der tatsächliche Spielraum jedoch aufgrund der Kontrollsysteme eher gering war und im Einzelfall zu prüfen ist.

Die durch die strikte Kontingentierung und kontrollierte Zuweisung von Ressourcen (zunächst Rohstoffe, später auch Arbeitskräfte) geschaffene Abhängigkeit der Unternehmen im System der Kriegswirtschaft minimierte die Handlungsspielräume zunehmend, wobei diese mit der Bedeutung der Rüstungsproduktion eines Unternehmens noch zusätzlich kleiner wurden. Entschied sich ein Unternehmen gegen eine Produktion im Rahmen der Kriegswirtschaft, verringerte es zwangsläufig seine Umsätze bis hin zum Stillstand. Vor allem aber gab es dann keinen Bestandsschutz, d. h., wurden Ressourcen eines solchen Unternehmens für die Kriegswirtschaft benötigt, wurden sie umgewidmet. Arbeitskräfte, Maschinen oder Fabrikhallen wurden so nutzbar gemacht. Dass dies mit Fortschreiten des Krieges in zunehmendem Maße geschah, wird auch in vorliegendem Fall sichtbar, wenn auch zugunsten von Miele & Cie.

Im System der Rüstungs- und ab 1939 der Kriegswirtschaft gab die Wehrmacht die Bedarfe vor, während die Zwangsorganisation der deutschen Wirtschaft die Unternehmen so eingruppierte, organisierte und steuerte, dass diese Vorgaben erfüllt werden konnten. Ein ­direkter Zwang, die ermittelten Bedarfe durch ein einzelnes Unternehmen zu decken, bestand bis zum Kriegsfall und auch darüber ­hinaus noch nicht. Dennoch erschien es vielen Unternehmen notwendig, sich um Aufträge zu bemühen. Denn durch die Eingruppierung als kriegswichtiger Betrieb wurden wie ausgeführt Rohstoff- und Arbeitskräftezuteilungen begründet, bzw. fehlten im Umkehrschluss den Unternehmen, die nicht zu dieser Gruppe gehörten (solange sie keine Grundversorgung leisteten), die Argumente für eine Zuteilung.

Die Kontrollen für die Zuteilungen waren dabei zunächst noch zurückhaltend. Häufig genügte es den Ausgabestellen, wenn Unternehmen auf ihre Eingruppierung als W- oder KL-Betrieb verwiesen. So ließen sich eine Zeit lang Ressourcen anfordern, ohne direkten Nachweis, in welches Produkt sie flossen. Mit zunehmender Verknappung der Ressourcen änderte sich dies.

Wende nach Kriegsbeginn

Die Vorbereitungen für den Kriegsfall waren also bereits umfassend geplant. Der Kriegsbeginn und die damit steigenden Bedarfe führten jedoch rasch zu Anpassungsnotwendigkeiten. Und auch der Krieg selbst wurde mit den wachsenden Bedarfen begründet – als Folge des mit der beschleunigten Aufrüstung selbst geschaffenen Mangels an Arbeitskräften, Rohstoffen und Devisen. Dies und die gestiegene Inflation ließen Adolf Hitler 1939 vor Wehrmachtskreisen zur Kriegsmotivation ausführen, dass Deutschland nichts mehr zu verlieren habe, sondern nur gewinnen könne.[31] Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939, dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen, wurden die eigentlichen Ziele Hitlers endgültig offensichtlich: Ihm ging es nicht nur um die Autarkie der deutschen Wirtschaft, die nun zunehmend aus den in den besetzten Ländern erbeuteten Rohstoffen und Arbeitskräften gespeist wurde, sondern auch die Schaffung eines europäischen »Großwirtschaftsraums«.

Nach wenigen Kriegswochen mangelte es jedoch der Wehrmacht an Munition; verantwortlich hierfür machte Hitler die Heeresbürokratie. Infolgedessen ordnete er im November 1939 die Fokussierung der Rüstungsproduktion auf Munition und Flugzeuge an.[32] Anfangs wurden Rüstungsaufträge für Geschütze und Munition direkt vom Oberkommando der Wehrmacht an einzelne Unternehmen vergeben. Der Fachorganisation der Wirtschaft und der »eigens für diesen Zweck ins Leben gerufene[n] Ausgleichsstelle für öffentliche Aufträge« waren derartige Direktvermittlungen jedoch ein Dorn im ­Auge.[33] Sie hatten Bedenken gegenüber Qualität und Quantität bei der Ausführung. Gleichfalls beobachteten sie, dass durch diese Art der Vergabe der Korruption und dem »Kriegsgewinnlertum« Tür und Tor geöffnet worden sei.[34]

Abb. 3 Propaganda-Plakat der Nationalsozialisten zur Motivation der Bevölkerung, Zweiter Weltkrieg

Nicht nur bei der Auftragsvergabe, auch bei der Rohstoffzuteilung an die Industrie hatten zunächst zentrale Stellen der Heeresverwaltung die leitende Rolle übernommen. Da dieser Weg sich aber zunehmend als ineffizient erwies, wurde eine Umorganisation durchgeführt. Das Heereswaffenamt hatte Hitlers Vertrauen verloren, und so schuf er im März 1940 das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition. Die Leitung erhielt Fritz Todt, der nun wieder stärker direkt mit den Rüstungsunternehmen bzw. den Unternehmen der Rüstungsproduktion kooperierte.[35] Um die Effizienz des Systems zu steigern, etablierte Todt Munitionsausschüsse, die nun von ­Unternehmern geleitet wurden, also nicht länger von Beamten und ­Militärs.[36] Für Unternehmen, die Munition und Zubehör herstellten, wurde diese Zuständigkeitsänderung relevant, da fortan die Abwicklung der Rüstungsaufträge über die zuständigen Ausschüsse und Ringe organisiert wurde.[37] Damit waren neben dem militärischen Auftraggeber immer auch Unternehmer in der Leitung der Ausschüsse und Produktionsprozesse involviert. Gleichzeitig waren die Prozesse nicht länger nach Branchen gemäß den Wirtschafts- und Fachgruppen der Reichsgruppe Industrie organisiert, sondern nach Fertigungsgruppe aufgebaut – also nach Rüstungsgütern.

Acht Monate nach dem Sieg über Polen marschierten die deutschen Truppen am 10. Mai 1940 über die Ardennen in Frankreich ein und standen am 14. Juni bereits in Paris. Aber der Krieg war nicht zu Ende, leisteten doch die Briten weiter Widerstand und wollten keinen Friedensvertrag. Auch die »Luftschlacht« um England brachte für Hitler nicht den erhofften militärischen Erfolg. Bei Abwägungen verschiedener Optionen gewann seine Idee, die britische Hoffnung auf einen Seitenwechsel der noch mit Deutschland verbündeten Sow­jetunion zu zerschlagen, indem sie erobert werden sollte.[38] Währenddessen drohten nach der zweiten Wiederwahl von Franklin D. Roosevelt zum US-Präsidenten und aufgrund seiner intensiven Bemühungen um eine Anti-Hitler-Koalition mit Großbritannien und der Sowjetunion der Kriegseintritt der USA oder zumindest verstärkte Rüstungslieferungen von dort.

Ermutigt durch die beiden »Blitzkriege« gegen Polen und Frankreich einschließlich der Beneluxländer sowie Dänemark und Norwegen, plante Adolf Hitler – und mit ihm das Militär – in einer großen Fehleinschätzung des Durchhaltevermögens der Roten Armee einen Krieg gegen die Sowjetunion, der nur wenige Monate dauern sollte. Zunächst jedoch eroberte das »Dritte Reich« in einem weiteren Blitzkrieg im April 1941 Jugoslawien und Griechenland.[39]

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurden die »Großraum­wirtschaftspläne« der Nationalsozialisten durch die ideologische ­Dimension des nun als Vernichtungskrieg geführten Feldzuges verdrängt. Die Brutalität dieses Krieges, der am 22. Juni 1941 ohne Kriegserklärung begann, hatte sich bereits in den monatelangen Vorbereitungen zur Ausbeutung des Landes und Vernichtung seiner Bevölkerung abgezeichnet. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion und der Kriegs­erklä­rung Deutschlands gegenüber den USA am 11. Dezember 1941 trat der Krieg in eine neue Phase ein, die auch Rückwirkungen auf die ­Organisation der Kriegswirtschaft hatte. Ein weiteres Mal sollte die Rüstungsindustrie effizienter durchorganisiert und weitgehend auf Massenfertigung umgestellt werden.

Nur kurze Zeit später, am 8. Februar 1942, kam Rüstungsminister Fritz Todt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Sein Nachfolger Albert Speer sprach am 24. Februar auf einer Gauleitertagung öffentlich über die »Selbstverantwortungsorganisation der Wehrwirtschaft, der Ausschüsse und Ringe«.[40] 24 Haupt-, Sonder- und Arbeitsausschüsse[41] auf der vertikalen Organisationsebene und 17 Industrie­ringe[42] auf der horizontalen Ebene wurden zur Organisation der Kriegswirtschaft geschaffen. Die filigranere Aufteilung sah Hauptausschüsse, Sonderausschüsse, Arbeitsausschüsse und Hauptringe, Sonderringe und Arbeitsringe vor; wobei die Ausschüsse unmittelbaren Kriegsbedarf und die Ringe die Zu- und Unterlieferungen organisierten.[43] Die Aufgaben der Ausschüsse und Ringe lag in der »Konzentration gleichartiger Fertigungen in den dafür bestgeeignetsten Betrieben«, Gleiches galt für die »weitgehende Einsparung von Arbeitskräften und Material« sowie die »Serienfertigung«.[44]

Mit Erlass vom 7. Mai 1942 unterstellte Adolf Hitler dann auch das Rüstungsamt des Wirtschaftsministeriums dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition.[45] Am 2. September 1943 holte Albert Speer durch einen weiteren Führererlass die Verantwortlichkeit immer mehr von der Industrie zurück und machte sein Ministerium zum zentralen Lenkungsorgan für die Kriegswirtschaft. Von hier erhielten die etablierten Hauptausschüsse, Hauptringe und Sonderringe nun direkte Anweisungen. Die Reichsgruppe Industrie und ihre Wirtschaftsgruppen wurden nicht länger einbezogen.[46]

Abb. 4Adolf Hitler besucht den Gütersloher Militärflughafen (rechts daneben Jagdflieger Adolf Galland), Weihnachten 1940.

Damit verloren die Unternehmen weiter deutlich an Handlungsspielräumen, der Zugriff Speers wurde direkter, die Produktionsvorgaben mussten erfüllt werden. Als die Pläne scheiterten, binnen weniger Monate auch die Sowjetunion zu erobern, wurde die Notwendigkeit gesehen, die Ineffizienzen in der Produktion von vor allem Munition, aber auch Waffen, zu beseitigen. Die organisatorischen Eingriffe wurden immer stärker, um massentauglich produzieren zu können. Hatten Vertreter der Wirtschaft noch die Grundstruktur des freien Unternehmertums unangetastet belassen und allein die Produktionsprozesse optimiert, wurden nun angesichts der dramatischen militärischen Lage Restrukturierungen ohne jedwede Rücksichtnahme umgesetzt. Von nun an war die Option, Aufträge abzulehnen, für Unternehmer und Unternehmen endgültig nicht mehr gegeben. Die bis dahin mögliche Symbiose aus freiwilligem, gewinnbringendem Geschäft und Anforderungen des Militärs wich einer einseitigen Direktive des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition, die zu erfüllen war.

Mit dem Rückzug der Wehrmacht von Juli bis Oktober 1943 begann die dritte und letzte Phase des Zweiten Weltkriegs, die mit der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 endete. Durch Führererlass aus dem September 1943 gelang es Speer, die Rüstungsproduktion annähernd zu verdreifachen. Um dies zu ermöglichen, wurde die zivile Produktion der deutschen Wirtschaft noch weiter heruntergefahren und der notwendige Bedarf an Arbeitskräften in Form von nun einzusetzenden Jugendlichen und Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, insbesondere jetzt auch von KZ-Häftlingen, gedeckt. Im Herbst 1943 bildete die Herstellung von Granaten, Bomben und Patronen den eigentlichen Schwerpunkt der deutschen Rüstungsanstrengungen.[47]

Folgen für die Unternehmen

Die Masse der Unternehmen in Deutschland waren 1933 keine Rüstungsunternehmen im eigentlichen Sinne, hatten bis dahin also weder Waffen noch Munition noch Militärfahrzeuge gefertigt. Im Rahmen der NS-Aufrüstung und NS-Kriegswirtschaft wurden jedoch die Mehrzahl der deutschen Unternehmen zu Herstellern von Rüstungsgütern oder zu Lieferanten von entsprechenden Teilen und Produkten. Eines dieser Unternehmen war zum Beispiel die Hugo Schneider A.G. in Leipzig, ein vormaliges Maschinenbauunternehmen, das nun zum zweitgrößten Rüstungskonzern nach den Hermann-Göring-Werken aufstieg.

Andere Unternehmen mussten ihre Fertigung nicht grundlegend umstellen, sondern nur leicht anpassen, auf Heer, Marine oder Luftwaffe zuschneiden; so die Hersteller von Fahrzeugen, Motoren und Flugzeugen. Ähnliches gilt auch für die Rohstofflieferanten wie die Stahl- oder Aluminiumhersteller oder Zementwerke, die mit ihren Rohstoffen weiterhin reüssierten und sich plötzlich mit ihrer Strategie in Übereinstimmung mit den Reichsvorgaben fanden.

Die vermutlich größte Gruppe an Unternehmen, die von Groß- bis Kleinstunternehmen reichte, stand aber vor der Wahl, auf Rüstung umzusteigen oder leerzulaufen. Wurden sie nicht im Rahmen der Kriegswirtschaft benötigt, verloren sie Rohstoffe und Arbeitskräfte und wurden später häufig zu Auslagerungsbetrieben umfunktioniert. Letzteres bedeutete, dass sie ihre eigene Fertigung einstellen mussten und ihre Fabrikanlagen, Maschinen sowie Mitarbeiter von anderen Unternehmen, die Waffen und Munition fertigten, genutzt wurden. Eines der prominenten Beispiele hierfür ist die Schuhfabrik Gebrüder Dassler.[48] Die Zeit des Zweiten Weltkriegs konnten Unternehmen nur dann überstehen, wenn sie in irgendeiner Form der Kriegswirtschaft zulieferten oder als »lebenswichtig« eingestuft weiter Lebensmittel, Ressourcen oder Basiskonsumgüter herstellen konnten.

Zu dieser großen Zahl mittelständischer Unternehmen, die vor oder während des Zweiten Weltkriegs ganz oder teilweise auf die Produktion von Rüstungsgütern umstellten, gehörte auch Miele & Cie. In welch hohem Maße diese Unternehmen wann in das System der Kriegswirtschaft eingebunden waren, wird das Kapitel zur Rüstungsindustrie zeigen. Ein komplexes Netzwerk aus Unternehmen, die unterschiedlichste Zubehörteile fertigten, entstand für die jeweiligen Waffen- und Munitionsfertigungen. Vielen dieser Unternehmen war wie gesagt gemein, dass sie eigentlich keine Waffen- und Munitionsfirmen waren.[49]

Strukturen der Rüstungs- und Kriegswirtschaft in Gütersloh und Bielefeld

Im Rahmen der Aufrüstungspläne der Nationalsozialisten waren schon früh Organisationen zu deren Umsetzung etabliert worden. So wurden bereits im April 1935 Wehrwirtschaftsstellen eingerichtet, die insbesondere die Mobilmachungs-Pläne mit vorbereiteten. Diese, den Wehrwirtschaftsinspektionen untergeordneten Stellen wurden nach Beginn des Zweiten Weltkriegs am 22. November 1939 in Rüstungskommandos umbenannt. Mit der Errichtung des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition fanden verschiedene organisatorische Änderungen statt, die durch die Einführung von sogenannten Rüstungskommissionen die Effizienz steigern sollten.

Rüstungsminister Speer lenkte also seit dem 2. September 1943 die gesamte deutsche Produktion, während der Reichswirtschafts­minister für die allgemeine Wirtschaftspolitik zuständig war. Die »Erfordernisse des Krieges«, so die Begründung, »machen eine weitere Zusammenfassung und Vereinheitlichung der Lenkung und Organisation der Kriegswirtschaft notwendig […] zu einer Steigerung der Rüstungsproduktion«.[50] Um die »Arbeit der Ausschüsse und Ringe durch weitestgehende Vereinfachung des Geschäftsverfahrens« zu erleichtern, ordnete Hermann Göring mit Erlass vom 17. September 1942 »die sofortige Errichtung von Rüstungskommissionen« an, die sich aus den zuständigen Behörden, Dienststellen und Beauftragten in der regionalen Ausdehnung der Gaugrenzen zusammensetzen sollten.[51] Eine zentrale Aufgabe der Rüstungskommissionen war es, »für den Rüstungsinspekteur den Ausgleich des Kräftebedarfs der Rüstungswirtschaft gegenüber den Wehrersatzdienststellen zu vertreten«.[52]

Die Rüstungsinspektionen und die Rüstungskommandos, welche die »gesamte Rüstungsindustrie betreuten, also die Betriebe, welche Waffen, Munition und nichthandelsübliches Wehrmachtgerät« fertig­ten, bestanden unverändert fort.[53]

Das Rüstungskommando Bielefeld war nicht nur für die Stadt, sondern die Region zuständig und damit auch für beide Werke von Miele & Cie. in Gütersloh und Bielefeld. Das Rüstungskommando selbst unterstand der Rüstungsinspektion VI und betreute 139 Rüstungsbetriebe mit 57 902 Arbeitskräften.[54] Genehmigungen, Lieferungen und Überwachungen wurden hier organisiert. Manche Entscheidung wurde auch vom Oberkommando der Wehrmacht direkt getroffen.[55]

Organisierte das Rüstungskommando Bielefeld Zuteilungen von Rüstungsaufträgen, Arbeitskräften und Rohstoffen, waren für die Qualitätskontrolle der in den Unternehmen produzierten Rüstungsgüter weitere Stellen zuständig – je nachdem, ob der Auftraggeber die Luftwaffe, die Marine oder das Heer waren. Diese waren nicht in jedem Unternehmen angesiedelt; jedes musste jedoch gewisse Fertigungen bei den fest zugewiesenen Stellen prüfen lassen. Bei Miele & Cie. waren alle drei Bereiche mit Kontrollen vor Ort vertreten.

In Bielefeld wurden verschiedene Firmen, die schon im Ersten Weltkrieg Rüstungsgüter produziert hatten, ab 1934 im Rahmen der ersten Aufrüstungswelle in diesem Bereich wieder tätig.[56] So die Dürkopp AG, die dabei ein »Hauptrüstungsbetrieb« war und ein ganzes Arsenal von Kriegsgeräten herstellte.[57] Auch Miele & Cie. zählte ab 1936 zum Kreis der Hersteller von Rüstungsgütern in Bielefeld.[58] Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich die Stadt zu einem »der vorrangigen Standorte der Rüstungsproduktion«.[59] Die Unternehmen[60] im kleineren Gütersloh schwenkten nicht im gleichen Umfang wie die in Bielefeld in die Rüstungsfertigung ein. Dafür befand sich in Gütersloh eine Baustelle für einen Militärflughafen, der das militärische Geschehen vor Ort prägen sollte.[61] In Kombination mit einem guten Bahnanschluss bildete Gütersloh einen militärischen Verkehrsknotenpunkt in Ostwestfalen.[62]

Abb. 5 Eröffnung des Winterhilfswerks 1943 auf dem Militärflughafen Gütersloh (v. l. Hauptmann Clüsener, Oberstleutnant Ulmer, Major Wolff, Oberstleutnant Miltentdorf), im Hintergrund eine Ju 88. Fotograf: Karl Kriz

II. Miele – ein Familienunternehmen in Gütersloh und Bielefeld

Von der Gründung bis zum Vorabend des ­Nationalsozialismus

Am 2. Juni 1899 schlossen Carl Miele sen. (1869–1938) und Reinhard Zinkann (1869–1939) zur Gründung der Zentrifugenfabrik Miele & Cie. einen Vertrag und siedelten das Unternehmen in der Gemeinde Herze­brock nahe Gütersloh an. Aus der Fertigung von Milchzentrifugen entwickelten sich rasch weitere Produkte für die Landwirtschaft.[63] 1907 siedelte das junge Unternehmen nach Gütersloh um. Bereits 1906 war Gründer Reinhard Zinkann mit seiner Familie nach Darmstadt gezogen, um von dort aus den Vertrieb in Süddeutschland und später im Ausland aufzubauen. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs teilten sich Carl Miele sen. (460 000 Mark) und Reinhard Zinkann (440 000 Mark) das Eigenkapital der Gesellschaft; diese Mehrheit der Familie Miele hält bis heute an, hat jedoch keine Auswirkung auf die Entscheidungsfähigkeit, die bindend gleichgewichtig war und ist.[64]

Abb. 6Die Ehepaare Maria und Carl Miele sen. sowie Lina und Reinhard Zinkann beim 25-jährigen Firmenjubiläum, 1924

Die beiden Unternehmer waren erfindungsreich, so brachten sie bereits 1914 die erste Waschmaschine mit Elektromotor auf den Markt. Damit zählen sie zu den Pionieren der neuen Welt, die sich um die Elektrizität und ihre Nutzbarmachung im Alltag entspann und in den 1920er Jahren vor allem die bürgerliche Schicht der Städte erreichen sollte. Elektrogeräte verbreiteten sich später auch in den privaten Haushalten. Miele & Cie. war nicht nur innovativ, sondern auch international und schwamm auf der ersten Globalisierungswelle mit, die das Deutsche Kaiserreich zu Wohlstand geführt hatte.[65]

Abb. 7 Der Ausflug der Miele & Cie. in die Automobilität, ca. 1912

Das Unternehmen stellte 1912, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, auch Automobile und Fahrräder her. Ein Team um Ingenieur Oskar Klemm stützte sich auf eine Reihe von Meistern und Arbeitskräften, die mit Präzisionsmaschinen arbeiten konnten. Insgesamt 143 Autos wurden gefertigt; im Jahr 1915 endete jedoch der kurze Ausflug in die Welt der Automobilität.[66] Diese Entscheidung war der Erkenntnis der Gründer geschuldet, dass die Komplexität des Automobilbaus das Unternehmen zu überfordern drohte. Sie entschlossen sich, dieses Risiko nicht einzugehen. Begründet wurde der Ausstieg auch mit Bedenken, die hohen Investitionskosten aufbringen zu können, die benötigt würden, um das Auto massentauglich zu machen.[67] So besann sich das Unternehmen auf die Landmaschinen und Hausgeräte, die mit einer Varianz von immerhin über 50 Modellen zu diesem Zeitpunkt bereits sehr erfolgreich waren.

Abb. 8 Das Werk der Miele & Cie. in Bielefeld, 1920er Jahre

Inmitten des Ersten Weltkriegs, im Juni 1916, erwarb Miele & Cie. in Bielefeld verschiedene Grundstücke entlang der Schildescher Stra­ße in der Absicht, dort eine große Fahrrad- und Maschinenfabrik zu bauen.[68] Hintergrund der Expansion nach Bielefeld waren die dort bereits gut ausgebildeten Fachkräfte der Fahrradbranche. Die überlieferten Unterlagen geben wenig Zeugnis über das eigentliche Geschäft von Miele & Cie. während des Ersten Weltkriegs wieder, die Produktion von Fahrrädern stand jedoch anscheinend still. Ein »Teil der Betriebsräume« war »für Heereszwecke belegt«.[69] Wegen Material­not wurden anstelle von Fahrrädern nun Zinngeschirr sowie Produkte aus Holz, insbesondere Bollerwagen, hergestellt.[70] Der Wunsch zur Mobilität war geblieben; die Umsetzung war an die Gegebenheiten angepasst. Welche Einschnitte der Erste Weltkrieg auch immer für das Deutsche Kaiserreich brachte, für Miele & Cie. waren diese wirtschaftlich nicht entscheidend. Die Gewinne der Gesellschafter zeigen, dass 1916 nicht nur große Investitionen für den Aufbau des Bielefelder Zweigwerks getätigt wurden, sondern dass 1917 ein Gewinnsprung mit Blick auf die Ausschüttungen gelang (vgl. Grafik 1); 1918 wurde das Grundkapital der Gesellschaft verdoppelt.[71]

Grafik 1 Gewinn-Ausschüttung Miele & Cie., 1914–1918, in Mark.

Quelle: Protokolle, Stadtarchiv Gütersloh, ZAS Wirtschaft, Miele 1899–1962, Bd. 447.

Nach Ende des Ersten Weltkriegs trat im Jahr 1919 Fritz Fortmann[72] als technischer Leiter in das im Aufbau begriffene ­Bielefelder Zweigwerk ein, das er später bis über den Zweiten Weltkrieg ­hinaus als Betriebsleiter führen sollte. Fortmann selbst sei »dem Neuen aufgeschlossen« gewesen und habe früh die Bedeutung moderner Arbeitsmethoden erkannt.[73] Das Wachstum des Bielefelder Werkes auf 1 000 Mitarbeiter wurde seinem Organisationstalent und Fachwissen zugeschrieben.[74] 1923 nahm Bielefeld die Herstellung von Elektromotoren auf, seit 1927 wurden dort auch Staubsauger gefertigt.[75]

Der ungebrochene Erfolg des Unternehmens mündete kurz vor seinem 25-jährigen Bestehen darin, dass am 27. September 1923 die offene Handelsgesellschaft in eine Kommanditgesellschaft umgewan­delt wurde – nun Miele & Cie. KG – und in Vorbereitung dieses Schritts eine Aktiengesellschaft – die Mielewerke A.G. (als reine Fami­lien-Aktiengesellschaft) – gegründet wurde. Die Etablierung der Mielewerke A.G. inmitten der bereits galoppierenden Inflation am 4. September 1923 hatte zur Folge, dass die Aktiengesellschaft mit einem bemerkenswerten Kapital von 45 000 000 Mark in das Handelsregister eingetragen wurde. Die 45 000 Aktien der Mielewerke A.G. wurden unter den Mitgliedern der beiden Gründerfamilien aufgeteilt.[76] Carl Miele sen. und Reinhard Zinkann bildeten den Vorstand, ihre Stellvertreter waren Otto Bischoff und Caspar Heinrich Walkenhorst.[77] Nach Überwindung der Hyper­inflation und Stabilisierung der Währung im November 1923 wurde das Aktienkapital im Folgejahr auf 900 000 Reichsmark festgesetzt. Am 2. Januar 1924 wurde Carl Miele jun. zum stellvertretenden Vorstandsmitglied bestellt. Gleichzeitig erhielten Paul Strickroth und Oberingenieur Fritz Fortmann Pro­kura.[78]

Abb. 9 Das Werk der Miele & Cie. in Gütersloh, 1920er Jahre

1924 wurde ein Gesellschaftsvertrag der Miele & Cie. geschlossen, die über ein Gesamtkapital von 2,2 Mio. Reichsmark verfügte.[79] Carl Miele sen. und Reinhard Zinkann wurden persönlich haftende Gesellschafter. Nun schlossen Miele & Cie. und die Mielewerke A.G. einen Vertrag, in welchem Letztere den Fabrikbetrieb pachtete und die Fertigfabrikate und das Rohmaterial übernahm. Die Mielewerke A.G., die die Geschäfte und Produktion des Unternehmens betrieb, wurde damit »Betriebsfirma«.[80] Die »Besitzfirma« blieb Miele & Cie.

Nachdem Reinhard Zinkann bereits 1906 mit seiner Familie nach Darmstadt gezogen war, wurde dort im September 1924 eine Zweigniederlassung der Mielewerke A.G. im Handelsregister eingetragen.[81] Von Darmstadt aus kümmerte sich Reinhard Zinkann um den Vertrieb der Miele-Produkte insbesondere in Süddeutschland. Sein ältester Sohn, der Kaufmann Dr. Reinhard F. Zinkann (zu diesem Zeitpunkt noch Stuttgart), wurde dort am 16. März 1927 zum stellvertretenden Vorstand bestellt;[82] sein jüngerer Bruder, Kurt Christian Zinkann (Bremen), erhielt mit 24 Jahren am 12. September 1928 Prokura.[83]

Die Struktur der beiden Gesellschaften, die wie gesagt zunächst klar getrennt als »Besitzgesellschaft« Miele & Cie. und »Betriebsgesellschaft« Mielewerke A.G. etabliert worden waren, veränderte sich im Lauf der 1920er Jahre, sodass die Mielewerke A.G. als Vertriebsgesellschaft fungierte, d. h. die von Miele & Cie. produzierten Waren wurden an die Mielewerke A.G. veräußert und über sie in den Geschäftsstellen vertrieben. Dies führte auch zu betriebswirtschaftlichen Spielräumen, wenn sich keine ordentlichen Gewinne abzeichneten.[84] Seit dem 30. Juni 1930 wurde die Mielewerke A.G. dann als reine Vertriebsgesellschaft eingesetzt, die beiden Fabriken in Bielefeld und Gütersloh nun wieder direkt von Miele & Cie. betrieben. Die Anpassungen des Jahres 1930 hingen vermutlich mit der Expansion der Geschäftsstellen und möglicherweise auch mit der ersten wirtschaftlichen Herausforderung infolge der Weltwirtschaftskrise zusammen.

Da sich keine fortlaufenden Unterlagen zu Miele & Cie. und der Mielewerke A.G. finden, ist die folgende Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung aus verschiedenen Quellen gespeist.

Grafik 2 Löhne und Gehälter der Mielewerke A.G., 1925–1930, in Reichsmark.

Quelle: Listen Löhne, Gehälter, Mieten, 1927–1969, in: Miele-Archiv, Ordner Mielewerke und Miele & Cie.

Anhand der Lohn- und Gehaltsentwicklung lässt sich die Expansion der Mielewerke A.G. in den Jahren nach der Hyperinflation bis zur Weltwirtschaftskrise sehr gut sehen (vgl. Grafik 2).[85] Nicht nur bei der Mielewerke A.G., sondern konsequenterweise auch bei Miele & Cie. machten sich die Auswirkungen dann bemerkbar, was sich auch am Rückgang aller Gehälter der im Unternehmen tätigen Familienmitglieder zeigt.[86] Damit lässt sich festhalten, dass Miele & Cie. und die Mielewerke A.G. in der Weimarer Republik bis zur Weltwirtschaftskrise einen kontinuierlichen Aufschwung erlebten. Die Produktpalette wurde ausgeweitet; vor allem moderne, elektrische Produktreihen kamen hinzu. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs in dieser Zeit auf fast 2 000 (vgl. Grafik 3), die Umsätze stiegen in der Spitze (1929) auf fast 20 Mio. Reichsmark.

Grafik 3 Mitarbeiterzahlen von Miele & Cie., 1907–1929.

Quelle: Miele & Cie. GmbH & Co. KG (Hg.), 110 Jahre Miele – alle Seiten der Qualität, Gütersloh 2009.

Grafik 4 Gewinn und Verlust, Mielewerke A.G., 1920–1931, in Reichsmark.

Quelle: Bilanzerläuterungen, in: Miele-Archiv, Bilanzen.

Für die Mielewerke A.G. ergab sich 1930 im Kontext der Weltwirtschaftskrise erstmals ein negatives Ergebnis (vgl. Grafik 4), und sie entließ, zum ersten Mal in der Firmengeschichte, in Gütersloh 300 Arbeiter.[87] Auch für die Stadt war dies ein Einschnitt, war das erfolgsverwöhnte, nach Mitarbeitern größte Unternehmen doch ­bislang ein Garant für Arbeitsplätze gewesen und sicherte damit auch die soziale Stabilität vor Ort.[88] Inmitten der bis dahin größten Krise des Unternehmens rollte 1931 das erste Motorfahrrad, wie die frühen ­Modelle des motorisierten Fahrrads genannt wurden, im Bielefelder Werk von Miele & Cie. vom Band. Mit dieser konsequenten Weiterentwicklung der ­Produktpalette glaubte man, die Antwort auf die Krise gefunden zu haben.

Abb. 10 Werbung für das Motor-Fahrrad, 1932

Miele & Cie. und die Mielewerke A.G. in der frühen Phase des Nationalsozialismus

Wie im gesamten Reich erfolgte in Bielefeld ab 1933 rasch die sogenannte Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten. Alle Institutionen, die für die Wirtschaft von Bedeutung waren, wie die Industrie- und Handelskammer, wurden auf Linie der NSDAP gebracht.[89] Der »Gleichschaltung« folgte die »Ausschaltung« der linken und konservativen politischen Parteien[90] und bald auch die Verfolgung und Vertreibung der deutschen und ausländischen Juden. Boykott­maßnahmen gegen jüdische Einzelhändler liefen ebenfalls reichsweit an.

Die Nationalsozialisten profitierten vom konjunkturellen Aufschwung, der schon vor Januar 1933 begonnen hatte und bis 1936 dauern sollte, da aufgrund der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die bereits in der Weimarer Zeit gestartet worden waren, nun der Weg Richtung Vollbeschäftigung eingeschlagen war. Profiteur des Aufschwungs aufseiten der Wirtschaft war gerade auch die gesamte Bielefelder Fahrradindustrie, die nun täglich 3 000 Fahrräder auslieferte. Auch Miele & Cie. war Teil dieses Aufschwungs. Dennoch herrschte in Biele­feld eine zurückhaltende politische Stimmung gegenüber den Nationalsozialisten: »Es war nicht leicht, zu diesem immerwährenden Aktionismus [gemeint sind die Aufmärsche etc.; Anm. d. Vfs.] auf Distanz zu gehen, und dennoch scheint es im ehemals sozialdemokratisch geprägten Bielefeld einen stabilen Kern gegeben zu haben, der sein nüchternes Urteil bewahren konnte.«[91]

Die Geschichte einiger Unternehmen in Bielefeld in der Zeit des Nationalsozialismus wurde bereits untersucht, doch auch wenn die historische Forschung gerne mit Vergleichen arbeitet, ist dies hier kaum möglich. Eine Darstellung nimmt die Oetker-Gruppe in den Blick; aber das Familienunternehmen bewegt sich in einer völlig anderen Branche als Miele & Cie. Auch waren die Familienkonstellationen sehr unterschiedlich: Miele & Cie. war geprägt von zwei Unternehmerfamilien, Oetker von dem »eingeheirateten« Richard Kaselows­ky.[92] Ähnlichkeiten gab es hingegen in der Zwischenkriegszeit, als beide Firmen schon international orientiert waren.[93] Deutlich unterschieden sich die Unternehmer jedoch im Hinblick auf ihre politische Nähe zum Nationalsozialismus.[94] Wobei Unternehmer ­häufig die Nähe zum NS-System aus ökonomischen Kalkül ­suchten.[95]

Kleinere Familienunternehmen spielten gleichfalls eine Rolle im Wirtschaftsleben Bielefelds. Das alteingesessene Leinen- und Seidenunternehmen C.A. Delius & Söhne gehörte jedoch auch einer anderen Branche als Miele & Cie. an und bietet daher ebenso nur wenig Vergleichsansätze. C.A. Delius & Söhne war zwar mit Spezialstoffen an sich erfolgreich und »Nationalsozialistischer Musterbetrieb«,[96] musste allerdings während der Zeit des Zweiten Weltkriegs Räume für die direkte Rüstungsproduktion zur Verfügung stellen, insbesondere für die Herstellung von Munition;[97] ein Teil dieser Produktion kam von Miele & Cie. (siehe Kapitel Letzte Luftangriffe auf Miele & Cie., Produktionsverlagerung und Ausweichlager).

Im ganzen Land wurde die politische Situation durch den Nachrichtendienst beobachtet. In Gütersloh beschrieben die Nationalsozia­listen die politische und wirtschaftliche Lage in vielen Bereichen als wenig auffällig. Erst als beim Bau des Militärflughafens 1935 verstärkt Arbeitskräfte aus dem Ruhrgebiet eingesetzt wurden, war der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) alarmiert und wies darauf hin, dass diese 400 Arbeiter der SPD oder KPD angehört hatten und »noch heute mit ihnen sympathisierten«.[98] Daraufhin veranlasste die Deutsche Arbeitsfront (DAF), dass »diejenigen auswärtigen Arbeitskräfte, welche auf dem Flugplatz beschäftigt waren und den Arbeitsfrieden durch liberalistische-marxistische Haltung zu stören versuchten, im Benehmen mit dem Bauherren entfernt« wurden.[99] Vertreter linksgerichteter Ideologien oder parteipolitischer Überzeugungen wurden von den nationalsozialistischen Machthabern selbst im beschaulichen Gütersloh nicht geduldet.

Auch fallen längere Berichte des SD über die stark ausgeprägten ­Aktivitäten der örtlichen katholischen wie evangelischen Kirche auf. So wurde seitens des Nachrichtendienstes eine antijüdische Stimmung beobachtet, die sich in »Juden sind in dieser Stadt nicht erwünscht«-Schildern ausdrückte.[100] Dabei zählte die jüdische Gemein­de in Gütersloh mit seinen ca. 30 000 Einwohnern nicht einmal 100 Mitglieder. Während der Antisemitismus den Nationalsozialisten gefiel, waren sie unzufrieden mit den Ergebnissen der Vertrauensratswahlen in den Unternehmen Güterslohs im Jahr 1935, da nur zwei Prozent der Gewählten Mitglied der NSDAP waren. 57 Prozent der Vertrauensräte waren hingegen katholisch, was als »beachtenswertes Symptom für die innere Haltung und Stellung von Betriebs­führern und Gefolgschaft zur Arbeitsfront und damit zum Nationalsozialismus überhaupt« beobachtet wurde. Erklärt wurde das Phänomen seitens des SD mit der Ausprägung der Konfession und der ländlichen Gebundenheit der Arbeiter. Von der gesamten Arbeiterschaft in ­Gütersloh waren 1935 nur 120 Personen Mitglied der NSDAP, was einem Anteil von unter drei Prozent der Bevölkerung entsprach.[101]

Während in Bielefeld vom SD eine rasche Hinwendung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus registriert wurde, scheint sich das im Kreis Wiedenbrück gelegene Gütersloh erst im Laufe der Zeit dem Nationalsozialismus stärker zugewendet zu haben.[102] Zumindest in Kreisen der Unternehmer und Arbeiter war man offenbar zurückhaltend. Da der SD selbstverständlich die großen und bedeutenden Unternehmen besonders im Auge behielt, aber auch andere Parteistellen und exponierte Personen der NSDAP die Unternehmer kritisch beobachteten, dürfte diese Einschätzung insbesondere dem größten Unternehmen vor Ort, Miele & Cie., gegolten haben.[103] Dies deckt sich auch mit weiteren Beobachtungen und Aussagen zum Verhalten von bei Miele & Cie. in leitender Funktion tätigen Mitgliedern der Familien Miele und Zinkann, die immer wieder auffielen, da sie sich eben gerade nicht um prestigeträchtige Ämter bemühten – sei es innerhalb der NSDAP oder auch in NS-Wirtschaftsorganisationen. Und ihre systemkritischen Aussagen, die später noch beleuchtet werden, waren anscheinend sorgsam platziert, sodass sie vom SD nicht dokumentiert wurden oder ihm unbekannt waren.

Vereinzelt übten aber auch Unternehmer in Bielefeld Kritik am NS-Regime. Kritische Äußerungen über Adolf Hitler, die NSDAP oder ihre Gliederungen wurden jedoch strikt geahndet: »Es erregte in ihren Kreisen [der Wirtschaft; Anm. d. Vfs.] erhebliches Aufsehen, als Ende 1934 der Inhaber einer Bielefelder Maschinenfabrik verhaftet wurde, weil er sich, wie die Staatspolizei berichtete, über Hitler, die Partei und über die Deutsche Arbeitsfront abfällig geäußert hatte.«[104] Er wurde inhaftiert, in ein Konzentrationslager (KZ) verbracht und erst nach sechs Wochen wieder entlassen. Derartige Vorkommnisse machten den Unternehmern klar, dass eine offene Kritik seitens der Parteigliederungen nicht geduldet wurde.

1937 verteilte Dr. Friedrich Holzapfel, Geschäftsführer der Handwerkskammer in Bielefeld, eine »Denkschrift rheinisch-westfälischer Industrieller zum Vierjahresplan«, die darauf aufmerksam machte, dass die Konjunktur allein mit Staatsverschuldung gemacht sei.[105] Auch diese doch sehr allgemeine Kritik führte zur Verhaftung von Holzapfel.

Kurt Christian Zinkann berichtete von einem Fall in Gütersloh, bei dem zwar keine Systemkritik, aber ein Vergehen eher strafrechtlicher Natur begangen und gleichfalls hart bestraft wurde. Der Schwager der Familie Mohn, Gerhard Steinsiek, ein Prokurist bei Bertelsmann, war ins Berliner Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße verbracht worden, weil er sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen Papier beschafft hatte.[106] Derartige Einschüchterungen beeinflussten die Unternehmer vor Ort.

Miele & Cie. war damit wirtschaftlich erfolgreich, in verschiedenen Branchen gleichzeitig aktiv zu sein. Während Mitte der 1930er Jahre die Fahrradsparte boomte, lief der Absatz mancher Landmaschinen schlecht. Verantwortlich dafür war »das s. Zt. eingeführte Milchgesetz«.[107]