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Einige Zehntausend der fast 18 Millionen Migränebetroffenen in Deutschland leiden unter der seltenen schweren Form der Migräne mit Hirnstammaura. Wen es letztlich trifft, ist nicht vorhersehbar. Erst seit den neuesten Änderungen in den Klassifikationssystemen der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft taucht der Begriff auf. Bisher waren für diese Art der Migräne die Begriffe Basilarismigräne und Migräne vom Basilaristyp bzw. basiläre Migräne etabliert. Das Krankheitsbild ist selbst unter Fachärzten wenig bekannt. Betroffene werden mit den schlaganfallähnlichen Symptomen häufig alleingelassen, oder als psychisch krank abgestempelt und mit ungeeigneten Medikamenten bzw. gar nicht versorgt. Viele von ihnen haben jahrelange Ärzteodysseen mit frustrierenden Erlebnissen hinter sich, bis sie die korrekte Diagnose erhalten. Frei zugängliche Informationen, die Laien sich beispielsweise über das Internet beschaffen könnten, sind spärlich gesät - vor allem in Deutschland. Das Buch gibt einen Überblick über Grundlagen, aktuelle Forschung, Symptome, Diagnostik und Ursachen. Anschließend werden Komplikationen und Koerkrankungen vorgestellt, um danach die Therapiemöglichkeiten und Selbsthilfemaßnahmen zu beschreiben. Es folgen Fallbeispiele, in denen Betroffenen aus ihrem Leben mit dieser schweren Erkrankung berichten. Im Serviceteil des Buches finden medizinisch vorgebildete Leser einen Praxisleitfaden für den Medizinbetrieb. Für Betroffene praktisch: Der Notfallausweis zum Ausschneiden am Schluss des Buches. Die Mischung aus sauber recherchierten Fakten, eigenem Erfahrungswissen der selbst betroffenen Autorin und authentischen Fallbeispielen, macht das Buch zur interessanten Lektüre mit hohem praktischen Nutzen, die man gerne auch ein zweites Mal oder zum Nachschlagen zur Hand nimmt. Unter der Domain "leserservice.hirnstammaura.de" gibt es eine Serviceseite für Leser, auf der weiterführende Informationen und Direktverlinkungen platziert sind.
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Tanja Götten
Migräne mit Hirnstammaura
Leben mit einer seltenen, schweren Form der Migräne - auch bekannt als „Basilarismigräne“
Impressum
Text: © Copyright by Tanja Götten Cover:Tanja Götten
Verlag:Tanja Göttenc/o Block ServicesStuttgarter Str. 10670736 Fellbach
E-Mail: info@tanja-goetten.deInternet: www.tanja-goetten.de
Veröffentlichungsort: Gelsenkirchen, Nordrhein-Westfalen
ISBN:
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Copyright: Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
Grundlagen
1.1Klassifizierung
1.2Verbreitung (Epidemiologie)
1.3Prognose
Symptome
Diagnose
3.1Diagnosekriterien
3.2Diagnostik
3.3Abgrenzung / Differenzialdiagnosen
3.3.1andere Migräneformen
3.3.2psychisches Krankheitsgeschehen
3.3.3Andere Differenzialdiagnosen
Ursachen
4.1Anatomie des Hirnstamms
4.2Pathophysiologie – Wie entsteht die Migräne?
4.3Forscherdebatte
Komplikationen
5.1prolongierte Aura
5.2Schlaganfall / Hirninfarkt
5.3Locked-in-Syndrom
Häufige Begleiter und Komorbiditäten
6.1Andere Migräneformen
6.1.1Chronische Migräne
6.1.2Status migraenosus
6.2Epilepsie
6.3Depression
6.4Angsterkrankungen
6.5Traumatisierung
6.6Schmerzerkrankungen
Realitäten – Leben mit Hirnstammaura
7.1Alltag
7.2Beruf
7.2.1Schwerbehinderung
7.2.2Erwerbsminderungsrente
7.3beim Arzt / im Krankenhaus
7.3.1„medical gaslighting“
7.4Soziale Verantwortung
Therapie – Was hilft?
8.1Akutbehandlung
8.1.1Triptane pro u. Kontra
8.2Vorbeugung (Prophylaxe)
8.2.1Medikamente
8.2.2Nicht-medikamentöse Verfahren
8.2.3andere Verfahren
8.3Psychohygiene
8.4alternative Heilmethoden
Selbsthilfe
9.1Der richtige Umgang mit dem Arzt
9.1.1Spezialisten-„Do-It-Yourself“
9.2Mindset – Alles Einstellungssache?
9.3Ernährung – Gibt es Migränemenüs?
9.4Entspannung – In der Ruhe liegt die Kraft
9.5Bewegung – Zwischendurch aktiv sein!
9.6Risikofaktoren minimieren
Fallbeispiele
10.1Anna
10.2Britta
10.3Christina
10.4Doris
10.1Emma
Quellen
Serviceteil
12.1Praxisleitfaden Medizinbetrieb
12.1.1Mediziner-Info: Migräne mit Hirnstammaura
12.1.2Merkblatt für den Rettungsdienst -
12.1.3Empfehlungen für die Notfallambulanz
12.1.4Weitere Handlungsempfehlungen
12.2Tipps für die langfristige Patientenbeziehungen
12.3Für Patienten: Die Scharlatan-Checkliste
12.4Leserservice
12.5Notfallausweis
Vorwort
Der Begriff der Migräne mit Hirnstammaura taucht erst seit den neuesten Änderungen in den Klassifikationssystemen der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft auf. Bisher waren für diese Art der Migräne die Begriffe Basilarismigräne und Migräne vom Basilaristyp, bzw. basiläre Migräne etabliert. Das Krankheitsbild an sich ist selbst unter Fachmedizinern dennoch wenig bekannt. Die Namensänderung wird diese Situation aller Voraussicht nach nicht wesentlich verbessern. Wenngleich die Bezeichnung Migräne mit Hirnstammaura bereits eher ermöglicht, sich vorzustellen, um was es bei dieser neurologischen Erkrankung gehen könnte: Aurasymptome nämlich, die im Rahmen einer Migräneerkrankung vom Hirnstamm ausgehen bzw. sich auf das Gebiet des Hirnstamms auswirken.
Die genauen Pathomechanismen, das heißt, warum genau es zu den schlaganfallähnlichen Symptomen kommt, sind immer noch umstritten. Den Betroffenen ist damit wenig geholfen. Sie werden mit den oftmals als lebensbedrohlich empfundenen Symptomen alleingelassen oder als psychisch krank abgestempelt und mit ungeeigneten Medikamenten bzw. gar nicht versorgt. Viele von ihnen haben jahrelange Ärzteodysseen mit frustrierenden Erlebnissen hinter sich, bis sie die korrekte Diagnose erhalten. Auch frei zugängliche Informationen, die Laien sich beispielsweise über das Internet beschaffen könnten, sind spärlich gesät - vor allem in Deutschland. Allein die Tatsache, dass selbst in den Sozialen Medien kaum Einträge unter den Hashtags #hirnstammaura oder #basilarismigräne zu finden sind, belegt die geringe Informationsdichte.
Dieses Buch soll Betroffenen, Angehörigen, Behandelnden und Therapierenden einen Überblick über die aktuell verfügbaren Informationen zu dieser Erkrankung an die Hand geben.
Das Ziel: Aufklärung, Sensibilisierung und Beendigung der Psychopathologisierung, die immer noch von Behandelnden betrieben wird – häufig aus Unwissenheit. Nicht selten landen Betroffene mit ihren (eindeutig) neurologischen Symptomen in Psychiatrien und psychosomatischen Einrichtungen. Falsche und mitunter lebensgefährliche Medikamentenversuche werden auf Patientenrisiko unternommen. Eine adäquate Behandlung bleibt oftmals aus.
Die Folge: Schäden - auch psychische-, die das Leid noch vergrößern. Dies gilt es, im Interesse aller Beteiligten zu vermeiden.
Für die Patienten ist die Erkrankung eine extreme Belastung mit tiefgreifenden Auswirkungen auf ihre Lebensqualität. Dies wird in den Fallbeispielen in diesem Buch deutlich.
Als medizinischer Laie, jedoch mit langjähriger Berufserfahrung als Soziologe, Pädagoge und PR-Fachjournalist, Blogger und Autor greife ich bei den Schilderungen in diesem Buch nicht nur auf gewissenhaft erhobene Daten und Informationen aus Fachpublikationen zurück. Meine eigene über 40-jährige Migräne-“Karriere“ (u.a. mit Hirnstammaura) und der Kontakt zu einigen ebenfalls Schwerstbetroffenen machen mich zum (unfreiwilligen) Erfahrungsexperten. Als solcher stehe ich auch gerne als Ansprechpartner für Rückfragen aller Art (gerne auch von interessierten Medizinern) zur Verfügung. Meine Plattform www.daueraua.de bietet Betroffenen darüber hinaus die Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu kommen.
Denn, auch wenn die Erkrankung als sehr selten gilt, sollten Betroffene nicht das Gefühl bekommen, sie seien alleine. Das sind sie nicht. Dank der heutigen technischen Möglichkeiten der Online-Vernetzung gelingt es immer besser, die Erfahrungen der Einzelnen für andere nutzbar zu machen. Auch wenn es für die Migräne mit Hirnstammaura bisher noch keine standardisierte, nachweislich wirksame Behandlungsmöglichkeit gibt, können sich Erkrankte untereinander stärken und sich gegenseitig das Gefühl geben, wirklich verstanden und ernst genommen zu werden. Ein wichtiger Faktor bei der Krankheitsbewältigung.
Ausdrücklich bedanke ich mich bei meinen Interviewpartnerinnen aus den Fallbeispielen. Ohne sie wäre dieses Buch nie entstanden und nur halb so interessant. Ihre zum Teil dramatischen Geschichten zeigen, wie wichtig es ist, vor allem medizinisches Fachpersonal, Angehörige, Arbeitgeber und den Rest der Gesellschaft mit Informationen über die Migräne mit Hirnstammaura zu versorgen.
Zitate von Betroffenen:
„Ich dachte, ich müsste jetzt sterben.“
„Mein Ich war in meinem Körper eingesperrt und ich konnte nicht mehr auf ihn zugreifen.“
„...unterdrückte Ruhe und eiskalte Extremitäten. Der Puls ist eingeriegelt wie ein Drehzahlbegrenzer. Der Arzt sagte, ich bilde es mir nur ein …“
„Meine Arme und Beine fühlten sich an, als säßen sie direkt, aber falsch herum am Kopf.“
„Es war, als hätte ich nie Augen gehabt.“
„Alles hielt mich irgendwie in Unruhe, ich wusste nicht was mit mir los ist.“
„Ich weinte und konnte mich nicht wehren. Es passierte wieder …“
Was ist Migräne mit Hirnstammaura?
Die Migräne mit Hirnstammaura (früher Migräne vom Basilaristyp oder Basilarismigräne genannt) ist eine besonders schwere, relativ seltene Sonderform der Migräne mit Aura. Erstmals beschrieb der britische Neurologe Edwin Robert Bickerstaff (*1920 +2008) diese Art der Migräne im Jahr 1961. Sie wurde daher lange „Bickerstaff-Migräne“ genannt. Andere Bezeichnungen waren: Migräne der Arteria basilaris, Migräne vom Basilar(is)-Typ, Migräne des vertebrobasilaren Typs oder Migraine Accompagnie.
Ursprünglich wurde angenommen, dass sie durch kurzfristige Krämpfe der Arteria basilaris, die für die Blut- und Sauerstoffversorgung des Hirnstammes zuständig ist, verursacht wird. Diese (vaskuläre) Hypothese konnte jedoch bis heute nicht bewiesen werden. Zwischenzeitlich gehen Mediziner davon aus, dass die Migräne mit Hirnstammaura / basiläre Migräne eine Unterart der "normalen" Migräne mit Aura ist.
In der 3. Auflage der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen (ICHD-3) der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft / International Headache Society (IHS) wird die Migräne mit Hirnstammaura als eine Migräneform beschrieben, bei der die Aurasymptome eindeutig dem Hirnstamm zuzuordnen sind und keine motorische Schwäche auftritt. In der Klassifizierung der ICHD-3 befindet sie sich in Teil 1 (Primäre Kopfschmerzen) unter der Kategorie Migräne (1.) → Migräne mit Aura (1.2) unter Punkt 1.2.2:
TEIL I: Primäre Kopfschmerzen
1. Migräne
1.1 Migräne ohne Aura
1.2 Migräne mit Aura
1.2.1 Migräne mit typischer Aura
1.2.1.1 Typische Aura mit Kopfschmerz
1.2.1.2 Typische Aura ohne Kopfschmerz
1.2.2 Migräne mit Hirnstammaura
1.2.3 Hemiplegische Migräne
1.2.4 Retinale Migräne …
In der bis Ende 2021 in Deutschland gültigen Fassung der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10 GM 2020), wird sie zusammen mit anderen Migräneformen unter der Kodierung G43.1 (Migräne mit basilärer Aura) gefasst:
G43. Migräne
G43.0 Migräne ohne Aura [Gewöhnliche Migräne]
G43.1 Migräne mit Aura [Klassische Migräne]
- Migräne: Aura ohne Kopfschmerz
- Migräne: basilär
- Migräne: familiär-hemiplegisch
- Migräne: mit: akut einsetzender Aura
- Migräne: mit: prolongierter Aura
- Migräne: mit: typischer Aura
G43.2 Status migraenosus
G43.3 Komplizierte Migräne
G43.8 Sonstige Migräne
Inkl.: Ophthalmoplegische Migräne, Retinale Migräne
G43.9 Migräne, nicht näher bezeichnet
Der im Mai 2019 von der World Health Assembly (WHA) verabschiedete und grundsätzlich ab 1. Januar 2022 gültige ICD-11 sieht eine Kodierung unter dem Punkt 08 Diseases of the nervous system (Krankheiten des Nervensystems) → Headache disorders (Kopfschmerzerkrankungen) → 8A80 Migraine (Migräne) → 8A80.1 Migraine with Aura (Migräne mit Aura) → 8A80.1Y Other specified migraine with aura (andere/sonstige Migräneformen mit Aura) vor:
8A80 Migraine
8A80.0 Migraine without aura
8A80.1 Migraine with aura
8A80.10 Hemiplegic migraine
8A80.1Y Other specified migraine with aura
8A80.1Z Migraine with aura, unspecified
8A80.2 Chronic migraine
8A80.3 Complications related to migraine
8A80.30 Status migrainosus
8A80.3Y Other specified complications related to migraine
8A80.4 Cyclic vomiting syndrome
8A80.Y Other specified migraine
8A80.Z Migraine, unspecified
[Quellen: dimdi / icd.who.int]
Wann der ICD-11 in Deutschland eingeführt wird, ist bei Drucklegung dieses Buches noch nicht bekannt.
Der ICD ist ein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenes, weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Auf dessen Grundlage erfolgt unter anderem die Abrechnung von medizinischen Dienstleistungen mit den Krankenkassen.
Internationale Quellen
In Deutschland sind strukturierte Informationen über die Migräne mit Hirnstammaura/Basilarismigräne sehr spärlich gesät. In den USA gehört sie offiziell zu den seltenen Erkrankungen und wird als solche im Verzeichnis seltener Erkrankungen geführt und dort beschrieben als eine Art von Migränekopfschmerz mit Aura, der auf beiden Seiten mit Schmerzen am Hinterkopf verbunden ist.
Unter Aura wird eine Gruppe von Symptomen gefasst, die prinzipiell als Warnsignal dafür dienen, dass starke Kopfschmerzen folgen. Zu diesen Symptomen können Schwindel und Benommenheit, Sprachstörungen, Ataxie, Tinnitus, visuelle Veränderungen und / oder Gleichgewichtsstörungen gehören. Obwohl die Basilarismigräne bei Männern und Frauen jeden Alters auftreten könne, sei sie bei jugendlichen Mädchen am häufigsten. Eine genaue Ursache sei kaum bekannt. Migräne sei wahrscheinlich eine komplexe Erkrankung, die von mehreren Genen in Kombination mit Lebensstil- und Umweltfaktoren beeinflusst wird. In seltenen Fällen könne die Anfälligkeit für die basiläre Migräne durch eine Veränderung (Mutation) des ATP1A2-Gens oder des CACNA1A-Gens verursacht werden. Um die Symptome während einer Episode zu lindern, könne eine Behandlung mit nichtsteroidalen entzündungshemmenden Medikamente (NSAIDs) und antiemetischen Medikamenten eingesetzt werden (vgl. GARD).
Das Informationszentrum für genetische und seltene Krankheiten (GARD) ist ein US-amerikanisches Programm des Nationalen Zentrums zur Förderung der translationalen Wissenschaften (NCATS) und wird von zwei Teilen der Nationalen Gesundheitsinstitute (NIH) der USA finanziert: NCATS und dem Nationalen Institut für Humangenomforschung (NHGRI) ). GARD bietet der Öffentlichkeit Zugang zu aktuellen, zuverlässigen und leicht verständlichen Informationen über seltene oder genetisch bedingte Krankheiten.
Prävalenz und Inzidenz der Migräne mit Hirnstammaura sind weitgehend unbekannt. Das heißt, es liegen keine Daten vor, die Aufschluss darüber geben, wie viele Betroffene es in Deutschland gibt oder bisher gab. In einer Studie zeigte sich rechnerisch, dass etwa 0,04 Prozent der dänischen Gesamtbevölkerung betroffen sind (vgl. Yamani et al 2019). Wie oft die Erkrankung neuerlich in der Bevölkerung auftritt, ist nicht erhoben. Festgestellt wurde jedoch, dass Frauen häufiger betroffen sind als Männer.
Altersstruktur der Betroffenen
Obwohl in der Kindheit prinzipiell jede Form der Migräne auftreten kann, sind basiläre neurologische Symptome besonders häufig bei der kindlichen Migräne zu beobachten (vgl. Göbel 2012).
Grundsätzlich kann die Basilarismigräne in jedem Alter auftreten. Häufiger wird sie offenbar bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen beobachtet. In der Fachliteratur wird angegeben, dass sich die Erkrankung normalerweise im Alter zwischen 7 bis 20 Jahren präsentiert. In Patientenforen und anderen Medien, in denen über die Migräne mit Hirnstammaura berichtet wird, treten jedoch häufiger Erwachsene über 30 in Erscheinung. Das liegt vermutlich daran, dass erst ab diesem Alter eine gewissen „Mediennutzungskompetenz“ vorhanden ist und Austausch auf diesem Wege in Betracht gezogen wird. Die überwiegende Mehrheit der in den sozialen Medien Rat- und Hilfesuchenden sind weiblich (z.B. 61 von 63 Mitgliedern einer deutschen Hirnstammaura-Facebookgruppe).
Aufgrund der Seltenheit dieser Migräneart liegen nur begrenzt Daten zu Langfrist-Prognosen der Betroffenen vor. Einige Untersuchungen legen nahe, dass die Häufigkeit von Migräne mit Hirnstammaura mit dem Alter abnimmt. Bei vielen Betroffenen verändert sich die Migräne im Verlauf auch zu Episoden typischerer Migräneformen oder Mischformen.
In Betroffenen-Foren wird häufig berichtet, dass sich nach extrem hochfrequenten Hirnstammaura-Phasen, die vor allem vor und während der noch unklaren Diagnosephase auftreten, Phasen mit deutlich weniger starken Symptomen anschließen können.
Wie äußert sich eine Hirnstammaura?
Die Symptome der Migräne mit Hirnstammaura ähneln einerseits weitaus gefährlicheren Krankheitsbildern, wie z. B. Schlaganfall oder Hirntumor, können aber als solche auch in Verbindung mit Angst und Hyperventilation auftreten.
Aufgrund der existentiell bedrohlich wirkenden Symptome, erleiden Betroffene häufig zusätzlich Panikattacken, die jedoch nicht Auslöser der Hirnstammaura sind. Durch sorgfältige Anamnese und (ggf. stationär durchgeführte) gründliche Diagnostik ist eine Abgrenzung gut möglich.
Symptomliste
Zur neurologischen Symptompalette, die in der Fachliteratur geschildert werden, gehören:
• extremer (Dreh-)Schwindel (spezieller Vertigo, der im Vergleich zum Schwindel bei der „normalen“ Migräne deutlich stärker auftritt) - auch bis mehrere Tage nach dem Anfall anhaltend
• Übelkeit und Erbrechen (Nausea)
• Sprachstörungen (Dysarthrie /Aphasie) - auch tagelang anhaltend
• Gleichgewichtsstörungen
• Ohrgeräusche, Tinnitus und Hörminderung
• Sehstörungen: Doppelbilder (Diplopie), Lichtblitze (Photopsie), Gesichtsfeldausfälle (Skotome) oder vorübergehende Blindheit auf beiden Augen (Amaurosis fugax)
• unwillkürliche Augenbewegungen (Nystagmus)
• Störungen der Bewegungsabläufe (Ataxie / zerebelläre ataktische Störungen), Zittern in den Beinen, unwillkürliche Bewegungen oder anormale Reflexe (Pyramidenbahnzeichen)
• Bewusstseinsstörung, Verwirrtheit und Desorientiertheit, vorübergehender Gedächtnisverlust (Amnesie)
• (Körper-)Wahrnehmungsstörungen (z.B. Metamorphosie: Gegenstände werden anders wahrgenommen als sie real sind – z. B. größer oder in Bewegung; auch „Alice-im-Wunderland-Syndrom“)
• gleichzeitige beidseitige Missempfindungen, Taubheitsgefühle, Kribbeln (Parästhesien und Sensibilitätsstörungen)
Lähmungserscheinungen oder Schwächegefühle (unvollständige Paresen) werden heute als Diagnosekriterien für andere Migräneformen (hemiplegische Migräne) aufgeführt. Manche Betroffenen schildern ihre Symptome trotzdem mit diesen Begriffen, möglicherweise, weil die Unterscheidung zwischen einer muskulären Schwäche und einem Sensibilitätsverlust ohne genaue Kenntnis der medizinischen Begrifflichkeiten und Zusammenhänge kaum möglich ist. Typisch ist beispielweise eine motorische Schwäche beider Arme, die sich von den Schultern abwärts, Richtung Hand ausbreitet und nach 10-15 Minuten allmählich wieder verschwindet (vgl. Göbel 2012).
Weitere Symptome, die vor, während oder nach einem Anfall auftreten können, sind: Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Blässe und Todesangst (Angor Animi), sowie alle möglichen Veränderungen des Affektes. Dazu können neben Angst und Panik auch gegenteilige Gefühlsausbrüche, wie Euphorie und besondere Freude gehören.
Alle Symptome bilden sich vollständig wieder zurück, d.h. sie sind vollständig reversibel und hinterlassen in aller Regel keine bleibenden Schäden.
Die in über 90 Prozent auftretenden, schweren Kopfschmerzen (häufig am Ende des akuten Anfalls, als starker Druck empfunden), sind im Hinterkopf lokalisiert. Die Aurasymptome und die ggf. auftretenden Schmerzen nehmen (anders als bei anderen Migräneformen) Betroffene beidseitig wahr. Dies ist auch ein relativ eindeutiges Zeichen für das Vorliegen einer Hirnstammbeteiligung, da sie somit beiden Hirnhälften (Hemisphären) gleichzeitig zuzuordnen sind.
Aus den Erfahrungsberichten von Betroffenen lassen sich noch weitere Symptome ableiten, die jedoch oftmals von den Ärzten erst entsprechend in die Diagnosekriterien „übersetzt“ werden müssen. Diese „Übersetzungsarbeit“ kann entscheidend zur korrekten Diagnosefindung beitragen. Ein Grund dafür, dass Symptomschilderungen nicht immer sofort zur korrekten Diagnose führen, ist die unterschiedlich „hinterlegte“ Definition der Bezeichnungen von Körpersensationen. Wenn ein Patient beispielsweise sagt: „Mir ist schwindelig“, müsste es in manchen Fällen medizinische korrekt heißen: der Patient hat „Wahrnehmungsstörungen“ oder ein „Benommenheitsgefühl“.
Vor allem im akuten Fall, der sich für Betroffene oft lebensbedrohlich anfühlt, ist es jedoch schwer bis unmöglich, die gerade vorliegenden Symptome sachlich korrekt und für ärztliches Personal eindeutig zu schildern. Dies führt häufig zu Missverständnissen und begünstigt Fehldiagnosen. Darüber hinaus wird in vielen Notfallambulanzen oder Arztpraxen allein aus Zeitmangel selten dezidiert nachgefragt, um die „Feinheiten“ der Patientenschilderungen herauszuarbeiten und komplexe Abläufe in Hinblick auf die neurologische Bedeutsamkeit zu erfassen. Vor allem unerfahrene Ärzte scheitern hier oft am eigenen (nicht ausreichend trainierten) „Bauchgefühl“ für die vorliegende Symptomatik.
Obwohl die Diagnosekriterien für die Migräne mit Hirnstammaura relativ eindeutig erscheinen, werden unter anderem aus den oben geschilderten Gründen die Symptome in der Praxis häufig nicht als solche erkannt. Zudem gibt es eine „saubere“ Migräne mit Hirnstammaura eher selten. Die meisten Betroffenen erleben eine individuelle Symptommixtur, die häufig nur dem spezialisierten Facharzt „etwas sagen“ und entsprechend entschlüsselt werden kann.
Hinzu kommt, dass die Migräne mit Hirnstammaura immer noch wenig bekannt ist. Auch in der allgemeinen Ausbildung der Fachärzte für Neurologie kommt sie meist nur im Nebensatz vor – wenn überhaupt. Die wenigsten Behandelnden in „normalen“ Hausarztpraxen oder Notfallambulanzen, in denen Betroffene sich aufgrund ihrer Symptome vorstellen, haben (bewusst) schon mal einen Patienten mit dieser Art der Migräne gesehen oder gar erfolgreich behandelt.
Leider zeigen die vielen Patientenberichte, dass auch die eindeutig neurologischen Symptome nicht immer gewissenhaft abgeklärt werden, sondern ohne weitere Diagnostik als psychosomatisches Krankheitsgeschehen eingestuft werden. Das ist weder fachmedizinisch korrekt, noch hilfreich für die betroffenen Menschen, wie man sich leicht vorstellen kann. Neurologische Symptome und Ausfallerscheinungen sollten immer gründlich und zeitnah abgeklärt werden.
Auch bei bereits diagnostizierten Patienten sollten Anfälle, die ungewöhnlich schwer oder anders verlaufen als üblich, mit einem fachkundigen Arzt besprochen werden, um Komplikationen wie Schlaganfall und Co. auszuschließen. Im Zweifel rechtfertigt ein solcher Anfall auch das Kontaktieren der Notfallambulanzen oder einen Anruf beim Rettungsdienst.
Wenn Betroffene das Gefühl haben, mit ihren Beschwerden nicht ernst genommen zu werden, sollten sie sich nicht scheuen, ihre Behandler zu wechseln, oder eine Zweitmeinung (am besten von einem spezialisierten Neurologen) einzuholen. Die Erfahrung der diagnostizierten Betroffenen zeigt, dass Beharrlichkeit und Geduld sich in diesem Falle auszahlen und erst damit wichtige Schritte in Richtung einer erfolgreichen Therapie gemacht sind.
Tipp:Wenn Sie den begründeten (!) Verdacht haben, dass Sie an einer Migräne mit Hirnstammaura leiden könnten, beziehen Sie sich möglichst nicht auf „Dr. Google“ oder ein Buch (wie dieses hier). Viele Ärzte reagieren abweisend, wenn sie hören, woher Ihre Ideen stammen (und das nicht zu Unrecht). Cleverer ist es in diesem Fall, einen Verwandten oder Bekannten mit ähnlichen Symptomen zu erwähnen, oder den Hinweis eines (notfalls imaginären) Medizinerkollegen – evtl. auch eines Physiotherapeuten - „weiterzugeben“. Das ist natürlich nicht die feine Art, aber der Zweck heiligt in diesem Falle die Mittel. Wenn Sie sachlich bleiben und nicht „besserwisserisch“ auftreten oder gar die Diagnose vorwegnehmen, sind die meisten Ärzte erfahrungsgemäß offen und durchaus interessiert daran, genauer hinzuschauen. Sie werden die Diagnostik entsprechend gewissenhaft angehen.
An alle mitlesenden Ärzte: Bitte sehen Sie Ihren Patienten diese Art „Notwehr-Maßnahme“ gegebenenfalls nach. Zum Ausgleich gibt es im Serviceteil dieses Buches unter dem Punkt Praxisleitfaden für den Medizinbetrieb auch ein paar ähnliche “Tricks“ im Umgang mit „speziellen“ Patienten für Sie.
Bei der Umstellung der Klassifizierungssysteme (von ICD 10 auf ICD 11) wurden die Diagnosekriterien für die Migräne mit Hirnstammaura leicht angepasst. Eine Unterscheidung von der hemiplegischen oder vestibulären Migräne bzw. vestibulärer Schwindelsymptomatik, die zusammen mit der Migräne auftritt, ist so eindeutiger möglich.
Eine Migräne mit Hirnstammaura wird laut ICHD-3 diagnostiziert, wenn Attacken vorliegen, die
A. die Kriterien für eine klassische Migräne mit Aura (s.u.)
UND
B. zusätzlich folgende Kriterien erfüllen:
1. Aura, bei denen mindestens 2 der folgenden vollständig reversiblen (= zurückgehenden) Hirnstammsymptome vorliegen:
- Sprechstörungen (Dysarthrie)
- Schwindel
- Tinnitus
- Hörminderung
- Doppelbilder (Diplopie)
- Störung der Bewegungskoordination (Ataxie), die nicht auf ein sensibles Defizit zurückzuführen ist
- Bewusstseinsstörung (GCS ≤13 s.u.)
UND
2. Keine motorischen oder retinalen Symptome vorliegen.
Bei der Diagnosestellung sind einige Punkte zu beachten:
1. Es sollte die Abgrenzung einer Dysarthrie von einer Aphasie erfolgen. Dysarthrien sind Beeinträchtigungen des Sprechens aufgrund einer Störung im motorischen System („Sprechstörung“). Aphasien sind multimodale Störungen des Sprachsystems (z.B. Grammatik, Wortwahl). Aphasie ist also eine Störung des Gesamtsystems 'Sprache' („Sprachstörung“) [vgl. Dogil/Mayer 2014].
2. Schwindel beinhaltet nicht „Benommenheit“ und muss von dieser abgegrenzt werden.
3. Eine Hörminderung liegt nicht vor, wenn Patienten von einem „Völlegefühl“ im Ohr berichten.
4. Doppelbilder (=Diplopie) umfasst nicht ein „Verschwommensehen“ (oder schließt dieses aus).
5. Eine Abschätzung der Bewusstseinsstörung nach der Glasgow Coma Scale (GCS) kann bei Erstbefundung (z. B. bei stationärer Aufnahme) erfolgen. Alternativ können eindeutig vom Patienten geschilderte Defizite eine GCS-Einstufung möglich machen.
Glasgow Coma Scale (GCS): Das GCS ist ein Bewertungsschema für Bewusstseins- und Hirnfunktionsstörungen nach einem Schädel-Hirn-Trauma. Anhand von 3 Kriterien (Öffnen der Augen, beste verbale Reaktion, beste motorische Reaktion), für die jeweils Punkte vergeben werden, verschaffen sich Mediziner einen Eindruck von der Bewusstseinslage des Patienten.
Diagnose der Migräne mit Aura
Patienten mit Hirnstammaura weisen fast immer zusätzliche typische Aurasymptome auf.
Die Migräneaura ist ein neurologischer Symptomkomplex, der in der Regel unmittelbar vor einem migränetypischen Kopfschmerz auftritt. Sie kann aber auch nach Beginn der Kopfschmerzphase einsetzen oder sich bis in die Kopfschmerzphase hineinziehen.
Die neueste Klassifizierung der IHS (ICHD-3) beschreibt die Migräne mit Aura als "wiederkehrende, für Minuten anhaltende Attacke mit einseitigen, komplett reversiblen visuellen, sensorischen oder sonstigen Symptomen des Zentralnervensystems, die sich in der Regel allmählich entwickeln und denen in der Regel Kopfschmerzen und damit verbundene Migränesymptome folgen." (IHS / ICHD-3)
Frühere Bezeichnungen dieser Migräneart waren unter anderem „migraine accompagnée“ oder „komplizierte Migräne“.
typische Aurasymptome
Der häufigste Auratyp ist die visuelle Aura. Diese typischen Symptome treten bei mehr als 90% der Patienten zumindest bei einigen Attacken auf. Oftmals beschreiben Patienten diese Symptome als einen sich langsam ausbreitenden, oder nach rechts oder links bewegenden Zickzack-Kreis bzw. Randbereich um einen anvisierten Punkt. Dieser Fixationspunkt wird von Betroffenen häufig als "blinder Fleck" bezeichnet. Mediziner nennen diesen Fleck relatives Skotom (auch teilweiser „Gesichtsfeldausfall“). Fällt das Gesichtsfeld komplett aus, spricht man vom absoluten Skotom (= Erblindung). Manchmal tritt ein Skotom auch plötzlich und ohne andere positive visuelle Phänomene auf. Dann variiert nur die Größe. Bei Kindern und Jugendlichen treten diese Symptome untypischerweise oftmals beidseitig (bilateral) auf.
Weitere Aurasymptome sind Sensibilitätsstörungen, wie nadelstichartige Empfindungsstörungen (Parästhesien), die sich langsam vom Ursprungsort ausbreiten. Diese Missempfindungen wandern häufig durch größere oder kleinere Areale einer Körperhälfte. Auch Gesicht und/oder Zunge oder Mundwinkel können betroffen sein.
seltenere Aurasymptome
Seltenere Aurasymptome sind Sprachstörungen. Wenn sie auftreten, dann sind dies üblicherweise sprachbezogene (aphasische) Störungen, die jedoch meist schwer zu erfassen und diagnostisch einzuordnen sind. Einige Patienten beschreiben diese Störungen auch als „Wortfindungsstörungen“ oder „Hängenbleiben“ bzw. „Stocken“ im Wort oder Satz.
Die verschiedenen Aurasymptome folgen gewöhnlich einer bestimmten Reihenfolge. Meistens beginnend mit visuellen Symptomen, gefolgt von Sensibilitätsstörungen und gegebenenfalls gestörter Sprache (Aphasie). Allerdings sind auch andere Reihenfolgen möglich und dokumentiert.
Für die meisten Aurasymptome beträgt die anerkannte Dauer ca. 60 Minuten. Motorische Symptome dauern häufig länger an.
Diagnostische Kriterien der Migräne mit Aura
Als diagnostische Kriterien der Migräne mit Aura gelten laut IHS / ICHD-3:
Kriterium A: Mindestens zwei Attacken, die das Kriterium B und C erfüllen
Kriterium B: Ein oder mehrere der folgenden vollständig reversiblen Symptome
1. visuell
2. sensorisch
3. Sprechen und/oder Sprache
4. motorisch
5. Hirnstamm
6. retinal
Kriterium C: Mindestens drei der folgenden sechs Merkmale sind erfüllt:
1. wenigstens ein Aurasymptom entwickelt sich allmählich über ≥5 Minuten hinweg
2. zwei oder mehr Aurasymptome treten nach einander auf
3. jedes Aurasymptom hält 5 bis 60 Minuten an
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