Das Schloss der Schriftsteller - Uwe Neumahr - E-Book

Das Schloss der Schriftsteller E-Book

Uwe Neumahr

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Beschreibung

Wohl nie waren so viele berühmte Schriftsteller und Reporterinnen aus aller Welt unter einem Dach versammelt wie in Nürnberg 1946. John Dos Passos und Erika Mann, Erich Kästner und Martha Gellhorn, Willy Brandt und Markus Wolf: Sie kamen, um zu berichten – von den Gräueln des Krieges und des Holocaust, die dort vor Gericht verhandelt wurden. Sie wohnten und schrieben auf Schloss Faber-Castell, diskutierten, tanzten, verzweifelten, tranken. Uwe Neumahr erzählt ihre Geschichte in seinem aufregenden und bewegenden Buch. Nürnberg 1946: Es war eine einzigartige Versammlung von weltberühmten Schriftstellern, Journalistinnen, Reportern und solchen, die später einmal die Berühmtheit erlangten. Erich Kästner war dort und Erika Mann, John Dos Passos und Martha Gellhorn. Augusto Roa Bastos kam aus Paraguay, Xiao Qian aus China. Im Gerichtssaal blickten sie den Verbrechern ins Angesicht, die sich für den Krieg und den Holocaust verantworten mussten. Im Press Camp auf dem Schloss Faber-Castell versuchten sie, das Unfassbare in Worte zu fassen, damit die Welt davon erfahren konnte. Dabei trafen im Mikrokosmos des Faber-Schlosses Exil-Rückkehrer auf Überlebende des Holocaust, Kommunisten auf Vertreter westlicher Medienkonzerne, Frontberichterstatter auf extravagante Starreporter. Man schlief auf Feldbetten und begegnete sich in der Bar, im Salon, im Spielzimmer und im Kino, die die Alliierten in der globalen Herberge eingerichtet hatten. Und während die Schlossbewohner in den Abgrund der Geschichte sahen, während sie über Schuld, Sühne und Gerechtigkeit nachdachten, veränderten sich nicht nur sie, sondern auch die Art, wie sie schrieben.

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Uwe Neumahr

DAS SCHLOSS DER SCHRIFTSTELLER

Nürnberg ’46

Treffen am Abgrund

C.H.Beck

ZUM BUCH

Wohl nie waren so viele berühmte Schriftsteller und Reporterinnen aus aller Welt unter einem Dach versammelt wie in Nürnberg 1946. Sie kamen, um zu berichten – von den Gräueln des Krieges und des Holocaust, die dort vor Gericht verhandelt wurden. Sie wohnten und schrieben auf Schloss Faber-Castell, diskutierten, tanzten, verzweifelten, tranken. Uwe Neumahr erzählt ihre Geschichte in seinem aufregenden und bewegenden Buch.

Erich Kästner war in Nürnberg und Erika Mann, John Dos Passos und Martha Gellhorn. Augusto Roa Bastos kam aus Paraguay, Xiao Qian aus China. Im Gerichtssaal blickten sie den Verbrechern ins Angesicht, im Press Camp auf dem Schloss versuchten sie, das Unfassbare in Worte zu fassen. Dabei trafen im Mikrokosmos des Faber-Schlosses Exil-Rückkehrer auf Überlebende des Holocaust, Kommunisten auf Vertreter westlicher Medienkonzerne, Frontberichterstatter auf extravagante Starreporter. Man schlief auf Feldbetten und begegnete sich in der Bar, im Salon, im Spielzimmer und im Kino, die die Alliierten in der globalen Herberge eingerichtet hatten. Und während die Schlossbewohner in den Abgrund der Geschichte sahen, während sie über Schuld, Sühne und Gerechtigkeit nachdachten, veränderten sich nicht nur sie, sondern auch die Art, wie sie schrieben.

ÜBER DEN AUTOR

Uwe Neumahr ist promovierter Romanist und Germanist. Er arbeitet als Literaturagent und freier Autor. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Miguel de Cervantes. Ein wildes Leben. Biografie (2015).

INHALT

VORWORT

DAS PRESSELAGER IM BLEISTIFTSCHLOSS

Deutsche Presse in der «Stunde null»

Im Faberschloss

Eine noblere Presseunterkunft

Bildende Künstler

Der Problemlöser: Ernest Cecil Deane

Ost-West-Konflikte

Im fremden Land

«Deutschland, Deutschland ohne alles. Ohne Butter, ohne Speck, und das bißchen Marmelade frißt uns die Besatzung weg …»

Kritik am Prozess

Grenzen der journalistischen Darstellungsform

AMERIKANISCHE NIEDERLAGEN ODER DIE MELANCHOLIE DES JOHN DOS PASSOS

In Deutschland, «Land des Fragebogens»

Zwischen Schwermut und Nationalstolz: Jacksons Eröffnungsrede

GRÄFIN KATHARINA UND DER GESTAPOCHEF RUDOLF DIELS

Die Grafenfamilie

Wiedersehen in Nürnberg

ERICH KÄSTNERS GEBROCHENES VERSPRECHEN

Die Neue Zeitung

Sprachwandel

Streiflichter aus Nürnberg

Sprachlosigkeit

Inländische und ausländische Perspektive

ERIKA MANN, IHRE «LIEBE IRRENHÄUSLERIN» UND EIN UNANGENEHMES WIEDERSEHEN

Wiedersehen unter verkehrten Voraussetzungen

Genugtuung

Im Steiner Head Quarter

Das garstige, unselige Volk

Eine unangenehme Begegnung

WILLIAM SHIRER UND DER GUTE WEHRMACHTSGENERAL

Anhänger Vansittarts

Militärischer Widerstand vor Gericht

Mahner vor den Deutschen

ALFRED DÖBLINS VERSCHLEIERUNG: VON VERMEINTLICHEN GÄSTEN AUF SCHLOSS FABER-CASTELL

Erziehungstheater gegen Nazi-Theater

Ein Bluff mit Folgen

JANET FLANNERS PROVOKANTE KRITIK AN HERMANN GÖRINGS VERHÖR

Offizielle Kriegskorrespondentin

Görings Kreuzverhör

Verhängnisvoller Antiamerikanismus

STALINISMUS AUF FRANZÖSISCH: ELSA TRIOLET

Stalinismus

Der Walzer der Richter

Gegen den Pakt mit den Nazis

WILLY BRANDT, MARKUS WOLF UND DER MASSENMORD VON KATYN

Im Press Camp

Verbrecher und andere Deutsche

Katyn

Stalinistische Medienarbeit

REBECCA WESTS AFFÄRE MIT DEM RICHTER

Gewächshaus mit Alpenveilchen

Klischees

«Du bist ein gutes Kind, aber es ist meine Frau, die ich wirklich liebe»

MARTHA GELLHORN, HEMINGWAYS SCHATTEN UND DER SCHOCK VON DACHAU

Hemingways Schatten

Love Goes to Press

Kriegsberichterstatterin in einer Männerwelt

Der Schock von Dachau

In Nürnberg

Why I shall never return

MALEN, UM DEM GRAUEN ZU ENTFLIEHEN: WOLFGANG HILDESHEIMER BEIM EINSATZGRUPPENPROZESS

Die Schulddebatte der Nachkriegszeit

Beim Einsatzgruppenprozess

In der Dolmetscherkabine

EINE ART NACHWORT: GOLO MANNS EINSATZ FÜR DEN INHAFTIERTEN RUDOLF HESS

Der Letzte von Spandau

Ein Vorwort mit Konsequenzen

ANHANG

ANMERKUNGEN

Vorwort

Das Presselager im Bleistiftschloss

Amerikanische Niederlagen oder die Melancholie des John Dos Passos

Gräfin Katharina und der Gestapochef Rudolf Diels

Erich Kästners gebrochenes Versprechen

Erika Mann, ihre «liebe Irrenhäuslerin» und ein unangenehmes Wiedersehen

William Shirer und der gute Wehrmachtsgeneral

Alfred Döblins Verschleierung: Von vermeintlichen Gästen auf Schloss Faber-Castell

Janet Flanners provokante Kritik an Hermann Görings Verhör

Stalinismus auf Französisch: Elsa Triolet

Willy Brandt, Markus Wolf und der Massenmord von Katyn

Rebecca Wests Affäre mit dem Richter

Martha Gellhorn, Hemingways Schatten und der Schock von Dachau

Malen, um dem Grauen zu entfliehen: Wolfgang Hildesheimer beim Einsatzgruppenprozess

Eine Art Nachwort: Golo Manns Einsatz für den inhaftierten Rudolf Heß

LITERATURVERZEICHNIS

Primärliteratur

Sekundärliteratur

BILDNACHWEIS

PERSONENREGISTER

VORWORT

Xiao Qian war erstaunt. Als er im Oktober 1945 das erste Mal durch das zerstörte Nürnberg lief, erinnerte ihn die Stadt als einzige von allen europäischen Städten an Peking. Nicht nur der alten Stadtmauer wegen, des Flusses, der sich hindurchschlängelte, oder der Trauerweiden, sondern auch wegen der Ruhe, die die Stadt ausstrahlte. Als chinesischer Kriegsberichterstatter während des Zweiten Weltkriegs hatte Xiao Qian (1910–1999) mit der britischen Armee 1945 den Rhein überquert. Nach einem Aufenthalt im eroberten Berlin erreichte er im Herbst Nürnberg. Die touristische Bedeutung der einstigen Reichsstadt war ihm bekannt, doch «heutzutage», so Xiao Qian in seiner Reportage vom 9. Oktober 1945, «kommen die Touristen nicht wegen kultureller und historischer Sehenswürdigkeiten nach Nürnberg (die finden sich jetzt unter Schutt und Asche), auch nicht wegen der berühmten Nürnberger Lebkuchen. Heute steht Nürnberg im Mittelpunkt weltweiter Aufmerksamkeit, weil hier 23 Hauptverbrecher des Nazi-Regimes vor Gericht stehen. […] Es ist ein großes Ereignis.»[1]

Was Xiao Qian seiner Leserschaft in China in einführenden Worten als «großes Ereignis» beschrieb, war die internationale Antwort auf unvorstellbare Gräuel: der Nürnberger Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher, mit dem der Moment der Sühne kam. Weltweit wollten Menschen miterleben, wie die Gesichter der NS-Diktatur demaskiert wurden. Einige Beobachter sahen in dem Prozess den Grundstein für die Umsetzung eines modernen Völkerstrafrechts. Die Anwesenheit von NS-Prominenz im Gerichtssaal, das juristische Novum eines von vier Siegermächten durchgeführten Tribunals, dazu die Neugier auf ein Land, das in der Wahrnehmung vieler rätselhaft war, machten den Prozess tatsächlich zu einem Großereignis. Eine entsprechende Anzahl an Journalisten wurde nach Nürnberg geschickt, darunter, als einziger Chinese, Xiao Qian, der spätere Vorsitzende der chinesischen Schriftstellervereinigung. Die Berichterstatter sollten gleichsam das Fenster in einer abgeschotteten Enklave bilden, durch das die Außenwelt das Geschehen verfolgen konnte.

Unter Führung der amerikanischen Besatzungsbehörde wurde ein Presselager gesucht, das den Ansturm bewältigte. Doch ein Gebäude zu finden, das groß genug war, um mehrere hundert Pressevertreter aufzunehmen, stellte in einer Stadt, die während des Zweiten Weltkriegs häufig bombardiert worden war, ein schwieriges Unterfangen dar. Schließlich wurde man in der nahegelegenen Ortschaft Stein fündig. Das beschlagnahmte Schloss der Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell, ein im Stil des Historismus erbauter burgartiger Komplex, der den Krieg ohne nennenswerten Schaden überstanden hatte, wurde in ein internationales Press Camp umgewandelt. Das Faberschloss, wie man das Press Camp auch nannte, diente als Herberge und Arbeitsstätte zugleich.[2] Die Korrespondenten wohnten dort in Zimmern mit bis zu zehn Betten und fingen die Ereignisse wie Seismografen ein, während nur ein paar Kilometer entfernt in den Gefängniszellen in Nürnberg Männer wie Göring oder Ribbentrop, Streicher oder Heß auf die Urteile des internationalen Militärtribunals warteten.

Einige der wichtigsten Journalisten und bekanntesten Schriftsteller wurden nach Nürnberg geschickt, damit sie für Zeitungen, Agenturen und Radiosender über die Verhandlungen berichteten. Die Liste liest sich teils wie die Crème de la Crème der damaligen Presse- und Literaturszene. Sie reicht von Berühmtheiten wie Erika Mann, Erich Kästner, John Dos Passos, Ilja Ehrenburg, Elsa Triolet, Rebecca West und Martha Gellhorn bis zu Persönlichkeiten, die damals noch weitgehend unbekannt waren, aber später literarischen, medialen oder politischen Ruhm erlangten. Zu letzteren zählen Wolfgang Hildesheimer, der als Dolmetscher bei den Nürnberger Nachfolgeprozessen arbeitete, Augusto Roa Bastos, der als bedeutendster Autor Paraguays gilt, Robert Jungk, Zukunftsforscher und Träger des «Alternativen Nobelpreises», die amerikanische Fernsehlegende Walter Cronkite oder Walter Lippmann, der in den USA als einflussreichster politischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts betrachtet wird. Ganz zu schweigen von Willy Brandt, dem späteren Bundeskanzler, Markus Wolf oder Autoren wie Joseph Kessel, Peter de Mendelssohn und Gregor von Rezzori. Bis heute waren wohl nie mehr so viele prominente Schriftsteller aus aller Welt unter einem Dach versammelt wie zu dieser «Stunde null» auf Schloss Faber-Castell, als Weltliteratur auf Weltgeschichte traf. Rückkehrer aus der inneren Emigration oder dem Exil begegneten kriegserfahrenen Offizieren, Résistance-Kämpfer Überlebenden des Holocaust, Kommunisten Vertretern westlicher Medienkonzerne, Frontberichterstatter extravaganten Starreportern. Sie alle einte die Suche nach Antworten, wie diese Katastrophe geschehen konnte, was die Angeklagten für Menschen waren und was sie zu ihrer Verteidigung vorbringen würden.

Das Press Camp in Stein, wo buchstäblich Geschichte geschrieben wurde, war ein Ort der Gegensätze. Erika Mann, offiziell Angehörige des US-Militärs, lebte im Presselager mit ihrer Partnerin zusammen, einer amerikanischen Journalistin, obwohl homosexuelle Beziehungen im Militär verboten waren. Willy Brandt, damals Korrespondent der skandinavischen Arbeiterpresse, traf dort Markus Wolf, jenen Mann, der ihn später als Chef des DDR-Auslandsnachrichtendienstes über einen Kanzleramtsspion stürzte. Ray D’Addario, der als amerikanischer Militärfotograf legendäre Prozessfotos machte und bis 1949 in Nürnberg blieb, wurde auf seiner Hochzeit im Schloss von Hitlers Hausintendanten verköstigt. Wie Der Spiegel im September 1948 berichtete, war Arthur Kannenberg, ehemaliger Organisationschef für den Haushalt in Hitlers Reichskanzlei, nach seiner Entnazifizierung Küchenchef auf Schloss Faber-Castell geworden. Vor dem Krieg hatte ein Bekannter Kannenberg, der Hitler auch mit Akkordeonspiel und Gesang unterhalten hatte, um seine Nähe zu Hitler beneidet: «Was wenigen Sterblichen ist beschieden, was der sehnlichste Wunsch von Millionen ist», hatte er Kannenberg hymnisch geschrieben, «dieses grosse Glück hast du hienieden, der Du alltäglich um Ihn bist.»[3] Hitlers «Hofnarr an der Quetschkommode», wie Wolfgang Wagner Kannenberg spöttisch nannte,[4] war nun aber nicht mehr vom «Führer» und dessen Entourage umgeben, sondern von internationalen Pressevertretern.

Das Press Camp, das bis zum Ende der Nürnberger Nachfolgeprozesse 1949 aufrechterhalten wurde, war ein Ort hektischer journalistischer Betriebsamkeit, aber auch künstlerischer Kreativität. Neben unzähligen Artikeln, Prozessreportagen und Radiobeiträgen entstanden dort Zeichnungen, Karikaturen, Romane und Erzählungen. Die Romanvorlage für Sergei Prokofjews Oper Die Geschichte vom wahren Menschen, Boris Polewois Der wahre Mensch, wurde im Presselager geschrieben. Prokofjew wollte unbedingt jene «intensivste Literaturerfahrung der letzten Zeit» vertonen. Wolfgang Hildesheimer, der ursprünglich plante, bildender Künstler zu werden, malte im Schloss abstrakte Bilder.

Eigene, eigenartige Sitten und Gebräuche hatten sich in der globalen Herberge herausgebildet, bemerkte ein Prawda-Korrespondent in seinem Tagebuch. Auf engstem Raum zusammenlebend, waren die Korrespondenten enormen Spannungen ausgesetzt. Der Konkurrenzdruck war groß, insbesondere unter den amerikanischen Berichterstattern. Reporter, die sich gerade noch freundlich beim Frühstück unterhalten hatten, konnten wenig später erbitterte Widersacher werden. Viele waren auf der Jagd nach einer exklusiven Geschichte, wollten einen Scoop landen. Emmy Göring, die Frau von Hermann Göring, wurde mit Interviewanfragen überschüttet, und aufdringliche Pressefotografen stellten den Ehefrauen der Angeklagten nach. Ein AP-Foto zeigt den Journalisten Wes Gallagher, wie er nach der Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal rennt, um als Erster ein Überseetelefon zu erreichen. Die Konkurrenz hatte zur Folge, dass einige Berichterstatter in ihren Beiträgen heftig übertrieben. Vorgetäuschte Nachrichten, um der höheren Auflage oder der Propaganda willen, gelangten immer wieder an die Öffentlichkeit. Selbst ein Autor wie Alfred Döblin, der unter Pseudonym für die französische Besatzungsbehörde über den Prozess schrieb, gab gegenüber seinen Lesern vor, er sei im Gericht anwesend, obwohl er 1945/46 nicht in Nürnberg war.

Wes Gallagher rennt nach der Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal, 1. Oktober 1946

Das internationale Großereignis zog auch Geschäftemacher an, Verleger anglo-amerikanischer Medienunternehmen witterten das große Geld. Gelegentlich traf man sie beim abendlichen Dinner im Presselager, nachdem sie mit den Verteidigern der Kriegsverbrecher über die Memoiren ihrer Mandanten verhandelt hatten.

Das Misstrauen der Großmächte und der sich anbahnende Kalte Krieg führten dazu, dass sich sowjetische und westliche Korrespondenten im Press Camp nicht zu nahe kommen sollten. Insbesondere die Zügel aus Moskau waren straff. Die nach Nürnberg Entsandten hatten strikte Anweisung, wie sie sich zu verhalten hatten, und liefen bei Zuwiderhandlung Gefahr, denunziert zu werden. Die kleinste Abweichung oder ein falsches Wort konnten nicht nur den sofortigen Abzug und das Ende der Karriere bedeuten, sondern auch Repressalien für die Familie nach sich ziehen.

Im Gericht sahen die Prozessteilnehmer sich tagsüber mit den unfassbaren Verbrechen der Angeklagten konfrontiert, mit Bildern aus Konzentrationslagern, von Massenerschießungen und den Aussagen von Opferzeugen. Abends betäubten sich viele mit Alkohol, spät in der Nacht fielen alle Schranken, man tanzte miteinander und trank. «Die Amerikaner trinken als ob sie dafür bezahlt bekämen», bemerkte Wolfgang Hildesheimer, «und es kommt nicht selten vor, dass jemand zurückgeschickt wird, weil er (oder sie) delirium tremens hat. Sonst sind sie prüde, freundlich und unwissend.»[5]

Das Press Camp war durch das interkulturelle Zusammenleben auch ein gesellschaftliches Experiment, ein sozialer Testlauf. Für die Verhältnisse der Zeit war es in vielerlei Hinsicht fortschrittlich. Den okkupierten Deutschen wurde das Ideal einer freien Presse vorgelebt und Pressefreiheit praktiziert, zumindest weitgehend von den westlichen Medien. Auch in Fragen der Emanzipation war man dem von der nationalsozialistischen Ideologie geprägten Deutschland voraus. Alfred Rosenberg, einer der angeklagten Hauptkriegsverbrecher, hatte in seinem NS-Grundlagenwerk Der Mythus des 20. Jahrhunderts die «Emanzipation der Frau von der Frauenemanzipation» gefordert. Die nationalsozialistische Diktatur hatte eine patriarchalische Ordnung praktiziert, in der die Rolle der Frau vor allem die der Mutter, weniger die der Berufstätigen war. Umso mehr musste es Rosenberg und seine Mitangeklagten irritieren, wie viele Korrespondentinnen im Gerichtssaal anwesend waren. Während der Reichsverband der deutschen Presse 1944 einen Frauenanteil von 13 Prozent unter seinen Mitgliedern ausmachte – die meisten davon im Zeitschriftenbereich, nur wenige im politischen Journalismus[6] –, war die Frauenquote unter den Journalisten im Press Camp deutlich höher. Auch wenn es zu weit gehen würde, das Presselager als einen Ort der Gleichberechtigung zu bezeichnen, kam die Institution einer Gleichstellung schon relativ nahe. Die Journalistinnen waren in einem eigenen Gebäude untergebracht, der Villa im Schlosspark. Allein die New York Times hatte zwei Korrespondentinnen nach Nürnberg entsandt, Kathleen McLaughlin und die Pulitzer-Preisträgerin Anne O’Hare McCormick. Tullia Zevi, die spätere Präsidentin der jüdischen Gemeinde Italiens, schrieb für Religious News Service. Dazu kamen «Edelfedern» wie Rebecca West, Nora Waln, Martha Gellhorn, Dominique Desanti, Janet Flanner, Erika Mann und viele andere.

Nicht nur die Politik war ihr Metier. Die Berichterstatterinnen thematisierten feministische Fragen und bemängelten, dass der Prozess ausschließlich Männersache war. «Es gab keine Frauen unter den Angeklagten. War das vielleicht auch der Grund, dass auch unter den Richtern keine Frau zu finden war? Hätten sie aber nicht gerade hier vertreten sein sollen? Wenn die Ergebnisse der Nürnberger Prozesse tatsächlich das Schicksal Europas maßgeblich bestimmen, wäre es dann nicht gerecht gewesen, dass auch Frauen ein Wort mitreden?», fragte die argentinische Schriftstellerin Victoria Ocampo.[7]

Nürnberg war während der Prozesse ein deutscher Schicksalsort, und die meisten der Chronistinnen und Chronisten logierten in der Steiner Schaltzentrale der Medien. Sie verhandelten in ihren Beiträgen Prozessrelevantes und Zeitgeschichtliches, gesellschaftspolitische Themen und Einzelschicksale, aber auch Klatsch und Tratsch. Das Presselager, dieser Mikrokosmos im Nürnberger Makrokosmos, bietet uns heute den fassbaren Rahmen für die Engführung von Zeitgeschichte, Literaturgeschichte und persönlichen Schicksalen. In diesem Buch wird zum ersten Mal die Historie des Ortes und seiner Bewohner ausführlich erzählt. Steffen Radlmaier, Feuilletonchef der Nürnberger Nachrichten, hat anlässlich der 70. Wiederkehr des Beginns der Prozesse die 50-seitige Broschüre Das Bleistiftschloss als Press Camp verfasst. Der mit zahlreichen Abbildungen versehene Band wurde anlässlich einer Ausstellung im Faberschloss veröffentlicht. Radlmaiers Pionierarbeit, insbesondere der von ihm herausgegebenen Anthologie mit den Prozessbeiträgen internationaler Korrespondenten, verdankt dieses Buch viel.[8] Darauf aufbauend wurden umfangreiche Recherchearbeiten getätigt, Archive besucht und neue Quellen erschlossen. Ein ergiebiger Fund waren die unveröffentlichten Briefe von Ernest Cecil Deane, dem zuständigen Verbindungsoffizier zwischen Press Camp und Gerichtsgebäude, aber auch die Korrespondenz und der Nachlass von Erika Mann, Peter de Mendelssohn oder William Stricker.

Der Fokus des vorliegenden Buches liegt nach einem einleitenden Essay zur Geschichte des Presselagers vor allem auf dem Personenkollektiv prominenter Bewohner, von John Dos Passos und Erich Kästner über Willy Brandt und Martha Gellhorn bis zu Golo Mann. In jedem der Kapitel steht einer von ihnen im Mittelpunkt. Wer waren sie, bevor sie nach Nürnberg kamen? Wie prägend wurde ihr Aufenthalt? Was machte der Prozess mit ihnen? Niemanden ließen das im Gerichtssaal verhandelte Grauen und die Nürnberger Trümmerwüste kalt. Es gab Korrespondenten, die darum baten, abgezogen zu werden, weil sie es nicht mehr aushielten. Wolfgang Hildesheimers zunehmend apokalyptische Weltsicht im Alter war einem Kollegen zufolge auf seine Erfahrungen in Nürnberg zurückzuführen. Erika Manns amerikanische Geliebte, ebenfalls Prozessberichterstatterin, blieb nach dem Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg und wurde zu einer Gegnerin der Todesstrafe und einer Siegerjustiz, wie sie sie in Nürnberg am Werke sah.

Die Nürnberger Prozesse veränderten die Menschen, die ihnen beiwohnten. Damit einhergehend änderte sich auch der Schreibstil der Berichterstatter. Janet Flanner etwa, berühmt für ihren Flanner touch, der sich durch witzig-pointierte Schlussfolgerungen auszeichnete, schrieb in Nürnberg anders. Mit sprachlichem Witz oder Sarkasmus konnte sie der Dimension der Verbrechen nicht gerecht werden. Erich Kästner, sonst um kein Wort verlegen, bemerkte, dass er es nicht fertigbringe, «über diesen unausdenkbaren, infernalischen Wahnsinn einen zusammenhängenden Artikel zu schreiben», nachdem er einen Dokumentarfilm über Konzentrationslager gesehen hatte. Das Schloss der Schriftsteller ist auch ein Buch über Sprachlosigkeit und den literarischen Umgang mit dem Unsagbaren.

Hauptprotagonist und «Regisseur» ist der Nürnberger Prozess selbst. Die Dramaturgie der Kapitel lehnt sich an die Chronologie des Prozessgeschehens an, beginnend mit dem Auftakt des Hauptkriegsverbrecherprozesses im November 1945 (John Dos Passos) über Görings Kreuzverhör (Janet Flanner) und die Urteilsverkündung im Herbst 1946 (Martha Gellhorn) bis hin zu den Nachfolgeprozessen ab 1947 (Wolfgang Hildesheimer). Ein Exkurs über die gräfliche Besitzerfamilie des Schlosses fügt sich ein; Golo Manns Eintreten für die Freilassung von Rudolf Heß aus dem Spandauer Militärgefängnis schließt das Buch ab. So soll zugleich eine literarische Chronik des Prozesses und eine Kollektivbiografie bekannter, im Schloss logierender Berichterstatter entstehen.

DAS PRESSELAGER IM BLEISTIFTSCHLOSS

«Aber so ist das Presselager, entweder sehr aufregend oder sehr langweilig, selten auf halbem Weg dazwischen.»

Ernest Cecil Deane, Brief vom 9. Oktober 1945 an seine Frau Lois

Im November 1945 blickte die ganze Welt auf Nürnberg. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurden hier die politisch und militärisch Verantwortlichen eines verbrecherischen Regimes zur Rechenschaft gezogen. Rechtsstaatlichkeit, so der ausdrückliche Wille der federführenden Amerikaner, sollte über Rachegelüste siegen. Vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 tagte im Justizpalast der Internationale Militärgerichtshof und urteilte über führende Repräsentanten des NS-Apparats. Während sich 21 von ihnen im Schwurgerichtssaal verantworten mussten, wurde gegen Martin Bormann in Abwesenheit verhandelt. Das Verfahren gegen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Robert Ley, der Leiter der Deutschen Arbeitsfront, hatte sich vor Prozessbeginn in seiner Zelle mit einem Stofffetzen erhängt. Es blieb das Verfahren gegen «Göring und Genossen», wie es in den Akten lapidar hieß. Der Hauptverantwortliche, Adolf Hitler, und zwei seiner wichtigsten Helfer, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler, hatten sich durch Selbstmord der Verantwortung entzogen.

Der am 18. Oktober 1945 in Berlin eröffnete Prozess war nach Nürnberg verlegt worden, weil die Amerikaner auf einen Verhandlungsort in ihrer Besatzungszone drängten. Die fränkische Stadt, wo die eigentliche Gerichtsverhandlung begann, bot sich aus praktischen wie aus symbolischen Gründen an. Der große Komplex des 1916 eingeweihten Justizpalastes in der Fürther Straße war im Krieg nur leicht beschädigt worden. Ein Gefängnis befand sich nebenan. Vor allem aber war Nürnberg international berüchtigt. Hier hatte Hitler seine Reichsparteitage abgehalten. Hier waren die grausamsten und inhumansten Gesetze erlassen worden, die Nürnberger Gesetze «zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre». In der Frankenmetropole ein Tribunal über die Hauptverantwortlichen durchzuführen, hatte eine besondere Bedeutung. In Nürnberg sollte kein Standgericht stattfinden, wie ursprünglich von Winston Churchill gefordert, auch kein Schauprozess nach sowjetischem Vorbild. Recht sollte gesprochen werden, das den Namen verdiente. Es ging um die Etablierung eines ethisch fundierten Gegenentwurfs zu der vom NS-Regime praktizierten Skrupellosigkeit. Der Prozess bot die historische Chance, sich über das Prinzip der Regierungsimmunität hinwegzusetzen und ein weltweites multilaterales System zu schaffen, das den Grundsätzen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verpflichtet war.

Vor allem die Amerikaner wollten, dass die Welt den Prozess als gerecht empfand. Daraus resultierte der Versuch, die Schuld jedes Angeklagten individuell zu bemessen. Neben den Einzelpersonen nannte die Anklageschrift auch zentrale NS-Organisationen, deren kriminellen Charakter die Anklagevertreter nachweisen wollten: die Reichsregierung, das Korps der Politischen Leiter der NSDAP, die Gestapo, die SS und den SD, die SA, das Oberkommando der Wehrmacht und den Generalstab. Dass das Tribunal ein gigantisches Experiment werden würde, war allen Beteiligten klar. Es gab kein gültiges Gesetz, in dem stand, was einem Reichsmarschall oder einem Reichsminister verboten war. Man begab sich daher auf juristisches Neuland und musste improvisieren. Doch die Untaten der Angeklagten waren so «ausgeklügelt, böse und von verheerender Wirkung», wie der amerikanische Hauptankläger Robert H. Jackson in seiner Eröffnungsrede sagte, «dass die menschliche Zivilisation […] eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben» würde. Es ging nicht nur um Sühne und Katharsis, sondern auch um Prävention.

Bereits während des Zweiten Weltkriegs waren die Hauptalliierten nach wiederkehrenden Berichten über nazistische Gräueltaten übereingekommen, Personen aus der Führungsschicht des NS-Staates zu bestrafen. Das Londoner Viermächteabkommen vom August 1945 bestimmte dann die Rechtsgrundlagen für einen Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Verfahrensrechtliche Grundlagen wurden geklärt, dazu die Art der zu verurteilenden Verbrechen. Eine Liste der Hauptkriegsverbrecher wurde erstellt. Dem Richtergremium des Militärgerichtshofs gehörte schließlich je ein Vertreter der vier alliierten Siegermächte an, der jeweils über einen Stellvertreter verfügte. Jedes der vier Länder hatte ferner eine eigene Anklagebehörde mit einem Hauptankläger an der Spitze sowie einer Reihe von Hilfsanklägern. Vier Anklagepunkte wurden erhoben: Verschwörung gegen den Frieden, Entfesselung und Führung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Da Frankreich und die Sowjetunion massiv unter der deutschen Okkupation gelitten hatten, lag es nahe, dass diese beiden Länder die Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen führen sollten. Briten und Amerikaner waren für die Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden und die Planung eines Angriffskrieges zuständig.

Am 20. November 1945 begann der Prozess in Nürnberg. Erstmals in der Geschichte der Strafjustiz konnte die Verhandlung in vier oder mehr Sprachen geführt werden. Die amerikanische Firma IBM hatte dem Gericht kostenlos eine spezielle Simultananlage für Dolmetscher zur Verfügung gestellt. Ein Schalter an jeder Stuhllehne im Saal ermöglichte es, die Anklage über Kopfhörer in englischer, russischer, deutscher oder französischer Sprache zu hören. Damit wurde das Tribunal zu einer Angelegenheit der Weltöffentlichkeit, denn auch die Berichterstatter konnten zeitgleich in den verschiedenen Sprachen am Prozessgeschehen teilhaben. Freilich versagte die neue Technik oft, so ausgerechnet bei der Verkündung des Todesurteils für Hermann Göring am 1. Oktober 1946, als die Anlage ausfiel.

Blick auf die Pressetribüne des Gerichtssaals. In der Mitte der dritten Reihe sitzt Willy Brandt

Der immensen Bedeutung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses entsprach die Medienpräsenz vor Ort. Er war ein Medienereignis erster Ordnung, dem Korrespondenten aus aller Welt beiwohnten. Erklärtes Ziel der für den Prozess Verantwortlichen war es, ihn nicht nur schriftlich zu dokumentieren, sondern auch in Ton und Bild für die Nachwelt festzuhalten. Er sollte als Geschichtslektion und «Lehrprozess» (Alfred Döblin) für nachfolgende Generationen inszeniert werden. Im Gerichtssaal gab es technisch gut ausgestattete radioboxes, die wie Schwalbennester an der Decke hingen. Über sie konnten die Kommentatoren direkt auf Sendung gehen – ein Novum in der Prozessgeschichte. Ein Augenzeuge hielt in einem Bericht für Radio Stuttgart seine Eindrücke fest: «250 Journalisten und Rundfunkberichterstatter sowie elf Photographen und Filmoperateure aus allen Teilen der Welt wohnen den Verhandlungen ständig bei. Am stärksten ist die amerikanische Presse mit 100 Vertretern zugegen. Das britische Weltreich stellt 50, Frankreich 40 bis 50 und Russland 25 bis 30 Vertreter.»[1] Die ganze französische Presse sei da gewesen, erinnerte sich später die Journalistin Madeleine Jacob. In der Tat war vom konservativen Figaro über den christdemokratischen Aube bis hin zur kommunistischen Humanité, der aus der Résistance hervorgegangenen Libération und Regionalzeitungen wie dem Est républicain jedes namhafte Blatt zeitweise vertreten.[2]

Auf der Anklagebank war das Pressekorps gefürchtet. «Im Gerichtssaal trafen wir auf abweisende Gesichter», bemerkte Albert Speer in seinen Erinnerungen. «Betroffen war ich, als die Journalisten anfingen, über unsere Strafhöhe Wetten aufzulegen und der Wettstand auf einen Tod durch Erhängen gelegentlich auch uns erreichte».[3]

Die Angeklagten, flankiert von amerikanischen Soldaten in weißen Helmen und weißen Handschuhen, saßen teilweise alten Bekannten von der Presse gegenüber. Dazu zählten William Shirer, Howard Smith, Louis Lochner oder Frederick Oechsner, die bis Anfang der 1940er-Jahre für US-Medien aus Deutschland berichtet hatten. Oechsner hatte von Berlin aus als Central European Manager die damalige United Press geleitet und war Vorgesetzter von Richard Helms, dem späteren Direktor der CIA, gewesen. Nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg wurden Oechsner und andere Journalisten von der Gestapo fünf Monate lang in Bad Nauheim interniert, bis sie im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen wurden. Nun sah man sich in Nürnberg unter anderen Umständen wieder.

Deutsche Presse in der «Stunde null»

Deutsche Berichterstatter hatten in Nürnberg eine Sonderrolle inne, erlebte der deutsche Journalismus doch gerade erst einen Neuanfang. Als die Siegermächte Deutschland besetzten, wurde die von den Nationalsozialisten gesteuerte Presse verboten. Nachdem man von der Idee einer Vorzensur abgekommen war und zunächst Nachrichtenblätter der Militärregierungen publiziert hatte, wurden im Sommer 1945 erste Lizenzen an deutsche Zeitungen vergeben. Man benötigte eine neue deutsche Presse, um den natürlichen Nachrichtenhunger zu stillen und um eine Verständigung zwischen Besatzungstruppen und Bevölkerung zu gewährleisten. Die erste Lizenzzeitung, die Aachener Nachrichten, erschien am 20. Juni 1945, wenig später, am 1. August, folgte die Frankfurter Rundschau. Bei Prozessbeginn gab es 20 von den Amerikanern lizenzierte Zeitungen. Sie erschienen aufgrund des Papiermangels nur zwei- bis dreimal wöchentlich und umfassten wenige Seiten. Schließlich etablierten sich vier überregionale Zonenzeitungen, die als Modellzeitungen dienten, Die Welt in der britischen Besatzungszone, Nouvelles de France in der französischen, Die Neue Zeitung in der amerikanischen und die Tägliche Rundschau in der sowjetischen Zone.

Im Zuge der besatzungspolitischen Aufgabentrias von Demilitarisierung, Denazifizierung und Demokratisierung betrachteten die Alliierten es als besondere Aufgabe, die Medien von deutschen Journalisten freizuhalten, die bereits während des Nationalsozialismus dort gearbeitet hatten. Die Korrespondenten, die aus dem Justizgebäude für die lizenzierten Zeitungen berichteten, entstammten anfangs fast ausschließlich den Ländern der Siegermächte. Im Rahmen der Bildungsarbeit sollten ihre Artikel Vorbildfunktion für die Deutschen haben. Schließlich setzte sich aber die Einsicht «Germans reporting to Germans» durch, und man ließ auch deutsche Journalisten in den Justizpalast. Sie mussten sich im Rotationsprinzip auf den sieben Sitzen abwechseln, die man ihnen im Gerichtssaal von den rund 250 Presseplätzen zugewiesen hatte. Die Russen gaben von ihrem Kontingent fünf Sitze an deutsche Korrespondenten aus ihrer Zone ab.[4] Unter den Befürworteten befand sich auch der 22-jährige Markus Wolf, der spätere Leiter des DDR-Auslandsnachrichtendienstes.

Die Deutschen pochten auf ihr Recht, selbst zu berichten und sich ein Urteil bilden zu dürfen. Theodor Heuss, der Chefredakteur der Rhein-Neckar-Zeitung und spätere Bundespräsident, formulierte am 5. September 1945 selbstbewusst in einem mit «Deutsche Presse» betitelten Leitartikel: «Es ist eine Chance gegeben, dass deutsche Männer unter freier Verantwortung gegenüber der Militärregierung wie gegenüber dem deutschen Volke versuchen können, selber die Sinndeutung des deutschen Schicksals aufzunehmen und nach ihrem Verstehen dem schweren und langen Genesungsprozess zu dienen. Wir haben diese Möglichkeit ergriffen in voller Erwägung der psychologischen und sachlichen Schwierigkeiten. […] Fördernde Teilnahme mag uns willkommen, höhnender Spott wird uns völlig gleichgültig sein.»[5]

Dass die Amerikaner bei ihren Akkreditierungen nicht immer ein glückliches Händchen hatten, zeigt die Geschichte des Hochstaplers Walter Ullmann. Als sie kurz vor Kriegsende den in Wien geborenen Ullmann aus dem Zuchthaus in Moosburg befreiten, gab dieser sich kurzerhand als vom NS-Regime Verfolgter aus. Unter dem Namen Dr. Jo Lherman hatte er in den 20er-Jahren in Berlin eine Experimentierbühne geleitet, über die auch Erich Kästner berichtete. Nun, nach zahlreichen Betrügereien und Gefängnisaufenthalten, trat er als Dr. Gaston Oulmàn auf und ernannte sich zum Chef eines kubanischen Pressebüros. Tatsächlich hatte er für verschiedene österreichische Zeitungen bereits vom Spanischen Bürgerkrieg berichtet. Es gelang ihm, das Vertrauen des amerikanischen Rundfunkbeauftragten für Bayern zu gewinnen. Oulmàn, in selbstentworfener Uniform mit kubanischer Flagge auf der linken Schulter, wurde zum offiziellen Prozessberichterstatter für Radio München, nicht zuletzt, weil er die deutsche Sprache so gut beherrschte.

Täglich außer sonntags wurde zur Primetime um 20 Uhr 15 sein «Kommentar aus Nürnberg» gesendet – jeweils eine Viertelstunde lang. Bis zum Ende des Prozesses verfasste Oulmàn etwa 300 Kommentare. Sie wurden von den Zuhörern wegen ihres beständig scharfen und pompösen Tons kontrovers diskutiert. Immer wieder zog Oulmàn mit bissigen Worten über Zeugen her. Den Widerstandskämpfer General Lahousen etwa nannte er aufgrund seines Äußeren respektlos einen «Postmeister». Seine abschließende Stellungnahme zu den Urteilssprüchen wurde von Millionen gehört. Weil er darin aber Mitgefühl für die Verurteilten durchblicken ließ und sich kritisch zu den Urteilssprüchen äußerte, fiel er bei den Alliierten in Ungnade. Zu Görings Schuldspruch sagte er: «Vielleicht war dieses Urteil nur ein einziges Mal nicht maßvoll – als es aussprach, dass es für Göring in diesem ganzen Verfahren nicht einen einzigen Punkt und nicht ein einziges Merkmal gefunden hätte, das zu seinen Gunsten hätte sprechen können, nicht einen allereinzigsten mildernden Umstand, und dass seine Verbrechen fast ohne Vergleich seien.»[6]

Oulmàns Vertrag bei Radio München wurde nicht verlängert. Als das amerikanische Konsulat in München nach Kuba schrieb, um für ihn neue Papiere anzufordern, da er sie angeblich verloren hatte, flog das Schelmenstück auf. In Havanna kannte ihn niemand. «Wir bedauern, Ihnen die gewünschten Papiere nicht ausstellen zu können», teilte der amerikanische Konsul Oulmàn mit, «da sich der Nachweis Ihrer kubanischen Staatsangehörigkeit nicht erbringen lässt.»[7] Oulmàns Camouflage wurde von den Amerikanern bis zum Ende des Prozesses geheim gehalten. Der Skandal wäre zu groß gewesen, hätte man ihn auffliegen lassen. So ahnten Oulmàns Nürnberger Korrespondentenkollegen bestenfalls, dass mit dem deutsch sprechenden Kubaner etwas nicht stimmte.

Ein ebenfalls von den Amerikanern akkreditierter Journalist war der in Mannheim geborene Jude Ernst Michel, der für die Rhein-Neckar-Zeitung schrieb. Mit Unterstützung von Theodor Heuss durfte Ernst Michel als einziger Auschwitz-Überlebender im Frühjahr 1946 über den Nürnberger Prozess berichten. Einige zusätzlich zu den Prozessberichten geschriebene persönliche Artikel trugen die Verfasserzeile «Sonderberichterstatter Ernst Michel. Auschwitz-Nummer 104995». Wie durch ein Wunder hatte Ernst Michel Auschwitz überlebt. Er hatte im richtigen Moment den Finger gehoben, als in der Krankenbaracke nach einem Häftling mit schöner Handschrift gefragt wurde. Von da an war er als Schreiber tätig und verfasste die Listen kranker Häftlinge. In Auschwitz hatte er beide Eltern verloren. Auf einem Todesmarsch gelang ihm in Sachsen die Flucht; Michel kehrte nach Mannheim zurück, wo er nach überlebenden Familienmitgliedern suchte. Über eine Empfehlung wurde er Theodor Heuss vorgestellt, der ihn für seine Zeitung engagierte.

Es ist kaum vorstellbar, was Ernst Michel im März 1946 empfand, als er einstige NS-Größen wie Julius Streicher, Herausgeber der antisemitischen Hetzschrift Der Stürmer, Ernst Kaltenbrunner oder Rudolf Heß, den «Stellvertreter des Führers», zum ersten Mal im Gerichtssaal sah. Als Hermann Göring erfuhr, dass ein Auschwitz-Überlebender vom Prozess berichtete, wollte er ihn kennenlernen und lud Michel über seinen Anwalt in seine Zelle ein: «Das Treffen war arrangiert worden unter der Prämisse, dass es dazu keine Aufzeichnungen geben würde», schrieb Michel in seiner Autobiografie. «Ich war nervös. Was sollte ich sagen? Sollte ich ihm die Hand schütteln? Sollte ich ihm Fragen stellen? Da ich darüber sowieso nicht schreiben konnte, warum begab ich mich in so eine schmerzhafte Situation? Göring stand auf, als Dr. Stahmer [Görings Anwalt] und ich seine Zelle betraten. Er war unter dauernder Bewachung. ‹Das ist der junge Reporter, nach dem Sie fragten›, sagte Dr. Stahmer und deutete auf mich. Göring sah mich an, machte Anstalten, mir die Hand zu geben, und drehte sich, als er meine Reaktion bemerkte, für einen Moment weg. Ich stand da, wie zur Salzsäule erstarrt. […] Ich stand da und starrte, während Dr. Stahmer die Vorgehensweise für den nächsten Prozesstag erörterte. Dann, einem Impuls folgend, stürzte ich plötzlich zur Tür und bat den Militärpolizisten, mich hinauszulassen. Ich konnte es nicht mehr ertragen.»[8]

Während Ernst Michel als Holocaust-Überlebender für eine deutsche Zeitung schrieb, gab es während des Prozesses auch jüdische Korrespondenten, die für die hebräische Presse in Palästina berichteten, etwa Robert Weltsch für die Tel Aviver Haaretz. Weltsch war im Press Camp Bettnachbar von Robert Jungk, ebenfalls Jude und späterer Träger des «Alternativen Nobelpreises», der unter anderem für die Zürcher Weltwoche berichtete. Shabse Klugman wiederum schrieb auf Jiddisch für das Presseorgan des Zentralkomitees der befreiten Juden in Bayern, Undzer veg. Als der Prozess begann, äußerten sich viele jüdische Korrespondenten positiv über die Alliierten und vertrauten darauf, dass die Befreier bei der Verfolgung der Mörder im Namen der Juden handeln würden. In der Tat erweckte die Zusammenfassung der Anklage zu Prozessbeginn in Undzer veg den Eindruck, dass das Hauptthema der Massenmord an den europäischen Juden sein würde. Dieser Optimismus wich jedoch bald einer grundlegenden Enttäuschung. Neun Tage später bemerkte Shabse Klugman: «Die Ozeane unseres Blutes wurden in einen kleinen Rahmen mit dem Titel ‹Verbrechen gegen die Menschlichkeit› gepresst. Dort haben wir einen besonderen Platz mit dem Titel ‹Verbrechen gegen die Juden›.» Immer verzweifelter, schrieb er kurz darauf: «Wo ist unser Fall, unsere enorme Tragödie in diesem Tribunal?» Tatsächlich waren unter den 139 geladenen Zeugen des Prozesses nur drei Juden. Einer von ihnen, der litauische Dichter Avrom Sutzkever, der am 27. Februar 1946 aussagte, wurde vom russischen Ankläger L. N. Smirnow als Sowjetbürger vorgestellt. Als Sutzkever vor Gericht jiddisch sprechen wollte, wurde ihm dies mit dem Hinweis untersagt, es gebe keinen Übersetzer, er müsse Russisch sprechen, eine der vier Prozesssprachen.

Da die Franzosen die prozessuale Hauptzuständigkeit für die «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» hatten, wäre es in ihrem Verantwortungsbereich gelegen, den Holocaust in den Mittelpunkt ihrer Anklage zu stellen. Doch sie waren bestrebt, das Thema zugunsten von nichtjüdischen französischen Zivilisten und Résistance-Kämpfern auszuklammern. Symptomatisch war ihre Zeugeneinberufung der nichtjüdischen Auschwitz-Überlebenden Claude Vaillant-Couturier.[9] Da der Holocaust jedes Maß menschlicher Vorstellungskraft überstieg, spielten wohl auch psychologische Faktoren wie Verdrängung eine Rolle – man wollte das Ausmaß der Verbrechen nicht wahrhaben. Der britische Richter Norman Birkett notierte, dass er die Berichte der sowjetischen Zeugen für «ziemlich übertrieben» hielt. Der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson wiederum glaubte, jüdische Zeugen könnten rachsüchtiger und weniger zuverlässig sein als andere, was der Wahrheitsfindung am Ende mehr schaden als nutzen würde.[10]

Deutsche Journalisten klagten häufig über die Zweiklassengesellschaft bei Gericht, sie fühlten sich ihren Kollegen aus anderen Ländern gegenüber benachteiligt. Ihre Artikel wurden kontrolliert und zensiert. In der sowjetischen Besatzungszone durften Beiträge ohne entsprechenden Sichtvermerk der Zensoren nicht veröffentlicht werden. Zwar wurde eine umfangreiche Berichterstattung von den Alliierten ausdrücklich befürwortet, aber kritische Analysen waren nicht erwünscht.

Auf Anweisung der Presseaufsicht mussten die Beiträge über den Prozess in den Zeitungen hervorgehoben werden. Knapp ein Drittel erschien auf Seite 1, ein weiteres Fünftel sogar auf einer Sonderseite.[11] Durch eine solche Aufmachung sollte es den Lesern erschwert werden, diese Berichte zu ignorieren. Die Nachrichtenkontrolle wurde in der amerikanischen Besatzungszone auch dadurch garantiert, dass die von den Amerikanern gegründete Deutsche Allgemeine Nachrichtenagentur (DANA), deren Beiträge vorzensiert wurden, die Prozessberichterstattung überwachte.[12]

Anfangs wurden deutsche Journalisten geradezu physisch ausgegrenzt. Aufgrund des Fraternisierungsverbots ging man ihnen aus dem Weg. Einlass bei Gericht erhielten sie nur über einen gesonderten Eingang mit gelbem Presseausweis, während die ausländischen Berichterstatter einen blauen Ausweis hatten, der ihnen auch Zugang zum PX gewährte, dem Einkaufszentrum mit amerikanischem Angebot. Um eine Bleibe in Nürnberg mussten sich die Deutschen selbst kümmern, das Press Camp durften sie nicht betreten. In einem Brief vom 9. April 1946 an General Robert A. McClure, den Leiter der amerikanischen Informationskontrolle, kritisierten acht deutsche Journalisten, «dass die Lage der beim Prozess akkreditierten deutschen Pressevertreter physisch und psychologisch nicht dem entspricht, was im Interesse unserer Leistungsfähigkeit zu wünschen und zu erwarten wäre». Erika Neuhäuser von der Stuttgarter Zeitung meinte, sie und ihre Kollegen fühlten sich manchmal «wie in einer Strafkolonie».[13] Zwar wurde die Situation für die deutschen Berichterstatter nach einer Intervention McClures im Frühjahr 1946 besser – sie durften mit alliierten Prozessberichterstattern kommunizieren, was bis dahin untersagt war, wurden in der Mittagspause in der Kantine des Gerichts verköstigt und erhielten einen angemessenen Arbeitsraum –, doch die übrigen Probleme bei Versorgung und Unterbringung blieben bestehen.

Im Faberschloss

Den Vertretern der anderen Länder erging es besser. Für sie stand außerhalb Nürnbergs ein sorgsam bewachtes Pressequartier mit Betten, Verpflegung und Shuttle-Service zur Verfügung, das internationale Press Camp auf dem Schloss der Grafen von Faber-Castell. Das Schloss war ein aus zwei Bauteilen, dem Alten und dem Neuen Schloss, bestehender Komplex aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zu dem großen Anwesen gehörten ein Park, eine Villa und weitere Gebäude. Insgesamt sieben wurden als Press Camp genutzt, darunter, als Hauptgebäude mit Speisesälen und Bar, das eigentliche Schloss. Am Eingang hing ein Schild mit der Aufschrift «Zutritt für Deutsche verboten».

Wie streng das Einlassverbot gehandhabt wurde, erfuhr der Journalist Hans Rudolf Berndorff am eigenen Leib. Berndorff, ehemaliger Chefreporter im Ullstein Verlag, war nach Nürnberg mit einem gewissen Mr. Forrest gekommen, einem Berichterstatter für das englische Nachrichtenbüro German News Service. Der sympathische Brite, der nur gebrochen Deutsch sprach, nahm sich Berndorffs an. «Ich selbst flog aus dem Schloss ebenso schnell heraus, wie ich hineingekommen war», schrieb Berndorff ungerührt flapsig, «aber Forrest war ein Mann von Phantasie. Er sagte zu mir: ‹Herr Berndorff auf der Straße bleiben? Quatsch! Ich gehe nicht eher ins Bett, bevor Herr Berndorff auch ins Bett!› Kein Quatsch! Er fuhr zum Bürgermeister des Ortes und fragte: ‹Wer war hier im Orte Nazi?› Der Bürgermeister dachte lange nach und sagte: ‹Ich glaube, alle!› Forrest wies auf ein Häuschen und fragte, ob der Mann dort Nazi war, ‹ja›.» Schließlich gelang es Forrest, die ansässige Familie mit Bestechungsgaben wie Butter und Schokolade zu überreden. Berndorff blieb in Stein, wenn auch außerhalb des Presselagers.[14]

Die Verantwortlichen waren bemüht, die Gebäude nach Geschlecht und Berufsgruppe aufzuteilen, aber auch den politischen Erfordernissen der Zeit zu entsprechen. Es war der Ost-West-Polarisierung geschuldet, dass die sowjetischen Korrespondenten gesondert im «Roten Haus» unterkamen. Den Frauen und Ehepaaren stellte man die im Park gelegene Villa zur Verfügung. Die Radiotechniker wiederum lebten im sogenannten Grünen Haus.[15]

Die Empfangshalle im Schloss zur Zeit des Press Camp

Die Innenräume des Schlosses waren imposant, aber auch durch die militärische Nutzung im Krieg – der Turm hatte als Flakabwehrstellung gedient – durch Flecken und Scharten verunstaltet. Der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson hatte es abgelehnt, die Nürnberger Anklagestäbe im Schloss unterzubringen. Für die internationale Pressegemeinde schien es als Quartier zu genügen. Einige Korrespondenten, darunter William Shirer, sahen dies jedoch anders. Sie waren komfortablere Presselager gewohnt wie das Hotel Scribe in Paris, ein Luxushotel im Herzen der Stadt, das nach der Befreiung von den Deutschen 1944 als Press Camp genutzt wurde.[16] In Stein, wo die Berichterstatter isoliert waren, beklagten sich viele über die überfüllten, unzureichenden und chaotischen Wohnverhältnisse. Teilweise mussten sie zu zehnt auf Armeefeldbetten in einem Raum schlafen. Um die selten funktionierenden Telefonverbindungen gab es Gerangel. Die sanitären Anlagen reichten bei weitem nicht aus, vor den wenigen Waschräumen bildeten sich jeden Morgen Schlangen. Im Pyjama liefen die Pressevertreter auch bei eisigen Temperaturen über den Innenhof, berichtet Peter de Mendelssohn, um das Badezimmer im Nachbargebäude zu erreichen.

Konzentriertes Arbeiten war im Schloss kaum möglich. «Das Leben hier ist so verdammt kompliziert und unangenehm, dass ich es sehr schwierig finde, etwas richtig zu machen», schrieb Mendelssohn seiner Frau Hilde Spiel nach London. «Das Schloss, in dem wir untergebracht sind, ist so riesig und gleichzeitig so überfüllt, dass es fast unmöglich ist, einen ruhigen Ort zu finden, an dem man sitzen, schreiben oder nachdenken kann. Wir haben einen großen Arbeitsraum für alle Korrespondenten, und es klappern immer bis zu 30 oder 40 Schreibmaschinen zusätzlich zu einem Lautsprecher, der Ansagen macht, und einem Pianisten vor der Tür, der für die Faulenzer spielt. Die Bar befindet sich direkt vor dem Arbeitsraum. Es ist eine schwierige Atmosphäre.»[17]

Willy Brandt, der damals im Press Camp Quartier nahm und mit norwegischem Pass für die skandinavische Arbeiterpresse berichtete, sah es pragmatisch: «Unter einem Schlossleben stellt man sich etwas anderes vor als Schlafsäcke und Feldbetten. Doch zur Einstufung als War Correspondent passte dies wieder ganz gut.»[18] Tatsächlich lautete die offizielle Bezeichnung der Berichterstatter noch immer War Correspondent, obwohl der Krieg seit Monaten vorbei war.

Auch die Ästhetik des Schlosses sagte nicht allen Bewohnern zu. Häufig wurde der mächtige Bau als misslungen dargestellt. Da ist von «German Schrecklichkeit» die Rede, von einem «monumentalen Beispiel für schlechten Geschmack», davon, dass der «ganze Komplex» ein «Alptraum» sei. Die Besitzerfamilie wurde mitunter direkt angegangen. «Wie viele Bleistifte waren nötig», fragte Elsa Triolet, «um den Fabers die Möglichkeit zu geben, solch ein durch und durch hässliches Schloss zu bauen?» Rebecca West sah in Architektur und Innengestaltung deutsche Charaktereigenschaften verkörpert.

Zur Ehrenrettung des Bauwerks muss freilich gesagt werden, dass die ausländischen Korrespondenten nach Kriegsende selten wohlwollend über Deutsches sprachen. Zumal in Nürnberg, wo zum ersten Mal das ganze Ausmaß der von Deutschen begangenen Verbrechen aufgedeckt wurde. Die Anzahl der sogenannten Vansittartisten unter den anglo-amerikanischen Berichterstattern, der Verfechter einer streng antideutschen Linie, war beträchtlich. Einige, darunter Janet Flanner und Martha Gellhorn, gaben in ihrer Privatkorrespondenz unumwunden zu, dass sie die Deutschen hassten. Auch fanden die Berichterstatter das Schloss, das heute in kunsthistorischer Hinsicht als ein «bemerkenswertes Beispiel» für Historismus und Jugendstil in Franken gilt,[19] in einem renovierungsbedürftigen Zustand vor.

Die Arbeitsbedingungen der Journalisten waren unterschiedlich, was auch der technischen Infrastruktur und den Möglichkeiten der einzelnen Nationen geschuldet war. Willy Brandt etwa konnte von Nürnberg aus nicht nach Oslo telefonieren, es gab keine Verbindung. Telegramme musste er über London oder Kopenhagen schicken. Da die Nachrichtenübermittlung lange dauerte, musste er seine Artikel so verfassen, dass sie bei Publikation nicht an Aktualität verloren hatten.[20]