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Miguel de Cervantes (1547–1616) zählt neben Homer, Dante, Shakespeare und Goethe zu den fünf Großen der europäischen Literatur. Mit seinem Don Quijote hat er den modernen Roman erfunden und eine der herrlichsten Figuren der Weltliteratur geschaffen. Uwe Neumahrs neue Biografie blättert den Kosmos von Cervantes’ Werk auf und erzählt das abenteuerliche Leben des Dichters, das selbst einem Roman gleicht. Denn mit 22 Jahren musste Cervantes nach einem Duell aus Spanien fliehen. In der Seeschlacht von Lepanto zeichnete er sich durch Tapferkeit aus, doch seine linke Hand wurde zerschmettert. Er geriet in die Fänge von algerischen Piraten, versuchte viermal zu fliehen und wurde erst nach fünf Jahren Gefangenschaft losgekauft. Zurück in Spanien war er als Nachrichtenagent für König Philipp II. tätig, wurde des Mordes bezichtigt, kam erneut ins Gefängnis und wurde zweimal von der Kirche exkommuniziert. Den Don Quijote begann er im Gefängnis von Sevilla. Neben seinem weltberühmten Roman hat er mit seinen Novellen dieser Gattung zu ihrem Platz in der hohen Literatur verholfen. Uwe Neumahrs Biografie erschließt Leben und Werk von Cervantes in ihren historischen und literarischen Kontexten. Zugleich zeigt sie, wie Cervantes’ Werke durch ihre überzeitlichen Themen bis heute lebendig sind.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
Uwe Neumahr
Ein wildes Leben– Biografie –
C.H.Beck
Miguel de Cervantes (1547–1616) zählt neben Homer, Dante, Shakespeare und Goethe zu den fünf Großen der europäischen Literatur. Mit seinem Don Quijote hat er den modernen Roman erfunden und eine der herrlichsten Figuren der Weltliteratur geschaffen. Uwe Neumahrs neue Biografie blättert den Kosmos von Cervantes’ Werk auf und erzählt das abenteuerliche Leben des Dichters, das selbst einem Roman gleicht. Denn mit 22 Jahren musste Cervantes nach einem Duell aus Spanien fliehen. In der Seeschlacht von Lepanto zeichnete er sich durch Tapferkeit aus, doch seine linke Hand wurde zerschmettert. Er geriet in die Fänge von algerischen Piraten, versuchte viermal zu fliehen und wurde erst nach fünf Jahren Gefangenschaft losgekauft. Zurück in Spanien war er als Nachrichtenagent für König Philipp II. tätig, wurde des Mordes bezichtigt, kam erneut ins Gefängnis und wurde zweimal von der Kirche exkommuniziert. Den Don Quijote begann er im Gefängnis von Sevilla. Neben seinem weltberühmten Roman hat er mit seinen Novellen dieser Gattung zu ihrem Platz in der hohen Literatur verholfen. Uwe Neumahrs Biografie erschließt Leben und Werk von Cervantes in ihren historischen und literarischen Kontexten. Zugleich zeigt sie, wie Cervantes’ Werke durch ihre überzeitlichen Themen bis heute lebendig sind.
Uwe Neumahr ist promovierter Romanist und Germanist und hat vor allem zur Kulturgeschichte der spanischen und italienischen Renaissance geforscht. Heute arbeitet er als Literaturagent und freier Autor.
Für Peter Godman
Vorwort
Die Familie (1473–1547)
Cordobeser Glaubenskämpfe
Streitlust und Dominanz: Juan de Cervantes
Zwischen Neuchristentum und Altchristentum
Rodrigo de Cervantes: Der schwerhörige Wundarzt
Die Mutter Leonor de Cortinas
Geburt in Alcalá de Henares
Das Goldene Zeitalter
Frühe Jahre (1547–1571)
Stotterte Miguel de Cervantes?
Freiheitsdebatten
Rodrigo de Cervantes’ Fehleinschätzung
Kampf um den Adelstitel
Cervantes’ Bildungsweg
Ein ungebildeter Dichter?
Literarische Erweckungserlebnisse
Liebe zur Musik
Familiäre Veränderungen
Die Cervantas
Lehrjahre in Madrid
Das Königshaus
Erste Gedichte
Im Estudio de la Villa
Erasmismus
Neue Familienquerelen
Die Flucht
In Rom
Soldatenleben (1571–1575)
Arkebusier in königlichen Diensten
Neapel
Lepanto: Die große Seeschlacht zwischen Orient und Okzident
Der Einarmige von Lepanto
Rekonvaleszenz
Weitere militärische Missionen
Unbefriedigende Perspektiven
Alma Mater Italia
Gefangenschaft (1575–1580)
Alltag in Algier
Gegensätze
Der erste Fluchtversuch
Die Bittschrift an Mateo Vázquez de Leca
Der zweite und dritte Fluchtversuch
War Cervantes homosexuell?
Ein weiterer Fluchtversuch
Ein Märtyrer und ein Judas
Verstärkte Befreiungsbemühungen
Rettung
Neubeginn (1580–1585)
Eine nachrichtendienstliche Operation
Entmutigende Stellungsgesuche
Rückkehr zu den Musen
Das Theater lockt
Entlehnen: Eine gängige Praxis
Frühe Dramen
Numantia
Sklave in Algier
Saavedra
Ana de Villafranca
Esquivias
Eine überstürzte Heirat
Die Galatea
Erastros zerbrochener Spiegel
Abkehr
Brotberufe (1585–1605)
Unterwegs als Geschäftsagent
Bildende Künstler
Sevilla
Die englische Bedrohung
Der königliche Flottenkommissar: Anfeindungen und Exkommunizierungen
Ein Sonett auf Nierensteine
Wieder unterwegs
Die Unglücksfahrt der Unbezwinglichen
Eine pikarische Lebensform
Gesuche
Weitere Querelen und erste Inhaftierung
Steuereintreiber
Im königlichen Gefängnis von Sevilla
Geistige Befreiung
Neue Zeiten
Eine Hiobsbotschaft
Valladolid
Streit mit Lope de Vega
Am Esgueva
Krankheit
Don Quijote und der zweifelhafte Ruhm (1605–1607)
Von den Mühen, einen Roman zu veröffentlichen
Ein renommierter Verleger
Don Quijote erster Teil
Totengräber des Ritterromans
Aspekte eines Meisterwerks
Deutungen
Geschäftiges Treiben
Ein Duell mit dramatischen Folgen
Abschied von Valladolid
Literarische Erfüllung und Lebensende (1607–1616)
Wieder in Madrid
Ein fragwürdiges Ehegeschäft
Als Theaterautor im Schatten von Lope de Vega
Acht Schauspiele
Acht Zwischenspiele
Verlangen nach religiösem Zusammenschluss
Die Vertreibung der Morisken
Wachsende Einsamkeit
Heimweh nach Neapel
Literarisches Leben in Madrid
Exemplarische Novellen
Ein Porträt?
Entfremdung mit Robles
Die Reise zum Parnass
Avellanedas Don Quijote: Rache für zugefügtes Leid?
Don Quijote zweiter Teil
Zunehmende Gebrechlichkeit
Wunder des Nordens: Persiles und Sigismunda
Ein christlicher Musterroman
Letzte Tage
Nachtrag
Anhang
Dank
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Personenregister
Wer kennt sie nicht, die Redewendung «Gegen Windmühlen kämpfen», mit der ein sinnloser Kampf umschrieben wird? Sie geht bekanntlich auf eine Szene im ersten Teil des Romans Don Quijote zurück, in der der Titelheld gegen Windmühlen kämpft, die ihm als Riesen erscheinen. Die Abenteuer und Erlebnisse Don Quijotes, des «Ritters von der traurigen Gestalt», gehören zum kulturellen Allgemeingut. Bei dem Roman von Miguel de Cervantes (1547–1616) handelt es sich um das unumstrittene Meisterwerk des Romanschaffens im Goldenen Zeitalter Spaniens, das der Erzählkunst neue Wege gewiesen hat. William Shakespeare, Thomas Mann und Jorge Luis Borges nahmen sich des Stoffs in Bühnenwerk und Texten an. Bildende Künstler wie Francisco Goya, Pablo Picasso oder Salvador Dalí gaben dem Ritter ein Antlitz. Komponisten wie Georg Philipp Telemann, Felix Mendelssohn Bartholdy und Jules Massenet schufen Opern nach dem Don Quijote. Der Roman wurde mehrfach für das Theater bearbeitet und über 20-mal verfilmt. Auch in der Populärkultur tritt Cervantes’ tragikomischer Held in Erscheinung, etwa auf der Musicalbühne oder in einem Puzzle, Brett- und Computerspiel. Aus einer literarischen Figur ist ein Werbeträger und Wirtschaftsfaktor geworden, der Millionen einspielt.
Auch wenn Cervantes heute neben Homer, Dante, Shakespeare und Goethe zu den fünf ganz Großen der europäischen Literatur gezählt wird, ist die Wahrnehmung des Dichters im deutschen Sprachgebiet merkwürdig einseitig. Außerhalb der universitären Literaturwissenschaft herrscht nicht selten der Eindruck vor, er habe nur den Don Quijote hinterlassen. Ein Vergleich mit der medialen Präsenz und der Bühnengegenwart seines Zeitgenossen Shakespeare verbietet sich geradezu in Anbetracht der Beliebtheit des Engländers – sieht man einmal davon ab, dass nahezu jeder schon einmal Cervantes’ Konterfei auf spanischen Euromünzen in den Händen gehalten hat.
Seit 2008 liegt eine hervorragende Neuübersetzung des Don Quijote vor, die die Nuancen von Cervantes’ sublimer Sprache akkurat ins Deutsche überträgt und ihrer Vielschichtigkeit gerecht wird.[1] Obwohl sich in editorischer Hinsicht in den letzten Jahren viel getan hat und immer zuverlässigere spanische Ausgaben vorliegen,[2] datiert die letzte deutsche Übersetzung aller anderen Werke, mit Ausnahme der Novellen, aus den 1960er Jahren. Um die Aufführungspraxis seiner Theaterstücke ist es noch schlechter bestellt. Cervantes’ Dramen, darunter die reizvollen Zwischenspiele (Entreméses), werden von deutschsprachigen Bühnen weitgehend ignoriert. Schauspielführer verzeichnen in der Regel keines seiner Stücke, nicht einmal Numantia (El cerco de Numancia), das in Spanien als wichtigste klassische Tragödie des Goldenen Zeitalters gilt, der Epoche vom Ende des 15. bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert.
Cervantes ist ein Ereignis in der europäischen Literatur. Er hat die Geschichte des Romans verändert wie kein anderer und er hat der Novelle, die durch die italienischen Vorläufer im Ruf der Anzüglichkeit stand, das Bürgerrecht der humanistischen Gattung verliehen. Mit einem untrüglichen Gespür für epochenunabhängige Themen schuf er Werke, die mit ihrer brillanten Mehrdeutigkeit bis heute faszinieren. Seine Gabe, die unterschiedlichsten Menschen in mannigfaltigen Lagen lebhaft zu vergegenwärtigen und auszudrücken, welche Gefühle und Gedanken sie beherrschen, ist phänomenal.
Vielleicht liegt dies nicht zuletzt daran, dass Cervantes’ eigenes Leben sehr abenteuerlich und geradezu romanhaft war: Infolge eines Duells floh er aus Spanien. In der Seeschlacht von Lepanto zeichnete er sich durch Tapferkeit aus, doch seine linke Hand wurde zerschmettert. Er geriet in Gefangenschaft bei Berberkorsaren, unternahm tollkühne Fluchtversuche und arbeitete nach seiner Freilassung kurzzeitig für den Nachrichtendienst König Philipps II. Cervantes wurde exkommuniziert und kam unter anderem wegen einer Mordanklage ins Gefängnis. Da er zeitweise Umgang mit zweifelhaften Individuen hatte, umgab ihn der Ruch der Halbwelt. Er musste sich gegen einen literarischen Trittbrettfahrer zur Wehr setzen und führte legendäre Literaturfehden.
Sein Leben ist ein Beispiel für enormen Mut und Optimismus. In Anbetracht der zahlreichen Krisen und Katastrophen, die Cervantes zeit seines Lebens heimsuchten, sollte man meinen, er müsste in Phasen der Verzweiflung unfähig gewesen sein, Literatur zu produzieren. Doch insbesondere in seinem letzten Lebensjahrzent konnte er so in seiner Arbeit aufgehen, dass er darüber allen Ärger und Schmerz vergaß. Es ist verblüffend, wie Cervantes, dem so viel Leid widerfahren war, Texte verfassen konnte, die sich durch Humor, Trost und Optimismus auszeichnen. Und vielleicht ist es neben seiner literarischen Genialität gerade dieser ungeheure Lebensmut, der aus seiner Literatur spricht – die Kraft, selbst nach den demütigendsten Niederlagen wieder aufzustehen und sich neu zu erfinden, die Cervantes’ Werk bis heute weltweit so populär macht.
Die Rezeption von Cervantes’ Leben ist von Mutmaßungen, Meinungen und Interpretationen verschleiert. Daran trägt nicht zuletzt er selbst Schuld. Gerne bringt er sich als Protagonist in sein Werk ein. Was aber ist Dichtung in diesen fiktionalen Texten, was Wahrheit? Dass er es mit der Wahrheit nicht immer genau nahm, zeigen die Zeugenaussagen und notariellen Urkunden, die von ihm überliefert sind. Aus taktischen Gründen log Cervantes oft, wenn es dazu diente, seine Position vor den Behörden vorteilhaft darzustellen.
Unter dem Deckmantel der Fiktion dargebotene Lebensbeschreibungen und offensichtliche Unwahrheiten sind das eine, was es dem Biografen schwer macht, einen authentischen Lebensbericht des Dichters zu verfassen, ganz zu schweigen von den vielen Jahren im Leben des Miguel de Cervantes, die mangels Dokumenten im Dunkel der Geschichte verschwunden sind. Das andere sind die wenigen persönlichen Zeugnisse – nur fünf Briefe sind erhalten geblieben[3] –, vor allem aber die Glorifizierung seiner Person in späteren Jahrhunderten.
Die Literatur zu Cervantes’ Leben und Werk ist inzwischen ins Unermessliche gewachsen. Trotzdem gab es zuletzt an Biografien im deutschen Sprachraum neben der knappen rororo-Monografie von Anton Dietrich aus dem Jahr 1984 nur die Biografie von Jean Canavaggio aus dem Jahr 1989, die trotz ihrer großen Qualitäten in mancherlei Hinsicht als überholt gelten darf.[4] So wurde mittlerweile ein Schauspiel des Dichters, Die Eroberung von Jerusalem durch Gottfried von Bouillon (La Conquista de Jerusalén por Godofre de Bullón), wiederentdeckt. Die biografisch ergiebige Versepistel an Mateo Vazquéz, die man für apokryph hielt, gilt heute als echt, bisher unbekannte Dokumente wurden in Archiven gefunden. Es wurden Grabungen nach seinen Gebeinen durchgeführt. Neue Deutungen von Cervantes’ Werk und seiner Persönlichkeit, etwa über sein Stottern und seine vermutete Homosexualität, wurden vorgelegt, kontroverse Forschungsdebatten geführt, Stationen seines Lebenswegs ausfindig gemacht.
Es gibt bei Cervantes-Biografen, insbesondere bei konfessionell gebundenen, die problematische Tendenz, bestimmte Äußerungen und Handlungen des Dichters unausgewogen darzustellen und in Cervantes ausschließlich den katholisch-aufgeklärten, vorurteilsfreien und humanistisch-humorvollen «Weltweisen» zu sehen, der er zweifellos in gewisser Weise auch war. Die Ambivalenz seines Charakters aber, das Rätselhafte und die Schattenseiten, etwa seine versteckte Aggressivität, werden meist negiert. Diese Art von Hagiografie ist ein weit verbreitetes Phänomen und hält selbst in dem wichtigsten zeitgenössischen Forschungsvorhaben zu diesem Thema Einzug. Seit 2005 erscheint in Spanien die vom Zentrum für Cervantes-Studien herausgegebene Gran Enciclopedia Cervantina, ein Lexikon zu Leben und Werk des Dichters mit vielen exzellenten Einzelbeiträgen, von dem mittlerweile acht monumentale Bände vorliegen. Dennoch geben die von den Herausgebern bestimmte Auswahl der Einträge sowie deren Inhalte zu denken. Die Einträge «Inquisition zur Zeit von Cervantes» (Inquisición en tiempos de Cervantes) oder «Inquisitoren» (Inquisidores) gehen mit keinem Wort auf die Tätigkeit einzelner Mitglieder der Familie für das Tribunal ein. Cervantes’ Vater, vor allem aber sein Großvater Juan, dem im Gegensatz zu anderen Verwandten des Dichters auch kein eigener Artikel gewidmet wird, waren nachweislich für die Inquisition tätig, Juan de Cervantes als Anwalt und später als Richter für die vom Tribunal konfiszierten Güter. Cervantes selbst gab in einer Erklärung vom 4. Juni 1593 an, er sei «Sohn und Enkel von Dienern des Heiligen Offiziums».[5] Zwei seiner wichtigsten modernen Biografen aber unterstellen ihm bei dieser Aussage eine Lüge.[6] Der Historiker Alfredo Alvar Ezquerra, Mitherausgeber der Gran Enciclopedia Cervantina, rückt die Verfehlungen des Großvaters in seiner 2004 erschienenen Cervantes-Biografie beschönigend in die Nähe eines pícaro, eines in der spanischen Literatur der Zeit beliebten «sympathischen Gauners» und «Schelms». Die Fehltritte von Juan de Cervantes, von denen wir durch 21 erhaltene Anklagepunkte Kenntnis haben, eigneten sich laut Alvar Ezquerra jeweils, «um einen Schelmenroman zu konstruieren».[7] Ob die Opfer, die Juan de Cervantes Zeugenaussagen zufolge auf der Folterbank malträtierte oder denen er Besitztümer entwendete, in ihm ebenso nur einen Schelm sahen, ist höchst fraglich. Ebenso wird die vermutete und viel diskutierte Homosexualität des Don Quijote-Autors in dem Lexikon unter den Tisch gekehrt, als ob es sich um etwas handelte, das tabuisiert werden müsste.
Es geht nicht um moralische Bewertungen. Jedoch wäre es an der Zeit, ein ausgewogenes Bild des Dichters und seiner Familie zu zeichnen, ohne erhobenen Zeigefinger, aber auch ohne Beschönigungen, Vertuschungen oder eine selektiv positive Wahrnehmung.
Habe Geduld und höre meine Erlebnisse nach der Ordnung; denn so werden sie dir mehr Vergnügen machen, wenn dich nicht etwa der Wunsch plagt, die Mitte eher zu erfahren als den Anfang.
(Novelle und Zwiegespräch, das sich begab zwischen Cipión und Berganza)
Die Geschichte der Vorfahren von Miguel de Cervantes ist eng verbunden mit den Glaubenskämpfen und der Auseinandersetzung zwischen Konvertiten und Inquisition in Córdoba. Eingeführt im Jahr 1478 auf Betreiben der katholischen Könige Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón, lag der geistige Ursprung der spanischen Inquisition im Misstrauen gegen die konvertierten Juden und Muslime. Man warf den Zwangsgetauften vor, nur zum Schein zum Christentum übergetreten zu sein, und verdächtigte sie, die Riten ihrer angestammten Religion weiterhin heimlich zu praktizieren. Dabei spielte zweifellos auch Neid eine Rolle, schließlich hatten getaufte Juden oft wichtige Positionen in der Verwaltung, den Wissenschaften und der medizinischen Versorgung inne. Insbesondere in Südspanien, wo in den ehemals muslimischen Städten viele Konvertiten lebten, war es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen diesen und den Altchristen gekommen. So verhielt es sich auch in Córdoba, das für die spanische Inquisition im frühen 16. Jahrhundert zu einem Brennpunkt wurde. Vorfahren von Miguel de Cervantes waren daran als Opfer und als Täter beteiligt.
Franz Hogenberg, Córdoba, Radierung für Georg Brauns Civitates Orbis Terrarum (1572–1618), Genua, Marinemuseum
Am 14. März 1473 zog die Cofradía de la Caridad, eine Bruderschaft von Altchristen, mit einer Statue der heiligen Jungfrau durch einen Stadtteil, der von conversos bewohnt war. Als die Prozession die noch heute als La Cruz del Rastro bekannte Straßenkreuzung überquerte, goss ein Mädchen vermutlich versehentlich von einem Fenster aus Flüssigkeit auf die Statue und provozierte damit eine blutige Auseinandersetzung. Die Männer der Prozession behaupteten, sie habe die Statue absichtlich mit Urin beschmutzt und begannen, die Häuser der Konvertiten anzugreifen und zu plündern. Ein Cordobeser Würdenträger und Ahne von Miguel de Cervantes, der converso Pedro de Torreblanca, versuchte zu vermitteln, wurde aber vom aufgebrachten Mob selbst schwer verletzt, einzelnen Quellen zufolge sogar erstochen.[1] Aus diesem Zusammenstoß wurde ein heftiger Aufruhr, der rasch auf die Landbevölkerung übergriff und den obersten städtischen Amtsträger zwang, im Alcázar, der Festung, Zuflucht zu suchen. Fast zwei Jahre dauerten die Unruhen, denen Hunderte Menschen zum Opfer fielen.
Als Folge dieser Vorkommnisse kam es zu weiteren Pogromen und Restriktionen. 1482 wurde das erste dauerhafte Tribunal der spanischen Inquisition im Alcázar Córdobas eingerichtet, um Kryptojuden und Ketzer aufzuspüren. Mit der Berufung des Inquisitors Diego Rodríguez de Lucero im Jahr 1499 verschlimmerten sich die Nachstellungen auf ungeahnte Weise, nicht zuletzt deshalb, weil Lucero sein Amt gezielt missbrauchte. Luceros Laufbahn zeichnete sich durch Versuche aus, wohlhabende Bürger unter spitzfindigen, oft haltlosen Vorwürfen zu verhaften. So konnte er deren Eigentum konfiszieren, das durch Beschlagnahme dem Tribunal zufiel. Gedeckt durch einen königlichen Beamten verbreitete er in Córdoba Angst und Schrecken. Einen Höhepunkt erreichte sein Terrorregime, als er im Jahr 1504 in einem einzigen Autodafé 107 Menschen auf der Plaza de la Corredera verbrennen ließ. Das angebliche Vergehen der Delinquenten bestand darin, der Predigt eines Juden beigewohnt zu haben. Lucero propagierte eine Verschwörungstheorie, wonach das christliche Spanien von conversos komplett vernichtet werden sollte. Er häufte große Reichtümer an und agierte immer selbstherrlicher, ehe sich geballter Widerstand formierte. 1508 wurde er auf Befehl des Generalinquisitors abgesetzt und in Ketten nach Burgos geführt, konnte jedoch seinen Lebensabend unbehelligt in Sevilla verbringen.[2]
Zu den Mitarbeitern Luceros in Córdoba gehörte auch Juan de Cervantes (um 1477–1556), der Großvater des Don Quijote-Autors. 1502 hatte Juan de Cervantes eine Tätigkeit als Abogado del Real Fisco de la Inquisición aufgenommen: Als Anwalt und Finanzbeamter der Inquisition war er für die Konfiskationen zuständig und damit zweifellos in die Machenschaften Luceros verwickelt. Welche Rolle er dabei genau spielte, ist mangels Dokumenten nicht bekannt. Lediglich eine Archivalie ist überliefert, aus der hervorgeht, dass Juan de Cervantes im Juni 1502 als Anwalt der Inquisition gegen einen Geschworenen intervenierte, der sich die Häuser einer verhafteten Jüdin angeeignet hatte.[3] Juan de Cervantes bestritt die Rechtmäßigkeit der Inbesitznahme und forderte die Häuser für die Inquisitionsbehörde ein, verlor aber den Prozess. Anfang 1509 verließ er Córdoba, wohl auch infolge des öffentlichen Drucks auf die ehemaligen Mitarbeiter Luceros. Wenig später wurde er Stellvertreter des königlichen Verwalters in Alcalá de Henares, einer Stadt in der Nähe von Madrid.
Dass er selbst oft skrupellos war, beweist sein aktenkundiges Fehlverhalten in zahlreichen Fällen. Juan de Cervantes’ Sündenregister in späteren Jahren reicht von Amtsmissbrauch, Unterschlagung, illegalen Festnahmen bis hin zu Folterungen. Zwar ist durchaus möglich, dass manche Anschuldigungen keine reale Grundlage hatten, da die Gerichtsbarkeit auf lokaler Ebene oft korrupt war und Diffamierungen täglich vorkamen. Doch die schiere Quantität der Vorwürfe lässt vermuten, dass sich Juan de Cervantes in seinen verschiedenen Ämtern tatsächlich fragwürdig verhielt. Am 14. April 1524 sagte ein gewisser Diego Cordido in Cuenca aus, Juan de Cervantes habe ihn nicht nur ungerechtfertigt ins Gefängnis geworfen, sondern ihn dort auch eigenhändig gefoltert.[4] Andere klagten, er habe sie eigenmächtig von der Kandidatenliste für städtische Ämter gestrichen. Sein Koch forderte ausstehenden Lohn ein. Eine Frau beschwerte sich, Juan de Cervantes habe ihr das Bettzeug weggenommen, das sie ihrem inhaftierten Mann zukommen lassen wollte. Hinweise auf Juans cholerischen Charakter, seine Impulsivität und sein bisweilen brutales und ungerechtes Vorgehen gibt es viele. Doch die belastenden Zeugenaussagen scheinen ihm bei seinen Vorgesetzten nicht geschadet zu haben – im Gegenteil, mit den Mächtigen wusste er sich zu arrangieren. Juan de Cervantes wurde regelmäßig mit hohen Ämtern betraut und fand Fürsprecher, die ihm seine Ehrbarkeit schriftlich bestätigten. 1550, Jahrzehnte nach dem Interregnum Luceros, wurde er wieder für die Inquisition in Córdoba tätig, diesmal als Richter für die konfiszierten Güter des Tribunals.
Aus dem langen Leben von Miguel de Cervantes’ Großvater – Juan starb 1556 und wurde fast 80 Jahre alt – sind der Nachwelt 288 Rechtsdokumente überliefert, leider jedoch keine persönlichen Schreiben, die Aufschluss über seinen Charakter geben könnten.[5] Er war der Sohn von Ruy Díaz de Cervantes, einem in Córdoba ansässigen Tuchhändler, wo er um 1477 zur Welt gekommen war. Mit der Tätigkeit seines Vaters, die ortsgebunden war und vorwiegend in jüdischen Händen lag, wollte sich der junge Mann nicht zufriedengeben. Juan de Cervantes schlug die juristische Laufbahn in Salamanca ein und beendete sie als Lizenziat der Rechte. Nach seinem Examen war er Anwalt und Beamter in einem Dutzend Städten, von Córdoba bis Cuenca. Ende 1503 oder zu Beginn des Jahres 1504 heiratete er Leonor Fernández de Torreblanca, eine Verwandte jenes Pedro de Torreblanca, der sich 1478 in Córdoba noch zwischen die Fronten gestellt hatte. Ihrer eigenen Aussage nach konnte sie nicht schreiben, brachte aber, was Juan de Cervantes wichtiger gewesen sein dürfte, die stattliche Mitgift von 50.000 Maravedis in die Ehe ein.[6] War seine Tätigkeit als Anwalt bislang schlecht bezahlt gewesen, hatte er nun eine gute Partie gemacht. Die Ehe, aus der die Kinder Juan, Rodrigo, María, Andrés und Catalina hervorgingen, scheint zumindest in späteren Jahren nicht harmonisch gewesen zu sein. 1541 verließ Juan Leonor und lebte kurze Zeit später mit seiner Haushälterin zusammen.
Juan de Cervantes’ Geschäftstüchtigkeit, gepaart mit einer gehörigen Portion Unverfrorenheit, wurde in den Jahren 1527 bis 1531 in Guadalajara ersichtlich, wo er den Grundstein für sein späteres Vermögen legte. Dort leistete er gut bezahlte Kupplerdienste für seinen Herrn, Diego Hurtado de Mendoza, den Herzog von Infantado, der verwitwet war, sich in eine Nichtadelige verliebt hatte und sie heimlich heiratete. Als der Herzog 1531 starb, zog Juan den Ärger der herzoglichen Söhne auf sich. Diese wussten nicht, dass ihr Vater ihrer Stiefmutter ein Fünftel seines gesamten Vermögens vermacht hatte und machten Juan für die entsprechende Verringerung der Erbsumme verantwortlich. Dass Juans Tochter María gleichzeitig ein Liebesverhältnis mit Martín de Mendoza hatte, dem Erzdiakon von Talavera und unehelichem Sohn des Herzogs aus einer Beziehung mit einer Zigeunerin, kam Juan trotz des rechtswidrigen Charakters der Beziehung gelegen. Denn Martín de Mendoza machte seiner Tochter reiche Geschenke und versprach ihr eine beträchtliche Mitgift. Als Martín – «der Zigeuner» – María verstieß, zeigte sie ihn beim Alkalden von Guadalajara an. Juan klagte die versprochene Mitgift von 600.000 Maravedis als Entschädigung für seine Tochter ein, nachdem er selbst wegen unhaltbarer Anschuldigungen kurze Zeit in einem Gefängnis von Valladolid verbracht hatte. Die Gefängnisse Valladolids sollten zu gemeinsamen Bezugspunkten für die männlichen Mitglieder der Familie Cervantes werden. Nach Juan waren in späteren Jahren dort auch sein Sohn Rodrigo und sein Enkel Miguel inhaftiert.
Ob Miguel de Cervantes seinen Großvater kannte, ist nicht sicher. Neben einem ausgeprägten Selbstbewusstsein könnte Miguel von Juan die innere Unruhe und Wanderlust geerbt haben. Weder Juan noch Rodrigo noch Miguel hielten es lange an einem Wohnort aus. Ihre Lebensläufe zeichneten sich durch ständige Ortswechsel aus. Und wenn die Zigeunerin Preciosa in der Novelle vom Zigeunermädchen (La Gitanilla) dem Stadtschultheiß rät: «Lasst Euch doch Schmiergelder geben, Herr Alkalde, dann werdet Ihr auch Geld haben. Versucht nicht, bessere Sitten einzuführen; Ihr werdet sonst hungers sterben»,[7] klingen darin vielleicht die illegalen Machenschaften des Juan de Cervantes nach.
Ob auch sein Vater später für die Inquisition in Córdoba tätig war, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Da Rodrigo oft knapp bei Kasse war, kann es sein, dass Juan ihm bei seinen Aufenthalten in Córdoba kurzzeitig ein kleines Amt beschafft hatte.
Der Autor des Don Quijote jedoch, der zweimal exkommuniziert wurde, stand der Inquisition und der Kirchengerichtsbarkeit kritisch gegenüber. Im sechsten Kapitel seines Meisterwerks persifliert Cervantes ein Autodafé und schuf damit eine der berühmtesten Inquisitionsparodien der Weltliteratur. Es ist jene Szene, in der der Dorfpfarrer und der literarisch gebildete Barbier Don Quijotes Büchern den Prozess machen und mehrere zum Tod durch Verbrennen verurteilen. Unter dem Deckmantel der Parodie werden Praktiken der Inquisition schonungslos bloßgestellt, so, wenn die Romane von der geistlichen Gerichtsbarkeit, dem Pfarrer, dem weltlichen Arm, der Haushälterin, mit der Aufforderung übergeben werden sie zu verbrennen.[8] Ironisch begegnet Cervantes in einem Zwischenspiel der Gesinnungskontrolle durch die Inquisition. Intellektuelle Neugier oder die Fähigkeit des Lesens? Das seien gefährliche Bestrebungen. Keiner würde solch dumme Hirngespinste erlernen, «die Männer auf den Scheiterhaufen bringen», entgegnet ein Bauer auf die Prüfungsfrage, ob er lesen könne. Die Wahl zum Bürgermeister, für die der des Lesens unkundige Bauer nominiert ist, gewinnt er dann gerade, weil er sich zur Unwissenheit und zu seinem Altchristentum bekennt.[9]
Der Name Cervantes, ursprünglich wohl galizischer Herkunft, war im Spanien des 15. und 16. Jahrhunderts weit verbreitet. Das hatte zur Folge, dass Genealogen dem Schöpfer des Don Quijote fälschlich illustre Verwandte wie Kardinal Cervantes oder gar eine Abstammung von den Königen von León zugeschrieben haben. Heute kann man nachweisen, dass seine Vorfahren der Mittelschicht Córdobas entstammten. Die Vertreter der männlichen Linie lassen sich bis zu Miguels Ururgroßvater Pedro Díaz de Cervantes zurückverfolgen, von dem man allerdings nur den Namen kennt. Sie betrachteten sich als hidalgos (ursprünglich hijo de algo, «Sohn von etwas»), als Angehörige des Kleinadels, jenes Standes, dessen einziges Kapital die Ehre war, und wurden als solche in Dokumenten bestätigt.
Spekuliert wird nach wie vor über eine Frage, die im Spanien der Frühen Neuzeit von zentraler Bedeutung war: War Cervantes’ Familie jüdischer Herkunft? Dass die Cervantes bekennende Christen waren und einzelne Familienmitglieder für die Inquisition, die Verfolger der Juden und Kryptojuden, arbeiteten, spricht noch nicht gegen diese Annahme. Oft waren die fanatischsten Inquisitoren conversos, gleichsam um den «Makel» ihrer Herkunft zu kompensieren und Nachstellungen zu entgehen. Der berüchtigte Tomás de Torquemada etwa, der erste Großinquisitor Spaniens, hatte jüdische Vorfahren. Hinweise im Werk des Schriftstellers, wie zum Beispiel eine Anspielung auf den Talmud im Don Quijote,[10] und seine späteren Lebensumstände sprechen für die Hypothese der jüdischen Herkunft, die in der Cervantes-Biografik leidenschaftlich diskutiert wird. Gewichtige Fürsprecher erklären unter anderem die spätere Außenseiterrolle und die gesellschaftskritischen Äußerungen des Autors mit seinem Status als Konvertit.[11]
1547, im Geburtsjahr von Cervantes, wurde auf Betreiben der spanischen Inquisition der erste Index verbotener Bücher veröffentlicht. Im selben Jahr wurde der Nachweis der «Blutsreinheit» (limpieza de sangre) durch das Domkapitel von Toledo institutionalisiert. Dieser Nachweis, der die genetische Zugehörigkeit zum Altchristentum beglaubigen sollte, wurde zu einer unabdingbaren Vorraussetzung für den Dienst bei Hof und im höheren Klerus. Ein weniger bürokratisches, aber effektives und maliziöses Mittel zur Überprüfung der Glaubensreinheit war die Schinkenprobe: Wer sich weigerte, Schinken, also Fleisch vom Schwein, zu essen, war entweder Jude, Muslim oder Scheinkonvertit. Aufseiten der Altchristen war eine regelrechte Nativismus-Obsession entstanden, wonach das «reine christliche Blut» für die gesellschaftliche Stellung von fundamentaler Bedeutung war. Auf diese Weise sollte den Nachkommen von Juden oder Mauren der soziale Aufstieg verwehrt bleiben. Die Gesellschaft Spaniens wurde in eine diskriminierte neuchristliche, «unreine» Minderheit einerseits und eine privilegierte altchristliche, «reine» Mehrheit andererseits gespalten. Die Folge war eine Mentalität, die sich durch die Wahrung des gesellschaftlichen Scheins und eine glaubenszentrierte Sicht der Dinge auszeichnete.
Sowohl Miguel de Cervantes als auch sein Vater Rodrigo erhielten im Laufe ihres Lebens amtliche Bestätigungen der Reinblütigkeit, was für die Zugehörigkeit zu den Altchristen spricht. Doch abgesehen von der Möglichkeit, dass diese Dokumente Gefälligkeitsbestätigungen gewesen sein könnten, gibt es noch weitere Indizien, die für die gegenteilige Annahme sprechen: Satirische Passagen im Werk von Cervantes über die Manie der Reinblütigkeit – etwa im Zwischenspiel vom Wundertheater (El retablo de las maravillas) –, Cervantes’ Tätigkeit als Steuereintreiber, die bei Altchristen des Geldgeschäfts wegen verpönt war, oder sein erfolgloser Kampf um gesellschaftlichen Aufstieg werden als Belege dafür angeführt, dass er ein Neuchrist war. Auch die bewusste Eliminierung des Namens Díaz, ein typischer converso-Name,[12] den Miguels Urgroßväter noch trugen, deutet auf eine damnatio memoriae vergangener Zeiten hin. Zudem führen die Vertreter der converso-These die Berufe des Vaters und des Urgroßvaters als wesentliches Indiz für das Neuchristentum des Don Quijote-Autors an. Rodrigo de Cervantes war médico zurujano, Wundarzt und Bader. Miguels Urgroßvater, Juan Díaz de Torreblanca, wiederum war ein angesehener Arzt mit akademischem Abschluss der Universität Salamanca, der einer Ärzte-Dynastie entstammte. Medizinische Berufe wurden im 16. Jahrhundert in Spanien überwiegend von Männern jüdischer Abstammung ausgeübt; neun von zehn Ärzten waren jüdischer Herkunft.[13]
In Büchern über den berühmten Sohn kommt Rodrigo de Cervantes meist nicht gut weg, vermutlich, weil sich die Kenntnis seines Lebenswegs zahlreichen Prozessakten verdankt, die ihn überwiegend als Beklagten und Schuldner ausweisen. In jungen Jahren soll Rodrigo ein Gernegroß gewesen sein, der regelmäßig an Turnieren und Reiterspielen teilnahm, dem Zeitvertreib des Kleinadels. Er schien «aus der Art geschlagen», schreibt ein Biograf, habe weder den Ehrgeiz der Cervantes geerbt noch die Schläue und Geschäftstüchtigkeit der mütterlichen Seite der Familie.[14] An anderer Stelle wird gemutmaßt, er gehörte vielleicht zu denen, «die mit dem Leben nicht fertigwerden.»[15] Das Niveau seiner medizinischen Fähigkeiten muss für einen Wundarzt jedenfalls überdurchschnittlich gewesen sein. Ein Dokument, in dem Rodrigo de Cervantes für die Weiterführung seiner Praxis Bücher aus gepfändetem Besitz zurückverlangt, verrät, dass er neben einer lateinischen Grammatik ein «Buch über die vier Krankheiten» und einen «Leitfaden der Chirurgie» besaß. Darüber hinaus zählte er noch weitere medizinische Fachbücher sein eigen. In der Bibliothek seines Sohnes Miguel fand man später mehrere Lehrwerke aus der Zeit vor 1585, dem Todesjahr Rodrigos, und es ist davon auszugehen, dass Miguel sie vom Vater geerbt hatte.[16]
Der Beruf des Wundarztes war damals weder mit hohen Einkünften noch mit der Notwendigkeit verbunden, sich besondere Kenntnisse anzueignen. In der Regel genügten eine kurze Ausbildung und eine Prüfung nach den Statuten der Neuen Sammlung (Nueva Recopilación) bei einem legitimierten Arzt, um eine Approbation als Wundarzt zu erlangen. Der Besitz einer lateinischen Grammatik bezeugt jedoch einen Erkenntnisdrang, der über das Wissen eines durchschnittlichen Wundarztes der damaligen Zeit hinausging. Ein solcher war in den meisten Fällen des Lateinischen nicht mächtig und konnte die klassisch-antiken Lehrwerke etwa eines Galenus nicht lesen. Im Volksmund wurden die Wundärzte cirujanos romancistas oder cirujanos de ropa corta genannt, also des Lateinischen unkundige Wundärzte beziehungsweise Wundärzte «mit kurzem Rock», im Gegensatz zu den studierten Ärzten, die eine lange Toga als Zeichen ihrer universitären Ausbildung tragen durften.
Miguel de Cervantes war sich des geringen beruflichen Prestiges seines Vaters bewusst. In seinem Zwischenspiel Der Scheidungsrichter (El juez de los divorcios) gibt Minjaca, die sich von ihrem Mann, einem Wundarzt, scheiden lassen will, folgenden Satz bei Gericht zu Protokoll, der Rodrigo de Cervantes nicht geschmeichelt haben würde: «Er hat gesagt, er sei ein wirklicher Arzt, hat sich aber als Wundarzt entpuppt, als ein Kerl, der nur verbindet und Bruchbänder anpasst und andere kleine Leiden behandelt, was so viel heißt, als dass er nur die Hälfte eines wirklichen Arztes wert ist».[17]
Cervantes lässt Minjaca das gängige Klischee von der Minderwertigkeit des Wundarztes aussprechen, das der Realität aber oft nicht entsprach. Zweifellos gab es viele Quacksalber – die damalige Literatur kündet davon –, doch verfügten Wundärzte durchaus über professionelles Können. Aufgrund der niedrigeren Behandlungskosten waren sie für die arme Bevölkerung die Einzigen, die im Bedarfsfall infrage kamen. Sie nahmen Aderlässe vor, versorgten äußere Wunden, behandelten Tumore, Verbrennungen, Abszesse, führten Starstiche durch, versorgten Knochenbrüche, renkten Gelenke ein und zogen Zähne. Durch ihre handwerkliche Ausbildung waren sie befähigt, Prothesen herzustellen. Und es waren oft Wundärzte, die Sektionen und Anatomiestudien an Leichen vornahmen. Das daraus resultierende Wissen gaben sie den studierten Ärzten weiter, die sich zu der niederen Tätigkeit des Sezierens nicht herablassen wollten. Ohnehin standen die Ärzte im Ruf, lediglich Medikamente zu verschreiben, bei Verletzungen aber nicht selbst Hand anzulegen. «Ja, die Medizin, die lob’ ich, aber niemals einen Arzt», wird Cervantes später in seinem Schauspiel Der bußfertige Raufbold (El rufián dichoso) eine landläufige Meinung wiedergeben. Erst ab 1543 kam es in Spanien mit dem Erscheinen des Buches De humani corporis fabrica von Andrea Vesalio zum Streit über die Frage, ob auch studierte Ärzte Sektionen vornehmen sollten. Andrea Vesalio, Hofarzt bei Karl V., plädierte mit Vehemenz dafür. Sein Schüler Pedro Jimeno zog um 1550 nach Alcalá de Henares, wo Rodrigo de Cervantes und seine Familie damals lebten, und verbreitete dort die Lehre Vesalios. Auch wenn keine Hinweise überliefert sind, kann man annehmen, dass Rodrigo Jimeno in Alcalá kennenlernte und mit dem Gedankengut Vesalios konfrontiert wurde.[18]
Rodrigo de Cervantes wurde immerhin Wundarzt im Hospital de Antezana in Alcalá, einem 1483 von Don Luis de Antezana gegründeten Armenkrankenhaus, und zählte darüber hinaus Angehörige des Adels zu seinen Patienten. Bei der Taufe seines Sohnes Rodrigo fungierten mehrere Ärzte als Zeugen, und auch die Möglichkeiten, die er seinem Sohn Miguel und seiner Tochter Luisa eröffnete – Miguel wurde Schüler eines einflussreichen Humanisten, Luisa wurde Nonne und erklomm die klösterliche Karriereleiter bis zum Priorenamt –, sprechen für seine Affinität zur höheren Bildung. Miguel selbst verdankte seine beachtlichen medizinischen Kenntnisse, wie sie etwa in den Exemplarischen Novellen bei der Beschreibung der Heilung eines Hundebisses, der Verabreichung eines Opiats, oder der Folgen einer Vergiftung zur Geltung kommen,[19] vermutlich auch seinem Vater.
Um 1509 in Alcalá de Henares geboren, war Rodrigo der zweite Sohn von Juan de Cervantes und dessen Frau Leonor de Torreblanca. Sein Großvater mütterlicherseits Juan Díaz de Torreblanca war, wie bereits erwähnt, ein Bakkalaureus, somit studierter Mediziner, der es in Córdoba zu beträchtlichem Ansehen und Wohlstand gebracht hatte, auch wenn seine Geschäfte wohl nicht immer ganz sauber waren. Bestechungsvorwürfe gegen ihn sind aktenkundig. Seine medizinischen Kenntnisse müssen beträchtlich gewesen sein. Überliefert sind unter anderem Dokumente, die nicht nur die Therapie gängiger Gebrechen, sondern auch die Heilung einer Leprakranken und die Behandlung Pestkranker belegen. Er besaß in Córdoba und Umgebung mehrere Häuser und Grundstücke, dazu Olivenhaine, und handelte mit Essig und Öl. In seinen beiden Testamenten werden mehrere Bücher erwähnt, neben medizinischen auch «andere Bücher» (otros libros), darunter zwei in der Volkssprache, die er seinem Diener vermachte. Bücher waren im 15. Jahrhundert ein seltenes und kostbares Gut und sprechen in den meisten Fällen für die intellektuell-literarischen Interessen ihres Besitzers. Ob Miguel de Cervantes seine Liebe zur Literatur vom Urgroßvater geerbt hat?
Kein Geringerer als Christoph Kolumbus zählte zu Torreblancas Freunden. Nachdem Kolumbus mit seinen Plänen für eine Expeditionsfahrt über die Westroute nach Ostindien bei König Johann II. von Portugal auf Ablehnung gestoßen war, kam er 1486 auf Einladung Königin Isabellas an den Hof nach Córdoba. Dort lebte er mehrere Jahre, sein Sohn Fernando wurde 1488 in Córdoba geboren. Juan Díaz de Torreblanca lernte den späteren Entdecker Amerikas wohl in der Apotheke seines Schwagers Leonardo de Esbarroya kennen. Und man vermutet, dass Torreblancas Stiefvater Juan Sánchez Kolumbus auf dessen erster Seereise über den noch völlig unbekannten Atlantik als Arzt begleitete.[20]
Im Gegensatz zum exponierten Leben seines Großvaters war Rodrigo de Cervantes zu einem Außenseiterdasein bestimmt, weil er bereits in jungen Jahren unter Schwerhörigkeit litt. Wie weit die Behinderung seiner Hörfähigkeit ging, ist nicht bekannt. Einmal ist von Taubheit auf einem Ohr die Rede, in anderen Quellen wird er als gänzlich taub geschildert. Bedenkt man die damaligen Vorbehalte der Kirche gegenüber der Reingläubigkeit von Gehörlosen, so wird der schwierige gesellschaftliche Status von Rodrigo de Cervantes ersichtlich. Taube Menschen galten als nicht vollwertig, da sie die von Gott verliehene Sprache nicht vollkommen beherrschten. Der Kirchenvater Augustinus sagte einst: «Ein taubgeborener Mann ist nicht fähig zum Erlernen des Lesens, welches ihn zum Glauben führen würde».[21] Intellektuelle Minderwertigkeit war ein Standardvorurteil gegenüber Gehörlosen. Bereits Aristoteles hatte behauptet, von allen Sinnen trage das Gehör am meisten zu Intelligenz und Wissen bei. Darüber hinaus wurde Gehörlosigkeit mit einem lethargischen Charakter in Verbindung gebracht. Erst Pedro Ponce de León, ein Zeitgenosse Rodrigos, unterrichtete Gehörlose in einer Gebärdensprache und bewies damit, dass auch sie lesen, schreiben, denken und kommunizieren können.
Vermutlich musste Rodrigo de Cervantes auf ein universitäres Studium verzichten, weil er den Vorlesungen nicht oder nur schlecht folgen konnte. Dass er aber «wahrscheinlich menschenscheu und zurückgezogen» lebte, wie ein Biograf schreibt,[22] ja, dass sein ganzes Leben «schwermütig, traurig und grau» gewesen sein soll, wie ein anderer bemerkt,[23] lässt sich nicht beweisen und erscheint in Anbetracht seiner vielen Aktivitäten eher unwahrscheinlich. Dokumente überliefern das Bild eines geselligen Menschen, der Freunde hatte und gern an ejercicios de hidalgos, Ritterübungen wie Lanzenstechen und Pferderennen, teilnahm. Zudem waren es Bekannte Rodrigos, die Miguel später förderten, was für Rodrigos soziale Fähigkeiten spricht. Aufgrund des Mobilitätsdrangs seines Vaters Juan und der häufigen Umzüge konnte Rodrigo keine kontinuierlichen Studien betreiben. Wie und wo er sich medizinisch bildete, ist nicht bekannt, vielleicht unterrichtete ihn sein Großvater, ein Diplom ist nicht überliefert. Er hatte über seinen Vater Kontakt zu Cristóbal de Vega, einem Lehrstuhlinhaber für Medizin an der Universität von Alcalá, von dessen Kenntnissen er sicher profitierte. Seine Tätigkeit als nichtkonzessionierter Arzt nahm Rodrigo in Alcalá auf, wohin die Familie 1532 gezogen war. 1543 heiratete er in der kastilischen Stadt schließlich Leonor de Cortinas.
Über Miguel de Cervantes’ Mutter Leonor de Cortinas weiß man nicht viel, nicht einmal ihr genaues Geburtsjahr. Sie wurde um 1520 geboren, entstammte einer Gutsbesitzerfamilie und kam aus der Umgebung von Alcalá, vermutlich aus Arganda. Sie konnte schreiben, was in der damaligen Zeit für Frauen eher untypisch war und für ihren Bildungsgrad spricht. Sieben Kinder gebar sie nach ihrer Eheschließung. Der Erstgeborene Andrés starb 1543 noch in der Wiege. Danach kamen drei Töchter (Andrea, 1544; Luisa, 1546; Magdalena, 1552) und drei Söhne (Miguel, 1547; Rodrigo, 1550; Juan, 1555) auf die Welt. In ihrer Familie muss es zu Spannungen gekommen sein, denn kein Cortinas war bei den Taufen ihrer Kinder zugegen. Betrachteten ihre Eltern die Heirat mit dem hörgeschädigten Rodrigo als Mesalliance, zumal die Cortinas Altchristen waren und Rodrigos Verwandte im Verdacht standen conversos zu sein?[24]
Nach dem Tod ihrer Mutter Elvira de Cortinas im Jahr 1566 erbte Doña Leonor schließlich ein kleines Landgut in Arganda, zu dem ein Weinberg gehörte. Sie muss eine energische und zupackende Frau gewesen sein, wie sich zeigte, als es später darum ging, Miguel aus der Gefangenschaft in Algier freizukaufen. Leonor de Cortinas war es, die Gesuch auf Gesuch aufsetzte, durch schwierige Geld- und Kredittransaktionen das Lösegeld beschaffte und schließlich die Genehmigung der Finanzbehörde für eine Geldüberweisung nach Algier, ins feindliche Ausland, erhielt. Dafür scheute sie nicht davor zurück zu lügen. Für die Überweisung nach Algier bedurfte es einer besonderen Lizenz der Regierung. In Doña Leonors Antrag, der der Nachwelt überliefert ist, bezeichnete sie sich als Witwe, was sie zu diesem Zeitpunkt de facto nicht war, vermutlich, um an das Mitleid der Behörde zu appellieren.
Wie und bei welcher Gelegenheit Leonor und Rodrigo einander kennenlernten, ist nicht bekannt. Vielleicht imponierte ihr der in der Öffentlichkeit zur Schau gestellte Wohlstand der Cervantes. Der gerissene Aufsteiger Juan, der Jahre zuvor noch das schlecht besoldete Amt eines stellvertretenden Richters in Alcalá innegehabt hatte, wollte es jetzt allen zeigen. Ein damaliger Nachbar, Diego de Alcalá, berichtet vom herrschaftlichen Gebaren Juans und seiner Söhne in der Stadt am Henares: Sie lebten wie hohe Herren mit Dienern und Sklaven, immer «hoch geschätzt und fein im Aussehen, mit viel Seidenzeug und feiner Ware, mit edlen Pferden, Pagen und Stallknechten».[25] Zwei Häuser besaßen die Cervantes in Alcalá: eines in der Calle de la Imagen im Zentrum der Stadt und ganz in der Nähe noch ein anderes, La Calzonera genannt.
Doch für Leonor und Rodrigo änderte sich das sorglose Leben spätestens mit dem Abschied des Familienoberhaupts. Juan verließ die Familie 1541 gemeinsam mit seinem Sohn Andrés, dem zukünftigen Alkalden von Cabra, und ging nach Córdoba zurück. Über die Gründe, die zur Trennung und Spaltung der Familie führten, kann nur spekuliert werden. Die Beziehung der Ehepartner scheint schon längere Zeit zerrüttet gewesen zu sein. Nach seiner Rückkehr nach Córdoba lebte Juan mit seiner Haushälterin zusammen. Sicher war das Verhältnis der beiden Familienfraktionen in der Folge angespannt. Man hat angenommen, dass Rodrigo seinen Vater abstrafte, indem er seinem Erstgeborenen nicht dessen Vornamen gab, wie es der Sitte entsprach, sondern ihn Andrés nannte.[26] Im Testament Rodrigos ist allerdings die Rede von einem Sohn namens Juan, der 1555, viele Jahre später, geboren wurde.[27] Der Nachwelt ist von diesem Cervantes-Sprössling nichts bekannt. Vielleicht wurde ihm der Name Juan gegeben, weil Rodrigo sich in dieser Zeit wieder mit seinem Vater ausgesöhnt hatte. Die These vom stillen Namenskrieg zwischen Vater und Sohn scheint jedenfalls nicht unplausibel.
Nachdem 1540 sein älterer Bruder gestorben war und der Vater die Familie verlassen hatte, musste Rodrigo nach seiner Heirat 1543 endgültig Verantwortung übernehmen. Er begab sich auf die Suche nach Patienten und beabsichtigte, als Wundarzt für sein Auskommen zu sorgen.
Alcalá de Henares, das antike Complutum des Plinius und das al-Qal’a («die Festung») der Mauren, liegt rund 30 Kilometer von Madrid entfernt am Ufer des Río Henares im nordöstlichen Teil der Mancha. Obwohl Miguel de Cervantes zahlreiche Städte Spaniens in seinem Werk literarisch würdigt, erwähnt er seinen Geburtsort nie; so umgeht auch Don Quijote die Stadt auf seiner Wanderung durch Kastilien. Dies ist umso erstaunlicher, als es sich keineswegs um einen beliebigen Ort handelte.
1499, wenige Jahrzehnte vor Cervantes’ Geburt, gründete der Erzbischof von Toledo und Kanzler von Kastilien, Gonzalo Jiménez de Cisneros, die Universität von Alcalá, die rasch zu einem Zentrum des philologischen Humanismus avancierte und der altehrwürdigen Universität von Salamanca Konkurrenz machte. Selbst König Philipp II. schickte später seinen Sohn Don Carlos zum Studium in die Stadt, nicht zuletzt deshalb, weil die Universität von Alcalá im Gegensatz zur eher demokratisch ausgerichteten Universität von Salamanca eine zentralistische Verfassung hatte. Der Rektor wurde vom Erzbischof von Toledo ernannt und vertrat die königliche Autorität.
Hauptfassade der Universität von Alcalá de Henares
Ruhm erlangte die Universität im frühen 16. Jahrhundert, als unter Cisneros kritischen Augen in 15-jähriger Arbeit die sogenannte Complutensische Polyglotte angefertigt wurde, die erste vollständige Ausgabe der Heiligen Schrift mit den Originaltexten und den wichtigsten Übersetzungen. Die Bearbeiter, darunter der berühmte Humanist Antonio de Nebrija, ordneten Originaltexte und Übertragungen neben- oder untereinander an und schufen damit eines der bedeutendsten philologischen Werke der Renaissance. Neben Theologie und Philologie bildete die Medizin einen Schwerpunkt der Lehre. Die Ärzte der iberischen Halbinsel, darunter die Hofärzte, wurden im 16. und 17. Jahrhundert überwiegend in Alcalá ausgebildet. «Ich hörte einen Studenten sagen, […] dass von den fünftausend Studenten, die in jenem Jahr [1605] die Universität besuchten, zweitausend Medizin studierten. […] Ich schließe daraus, dass diese zweitausend Ärzte entweder genug Kranke zu behandeln finden […] oder dass sie samt und sonders hungers sterben müssen»[28], lässt Cervantes später einen seiner Protagonisten verlautbaren.
Und so verwundert es nicht, dass sich bei einer derartigen Medizinerschwemme die Patientensuche auch für Rodrigo de Cervantes schwierig gestaltete. Er hoffte wohl, über die Verbindungen seines Vaters Patienten zu finden. Ansprüche durfte er als Berufsanfänger keine stellen. Die begüterten Patienten leisteten sich studierte Ärzte; reiche Studenten verfügten oft sogar über Leibärzte. Zu den Patienten der Wundärzte Alcalás zählten in der Regel einfache Handwerker, Diebe, Huren, die Geschlechtskrankheiten behandeln oder Abtreibungen vornehmen ließen, Studenten, die bei einem illegalen Duell verwundet worden waren, oder Opfer von Schlägereien und Unfällen. Das Allheilmittel der damaligen Zeit war der Aderlass, durch den, so dachte man, die schlechten Säfte abgeleitet wurden. Auch Rodrigo de Cervantes wird einen Großteil seiner Arbeitszeit mit Schröpfinstrumenten verbracht haben.
Wann genau Miguel de Cervantes in Alcalá geboren wurde, ist nicht bekannt. Gesichert ist nur, dass er am 9. Oktober 1547 in der Kirche Santa María la Mayor aus den Händen des Bartolomé Serrano die Taufe empfing. Da der 29. September der Tag des heiligen Michael ist, vermuten einige Forscher, Miguel de Cervantes sei am Tag seines Namenspatrons geboren worden. In Anbetracht der hohen Säuglingssterblichkeit kann es aber durchaus sein, dass man die Taufe nicht zehn Tage hinausschob, sondern den kleinen Miguel nur wenige Tage nach seiner Geburt oder gar am selben taufte, um im Todesfall sein Seelenheil retten zu können. Verwirrend ist zudem, dass Cervantes später ein anderes Geburtsjahr als das seines Taufeintrags angab.[29] Die Cervantes gingen in ihren Zeugnissen mit der Wahrheit aus taktischen Gründen oft recht frei um. Miguel de Cervantes wurde jedenfalls allem Anschein nach 1547 in Alcalá im Sternzeichen der Waage geboren. Das Ehepaar Cervantes war sicher froh, als nach dem frühen Tod des Erstgeborenen Andrés und der Geburt der zwei Töchter Andrea und Luisa wieder ein Sohn auf die Welt kam. Im Alter könnte Miguel für sie sorgen, und bei seiner Heirat müssten sie keine Mitgift entrichten, wie es bei Töchtern üblich war.
Um die berufliche Tätigkeit Rodrigos war es indes schlecht bestellt. Mit dem wenigen Geld, das er als selbstständiger Wundarzt verdiente, konnte er seine Familie kaum ernähren. Das Familienoberhaupt Juan steuerte kein Geld bei. Und zu allem Überfluss sollte sich ein adliger Patient, von dem Rodrigo sicherlich Protegierung in höheren Kreisen erhofft hatte, als säumiger Zahler und Querulant erweisen. Rodrigo hatte den Sohn des Marqués de Cogolludo behandelt, offensichtlich erfolglos, worauf der Marqués ihn der Unfähigkeit zieh und ihm die Zahlung verweigerte. Einen Gerichtsprozess scheute Rodrigo, er hätte ihn wahrscheinlich ohnehin verloren. Als Familienvater musste er inzwischen acht Personen ernähren. Neben seiner Frau und seiner Mutter versorgte er die vier Kinder Andrea, Luisa, Miguel und Rodrigo sowie seine ledige Schwester María. So versuchte er, sein Glück in einer anderen Stadt zu suchen. 1551 übersiedelte die Familie nach Valladolid. Rodrigo fühlte sich, wie später sein Sohn Miguel, stets vom Hof angezogen. Er zog immer in die Stadt, die der Hof gerade zur Residenz erwählt hatte, da er dort auf ein reicheres Wirkungsfeld hoffte.
1547, im Geburtsjahr des Dichters, starben mit König Franz I. von Frankreich und König Heinrich VIII. von England gleich zwei Antagonisten Spaniens. Spanien war mächtig, reich und gefürchtet, seine Armeen überall siegreich. Es sah sich als Bewahrer des katholischen Glaubens und als berechtigten Anwärter auf die Weltherrschaft, die es mit nationalem Sendungsbewusstsein vorantrieb. Karl V. – Carlos I. in Spanien – hatte dieses Reich begründet, in dem sprichwörtlich «die Sonne nicht untergeht». «Ein Monarch, ein Imperium, ein Schwert» («Un Monarca, un Imperio, una Espada») rühmte der Dichter Hernando de Acuña in einem Sonett seinen Herrscher nach der gegen den Schmalkaldischen Bund gewonnenen Schlacht von Mühlberg. Als dessen Sohn Philipp II. wenige Jahre nach Cervantes’ Geburt auf den Thron kam, beherrschte die spanische Monarchie nicht nur die Iberische Halbinsel – anfangs mit Ausnahme Portugals –, sondern darüber hinaus das Roussillon, die Franche-Comté, Oran, Ceuta, die Niederlande, das Herzogtum Mailand, das Königreich Neapel, Sardinien, Sizilien, die Philippinen, die karibischen Inseln, den größten Teil Südamerikas, einen Teil von Nordamerika sowie ganz Mittelamerika. Als machtfördernd erwies sich dabei ein Bündnis mit dem Heiligen Römischen Reich, das von dem Onkel Philipps II., dem ebenfalls in Alcalá geborenen Ferdinand I., regiert wurde.
Viele Spanier sahen bestätigt, was der Dichterkomponist Juan del Encina bereits 1478 bei der Geburt des Thronfolgers in seiner Adaption der vierten Ekloge Vergils geschrieben hatte: Ein neues Goldenes Zeitalter stehe bevor, das mit der Wiederkehr der Gerechtigkeit – personifiziert durch die Jungfrau Asträa, eine Tochter des Zeus – und der Geburt eines Jungen beginnen werde. Juan de Encinas Prophezeiung, die wie Vergil das Goldene Zeitalter als Zeitalter eines bestimmten Herrschers definiert, sollte zum Ursprung eines geflügelten Wortes werden. Bis heute werden jene 200 Jahre in der Geschichte Spaniens, die mit dem epochalen Jahr 1492 beginnen, als Kolumbus die neue Welt entdeckt hatte und die katholischen Könige das letzte maurische Königreich in Granada erobert hatten, als Siglo de Oro bezeichnet.[30]
Mit dem gestärkten Machtbewusstsein Spaniens ging ein neues Bewusstsein für die eigene Sprache einher. 1492 veröffentlichte Antonio de Nebrija die Gramática castellana, die erste systematische Erfassung des Kastilischen. Im Vorwort entwirft Nebrija ein groß angelegtes Panorama der politischen und kulturellen Entwicklungen der Zeit und greift damit weit über den Rahmen einer Grammatik hinaus. «Die Sprache war immer Begleiterin des Imperiums», beginnt Nebrija, der sich am Beispiel Griechenlands und Roms orientiert, und setzt damit einen Akzent, der für das Werk wesentlich ist. Das Kastilische, die Sprache des Hegemons, wird in Nebrijas Grammatik zu einer imperialen Größe und zu einem Kulturträger; es ist das unerlässliche Mittel zur Eroberung und Christianisierung der Neuen Welt, die der Humanist bereits voraussetzt. Nebrija und später Juan de Valdés in seinem Dialog über die Sprache (Diálogo de la lengua) schufen mit ihren Werken eine Grundlage für die weitere Entwicklung des Spanischen, die die Literaten dankbar aufnahmen.
Auf dem Gebiet der Literatur hatten sich die Spanier lange Zeit den Italienern gegenüber unterlegen gefühlt, da das Italienische als die prestigeträchtigere, höherwertige Dichtersprache galt. Mit seiner epischen Dichtung Labyrinth des Schicksals (Laberinto de Fortuna, um 1444) hatte Juan de Mena ganz offen Dantes Göttliche Komödie nachgeahmt. Der Marqués de Santillana – Staatsmann, Poet, Gelehrter und Mäzen – hatte im 15. Jahrhundert seine Sonette explizit al itálico modo verfasst, gleichsam als Gütesiegel. Und vor allem die Dichtung Petrarcas galt als mustergültig. Auch Cervantes folgte in einem seiner frühen Gedichte der Gewohnheit, den letzten Vers aus einer italienischen Vorlage zu zitieren.[31] Im Laufe des 16. Jahrhunderts jedoch erfolgte ein Wandel in der Bewertung des Spanischen als Kunstsprache, der in den literarischen Meisterwerken des Siglo de Oro, etwa in der genuin spanischen Neuschöpfung des Schelmenromans, ersichtlich wird. Cervantes wird dann die literarische Verwendung der Muttersprache preisen und sich gegen den Missbrauch der Fremdsprachen, vor allem der klassischen, zur Wehr setzen. Cipión ärgert sich in der Novelle vom Zwiegespräch der Hunde über diejenigen, die in einem Gespräch mit einem Schuster oder Schneider ihr Latein «wie Wasser aus einer Gießkanne regnen lassen». Don Quijote führt belehrend an: «Der große Homer schrieb nicht auf Lateinisch, weil er Grieche war, und Vergil nicht auf Griechisch, weil das Latein seine Sprache war, kurzum, alle antiken Dichter schrieben in der Sprache, die sie mit der Muttermilch eingesogen hatten, und suchten nicht nach fremden, um ihre erhabenen Gedanken auszudrücken» (Don Quijote II, 16).
Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts flossen Edelmetalle aus Amerika und andere Exportwaren nach Spanien. Die jährlichen Einkünfte des Staates übertrafen diejenigen Englands um das Zehnfache. Kastilien war darüber hinaus für seine Wollproduktion berühmt, dem wichtigsten Exportgut Spaniens. Um 1560 gab es allein im Raum Toledo mehrere Tausend Textilarbeiter, die die große Nachfrage nach Stoffen in Spanien und den Kolonien befriedigen mussten. Ein gelernter Arbeiter konnte mit rund 110 Dukaten im Jahr ein ansehnliches Salär verdienen und sich ein kleines Haus mieten; dementsprechend blühte auch das Baugewerbe. Viele Städte leisteten sich karitative Einrichtungen für verarmte Bürger, Findelkinder und Waisen. Neben dem Kleinadel und dem Klerus wurde auch die Mittelklasse – etwa Beamte und Lehrer – von der Steuerlast befreit, weil man über genügend finanzielle Mittel verfügte, um der kommunalen Ausgaben Herr zu werden.
So dachte man jedenfalls. Denn der vermeintliche Reichtum war nur der oberflächliche Glanz einer Gesellschaft, deren Fundamente von Anfang an morsch waren. Wenige Jahre nach Cervantes’ Tod sah die Situation vollkommen anders aus. 1621 warnte der Rat von Kastilien König Philipp III., sein Reich sei «der maßlosen Lasten, Steuern und Abgaben wegen total ruiniert und zerstört».[32] Als der Monarch im selben Jahr starb, hinterließ er seinem Sohn ein riesiges Reich, das seine Macht weitgehend verloren hatte, hinzu kamen eine korrupte und unfähige Verwaltung, eine oft notleidende Bevölkerung und ein Adel, der zu stolz war, Steuern zu zahlen. Die Gründe, die zu diesem Niedergang führten, sind vielfältig und lassen sich auf politisch-militärische und gesellschaftlich-ökonomische Ursachen zurückführen, die sich gegenseitig bedingten.
Das politische Tagesgeschäft wurde von einem Regierungsapparat geprägt, der durch eine Reihe von Rätekammern (consejos) die in den verschiedenen Ressorts und Ländern anstehenden Aufgaben zu bewältigen hatte. Gab es anfangs nur einige wenige, traten mit dem Machtgewinn Spaniens und den Eroberungen immer weitere Rätekammern hinzu, wie die consejo de Indias (1524) oder die consejo de Portugal (1582). Diese formalisierte, unbewegliche Beamtenorganisation zeichnete sich durch institutionalisierte Trägheit, Konservatismus, Filz, Ämterkauf und Bestechlichkeit aus. Zwar war der wirtschaftliche Gewinn aus den Edelmetallminen Amerikas enorm, doch überstiegen die staatlichen Ausgaben bald die Einnahmen. Allein die Begleitkonvois, die die Transportschiffe zu beschützen hatten, verschlangen Unsummen. Die Menge an importiertem Edelmetall erwies sich als inflationär und drückte den Wert für Gold und Silber auf dem heimischen Markt. Erschwerend kam hinzu, dass das Fälschen von Münzen blühte und die Konkurrenz durch ausländische Produkte immer stärker wurde. Daneben hatten Kriege gegen die Niederländer, Franzosen, Osmanen und Engländer zu großen finanziellen Verlusten geführt. Die Niederlagen der Armada in den Jahren 1588 und 1607 beeinträchtigten das Selbstbild der Spanier erheblich, die sich bis dahin als ein von Gott für die Sache der wahren Religion erwähltes Volk betrachtet hatten.
Die aus den Kriegen resultierenden Steuererhöhungen wiederum trugen zur Verarmung der Bevölkerung bei. Denn die Hauptlast der Steuerabgaben lag beim produzierenden Gewerbe, bei Bauern und Handwerkern. Als großes wirtschaftliches Problem erwies sich in dieser Zeit die Tabuisierung der Arbeit durch den Adel. «[Ich] frühstückte im Bett, stand um elf auf, aß um zwölf zu Mittag, und um zwei legte ich mich auf der Ruhebank zur Siesta nieder», lässt Cervantes in einem seiner Werke den vermeintlichen Edelmann Campuzano sagen.[33] Der spanische Adel, der sich aus den Granden des Hochadels, den caballeros des mittleren Adels und den hidalgos des Kleinadels zusammensetzte – mit Frauen und Kindern waren es gegen Ende der Regierungszeit Philipps II. rund eine halbe Million Menschen[34] –, hatte einen Ehrenkodex, der die Arbeit um des Lebensunterhalts und des Gewinns willen ablehnte. Untätigkeit wurde so zu einem erstrebenswerten Ziel der ehrgeizigen Mittelschicht; ein unternehmerisch aktives Bügertum fehlte zunehmend. Der unbedingte Wunsch nach der Zugehörigkeit zum Adel führte zu einer Preisgabe handwerklicher Tätigkeiten und zu mangelndem Fleiß im gewerblichen Bereich. Cervantes wird mit seinem Don Quijote einen hidalgo unsterblich machen, dessen Tagwerk in der Lektüre von Ritterbüchern besteht und der bestrebt ist, durch seine Taten zum Ruhm Gottes und seiner Angebeteten beizutragen, jedoch keiner Arbeit im volkswirtschaftlichen Sinne nachgeht.
Zu diesen Problemen trat ein demografisches hinzu. Viele junge Spanier wanderten in die Kolonien aus. Die Morisken – zum Christentum konvertierte Muslime –, die für die Landwirtschaft wichtig waren, da sie Nutzpflanzen kultivierten, Seiden- und Zuckerproduktion betrieben und insbesondere die brachliegende Mancha fruchtbar machten, wurden unter König Philipp III. endgültig aus Spanien vertrieben. Zwischen 1609 und 1614 verließen somit fast 300.000 Menschen die Iberische Halbinsel.[35]
Im Spannungsverhältnis dieser Pole – zwischen imperialer Herrschaft, glänzendem äußeren Erscheinungsbild, Erblühen der Kunst einerseits und dem ökonomisch-gesellschaftlichen Niedergang Spaniens andererseits – vollzog sich das Leben des Miguel de Cervantes. Der historische Wandel fand auch im Werk des Dichters seinen Niederschlag. Stellten seine ersten Gedichte noch explizite Huldigungen des Königshauses dar, so griff Cervantes im Don Quijote den Topos des Goldenen Zeitalters bereits kulturpessimistisch auf. Als Don Quijote im elften Kapitel seine Rede auf das Goldene Zeitalter anstimmt, bemerkt er ausdrücklich, dass er dies «in unserem eisernen Zeitalter» unternimmt. Von Juan de Encinas propagandistischer Euphorie war im Jahr 1605 nicht mehr viel übrig geblieben.
Denn jeder ist, wie der Herrgott ihn geschaffen hat, ja oftmals schlechter noch.
(Don Quijote II, 4)
Wir wissen nichts über Kindheit und Jugend des Miguel de Cervantes. Kein Dokument gibt Auskunft über sein Tun, seinen Charakter oder seine Sehnsüchte. Wir wissen nicht, wie sein Verhältnis zu seinen Eltern war, ob er eine liebevolle Kindheit genoss, ob ihn die Finanzprobleme und Unsicherheiten der Familie sehr belasteten. Nach dem Taufeintrag findet sich erst 22 Jahre später wieder eine schriftliche Erwähnung des späteren Dichters, als ihn sein Lehrer Juan López de Hoyos (1511–1583) in einem 1569 veröffentlichten Buch mit den Worten «unser teurer und geliebter Schüler» (nuestro caro y amado discípulo) bedenkt. Man ist darauf angewiesen, Zeitumstände und Verwandtschaftsbeziehungen zu beleuchten, und man kann nur mutmaßen, dass er in den ersten beiden Jahrzehnten seines Lebens in jenen Städten lebte, in denen auch seine Eltern heimisch waren und die über deren Namen dokumentarisch belegt sind. Gesichert ist auch dies nicht, zumal die männlichen Mitglieder der Familie stets zu Alleingängen neigten. Einige wenige Lebensumstände lassen sich aus Cervantes’ Werk rekonstruieren, wobei Rückschlüsse aus fiktionalen Texten auf die empirische Existenz stets problematisch sind. Das autobiografische Subjekt verliert sich in den verschiedenen Formen seiner literarischen Verallgemeinerung. Mit Vorsicht gelesen, können die autobiografischen Passagen der fiktionalen Werke somit eher Einblick in die Wesensart des Dichters gewähren.
Ein Aspekt blieb in der Cervantes-Forschung bislang weitgehend unbeachtet, der jedoch entscheidende Bedeutung für Cervantes’ Leben gehabt haben könnte. Stotterte er? Cervantes selbst gibt dies unumwunden zu. Im Vorwort der 1613 erschienenen Exemplarischen Novellen schreibt er in seiner Selbstcharakterisierung: «[da ich] ohne Abbild geblieben bin, kann ich nicht umhin, meinen eigenen Schnabel zu wetzen, der, wenn auch stottrig, doch die Wahrheit glatt sagen wird […]».[1]
Lange Zeit wurde der Begriff «stottrig» als Ausdruck der Bescheidenheit eines betagten Autors gedeutet, der wohl nicht mehr so flüssig sprechen konnte, wie er es einst vermochte. Doch auch in der Epistel an Mateo Vázquez aus dem Jahr 1577 spricht Cervantes von seiner lengua balbuciente, seiner «stotternden Zunge». Die halbautobiografische Figur des Saavedra im Theaterstück Sklave in Algier (El trato de Argel) bekennt sich ebenfalls offen zu ihrer lengua balbuciente. Darüber hinaus nimmt ein Spottsonett, das Cervantes’ langjährigem Konkurrenten Lope de Vega zugeschrieben wird, die körperlichen Gebrechen des Autors zum Anlass, ihn zu verhöhnen. Nach einer maliziösen Anspielung auf Cervantes’ verstümmelte linke Hand heißt es im zweiten Quartett des Gedichts: Hablaste buey: pero dijiste mú:[2] («Du hast gesprochen, du Ochs, und heraus kam nur mú»). Die doppeldeutige Formulierung impliziert, nichts komme dabei heraus, wenn der Ochse (Cervantes) seinen Mund öffnet, sowohl im wörtlichen Sinne – er stottert und kann nur mú sagen – als auch im übertragenen Sinne bezüglich seiner literarischen Erzeugnisse. All diese Indizien sprechen dafür, dass Cervantes tatsächlich stotterte.
In der heutigen Medizin gibt es zahlreiche Theorien, die den Grund für das Stottern zu erklären versuchen; genannt werden etwa neuropsychologische, genetische oder psychodynamische Ursachen. Letztgültige medizinische Erkenntnisse über das Stottern gibt es nicht. Einigkeit herrscht in der Annahme, dass das Stottern in aller Regel vor dem zwölften Lebensjahr beginnt. In seltenen Fällen kann Stottern auch im Erwachsenenalter nach neurologischen Schädigungen oder einem psychischen Trauma auftreten.
Wann genau Cervantes zu stottern begann, vermag niemand zu sagen. Trat es bereits vor seinem zwölften Lebensjahr auf, wie bei den meisten Menschen, oder war es vielleicht Folge dessen, was man heute als «posttraumatische Belastungsstörung» bezeichnet? 1571, im Alter von 24 Jahren, nahm Cervantes als Soldat an der mit ungeheurer Brutalität geführten Seeschlacht von Lepanto teil, in der er schwere Verletzungen erlitt. Vier Jahre später wurde er von Berberkorsaren entführt und in Algier in Geiselhaft genommen, wo ihm mehrfach Folter und die Hinrichtung drohte. Traumatische Erlebnisse gab es in seinem Leben viele und er litt nachweislich unter Alpträumen.[3] Über Wunden, die der Seele zugefügt werden, bemerkt er in offensichtlicher Kenntnis, sie setzten einem nach einer gewissen Zeit, wenn man mit Abstand darüber nachdenke, derart zu, dass «man darüber sein Leben einbüßen könnte».[4]