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Bock auf Schmerzen, Angst und Trauma? Nicht? – Ich auch nicht. Das Dumme ist, ich muss damit leben. Auf der Straße wirst Du jemanden wie mich selten treffen – nicht weil ich mich verstecke (die Zeiten sind vorbei) sondern, weil ich - wie viele andere chronisch Kranke auch - weitgehend von der sozialen Bildfläche verschwunden bin. Ob ich das gut finde? – So mittel. Was ich dagegen mache? – Schreiben. Informativ, unterhaltsam und authentisch berichte ich seit ein paar Jahren auf meinem Blog myyzilla.de über mein multimorbides Leben mit einer besonders fiesen und seltenen Art der chronischen Migräne mit Hirnstammaura (auch "Basilarismigräne"), komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), chronischen Schmerzen / Fibromyalgie, Mastzellerkrankung, Arthrose, Depressionen, Angst- und Panikstörung, Tinnitus, Lipödem und anderen Malessen. Mein Blog platzt langsam aus allen Nähten und entwickelt sich mehr und mehr zur Informationsplattform. Meine persönliche Geschichte dahinter gibt es deshalb ab sofort nur noch exklusiv als eBook. In dieser komplett überarbeiteten und komfortabel "am Stück" lesbaren Version meiner Beiträge, kannst Du mitverfolgen, wie Trauma, Angst und Schmerzen mich zwar nicht gesünder, aber stärker machten. Als Leser dieses eBooks erhälst Du kostenlosen Zugang auf meine geschützte Leserservice-Seite. Dort findest Du passende Links zu den im Buch behandelten Themen, meine persönliche Bildergalerie und die Möglichkeit, Dein Feedback oder Deine Fragen direkt an mich und die anderen Leser zu senden.
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Tanja Göttenaka „myyzilla“
Heul ruhig
Wie Trauma, Angst und Schmerzen
mich stärker machten
Inhaltsübersicht
Prolog
„Diagnose: Psychose…“
Roboter mit Senf (Notaufnahme)
Orthopäden
Kommt ’ne Frau zum Arzt…
Der Plural von Prolaps
Monty Roberts der Angstgestörten
„I feel pretty …“
„Das Schlimmste“ (BallaBalla)
Blumen, Figuren, Algorithmus
Absch(l)ussgespräch
Der Dodo in mir
Strike … äh Stroke Unit
„Weißkittelhypertonie“
Krank aber glücklich
Basilarismigräne“
Oh, Du Fröhliche ...
„Ob ich erlahme...
Wer nicht funktioniert…
Ein Leben in Freiheit...
Arzt mit Eiern
Migräne ist kein Arschloch...
Endzeitromantik
Todesangst
Mein Ende gehört mir!
Durchs Nadelöhr gehen...
In der Schmerzklinik
Aber, Albert...
Hauptsache Pferd
Darf sie das?...
Die maximale Erniedrigung...
Die unsichtbaren Krankheiten
Nebenwirkungen – Schnauze voll...
Kapitulation bringt Frieden
"Endstufe der Besinnlichkeit"...
Schubladen und falsche Filme
Fragen über Fragen fragen
Labil aber kontrolliert
Gewinne, Gewinne, Gewinne
Affenmädchen
Bootcamp Konfliktangst...
Selbstdarstellung
Ich und mein Holz...
Sitzbank-Theater
Der Sonnendiss
Schuld
„Stay here. I’ll be back!“
Auf die Perspektive kommt es an
„In the end...
Der Tod ist mir zu groß.
Omma, Schalke und Fortbewegung…
Die Taubenklinik
Chronische Migräne für Dummies
In der Höhle der Echse
Schützt der Placeboeffekt?...
Ruf den Exorzisten (TRE)
Leute gibt’s …
sarah Teil II
Raben und andere Tiere
Kommunikation und Rampensäue
Ich kapitulöööre …
Karma-Bankrott
Klassentreffen
positive Arztkontakte / das gute Schwarze
Alltagshürden: Putzen
Mein (UN)schönstes Ferienerlebnis
Mein schönstes Ferienerlebnis
Affenscheiße
Epilog
Impressum
Vor ein paar Jahren kaufte ich mir von meiner ersten Erwerbsminderungsrente ein kleines Ultraleicht-Notebook und ein Seitenschläferkissen. Damit konnte ich auch im Liegen schreiben, denn länger als zehn Minuten sitzen, war nicht mehr drin. Texte sprach und tippte ich zunächst in mein Smartphone. Mit den neuen Hilfsmitteln funktionierte das Nachbearbeiten am größeren Bildschirm dann immer besser. Nun ging es los: Mein Blog wurde geboren.
Zuerst quälte ich mich rum mit diesem Entschluss, aber es fühlte sich mit jeder Zeile richtiger an. Die Dinge mussten raus. Meine Geschichte musste sichtbar werden. ICH musste sichtbar werden, und zwar so, wie ich bin. Bisher hatte ich es immer vermieden, mein Gesicht irgendwo im Internet zu verbreiten. Ich bin nicht wichtig, hatte ich gelernt. Bedeutungslos, unerwünscht und ohne Relevanz. Damit war jetzt Schluss. Jetzt bekamen andere innere Anteile ihre Chance. Das wollte ich. Das brauchte ich. Es mussten Punkte hinter so viele Geschichten gemacht werden: auf dem Bildschirm und im realen Leben. Es gab für mich keinen leichten, versteckten Weg – das hatte ich schon gelernt.
Trauma, Angst und Schmerzen hatten mich zum Frührentner gemacht, aber Panik, Verzweiflung und Leid hatten es nicht geschafft, mich kleinzukriegen – im Gegenteil. Ich kann nur keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen, und das ist keine Schande. Das wollte ich sagen und zeigen. Ich bin ein Mensch wie alle anderen. Es gab keinen objektiv plausiblen Grund, warum ich mich nicht zeigen sollte. Ich war es einfach leid, mich zu verstecken. War es leid, nach innen zu leiden. Ich war das Leiden leid. Wenn ich irgendwann wieder in Balance kommen wollte, musste ich nun auch mal ein Stück „nach außen abgeben“, ob mir das gefallen hat oder nicht – ob das anderen gefallen würde oder nicht - so viel war klar.
Auf die „Über mich-Seite“ meiner Webseite (mit einem Riesen-Foto von mir) schrieb ich schließlich: BÄM! [wegen des Fotos :-)] So klein, unbedeutend und schwach wie ich mich meistens fühle, so großkopfert, wichtig und hilfreich muten manche meiner Ideen an. Dem wollte ich den passenden Ausdruck verleihen. Mit dem Bloggen befolgte ich sogar einen ärztlichen Rat. Ok, Doc F. hatte von „Buch“ gesprochen, aber Blog is‘ auch ok, dachte ich damals. Ich wusste, dass das alles andere als schön für mich wird. Ich würde mich über mein Arbeitstempo, meine zwischenzeitlich miserabel gewordene Orthografie, meinen geringen Output und die schreckliche Angst vor Konflikt und Kontrollverlust ärgern, wenn meine Texte irgendwo im Internet rumschwirren. Es ging schon mit dem ersten Blogbeitrag los: bis ich den „Veröffentlichen“-Button anklickte, vergingen Tage - aber das war ok. Trotz allem hatte ich das Gefühl (immerhin empfand ich mittlerweile so was), dass dies der einzige Weg für mich war, den ich noch eigenständig gehen konnte. Den ich gehen WOLLTE! Obwohl etwas in mir mich permanent anschrie: „Bist du noch zu retten? Was geht das die Leute an? Was glaubst du, wer du bist? Die werden wohl alle grad auf dich gewartet haben. Dein Kram interessiert doch niemanden. Guck, mal, jetzt macht’se auf Blogger … usw. usf.“
Mein Alter-Ego mit dem schönen Namen erblickte fast unbemerkt zwischen Befundkopien fürs Versorgungsamt und diversen Krankenkassen-Formularen irgendwann im Frühjahr des Jahres 2016 das Licht der Welt. Gerade hatte ich - wenn auch knapp - eine ambulante ganztägige Rehamaßnahme überlebt. „Überlebt“ ist natürlich maßlos übertrieben. Meine Krankheiten sind alle nicht unmittelbar lebensbedrohlich. Sie fühlen sich nur so an.
Zu diesem Zeitpunkt entwickelte ich also eine Ahnung davon, dass das größtenteils unfreiwillig angesammelte Wissen über Krankheiten, fachliche und menschliche Vollversager und unser Sozial- und Gesundheitssystem irgendwann mal dokumentiert sein wollte. So fing ich an, die Eindrücke und Erlebnisse auf meinem Weg zu sammeln und aufzuschreiben.
Dass ich dabei fast unmerklich zwar nicht gesünder, aber langsam immer stärker wurde, konnte ich zu Beginn meiner „Bloggerkarriere“ nicht ahnen. Aber so ist es. Und das ist gut so.
Mittlerweile platzt mein Blog "Daueraua.de" aus allen Nähten und entwickelt sich mehr und mehr zur Informationsplattform. Meine persönliche Geschichte dahinter erzähle ich Dir jetzt exklusiv in diesem Buch. In dieser komplett überarbeiteten und besser „am Stück“ lesbaren Version einiger meiner Blogbeiträge kannst Du mitverfolgen, wie Trauma, Angst und Schmerzen mein Leben (zum Positiven) veränderten, und was ich über und durch meine Krankheiten gelernt habe.
Es grüßt Dich
myyzilla
Beim und nach dem Essen bekomme ich Schmerzen hinter dem Brustbein, Herzstolpern, Beklemmungsgefühle, Luftnot und Schweißausbrüche. Danach: Panik. Kurze Zeit später: Durchfall.
Manchmal ist mir so schlecht und schwindlig, dass ich mich kaum bewegen kann und stolpere oder fast hinfalle. Das ist immer nach ungefähr einer halben Stunde vorbei. Dazu diese Scheißkopfschmerzen (fühlt sich aber nicht an wie Migräne – das kenn‘ ich ja von Kindheit an) und täglich Höllen-Nackenschmerzen.
Irgendwann ist der Druck groß genug, dass ich zum Arzt gehe. Ein Internist, der laut Türschild unter anderem Experte für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) ist und sich bisher um meinen Schwiegervater in spe und seinen Diabetes kümmerte. Ich war noch nicht bei ihm – bin ja gerade erst hierhergezogen.
Der Arzt lächelt freundlich, als er das Behandlungszimmer betritt und fragt, worum es geht. Ich beschreibe meine Beschwerden.
Er unterbricht mich nach zwei Sätzen und fragt mich, wie groß ich bin und wie viel ich wiege.
„1,67 – 106“, sage ich.
„Stress?“, fragt er.
„Geht eigentlich im Moment“, entgegne ich.
Ob ich verheiratet bin, will er wissen.
„Ja, in 2. Ehe. Glücklich“, erkläre ich lächelnd.
„Kinder?“
„Ja, ein Sohn. Aus erster Ehe.“
„Aha“, murmelt er mit hintenraus geschwungenem Haaa. „Wie versteht sich Ihr Mann mit dem Kind?“
„Super“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Ach, wirklich?“, scheint sich der Ü60-er zu wundern.
„Ja … ?“ (Seinen komischen Unterton überhöre ich.)
„Besteht noch Kontakt zum Kindsvater?“, setzt er nach, während er mit weit schwingenden Handbewegungen in das für mich erstellte, noch jungfräuliche Patientenblatt kritzelt.
„Ja“, bestätige ich.
„Wie läuft das?“, fragt er.
Ich hingegen frage mich langsam, was der von mir will und sage knapp: „Ganz gut mittlerweile.“
„Hmhm“, murmelt er wieder und kritzelt weiter.
„Ich war ja wegen dieser Anfälle gekommen und dem Nacken“, versuche ich das Gespräch in die richtige Richtung zu schubsen.
„Alles psychosomatisch“, sagt der Arzt jetzt und legt seinen Kugelschreiber hin.
„Äh …“ – Ich bin verwirrt.
„Und ihr Gewicht … sss“ – er zieht Luft zwischen den Zähnen ein.
„Ähm …“, formuliere ich noch mal anders.
„Gucken wir mal, was der Blutdruck sagt“, spricht’s und greift zur Manschette.
Mein Stichwort.
Ich verstumme. Verharre. Schalte mich innerlich weg. Panik. Kaninchenstarre.
Die Manschette bläst sich auf. Schmerz. Er misst.
„Viel zu hoch!“, stellt er fest.
„Ich hab‘ Angst vorm Blutdruckmessen“, sage ich mit zittriger Stimme.
„Sag‘ ich doch: Alles psychosomatisch.“
Meine Verwirrung wird größer. Teile von mir bleiben im Panikmodus. Trotzdem frage ich: „Und was heißt das jetzt?“
„Sie müssen abnehmen. Ihr Blutdruck ist zu hoch.“
„Nein, ich meine, wenn meine Anfälle psychosomatisch sind, was mache ich jetzt dagegen?“
„Gehen Sie spazieren. Erst 15 dann 30 Minuten am Tag.“
„Das mach‘ ich schon, jeden Tag mit dem Hund“, erkläre ich.
Er lächelt milde.
„Und der Nacken?“, setze ich noch mal an.
„Jetzt gucken wir erst mal wegen dem Blutdruck.“
Hm, ich habe nicht den Eindruck, dass von ihm noch was kommt. „Wenn das alles psychisch bedingt ist, wäre dann eine Psychotherapie nicht besser?“, überwinde ich mich. Ich bin keiner, der meint, „anne Psyche“ - wie man bei uns im Ruhrpott sagt - hätten nur Spinner. Als studierter Pädagoge und Soziologe weiß ich natürlich, dass psychische Erkrankungen ernstzunehmen und keineswegs was für gestrandete Weicheier sind. Das einzugestehen und die Möglichkeit, dass ich selbst einen an der Klatsche hab', ernsthaft in Erwägung zu ziehen, fühlt sich dennoch irgendwie komisch an.
„Äh, ja, vielleicht … aber da kenn‘ ich jetzt keinen, der … da müssen Sie selber mal gucken …“, stammelt der Arzt.
„Brauche ich dafür ein Rezept?“, frage ich ihn – er sollte das wissen.
„Das kann ich Ihnen geben.“
„Ja, bitte.“
Ich wanke aus der Praxis. Versuche die Chronologien und das Gesagte zu sortieren.
Auf dem Rezept, das in Wirklichkeit eine Überweisung an den Psychotherapeuten ist, steht „gesichert Burnout.“ WTF?
Zu Hause fange ich an, mich durch die Psychotherapeuten-Praxen der Umgebung zu telefonieren. Allein DAS ist schon eine Herausforderung für mich.
„Telefonieren“ und „Arzt“ (im weitesten Sinne) sind gleich zwei Minenfelder, auf die ich mich nur äußerst ungern begebe. Telefonieren, weil ich wegen des lauten Fiepsens in meinem linken Ohr, das umso lauter wird, je nervöser ich bin, ganz schlecht verstehe, bzw. Angst davor habe, plötzlich gar nicht mehr zu verstehen und als Idiot dazustehen.
Arzt: sowieso und überhaupt. Ärzte sind mir ein Graus. Ich gehe dort nur hin, wenn es wirklich nicht mehr anders geht.
Zwei der angerufenen Psycho-Praxen nehmen keine neuen Patienten mehr an, zwei haben einen Anrufbeantworter, auf dem ich nach dem zweiten Anlauf jeweils eine Nachricht hinterlasse. In einer bietet mir die schnippische Tante am anderen Ende der Leitung an, mich auf die Warteliste zu setzen. Da fühlt man sich doch gleich richtig abgeholt …
„Und wie lange dauert das dann ungefähr?“, frage ich.
„Da müssen sie zurzeit mit 7 bis 8 Monaten rechnen“, nölt es aus dem Hörer.
„Äh, ok, das ist lang. Aber kann ich denn die Therapeutin vorher nicht wenigstens mal kurz kennenlernen? Ich weiß doch gar nicht, ob das mit uns funktioniert“, möchte ich wissen.
„Nein, das sehen sie dann bei ihrem ersten Termin“, entgegnet sie.
„OK. Dann Warteliste“, seufze ich.
Besser als nie, denke ich. Nach dem Telefongespräch schaue ich auf den Kalender. Jetzt ist es Februar. Ich mach’s mir auf der Warteliste gemütlich.
Abends bekomme ich wieder einen dieser Schwindelanfälle.
Kein Problem, rede ich mir ein. Ist ja alles nur psychosomatisch und schon in acht Monaten kann ich anfangen, dagegen etwas zu tun … beste Aussichten …
(Kleine Anmerkung zur Kapitelüberschrift: Natürlich weiß ich, dass es einen Unterschied zwischen psychotischem und psychosomatischem Krankheitsgeschehen gibt. Aber Texte von Deichkind sind Leider geil.)
Mit einem Anfall ungeklärter Ursache lande ich wenig später in der modernsten Notaufnahme unserer Stadt. Mit dabei: ein Sammelsurium aus beängstigenden Sinneswahrnehmungen und – ausfällen, extremem Schwindel, Ohrgeräuschen, Bein-Lahmheit, Koordinierungsstörungen und Todesangst.
Ich erinnere mich schemenhaft daran, wie ich auf ein schmales Bett, eher eine Liege, verfrachtet werden. Das Erste, was ich wieder relativ klar und deutlich höre und sehe, ist eine dunkelhaarige Schwester: „Blutdruck is‘ Scheiße!“, sagt sie und sprüht mir etwas in den Mund. Nitro-Spray. Bei einem Blutdruck von 190 zu 130 eine gute Idee.
Sofort spüre ich einen ekelhaften Druck im Hinterkopf. Es ist, als ob das Gehirn sich plötzlich aufbläst. Ich will etwas sagen – es kommt aber nichts raus. Zwischen meiner Oberlippe und den Augen spüre ich nichts. Ich rechne fest damit, jetzt gleich zu sterben. Die Schwester geht raus. Ich rufe um Hilfe: ‚Lasst mich nicht alleine!‘ - Dabei gebe ich keinen Ton von mir. Meine Stimme ist nur in meinem Kopf.
Die Tür geht auf. Zwei Feuerwehrmänner kommen rein. ‚Krass‘, denke ich, ‚Telepathie!‘
Die beiden sind aber nicht wegen mir hier, sondern bringen Herrn S. auf einer Roll-Pritsche. Er atmet schwer und pfeifend. ‚Helft ihm doch!‘, schreie ich – wieder ohne, dass etwas zu hören ist. Immer wieder drehen sich meine Augen von selber irgendwohin. Ich kann nicht fokussieren, was mit Herrn S. passiert. Ich höre, wie er röchelt. „Ganz ruhig, Herr S. – es kommt gleich jemand“, sagt eine männliche Stimme, die wohl zu einem der Feuerwehrmänner gehört. Herr S. wird lauter. Kämpft um jeden Atemzug. ‚Der hält nicht mehr lange durch, Mann!‘, denke ich. Jetzt hab‘ ich Angst um Herrn S. und davor, dass ich gleich mitkriege, wie jemand stirbt noch bevor ich selbst sterbe.
Drei Weißbekittelte kommen rein. Hantieren an Herrn S. rum. „So, jetzt wird’s gleich besser, Herr S.“, sagt ein dunkelhaariger Arzt. Ich sehe nicht, was sie mit dem offenbar älteren Herrn machen. Ganz langsam wird Herr S. ruhiger. Atmet wieder rhythmischer, wenn auch immer noch pfeifend. Dann sind wieder alle verschwunden. Bis auf einen der Feuerwehrmänner, der irgendwelche Zettel ausfüllt.
Ich singe in Gedanken ein Lied von dem leider viel zu früh verstorbenen Kazim Akboga, um mich zu beruhigen: „is‘ mir egaaal‘, egaaal‘, is‘ mir egaaal, egaal‘“ und weiter: ‚Roboter mit‘ „Seeeeenf“ … is‘ mir egaaal’– Ups! Hatte ich Senf jetzt laut gesagt?! Der Feuerwehrmann guckt mich an: „Ham‘ Sie was gesagt?“
„ANST“, nuschle‘ ich. Wie peinlich.
„Sie brauchen keine Angst zu haben, wird schon alles gut. Der Doktor kommt auch gleich zu Ihnen“, beruhigt mich der Lebensretter und geht raus. Ich versuche ein Lächeln. Wird nix.
‚Die sollen sich auch mal lieber um Herrn S. kümmern, dem geht’s echt nich‘ gut‘, denke ich, als eine blonde langsam welkende Schönheit mit Arschgeweih und String-Tanga, Kaugummi kauend ins Zimmer schlendert.
„Pinkeln“, röchelt Herr S. – das Ganze ist ihm wohl auf die Blase geschlagen.
„Jetzt nicht“, patzt die Blonde ihn an und geht wieder raus. „Pinkeln, bitte.“ Herr S. kann von seinem Bett aus nicht sehen, dass die Else wieder verschwunden ist. Ich will was sagen, klappt aber nicht. Meine Augen machen ebenfalls immer noch, was sie wollen. Die Zeit vergeht. Zwei Mal startet der automatische Blutdruckmesser an meinem Arm, also schätzungsweise 30 Minuten später, kommt mein Mann ins Zimmer. Jetzt wird alles gut, denke ich.
„Pippppi!“, sag‘ ich zur Begrüßung und will auf Herrn S. zeigen, was aufgrund meiner lahmen Arme nicht funktioniert.
„Musst du Pipi?“, fragt mein Mann ruhig und lächelt mich glücklich an. Mit seltsamen Äußerungen seiner Gattin zu unmöglichen Zeitpunkten kennt er sich aus - das schockt ihn also nicht. Außerdem freut er sich offenbar, dass ich überhaupt noch was sage.
„Nein. Daaaa“, stammle ich und zucke mit dem Arm in Richtung Nachbarpritsche zu Herrn S. Das Sprechen wird langsam besser. „Er muss mal. Schwesserolen.“ Mein Mann versteht, und verspricht jemanden zu holen. Er geht schnellen Schrittes raus. Eine Minute später kommt die Blonde wieder rein. Hantiert an Herrn S. rum. „Pinkeln. Schnell. BITTE!“, röchelt Herr S..
Jetzt wird sie ja wohl, denke ich.
„Jetzt nich‘, hab‘ ich gesagt“, motzt sie genervt und geht wieder raus. Nach weiteren Minuten höre ich ein Plätschern. Dann ein Schluchzen. Herr S. weint. Er konnte nicht mehr.
Die Tür geht auf. Ich sehe meinen Mann, eine andere Schwester und eine Pinkelflasche. Zu spät, denke ich. Die Blonde kommt dazu. Stöhnt laut auf: „Och, nööööh“, ranzt sie in Richtung von Herrn S. und rupft ein paar grüne Tücher aus einem Spender neben der Tür, um damit die sich langsam ausbreitende Pfütze unter der Liege des alten Mannes aufzusaugen.
Ich bin so wütend, dass meine Lebensgeister der Angst jetzt zeigen, wo Bartel den Most holt. In diesem Moment entscheide ich, dass diese blonde Ziege garantiert nicht das Letzte ist, was ich auf dieser Erde sehe. „So nicht, Frollein, jetzt wird nicht gestorben“, stutze ich mich innerlich zurecht. Nach und nach komm‘ ich wieder bei. Die Wut hilft mir dabei, so gut sie kann. Nachdem sich auch mein Blutdruck beruhigt hat und weder EKG noch Blutwerte Grund zur Besorgnis geben, bin ich nach ein paar Stunden wieder zu Hause. An Herrn S. denke ich manchmal heute noch. Ich frage mich, ob er noch lebt. Leider bleibt es nicht bei einem Besuch in dieser Notaufnahme …
Mein Nacken macht mich mittlerweile wahnsinnig. Rückenschmerzen habe ich, seit ich denken kann. Mal mehr mal weniger. Aber zum Orthopäden, wie mein Mann und gefühlt alle anderen Verwandten und Bekannten empfehlen, will ich einfach nicht gehen. Zu den approbierten Metzger-Typen mit klar erkennbaren real-sadistischen Zügen habe ich ein besonders gestörtes Verhältnis. Deshalb pauschalisiere ich an dieser Stelle und werfe einfach alle in einen Topf. Machen die ja auch so. Außerdem bin ich nicht ganz dicht und überempfindlich (das hab‘ ich schriftlich).
Das letzte Mal, dass ich einen Orthopäden aufgesucht hatte, war etwa 5 Jahre zuvor. Ich war in der 9. Woche schwanger, hatte schlimme Kreuzschmerzen. Meine Frauenärztin schickte mich zu einem Orthopäden mit chiropraktischer Zusatzqualifikation. Ich war verzweifelt genug, also suchte ich mir den Nächstgelegenen raus. Niemand aus der Familie hatte Zeit, mich zu begleiten, also ging ich notgedrungen alleine.
Die Behandlung dauerte nicht lange.
„Brille ab!“, feldwebelte der große Mann in Weiß, griff nach meinem Kassengestell und riss mir ein paar Haare dabei aus. Ich verfiel umgehend in die mir bekannte Kaninchenstarre. Innerlich flehte ich mich selbst an: „Bleib‘ ruhig, du bist schwanger. Denk an das Kind. Ganz ruhig.“
Wie ein überdimensionales, dickes Nackenkotlett wuchtete er meine stattlichen 110 kg auf der Pritsche von der rechten auf die linke Seite und stemmte sich ruckartig mit seinem ebenfalls nicht unbeträchtlichen Gewicht auf meinen Oberschenkel. Ich weiß nicht genau, was noch alles passierte, ich war wie weggetreten und mit meinem „Ganz Ruhig-Mantra“ ausgelastet. Gelähmt vor Angst lag ich da. Nur noch das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht tobten in mir herum. Daran, wie ich aus dem Behandlungsraum raus kam und die Arztpraxis verlassen hatte, kann ich mich nicht erinnern. Dissoziation nennen Traumatherapeuten so was. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nichts davon, dass meine Aussetzer und Gedächtnislücken mit einer handfesten Traumafolgestörung zusammenhingen.
Einen Tag nach der chiropraktischen Behandlung stellte meine Frauenärztin beim Ultraschall fest, dass das Kind in meinem Bauch nicht mehr lebte. Als sie mir das bewegungslose, weißliche Etwas mit dem Kopf und den Knubbel-Armen, die sich neulich noch so lustig bewegt hatten, auf dem Bildschirm zeigte, war ich auf einen Schlag wie leergelaufen. Mein kleines Gespenst (so hatte ich den kleinen Embryo bei der letzten Ultraschalluntersuchung genannt) war tot.
Als der Schmerz kommen wollte, weigerte ich mich, ihn zu fühlen - verdrängte ihn. Es fragte mich auch niemand danach. Fehlgeburten sind nicht besonders salonfähig in unserer Gesellschaft.
Obwohl ein kausaler, also ursächlicher Zusammenhang zwischen der Chiro-Nummer und der Fehlgeburt aus medizinischer Sicht schlecht zu belegen ist, muss ich mit der Korrelation, also dem gleichzeitigen Auftreten beider Sachen leben. Das ist schwer. Ich habe das immer noch nicht richtig verpackt.
Deshalb suche ich mir wegen meiner Kopf- und Nackenschmerzen jetzt einen Osteopathen, den ich mir wie eine Art „Light-Version“ des gemeinen Orthopäden und daher weniger „grausam“ vorstelle. Die Internetseite von Herrn R. macht einen guten Eindruck. Es ist von Evidenz, also nachgewiesener Wirksamkeit der Methode die Rede. Da bin ich dabei. Von Quacksalbern will ich nichts wissen.
Auf dem Weg in die Praxis, mitten auf der viel befahrenen Bundesstraße ohne Seitenstreifen, bekomme ich eine Panikattacke. Schaffe es dennoch, mit verheultem Gesicht pünktlich zu erscheinen. Auf den Termin habe ich lange gewartet und kurzfristig „grundlos“ absagen, ist nicht meine Art. Außerdem soll der mir ja helfen.
In der Praxis, in der leise ambientartige Musik läuft, steht ein kleines Schild auf der Theke: „Bitte einmal tief durchatmen“.
Das mach‘ ich sofort. Compliance (also die Bereitschaft, das zu tun, was der Arzt anordnet) ist mein zweiter Vorname.
Im muckelig warmen Behandlungszimmer berichte ich von der Panik, von meinen Nacken- und Kopfschmerzen. Versuche, locker zu bleiben und antworte möglichst frisch heraus auf die vielen Fragen des ehrlich interessiert wirkenden Mittvierzigers mit dem wissenden Blick. Auf manche habe ich gar keine Antwort. Andere versuche ich mit humorigen Einlagen zu übergehen. Der Osteopath lacht aber nicht über meine Witze.
„Atmen Sie bitte einmal tief ein“, sagt er bei der körperlichen Bestandsaufnahme.
Ich atme.
„Richtig tief einatmen.“
Ich atme noch mal.
„Ok. Tiefer geht nicht?“, fragt er.
„Nein“, sage ich.
„Gucken Sie mal, wo sie hinatmen“, weist er mich an. Ich gucke zu meinem stattlichen Wanst.
„Die Lunge ist hier oben. Da tut sich aber gar nichts“, stellt er fest, während er auf meinen Brustkorb zeigt.
Ich staune. Über meine Lunge habe ich explizit noch nie nachgedacht.
„Ihr Zwerchfell ist das Problem“, erklärt Herr R.
'Mein Zwerchfell? Ich hab‘ doch Nacken!', denke ich.
Herr R. erklärt mir die anatomischen Zusammenhänge von Zwerchfell, Körperhaltung und Nackenschmerzen. Der Zug, der sich da nach vorne und unten über die Jahre aufgebaut hat, ist offenbar enorm. Viel kann Herr R. an diesem Tag nicht erreichen. Dennoch ist er zuversichtlich: „Eine russische Balletttänzerin werden wir nicht aus Ihnen machen, aber wir können etwas verbessern“, verspricht er.
„Das ist gut“, sage ich.
„Wie viel Zeit mehr können Sie ab sofort für sich selbst nutzen, um sich zu entspannen? In Prozent“, fragt er dann.
Ich überlege. Schaufele Aufgaben und Pflichten im Kopf hin und her.
„So 10 Prozent vielleicht?“, sage ich nach langem Schaufeln, überzeugt, dass das eine ganze Menge ist.
„Das ist zu wenig“, stellt Herr R. ruhig fest. „Sie müssen ihr Leben radikal ändern, sonst haben Sie nicht den Hauch einer Chance.“
Ich schweige. 10 Prozent am Tag zum Rumlungern für MICH finde ich ganz schön radikal.
„Fünfzig Prozent. Minimum“, setzt er nach.
Plötzlich ist da dieser Kloß in meinem Hals. Tränen steigen auf. Ich will sie unterdrücken, weil ich nicht weiß, was sie wollen. Geht aber nicht. Sie kullern aus meinem Gesicht heraus. Scheiße, ich Jammerlappen, denke ich.
„Sorry, geht gleich wieder“, entschuldige ich mich.
Herr R. sagt ruhig aber bestimmt: „Das ist jetzt authentisch. Nicht dieses ‚Ha, ha, ha und hi, hi, hi, is‘ alles gar nicht so schlimm‘ von eben. Merken Sie das?“
„Ja“, sage ich tonlos. Ich fühle mich merkwürdig ertappt, aber nicht bloßgestellt. Ich lass‘ es jetzt aus dem Gesicht rauslaufen. Jetzt is‘ eh zu spät. Kurz nachdem ich mir das OK zum Heulen gebe, hört es auf.
„Ich kann das nicht. Mehr Zeit einbauen. Ich hab‘ ’nen kleinen Sohn und meinen Mann …“, stammle ich eher zu mir selbst.
„Ihr Sohn braucht eine gesunde Mama. Keine, die funktioniert bis sie umfällt. Ihr Mann genau so“, sagt Herr R. ruhig. Etwas in mir weiß, dass er recht hat – der Rest in mir stellt sich stur. Der vermeintliche „Light-Orthopäde“ ist vom gemeinen Orthopäden so weit weg, wie man nur sein kann. Das ist auch gut so.
Zum nächsten Termin schaffe ich es ohne Panikattacke. Allerdings auch ohne nennenswerte Veränderungen in meinem Tagesablauf. Andere schaffen das doch auch, halte ich mir vor. Ich muss mich wohl nur mehr anstrengen, denke ich.
Nachts schlafe ich selten mehr als vier oder fünf Stunden. Nicht am Stück, sondern in 1-2 Stunden-Päckchen. Bis 3 Uhr morgens. Dann wache ich nassgeschwitzt mit Herzrasen und Magenschmerzen auf.
„Ändern Sie was!“, sagt Herr R. eindringlich bei unserem dritten Termin.
„Schlaf ist das Wichtigste. Sie MÜSSEN vernünftig schlafen!“, redet er weiter auf mich ein.
„Ich versuch’s ja“, versichere ich.
„Ihnen ist noch nicht klar, dass Sie ein richtiges Problem haben. Das Nächste, was kommt, ist ein Bandscheibenvorfall oder zwei oder drei“, orakelt Herr R. ruhig aber eindringlich. „Sie können ihr Problem nur lösen, wenn sie die Ursachen erforschen. Das physische können wir hier bearbeiten, aber Sie brauchen auch Experten für die psychische Seite. Suchen Sie sich jemand Gutes. Den besten, den Sie kriegen können“, beschwört er mich geradezu.
Zu Hause denke ich darüber nach. Sehr lange. In der Zwischenzeit schlafe ich weiter schlecht und ärgere mich darüber, dass ich zu doof zum Schlafen bin.
Ich tue es ungern, aber ich gehe wieder zum Arzt wegen meiner immer schlimmer werdenden Kopf- und Nackenschmerzen. Diesmal zu einem anderen, vielleicht geht es dann voran. Ohne einen Kommentar oder weitere Fragen zu stellen, greift der nette Doktor, der in einer schönen Villa praktiziert, zum Blutdruckmessgerät. „Ich habe Angst vorm Blutdruckmessen“, sage ich, damit er Bescheid weiß.
„Ach, was!“, lacht er, grapscht nach meinem Arm und legt los. Ich halte die Luft an. Verfalle wieder in die Kaninchenstarre. Es tut weh. Danach hab‘ ich ’nen blauen Fleck am Oberarm. Ich spüre mein Herz bis unter die Schädeldecke. Ich will hier nur noch raus.
„Ja, viel zu hoch!“, frohlockt der Mediziner. Den passenden Gesichtsausdruck zur Ergebnisverkündung haben diese netten Ärzte offenbar alle aus dem gleichen Lehrbuch. Immerhin gibt es nach 30 Sekunden „Gespräch“ eine Diagnose: Bluthochdruck.
„Ich habe wirklich Panik“, kann ich noch raus quetschen.
Keine Reaktion. Der Arzt hämmert in die Tasten seines PCs wie Jerry Lewis in „The Typewriter“.
Nach weiteren 30 Sekunden habe ich ein Rezept für weitere Blutdruckmedikamente (Amlodipin und Ramipril) in der Hand und der Doc seine Gebühr für eine „Gesprächsleistung bei einer lebensverändernden Erkrankung“ nach GOÄ (Gebührenordnung für Ärzte) im Sack. Das lese ich später in den Abrechnungsunterlagen der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung, die ich mir seit einiger Zeit jedes Jahr in Kopie zuschicken lasse.
Meine Nackenschmerzen – kein Thema mehr. Aber das liegt ja auch an mir. Ich verstumme schnell und gründlich, wenn ich Angst habe.
Nach ein paar Wochen sind meine Füße derart geschwollen, dass sich aufgrund des reibenden Schuhwerks die Fußnägel der kleinen Zehen ablösen. Mein Blutdruck hat sich auf muntere 90 zu 54 eingependelt. Kopf- und Rückenschmerzen unverändert mit Tendenz zu schlimmer. Dazu Schwindel, Übelkeit, Ohrensausen.
Ich gehe wieder zum Arzt. Seine Lösung (nachdem er noch mal den Blutdruck gemessen hat, der natürlich wieder zu hoch ist): Mehr von den Tabletten und abnehmen. Gegen die Kopf- und Rückenschmerzen: Spazierengehen und abnehmen. Dauer des Gesprächs: 3 Minuten.
Abrechnung wie letztes Mal.
Alles klar.
Mehr von diesen Tabletten nehme ich nicht – so viel bin ich mir noch wert. Spazieren gehe ich sowieso jeden Tag. Zum Thema Abnehmen später mehr …
Ich warte, bis der nette Arzt Urlaub hat. Gehe zu seiner Vertretung, um noch mal eine andere Meinung zu hören und vielleicht doch noch Hilfe bzgl. der Kopf- und Rückenschmerzen zu bekommen, ohne, dass der nette Arzt böse auf mich ist, weil ich seine Anordnungen nicht korrekt befolge.
Das mit den Ödemen in den Füßen sei doch kein Problem, sagt die nette Vertretung: Statt Amlodipin nehmen wir ein Entwässerungsmedikament. OK.
Der Effekt: Noch mehr Schwindel und noch mehr Kopf-und Rückenschmerzen. Dazu: Muskelkrämpfe.
Nach ein paar Tagen nehme ich nur noch das Ramipril (Compliance ist ja mein zweiter Vorname). Zu den Kopf- und Nackenschmerzen gesellt sich nun ein lästiger Reizhusten …
Als meine Nackenschmerzen immer schlimmer werden und ich meinen linken Arm nicht mehr richtig bewegen kann, schleift mein Mann mich nun doch zum Orthopäden. Wir gehen gemeinsam in das Behandlungszimmer. Alleine traue ich mich nicht.
Der Orthopäde fragt, wo der Schuh drückt. Ich schildere meine Beschwerden. „Hm“, sagt er. „Da müssen wir als erstes was gegen die Schmerzen machen.“
Er gibt mir zwei Spritzen in den Nacken, schreibt mich eine Woche krank und bestellt mich noch mal zum Nachgucken. Zu Hause lassen die Schmerzen etwas nach. Der Arm bleibt widerspenstig.
In der folgenden Nacht renne ich wie auf Speed durch die Wohnung. Wiege mich bis frühmorgens um vier nach den schönsten 80er-Jahre-Liedern von einem Bein aufs andere, um mich zu beruhigen. Als mein Mann wach wird und mich mit meinen Kopfhörern im Wohnzimmer stehen sieht, legt er die Stirn in Falten und guckt mich komisch an. Er ist ja einiges gewohnt, aber jetzt macht er sich Sorgen. Mir wurscht, ich fühl‘ mich ja super. „Nowhere girl, you never go outside. Nowhere girl, cause you prefer to hide“, singe ich laut und falsch mit geschlossenen Augen.
Zwei Tage später ist alles noch schlimmer und ich habe im ganzen Rücken, den Beinen, im Kiefer und im Kopf Schmerzen. Fühle mich wie gegen die Wand gerotzt. Kortison, einer der Wirkstoffe in der Spritze, kann so was machen, wie ich später erfahre. Warum sagt einem das niemand? Ich fühle mich in meinem Urteil über Orthopäden bestätigt, hintergangen und ein bisschen wie vergewaltigt.
In meiner Patientenakte, die ich nach ellenlangem Hin und Her später in Händen halte, steht: „Nach erfolgter Aufklärung.“ Das ist glatt gelogen, aber ich kann es nicht beweisen. Obwohl mein Mann mit im Raum war, stünde Aussage gegen Aussage, denn die Arzthelferin (namentlich als anwesend in der Patientenakte vermerkt) war mit im Zimmer und wird natürlich den Teufel tun, und ihren Chef in die Pfanne hauen.
Leider bleibt das nicht der einzige Fehltritt in dieser Praxis. Damit muss ich mich aber jetzt arrangieren, denn weder in einer Woche Urlaub, die ich mit Halskrause an der Ostsee verbringe, noch der Besuch bei der HNO-Ärztin, die ich wegen des Schwindels und meinen Ohrgeräuschen aufsuche, verbessert sich mein Zustand. Nach weiteren fünf Wochen Arbeitsunfähigkeit und einem MRT steht fest: Bandscheibenvorfälle in zwei Segmenten plus Vorwölbungen in zwei weiteren Segmenten der im übrigen steil gestellt degenerierten Halswirbelsäule. Der Spinalkanal ist leicht eingeengt. Das erklärt einige meiner Beschwerden. Sogar noch etwas besser als die Diagnose meines TCM-Internisten, der ja auf „Psyche“ (als Synonym für Simulation und Anstellerei) gesetzt hatte.
Obwohl die Diagnose Bandscheibenvorfall nicht schön ist, ist ein Teil von mir erleichtert. Endlich weiß ich, womit ich’s zu tun habe. Endlich kann ich zielgerichtet etwas dagegen tun. Endlich weiß ich, dass ich nicht spinne. Endlich bin ich nicht mehr der Simulant. Endlich lassen die Selbstzweifel nach. Zumindest für kurze Zeit.
Trotzdem habe ich Schuldgefühle. Mein Osteopath, Herr R., hatte mich gewarnt und ich hab‘ es nicht geschafft, das zu verhindern. Also: selber schuld. Hätte einfach mehr entspannen und länger schlafen müssen, ich Versager.
Wie zum Trotz erreicht mich der Anruf der Psychotherapie-Praxis, auf deren Warteliste ich stehe, ausgerechnet als ich mich mit meinen beiden Hals-Bandscheiben unterm Arm durch die Tage quäle. Ich bitte die schnippische Vorzimmer-Tante, den Termin in ein paar Wochen zu machen, weil ich weder Autofahren noch 10 Minuten Sitzen kann mit dem kaputten Hals. Sie erklärt mir, dass das nicht geht und dass ich mich nun höchstens wieder neu auf die Warteliste setzen lassen kann. Die wäre jetzt aber nur noch etwa fünf Monate lang. Ich bedanke mich und lege auf.
Im Internet suche ich jetzt selbst nach einem Psychotherapeuten mit freien Kapazitäten. Schließlich finde ich einen, der im Hauptberuf als Rettungsassistent arbeitet. Die perfekte Kombination für einen „spezialgelagerten Sonderfall“ mit Todesangst und anderem Psycho-Zeugs wie mich. Das lasse ich mir was kosten, denke ich. Als Selbstzahler stehen mir im Psycho-Sektor alle Türen offen.
Nach weiteren vier Wochen geht es mit meinem Hals so gut, dass ich mir die 20-minütige Autofahrt in seine Praxis zumindest theoretisch vorstellen kann. Ich nehme per Mail Kontakt auf. Zwei Wochen später findet meine erste psychotherapeutische Unterredung statt.
Herr E. ist ein ganz „normaler“ Mensch. Das beruhigt mich. Er trägt keinen Arztkittel, kein Therapeuten-Weiß und seine Praxis ist gemütlich eingerichtet und warm. Schon mal gut. Ich friere meistens dermaßen, dass ich 3-4 Schichten Kleidung trage, was mich und meine mittlerweile 113 Kilo nicht gerade graziler erscheinen lässt.
Ich sehe es ihm nach, dass er offenbar zuerst wie alle „netten Helfer“ mein offensichtlichstes Problem, mein Gewicht, mit in den Problem-Topf schmeißt. Es ist ja schließlich auch ein Schwerpunkt, den er in seiner Hypnose-Paxis behandelt. Relativ schnell wird allerdings auch ihm klar, dass der – wenn auch dicke – Hase in einem anderen Pfeffer liegt. Ich wehre mich aber nicht dagegen, das Hüftgold auch gleich mit wegzutherapieren.
Schon nach der ersten Sitzung bin ich leicht euphorisiert. Endlich passiert was. Eingedeckt mit Beruhigungstricks gegen die Panikattacken, Literatur und „Hausaufgaben“ verlasse ich die Praxis mit dem guten Gefühl, dass mein Geld hier gut angelegt sein könnte. Von der Krankenkasse wird hier natürlich gar nichts übernommen. Den Heilpraktiker für Psychotherapie kann ich schön alleine bezahlen. Egal. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Der Therapeut Herr E. kennt das Leben und die Menschen von der extremen Seite. Das schätze ich. Als Rettungsassistent erlebt er Sachen, die uns Otto-Normalbürger glatt vom Schlitten hauen würden. Da bin ich mir sicher. Andererseits habe ich schon oft erlebt, dass ich selbst in Extremsituationen auch eher entspannter reagiere als andere. Mich machen eher die kleinen Dinge fertig. Richtig fertig. Immer und immer wieder.
In einer der ersten Hypnose-Sitzungen habe ich zum ersten Mal in meinem Erwachsenen-Leben Kontakt zu meinem kleinen, jüngeren Ich. In der Rückführung zu einer Nasenpolypen-OP, sehe ich, wie sich das kleine blonde Mädchen vor Angst und Verlassenheitsgefühl bibbernd höchst unwohl in ihrem Körper fühlt.
„Mama ist doof“, sagt sie (also ich).
„Warum ist Mama doof?“, fragt Herr E.
„Die hilft mir nicht. NIE!“, jammert das kleine Mädchen in mir.
Herr E. schlägt vor, dass mein großes Ich das ja jetzt übernehmen könnte. Gute Idee. Die Große nimmt die Kleine in den Arm, sagt ihr, dass alles gut ist. „ICH bin bei Dir“, sagt die Große.
„Ich hab‘ Dich lieb!“, sagt die Kleine.
Beide weinen.
Mit dieser kleinen Sequenz löst sich ein riesiger Knoten, den ich mein Leben lang mit mir herumgetragen habe. Meine Mutter, von der ich mich stets missverstanden und ungesehen fühlte, ist nicht der Schlüssel. Egal, was war. Sie muss es auch gar nicht sein. Ich selbst kann mir jetzt helfen. Ich brauche meine Mutter nicht dafür. Was mein kleines Ich im Kindergartenalter erlebt hat, kann ich jetzt noch mal mit ihm zusammen erleben und es mit ihm gemeinsam durchstehen.
So gehen wir in vielen weiteren Hypnose-Sitzungen und EMDR-Interventionen Szene für Szene durch und lösen Knoten über Knoten. Einen nach dem anderen. Manchmal fühle ich mich danach, als hätte ich einen Garten umgegraben. Seelenarbeit ist Schwerstarbeit. Herr E. begleitet mich auf meinem Weg. Sichert meine Schritte nach allen Seiten ab, unterstützt, wo es nötig ist. Er gibt mir Sicherheit im Umgang mit diesen neuen Eindrücken.
Manchmal erinnert er mich dabei an Monty Roberts, den amerikanischen Pferdeflüsterer, den viele für seine Arbeit mit traumatisierten und schwierigen Pferden feiern. Wie passend diese Metapher tatsächlich ist, wird mir erst viel später klar. In meiner Seelenarbeit geht es sehr langsam voran. An manchen Stellen kommen wir einfach nicht weiter und mein Körper und ein paar Ärzte machen alles wieder schlimmer. Dennoch bin ich davon überzeugt: Das Geld für diese Therapie ist gut angelegt.
Nach fünf Wochen Arbeitsunfähigkeit und der Diagnose „HWS-Prolaps in C5-C6 und C6-C7“ muss es endlich vorwärts gehen. Meine Geduld ist am Ende. Ich melde mich für das integrierte Versorgungskonzept bei Rückenschmerzen „Schmerzfrei leben“ meiner Krankenkasse an. In einem schönen bunten Flyer wird erklärt, dass „ausgewählte Fachärzte, Verhaltens- und Physiotherapeuten dabei eng und effektiv zusammen [arbeiten] und so die Heilungschancen [erhöhen].“ - Das will ich. So geht’s voran.
Mit dem Orthopäden, der mir nicht sagt, was seine Spritzen anrichten können und seinen unfreundlichen Theken-Schlampen war ich mittlerweile fertig. (Darf man Schlampen sagen? Es ist angemessen, also bleibt es stehen. Außerdem bin ich nicht ganz dicht, übersensibel und in einem emotional labilen Zustand. Da muss man mit so was rechnen.)
Ich finde mich also zu einem diagnostischen Screening in einer ultramodernen Praxis ein. Es fühlt sich wie ein Bewerbungsgespräch an. Hier wird entschieden, wer bei dem Programm mitmachen darf. Die mir zugeteilte Praxis ist nicht nur auf Rückenschmerzen spezialisiert, sondern auch auf Migräne und Schmerztherapie im Allgemeinen. So pflückt die in der Praxis angestellte Frau Dr. B., in deren Behandlungszimmer ich alsbald sitze, mein gesamtes Schmerzerleben in Nullkommanichts auseinander und erklärt mir die kausalen Zusammenhänge der unterschiedlichen Baustellen in meinem Körper.
Einige meiner Beschwerden seien ganz klar auf meine, seit der Kindheit bestehende Migräne zurückzuführen. Nervus trigeminus heißt der Schlingel, der da vorwiegend in meiner linken Gesichtshälfte seinem Namen alle Ehre macht und rumnervt. Ein großer Teil der Nackenschmerzen, Schwindel und Gefühlsstörungen seien dadurch erklärbar. Das ist mir neu. Hat mir noch keiner gesagt. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, dass da einer Bescheid weiß und seinen Job gut macht.
Armtaubheit und Schulter-Schmerzen hingen eher mit den Bandscheibenschäden zusammen. Die kriege man bestimmt in den Griff. Hinzu kämen allerdings die psychosozialen Faktoren, die das gesamte Schmerzerleben und die Migräne triggern und beeinflussen können. „Ganz wichtiger Punkt“, sagt sie. Klingt plausibel.
Eine Stunde später hab‘ ich den Therapieplatz und ’nen Sack voll Hoffnung.
Ich freue mich, obwohl sich mir allein bei dem Gedanken an die Fahrten zu den Therapeuten der eh schon rebellische Magen umdreht. An manche Fahrten kann ich mich nicht erinnern. Zu den ersten Terminen fährt mich mein Mann, der gerade Urlaub hat. Geplant war eigentlich, diese Zeit gemeinsam am Meer zu verbringen. Jetzt stehen wir drei Tage lang gemeinsam auf der B224. Danach zwinge ich mich, alleine zu fahren. Ich will nicht dauernd um Hilfe fragen.
Unzählige Male bleibe ich auf der Strecke stehen, um meine Panik- und/oder Schwindelattacken zu bewältigen. Mein Mann coacht mich bei diesen Fahrten telefonisch über die Freisprecheinrichtung. So ganz ohne Hilfe geht es nicht. In meinem Auto riecht es penetrant nach Lavendel (Tipp von Herrn E. zur Beruhigung). An jeder Hand habe ich einen Akupunktur-Ring (zur Fokusumlenkung). Ich hasse mich für meine Unselbstständigkeit, hasse die anderen, weil sie mich im Auto weinen sehen, hasse die ganze Welt, weil sie mir das antut. Aber: Ich kapituliere nicht! Ich singe: „I feel pretty … oh so pretty …“ wie im Film „Die Wutprobe“ (Originaltitel: Anger Management). Ich bin Jack Nicholson und Adam Sandler in Personalunion.
Die Physiotherapie des Programms tut mir gut. Vor allem die Fango-Matten und die manuelle Therapie bringen ein bisschen Erlösung. Mein programm-immanenter Physiotherapeut ist ein kräftig gebauter, nicht sehr großer Mann mit lustigen Augen und einem Bauchansatz. Das macht ihn neben den drahtig, sportlichen Surfer-Typen, die sich sonst als Physiotherapeuten verdingen und anderen gerne die Welt erklären, für mich besonders sympathisch.
Er warnt mich: „Machen Sie nicht zu schnell wieder zu viel.“
Ich verstehe nicht, was er meint. Ich tue doch alles, was ich tue nur, damit ich schnell wieder einsatzbereit bin. Damit ich wieder funktioniere und alles wieder ist wie früher …
In der zweiten Programmwoche geht gar nichts mehr: Migräne. Die üblichen drei bis vier Tage „Kopfschmerz mit Rahmenprogramm“ legen mich lahm. In der Schmerzpraxis bekomme ich das erste Mal Aspisol i.V. – schon nach fünf Minuten geht es besser. Ein Wunder! Wie ich an diesem Tag wieder nach Hause komme? Keine Ahnung. Außerdem ist mir schlecht und mir tut der Bauch weh, sehr weh …
Am Anfang der dritten und letzten Programmwoche meines Rückenschmerz-Programms geht es bei 37 Grad Außentemperatur und gefühlten 47 im Wartebereich der Arztpraxis zur Sache:
„Die Hitze – das ist das Schlimmste!“, höre ich eine pummelige Dame mit braunen Locken, weißer Popelinehose und sich langsam auflösenden Bast-Schühchen zu einem Herrn sagen. Der schleppt sich grade (mühsam auf seine Krücken gestützt) zwei Meter über den Flur zu der dort platzierten Sitzgruppe.
Die Pummel-Frau steht auf, setzt sich auf einen anderen Platz neben einen anderen Herrn – den kennt sie wohl bereits. „Das Warten – das ist das Schlimmste!“, schnaubt sie und wischt sich mit einem kleinen Handtuch durchs Gesicht. Eine Tür geht auf. Das Startsignal für mich und fünf weitere Schmerzpatienten zur psychotherapeutischen Gruppensitzung. Frau Pummel ist auch mit von der Partie. Die Therapeutin bittet uns, ein kleines Piktogramm an das aufgestellte Flipchart zu zeichnen. Es soll unseren momentanen Gemütszustand beschreiben.
Herr Bärtig malt einen gelben Smiley, lächelnd – läuft. Bei Herrn Vokuhila läuft’s gar nicht: Er malt eine orangefarbene Mundwinkel-nach-unten-Version. Herr Ringelpulli: Grüner Haken – alles tutti. Herr Handballer: Blauer Smiley, wellenförmiger Mund und Kugelaugen – geht so. Ich male einen schwarzen Smiley mit Fragezeichen als Nase – mal gucken. Frau Pummel springt auf und kritzelt unter alles ein großes, schwarzes Fragezeichen.
„Die vielen Fragen – das ist das Schlimmste!“, zetert sie und drückt sich das kleine Handtuch ins Gesicht.
Die Therapeutin hatte für diesen Termin ursprünglich eine Einführung in die „Progressive Muskelentspannung“ nach Jacobson plus Wärmeübung vorgesehen. Die Begeisterung in der Gruppe hält sich in Anbetracht der Wetterlage in Grenzen. Stattdessen soll die „Übung mit dem Ball“ folgen. Keiner wehrt sich. Nur Herr Vokuhila wirft ein:
„Was?! Bälle fangen?! Wir ham doch alle Rücken!“, regt er sich auf.
Herr Vokuhila ist neu in der Gruppe. Er weiß noch nicht um die universalenergetisch positive Wirkungsweise des Lederballwerfens mit mehreren Bällen in der immer gleichen Abfolge: Herr Ringelpulli zu mir, ich zu Herrn Bärtig, Herr Bärtig zu Herrn Vokuhila, Herr Vokuhila zu Herrn Handballer, Herr Handballer zu Frau Pummel, Frau Pummel zur Therapeutin, die Therapeutin zu Herrn Ringelpulli, der wieder zu mir und so weiter …