Milenas Verlangen - Doris Gercke - E-Book

Milenas Verlangen E-Book

Doris Gercke

4,7

Beschreibung

Drei hungrige Seelen und ein Plan - ein Krimi von Doris Gercke Herbstlicher Provinzblues in der "Blauen Lagune" Wie ein Magnet zieht das Tankstellenbistro "Blaue Lagune" die verlorenen Seelen an: Milena Proháska, ehemals erfolgreiche Anwältin und Grenzgängerin. Eigenwillige Ermittlungsmethoden kosteten sie ihren Posten. Nun versucht sie, ihre Tochter und sich mit einem Kellnerjob über Wasser zu halten. Ex-Kripo-Kommissar Jean Beringer wurde beim Einsatz gegen einen Drogenboss schwer verletzt. In der "Blauen Lagune" vermutet er dessen Drogenumschlagplatz. Jetzt sinnt er auf Rache. Ronny, ein Jugendlicher aus zerrütteten Verhältnissen. Allabendlich flüchtet er vor der Trostlosigkeit in das Bistro. Als ein verrückter Stalker Milenas Tochter entführt, verbünden sich die drei gebrochenen Charaktere zu einem Trio infernale. Oleanderduft und rauchende Pistolen - Showdown unter Palmen Beringer schmiedet seinen persönlichen Vergeltungsplan, der den Sehnsüchten des Ermittlertrios gerade recht kommt: Abenteuer, Rache - und Süden! Der Fall führt sie bis an die mondäne Côte d'Azur: Wärmende Sonnenstrahlen, romantische Straßencafés, schickes Künstlermilieu. Anfangs noch aufregend und berauschend, entpuppt sich die Reise nach Südfrankreich aber schnell als gefährliche Sackgasse: Beringers Schatten der Vergangenheit und unvorhersehbare Ereignisse treiben die Ermittler in die Enge. Und dann werden Milena und Beringer auch noch mit Verlangen ganz anderer Art konfrontiert ... Tiefgründig und verrucht Doris Gercke, die legendäre Grand Dame des Kriminalromans, liefert mit "Milenas Verlangen" einen rasanten Kriminalroman: Intelligent und prickelnd, immer mit einem schonungslosen Blick auf die Abgründe der Gesellschaft. ********************* Leserstimmen: "... wunderbar einfühlsam mit einem beeindruckenden, frischen Stil erzählt. Ich konnte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen." "bis zuletzt spannend"

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Doris Gercke

Milenas Verlangen

Kriminalroman

Doris Gercke

Milenas Verlangen

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
"Es regnete und roch nach Hund..."
Doris Gercke
Zur Autorin
Impressum

Es regnete und roch nach Hund. Während Jean Beringer in den Taschen seines Trenchcoats nach dem Haustürschlüssel suchte, sah er dem Taxi nach, dessen Rücklicht das einzig Lebendige in der nassen Finsternis war, bis der Fahrer um die Ecke bog und die Lichter nicht mehr zu sehen waren. Da hatte er auch den Schlüssel gefunden und schloss die Haustür auf. Die Luft drinnen roch, als sei seit mindestens sechs Wochen niemand im Haus gewesen. Er brauchte eine Weile, um sich klar zu machen, dass dieser Niemand er selbst war.

Er hängte den Mantel so über die Garderobenhaken, dass er trocknen konnte, ohne allzu sehr zu verknittern. Dann stellte er die Reisetasche auf die unterste Treppenstufe, ging über den kurzen Hausflur und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Das alles tat er, ohne eine Lampe anzumachen. Für das Wohnzimmer aber reichte das Licht der Straßenlaterne nicht mehr aus. Also knipste er die Deckenbeleuchtung an und sah, was er erwartet hatte: das Wohnzimmer eines kleinen Reihenhauses, möbliert mit Möbeln, die ihm nicht vertraut waren, an die er sich aber erinnerte; eine schmale Terrassentür, die, auch daran erinnerte er sich, in einen schmalen, verwinkelten Garten führte, an dessen Ende ein wackeliger Schuppen stand. Er befand sich also in dem Reihenhaus, das sich ein früh pensionierter Kripomann, der einen Teil seiner Pension dazu verwendet, seiner geschiedenen Frau ein einigermaßen erträg­liches Leben zu finanzieren, ohne seine stille ­Reserve anzugreifen, gerade noch leisten kann. Was er sah, machte ihn nicht glücklich, aber es beruhigte ihn.

Die Tür zur Küche stand offen. Als er eingezogen war, vor zwei Monaten, hatte er vorgehabt, sie auszuhängen, um so das Wohnzimmer zu vergrößern. Dann war er nicht mehr dazu gekommen, denn die Kur war schneller bewilligt worden, als er gedacht hatte. Im Grunde war die Idee, die Tür auszuhängen, auch nicht seine gewesen. Dem Makler, der ihm das Haus vermittelt hatte, war das eingefallen. Obwohl er wusste, dass es ihm nun besser ging, jedenfalls körperlich, war ihm klar, dass er die Tür jetzt nicht mehr aushängen würde.

Der Kühlschrank war leer. Hunger hatte er nicht, aber er hätte gern etwas zu trinken gehabt. Er setzte Wasser auf und suchte nach Teebeuteln. Es würde sowieso besser sein, Tee zu trinken. Die Ärzte hatten sein Knie so weit repariert, dass er ohne Beschwerden laufen konnte, wenn man davon absah, dass er das rechte Bein dabei nachzog. Er war regelmäßig zum Training gegangen, sodass er für einen Mann von Mitte vierzig gut in Form war, was Arm- und Bauchmuskeln anbetraf. Seinen Magen hatten sie nicht wirklich beruhigen können. Die Anfälle von Magenschmerzen kamen aber nicht mehr so häufig. Dafür war er dankbar, denn sie waren ziemlich unerträglich gewesen. Der Magen lauerte sozusagen im Hintergrund und manchmal schlug er eben immer noch zu. Das waren dann Schläge, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieben und auf die er gern verzichtet hätte.

Mit einem Becher Tee in der Hand ging er zurück ins Wohnzimmer. Er hatte das Haus zusammen mit den Möbeln gemietet, aber noch kaum Gelegenheit gehabt, darüber nachzudenken, ob sie ihm gefielen. Wahrscheinlich würden sie ihm nicht gefallen, wenn er über sie nachdächte, deshalb beschloss er, während er sich auf einem geblümten Sessel niederließ, fortan keine Gedanken mehr an sie zu verschwenden. Im gleichen Moment fiel ihm der Satz ein: Es gibt Wichtigeres zu tun. Dann, nach einer kleinen Pause, begann er zu überlegen, was das wohl sein mochte.

Es gibt immer zwei Möglichkeiten: Entweder man ist am Ende oder am Anfang. Das Schwierige ist mitunter, herauszufinden, wo man sich gerade befindet. Selbstverständlich waren ihm während der Kur psychologische Beratungen angeboten worden. Er hatte aber darauf verzichtet, sie in Anspruch zu nehmen; nicht etwa, weil er etwas gegen Psychologen gehabt hätte. Er wollte einfach lieber selbst versuchen, sich auf die Schliche zu kommen. Seit er aus dem Dienst entlassen worden war, hatte er das Bedürfnis entwickelt, allein zu sein, darin wäre er durch die Gespräche mit einem Psychologen nur gestört worden. Außerdem gab es in der Klinik Leute, die diese Beratungen nötiger hatten als er. Ihm fiel der junge Motorradfahrer ein, dem auf dem Weg zu einem Rendezvous mit seiner Freundin beide Beine abgefahren worden waren. Sie hatten eine Weile zusammen in einem Zimmer gelegen. Der Junge trank, und wenn er betrunken war, versicherte er ein um das andere Mal, er werde sich umbringen, wenn er hier raus wäre. Wenn er nüchtern war, sagte er nie etwas. Beringer überlegte, in welchem Zustand er ihn besser hätte ertragen können. Wahrscheinlich im Betrunkenen. Der Junge trank besonders hemmungslos, wenn er von den Sitzungen beim Psycho-Doktor zurückkam, aber er sprach nie darüber, was dort geschehen war. Er redete ausschließlich davon, dass er sich umbringen würde.

Es war ihm unangenehm, an diesen armen Menschen zu denken. Deshalb stand er auf und ging noch einmal in die Küche. Während das Wasser heiß wurde, stand er am Küchentisch und sah auf die Straße. Eine Weile geschah gar nichts. Es fuhren nur noch wenige Autos vorüber. Im Lichtschein der Laterne vor dem Haus konnte er den Regen beobachten, der gleichmäßig und schnurgerade vom Himmel fiel. Unter der nächsten Laterne, etwa dreißig Meter entfernt, stand eine SOS-Notrufsäule. Sie war orange gestrichen. Die Buchstaben SOS leuchteten in Schwarz, falls Schwarz überhaupt leuchten kann. Er hörte, dass hinter ihm das Wasser im Kessel zu brodeln anfing, und wollte sich vom Fenster abwenden, als er beobachtete, wie ein Auto neben der Notrufsäule stoppte. Er hätte nicht sagen können, weshalb er am Fenster stehen blieb, Neugierde, vermutlich. Eine junge Frau sprang aus dem Auto, stellte sich vor die Notrufsäule und starrte sie an.

Sie liest die Gebrauchsanweisung, dachte er. Dann sah er, dass sie entschlossen den Hebel herunterzog und sich vorbeugte, um in das Mikrofon zu sprechen. Sie sprach nur dreißig Sekunden, höchstens. Dann lief sie zurück zum Auto und fuhr schnell weiter. Er wendete sich vom Fenster ab und goss sich noch einen Tee auf. Das da draußen ging ihn nichts mehr an. Mit dem Becher in der Hand schritt er zurück ins Wohnzimmer.

Er hatte schon während der Kur über die Frage „am Ende oder am Anfang“ nachgedacht. Dass er jetzt noch einmal damit begann, geschah lediglich, um zu überprüfen, ob seine Überlegungen auch außerhalb der Klinik Bestand hätten. Sie hatten. Der Weg, den er gehen würde, war klar. Nichts, aber auch gar nichts, würde ihn davon abhalten können, den zu finden, dem er das steife Knie zu verdanken hatte. Er würde ihn finden und unschädlich machen. Es war ihm egal, wie lange er dafür brauchen würde. Er hatte Zeit. Er war am Anfang.

Irgendwann stand er auf, brachte den leeren Becher in die Küche zurück, ging in den Flur, zog den Mantel an und verließ das Haus. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, schon am ersten Abend seinen Posten zu beziehen. Er hatte nur, als er im Taxi daran vorbeifuhr, mit einem gewissen Gefühl der Zufriedenheit auf die blaue Insel in der Dunkelheit gesehen. Aber seit ihm klar geworden war, dass der Entschluss, den Mann zur Strecke zu bringen, für die nächste Zeit sein einziges Ziel sein würde, hatte er das Gefühl, seinem Magen ginge es besser. Er würde eine kleine Portion Alkohol durchaus vertragen können. An diesem Abend betrat er zum ersten Mal die Blaue Lagune.

***

Er fiel mir auf, als er hereinkam. Der merkwürdige Gang, er sah nicht wirklich alt aus, aber seine Schritte, seine ganze Haltung wirkten alt. Gegen elf Uhr abends ist bei uns oft ziemlich viel los. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre keine Zeit da gewesen, um ihn länger zu beobachten. Man beobachtet die Gäste, wenn man Langeweile hat. Dann haben wir manchmal ein Spiel gespielt, das eine ältere Kollegin eingeführt hat. Man muss versuchen, den Beruf der Gäste zu raten. Manchmal habe ich mir vorgestellt, in einem Laden zu arbeiten, in dem die Kunden viele verschiedene Berufe haben könnten. Hier war die Raterei ziemlich einfach: Kraftfahrer, Automechaniker, Rentner, arbeitslose Ungelernte. Dass da mal einer aus der Reihe tanzt, Lehrer ist oder Arzt, kam selten vor. Sogar Vertreter haben wir nicht oft gehabt, obwohl die doch angeblich die ganze Woche über auf der Landstraße liegen. Es war deshalb ganz normal, dass er mir auffiel. Und genauso normal war es, dass ich ihn gleich wieder vergaß.

Während ich an der Mikrowelle stand, um Bratkartoffeln aufzuwärmen, rief Tita an. Sie hatte schlecht geträumt, und sie weiß, dass sie dann anrufen darf. Ich hab mit ihr geredet, während ich die Bratkartoffeln mit Tomatenscheiben dekorierte und zum Schluss das Sülzkotelett daneben legte. Als ich den Teller zum Tisch brachte, hab ich noch einmal einen Blick auf ihn werfen können. Er saß noch an der Fensterscheibe, und es war ziemlich dunkel an seinem Tisch, weil da gerade die Tischlampe kaputt gegangen war. Er saß da und sah nach draußen auf den Parkplatz neben den Zapfsäulen. Weil es so dunkel war, lag etwas von dem blauen Licht auf seinem Gesicht. Ich dachte: komischer Typ, sieht gar nicht so schlecht aus. Aber mehr Zeit war nicht. Wenn weniger zu tun gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht an seinen Tisch gestellt und ein Gespräch mit ihm angefangen. Obwohl ich nicht glaube, dass er damals sehr gesprächig gewesen wäre. Aber seinen Beruf hätte ich vielleicht herausgefunden. Und? Hätte es was genützt?

Meine Ablösung kam an diesem Abend um Mitternacht. Da saßen nur noch wenige Gäste im Restaurant.

Solange es ging, bin ich mit dem Fahrrad nach Hause gefahren. Das ging eigentlich das ganze Jahr, nur bei Schnee und Eis habe ich mich abholen lassen. Sturm und Regen haben mir nichts ausgemacht. Manchmal musste ich das Rad eine Weile schieben, na und? Dann bin ich eben etwas später nach Hause gekommen. Außer Tita hat keiner auf mich gewartet, und die wusste, dass ich so pünktlich bin wie möglich.

Das Team war in Ordnung, auch die, die im Laden arbeiteten. Wir hatten vierundzwanzig Stunden geöffnet, immer mit derselben Besatzung, schon seit zwei Jahren. Wir wussten, dass wir uns aufeinander verlassen konnten. Natürlich waren die Kolleginnen nicht alle gleich nett. Aber ich war zu allen gleich freundlich und das machte sich auf die Dauer bezahlt. Es war ein Zufall, dass Tita und ich im gleichen Haus eine Wohnung gefunden haben wie die Chefin. Aber es war kein Zufall, dass ihr Mann irgendwann bereit war, mich nachts abzuholen, wenn mit dem Fahrrad kein Durchkommen war. Ich hab mir Mühe gegeben, auch gute Nachbarschaft zu halten. Ihr Mann war in Ordnung. Er hat nur einmal versucht, mir näher als erlaubt auf die Pelle zu rücken. Es war nicht schwer, ihm klar zu machen, dass ich niemals etwas mit den Männern von Kolleginnen anfange. Dann wurden wir Freunde, und er erzählte mir manchmal, was ihm zu Hause auf die Nerven ging. Ich hab ihm Tipps gegeben. Natürlich riecht man in diesem Job manchmal nach Bratkartoffeln, wenn man nach Hause kommt. Das weiß man selbst. Ein Mann in der Wohnung, der einen freundlich darauf hinweist, ist dazu nicht nötig.

Innerlich war ich froh, dass ich allein lebte.

Ich habe mir angewöhnt, noch einmal vom Rad zu steigen und mich umzusehen, ehe ich den Autohof verlasse und in den Fahrradweg einbiege. Der Fahrradweg war nachts nicht beleuchtet, deshalb störte mich kein Licht, als ich auf die Lagune zurücksah. Das blaue Licht war so stark, dass es ziemlich viel von den Glaswänden und dem ganzen Drumherum verschwinden ließ. Die Lagune schwamm in der schwarzen Luft, blau und viel weiter weg, als sie in Wirklichkeit war. Ich habe diesen Anblick immer gemocht und auch das Bewusstsein, dort gearbeitet zu haben: mitten in der schwarzen Nachtluft in einer blauen, schwimmenden Lagune.

Unterwegs dachte ich mir Geschichten aus, die ich Tita erzählte, wenn sie noch wach lag. Sie hat nie geweint, wenn sie allein war, aber sie war ein nervöses Kind und ist oft erst eingeschlafen, wenn ich wieder da war. Die Geschichten haben uns beiden Spaß gemacht. Dann hab ich schnell geduscht, meine Haare trocken gerubbelt und bin noch kurz zu ihr ins Bett gekrochen.

„Ich hab schon deinen Platz angewärmt“, sagte sie, während sie zur Seite rückte. Und da war eine schmale, warme Stelle in meinem Rücken, eine kleine, zärtliche, warme Stelle im Bett, auf die ich mich freute.

Mit fünfunddreißig vermisst man noch einen anderen Körper, aber ich habe gedacht, ich brauchte niemanden. Ich hatte ja Tita. Das war natürlich Quatsch, aber das habe ich erst viel später verstanden.

An dem Abend schlief meine Tochter, als ich nach Hause kam. Ich duschte und ging in die Küche, um noch eine Zigarette zu rauchen. Es gab in der Gegend einen kleinen, privaten Regionalsender, den ich gern hörte. Die Stimmen der Sprecher waren so normal, dass man sich einbilden konnte, sie säßen mit am Tisch. Ich fühlte mich nicht einsam. Nicht in der Lagune und nicht in meiner Wohnung. Ich hatte Kolleginnen, mit denen ich mich verstand, Gäste, die sich freuten, wenn ich an ihren Tisch kam und ihnen das Essen brachte. Nachbarn, die mir freundlich gesinnt waren. Manchmal wurde ein Gast unangenehm, meist, wenn er so viel getrunken hatte, dass er eigentlich nicht mehr fahren konnte. Nachts war oft Polizei unterwegs, das wussten die Leute, besonders die, die ihren Führerschein noch brauchten. Dann ließen sie ihre Angst, erwischt zu werden, an uns aus. Im Grunde wollten sie saufen, ohne Alkohol im Blut zu haben, und dafür, dass das nicht geht, gaben sie uns die Schuld. Mit solchen Leuten wurden wir aber immer schnell fertig. Manchmal kam auch jemand, meistens nachts, der unsere Tankstellenkneipe mit einem Edel-Restaurant verwechselte und sich darüber beschwerte, dass wir keine Stoffservietten hatten.

Über so einen amüsierten wir uns einfach nur. Aber es war auch interessant, solche Menschen zu beobachten. Sie kamen aus einer anderen Welt, man sah es ihnen deutlich an, auch an ihrer Sprache konnte man sie erkennen.

„Würden Sie mir, bitte, etwas Salz bringen? Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.“

„Liebster, würdest du mir, bitte, das Kleid öffnen? Danke. Darf ich dir ebenfalls behilflich sein?“

Mit solchen Sätzen vergnügten wir uns hinter der Theke, während die vom anderen Stern am Tisch saßen und Zeitung lasen und Messer und Gabel betätigten, als wollten sie an einem Wettbewerb „Schöner essen“ teilnehmen. Es hat mir Spaß gemacht, die Welt mit den Augen meiner Kolleginnen zu sehen. Ich habe von ihnen gelernt.

Der Mann, der mir aufgefallen war, als er zur Tür hereinkam, hatte nichts von alldem an sich. Das konnte ich sehen. Später, als ich ihn kennen gelernt hatte, habe ich mich darüber manchmal gewundert. Er schien das zu haben, was man ein gutes Elternhaus nennt, er hätte mit denen aus der anderen Welt durchaus mithalten können. Aber es war nicht nur so, dass er keinen Wert darauf legte, das hätte mich geärgert. Es stört mich zum Beispiel, wenn Leute gebildet sind und erklären, auf Bildung komme es gar nicht an, viel wichtiger sei Herzensbildung. Der Grund dafür, dass man ihm seine Herkunft nicht anmerkte, war: Sein Beruf hatte sich in ihm oder an ihm festgesetzt. Er war so sehr Polizist, dass daneben nichts mehr Platz hatte. Aber jetzt war er kein Polizist mehr, jedenfalls nicht offiziell. Und das war sein Problem.

***

Für den Besuch in der Lagune war es, er hätte es sich denken können, aus verschiedenen Gründen zu früh. Er hatte noch keinen konkreten Plan und sein Magen vertrug nicht einmal ein lächerliches Bier. Er saß eine Weile in einer Ecke, sah nach draußen und wartete auf nichts. Dann rebellierte sein Magen, und er sah zu, dass er schnell hinauskam. Eine Kotzerei im Raststätten-Klo wäre vermutlich der Auslöser für eine Drei-Tage-Depression geworden. Er ging nach Hause, das heißt, er ging in diesen Arme-Leute-Reihen-Bungalow, den er bewohnen würde, bis er seine Arbeit erledigt hätte, und legte sich schlafen. Bevor er ins Bett ging, putzte er sich die Zähne und sah dabei sein Gesicht im Spiegel an. Er versuchte, den Polizisten darin wieder zu erkennen, aber das war nicht einfach. Er musste ziemlich lange hinsehen. Trotzdem schlief er nicht schlecht. Vielleicht, weil er wusste, dass er zu tun haben würde, wenn die Nacht vorüber wäre.

Am Morgen war es im Haus kalt und die Möbel sahen noch schäbiger aus als am Abend bei Lampenlicht. Er hatte sie nicht so heruntergekommen in Erinnerung gehabt. Er nahm sich vor, ihnen nicht ähnlich zu werden. Er ging in den Keller. Der Makler hatte behauptet, die Heizung sei überholt worden und der Tank mit Öl gefüllt. Er hatte nicht zu viel gesagt. Die Heizung sprang sofort an. Das bollernde Geräusch, das sie dabei von sich gab, klang wie ein Versprechen nach Wärme und erweckte in ihm eine kleine Unruhe, die ihn erstaunte.

Sieh an, doch noch nicht ganz tot, hätte er denken können, aber das dachte er selbstverständlich damals nicht. Er verließ das Haus, um an der nächsten Ecke beim Bäcker zu frühstücken. Wegen des Magens, der sich ein bisschen wie eine offene Wunde anfühlte, nahm er nur ein Milchbrötchen mit Butter, aber das Brötchen oder der Kaffee bekamen ihm nicht. Er kaufte irgendeine der Zeitungen, die im Laden auslagen, brachte sie aber noch einmal zurück, um sie gegen die Regionalzeitung auszutauschen. Welcher Schützenverein die neue Bank gestiftet und welcher Kaninchenzüchterverein im Bundeswettbewerb den Sieg davongetragen hatte, interessierte ihn zwar nicht. Aber er würde von jetzt an die Regionalzeitung nach Spuren durchsehen. Da er annahm, dass sein Gegner noch hier in der Gegend war, würde er irgendwann auf Spuren stoßen, auch in der Regionalzeitung, davon war er überzeugt.

Auf dem Weg zurück dachte er darüber nach, ob es sich lohnen würde, das Haus wohnlicher zu gestalten. Er wusste nicht, wie lange er in der Gegend bleiben würde. Früher oder später würde er ihn finden. Nur wann, das war völlig offen. Im Keller hatte er einen Blick auf die Kisten und Kartons geworfen, die dort noch unausgepackt herumstanden.

In einer Familie wie der seinen, in der die Männer über Generationen Militärs und Polizisten waren, sammeln sich bestimmte Gegenstände an, die weitergegeben werden wie der verdinglichte Ausdruck der Tradition, in der man sich bewegt. Solche Gegenstände, in Gelehrtenfamilien vielleicht Bücher, in Künstlerfamilien vielleicht Bilder oder Fotos oder Garderobe, gibt man nicht weg, auch nicht, wenn man geschieden wird und der andere Teil nach jedem Wertgegenstand giert.

Er dachte einen Augenblick an den Inhalt der Kisten und beschloss, sie unausgepackt stehen zu lassen bis auf die beiden Porträts, die auch bisher schon in seinem Arbeitszimmer an der Wand gehangen hatten. Wie um nicht zu vergessen, was er sich vorgenommen hatte, ging er nach seiner Rückkehr sofort in den Keller, um die Bilder heraufzuholen.

Im Haus war es inzwischen warm geworden. Er stand mit den Bildern in der Hand im Wohnzimmer, als ihm einfiel, dass er ja frei wäre, die Möbel so hinzustellen, dass ihre Anordnung den Raum einem Arbeitszimmer ähnlich machte. Er schob den Esstisch unter das Fenster neben der Terrassentür und nahm die Tischdecke ab. Einen der Esstischstühle stellte er als Schreibtischstuhl davor und einen links für Besucher daneben. Er schob das Sofa auf den Flur hinaus und stellte den Couchtisch und die beiden Sessel in eine Ecke – die Besprechungsecke. Er holte ein paar leere Einkaufstüten, die er in der Küche fand, packte den Nippes aus der Schrankwand hinein und trug ihn auf das Sofa im Flur. In die leeren Fächer legte er den Stadtplan und ein paar Landkarten und Messtischblätter der Umgebung. Er nahm sämtliche Bilder von der Wand, drehte sie um und untersuchte die Rückseite. Drei von ihnen, erfreulicherweise die größten, eigneten sich als Pinnwand. Die beiden anderen legte er zu dem Nippes im Flur. Die Pinnwand brachte er an der Wand neben der Küchentür an. Die Porträts seines Vaters und seines Großvaters hängte er rechts und links von seinem Schreibtisch auf. Sein Großvater saß auf einem schwarzen, glänzenden Araberhengst. Er trug eine Polizeiuniform, die 1905 für preußische Polizeioffiziere üblich gewesen war. In den Rangabzeichen kannte er sich nicht mehr genau aus, aber man hatte ihm schon als Kind, wenn er voller Bewunderung auf das Bild geschaut hatte, erklärt, so sehe ein Polizeigeneral aus. Deshalb nannte er seinen Großvater bei sich „den General“, obwohl er nicht sicher war, dass der Alte es tatsächlich zum General gebracht hatte.

Sein Vater war in Zivil porträtiert worden. Er wunderte sich ein wenig darüber, wie immer, wenn er das Bild ansah. Er hatte ihn als Kind sehr oft in Uniform gesehen. Jean Beringer erinnerte sich gut an ihn, auch wenn der Vater schon fünfzig gewesen war, als er geboren wurde.

Im Grunde, dachte er, brauchte er die Uniform überhaupt nicht. Sein Vater war der Inbegriff von Korrektheit und Disziplin gewesen, unabhängig davon, wie er gekleidet war.

Er ging in die Küche, um nach Aschenbechern zu suchen, die er auf dem Schreibtisch und auf dem Besprechungstisch zu verteilen gedachte, als es an der Haustür klingelte. Mit den Aschenbechern in der Hand schlängelte er sich an der Couch im Flur vorbei und öffnete die Tür. Er war überrascht, obwohl er es sich hätte denken können: Inge Dellbrück.

Er bat sie herein, sie schlängelten sich nacheinander am Sofa vorbei, er blieb in der Tür zum Arbeitszimmer stehen, sie stellte sich neben ihn.

„Sieht aus, als wenn du hier arbeiten willst“, sagte sie, und obwohl er lieber allein gewesen wäre, war er ihr ein klein wenig dankbar für diese Bemerkung. Er überlegte, ob er sie bitten sollte, Platz zu nehmen. Es würde sich nicht umgehen lassen, abgesehen davon, dass er bei seinen Nachforschungen vielleicht irgendwann auf sie angewiesen sein könnte. Er bat sie, sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch zu setzen. Ein Sessel am Besprechungstisch wäre der Situation vielleicht angemessener gewesen, aber im letzten Augenblick fiel ihm ein, dass er es dort schwerer haben würde, das steife Bein unterzubringen.

Inge Dellbrück war die Kollegin, die am meisten davon profitiert hatte, dass er nicht mehr im Polizeidienst war. Sie mochte ein paar Jahre jünger sein als er, aber nicht jung genug, um ihre Karriere noch vor sich zu haben. Und dort, wohin sie hätte aufsteigen können, hatte er gesessen. Wahrscheinlich war sie ihm dankbar dafür, dass er ausgeschieden war. Vielleicht gab es aber noch einen anderen Grund, weshalb sie sich seinetwegen mehr bemühte, als unter Kollegen üblich. Er hatte nie viel Lust gehabt, darüber nachzudenken.

Sie war verheiratet. Seine Frau und er waren, als sie noch zusammen gewesen waren, manchmal zu den Dellbrücks nach Hause eingeladen worden, das übliche Gartenfest oder ein Essen zwischen Weihnachten und Neujahr. Sie hatten ebenfalls keine Kinder, aber, im Gegensatz zu ihnen, großes Interesse daran, immer nach der neuesten Mode eingerichtet zu sein. Jedenfalls hatte seine Frau das gesagt und es dabei fertig gebracht, in ihrer Stimme sowohl Neid als auch Verachtung mitklingen zu lassen. Dellbrück machte irgendetwas Kaufmännisches, ein rundlicher, jovialer Typ, der gern gut aß, Rotwein trank und regelmäßig nach dem Essen zu Grappa überging. Sicher war er kein Trinker, aber damals, als er, Jean, sich selbst noch in jeder Beziehung für kräftig und gut trainiert und männlich hielt, hatte er nach so einem Abend kurz daran gedacht, was die Kollegin Inge wohl, wenn sie gegangen waren, mit ihrem betäubten Ehemann im Bett anfangen würde. Er hielt es für möglich, dass sie bei irgendeiner Gelegenheit diese Gedanken in seinem Gesicht gelesen hatte. Es waren, da war er sicher, sozusagen neutrale Gedanken gewesen, einfach nur routinemäßige Beobachtungs- und Kombinationsgabe. Sie wurden wahrscheinlich falsch interpretiert. Jedenfalls schien ihm das von Anfang an die einzig sinnvolle Erklärung dafür zu sein, dass sich das Interesse seiner Kollegin an seiner Person über dienst­liche Belange hinaus entwickelt hatte. Trotzdem war er erstaunt, sie nun zu sehen. Er war nicht mehr im Dienst. Die Situation „Zimmer an Zimmer“ war endgültig aufgehoben. Aus den Augen, aus dem Sinn wäre angemessen gewesen, jedenfalls für sein Gefühl. Deshalb fand er es bequemer, nichts zu sagen und darauf zu warten, dass sie erklärte, weshalb sie gekommen wäre. Was sie auch tat.

„Ich hab mich erkundigt“, sagte sie, „gesundheitlich scheinst du wieder in Ordnung zu sein.“ Er schwieg.

„Ich hab mir überlegt, was du jetzt tun wirst.“

Er schwieg und sah sie an.

„Ich bin darauf gekommen“, fuhr sie fort, „du wirst versuchen, den zu finden, der verantwortlich ist für das da.“

Sie wies mit dem Kopf auf sein Bein, das bequem unter dem Tisch lag. Er rührte sich nicht, sodass sie gezwungen war, weiterzureden.

„Das ist Wahnsinn“, sagte sie. „Wenn wir ihn alle zusammen nicht gefunden haben, dann wirst du allein ihn doch erst recht nicht aufspüren können.“

Er fand, dass ihre Stimme einen Unterton bekommen hatte, der das Gegenteil von dem ausdrückte, was ihre Worte sagten. Das schien ihm interessant zu sein, deshalb sah er sie aufmerksamer an als vorher, sagte aber noch immer nichts.

„Jedenfalls meinen das die Kollegen“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

Jetzt war es endlich an ihm, etwas zu sagen. Er wollte nicht unhöflich sein.

„Und du?“, fragte er, „was meinst du?“

„Das weißt du ganz genau“, antwortete sie. „Du wirst nicht aufgeben, bis du ihn hast. Ich bin gekommen, um dir meine Hilfe anzubieten.“

Im Grunde hatte er seit ein paar Minuten mit so etwas Ähnlichem gerechnet. Trotzdem wusste er nicht sofort, wie er darauf reagieren sollte. Einerseits wollte er keine Mitwisser, denn er war sich darüber klar, dass er nicht für ein rechtsstaatliches Verfahren garantieren könnte, wenn er am Ziel wäre. Andererseits hatte die Dellbrück Zugriff auf den gesamten Polizeiapparat samt aller angeschlossenen Labors, ohne die heute eine effektive Polizeiarbeit gar nicht mehr denkbar ist. Natürlich konnte man jede Analyse auch auf eigene Kosten vornehmen lassen. Nur würde das vermutlich seine finanziellen Möglichkeiten erheblich übersteigen. Er musste nicht sofort auf ihr Angebot reagieren, aber wenn er die Entscheidung hinauszögerte, würde er sich erneut mit ihr verabreden müssen, wozu er nicht die geringste Lust verspürte.

„Ich würde die Sache gern etwas weniger dramatisch und dafür pragmatischer handhaben“, sagte er schließlich. „Ich weiß nämlich noch nicht, ob ich etwas unternehmen werde.“

Er sah ihrem Gesicht an, dass sie ihm nicht glaubte, aber er ließ sich nicht beeindrucken.

„Wenn ich tatsächlich aktiv werde, dann kann es durchaus sein, dass ich ohne deine Mithilfe klarkomme. Wenn ich dich aber brauche, wie kann ich dich dann erreichen, ohne dass gleich der gesamte Apparat informiert ist?“

Es war nicht ganz das, was sie gern gehört hätte, aber sie gab sich zufrieden. Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie antwortete.

„Wenn es nicht sehr eilig ist, rufst du mich am besten mobil an und wir verabreden uns. Wenn du es eilig hast, kommst du persönlich. Du weißt ja, wo ich zu finden bin.“

Das wusste er, auch wenn er die protzige Villa schon lange nicht mehr aufgesucht hatte. Plötzlich erinnerte er sich daran, was bei ihrem letzten Besuch dort geschehen war. Der wirkliche Grund, weshalb er dafür gesorgt hatte, dass sie ihre Besuche dort einstellten, war seine Eifersucht gewesen.

Natürlich hatten die Dellbrücks einen Pool im Garten, einen ziemlich großen sogar. Sie gaben eines ihrer kleinen Gartenfeste für er wusste nicht wie viele Leute. Die Frauen in leichten Sommerkleidern, alle hübsch und sexy und übermütig, weil der Abend so schön war und der Champagner so gut gekühlt. Irgendwann belustigten sich einige Gäste damit, angezogen in den Pool zu springen, hauptsächlich Frauen, und seine eigene war dabei. Natürlich hatte sie ihr Kleid noch an, als sie aus dem Wasser stieg, aber sie sah trotzdem aus, als sei sie nackt. Und unter dem Kleid war sie es ja auch. Sie sah aus wie eine pralle, nackte Venus, so umwerfend, dass es für eine kleine Weile ganz still wurde um diesen Scheißpool herum. Irgendjemand, kann sein, der Hausherr persönlich, brachte ihr dann ein Badetuch. Das hatte er später in den Müll geworfen, nein, um bei der Wahrheit zu bleiben, nicht später, sondern gleich nachdem sie das Haus verlassen hatten, in einen der Mülleimer, die an der Straße standen. Sie ging vor ihm die Treppe hinauf, als sie nach Hause kamen. Ihr Anblick war das Erregendste, was er jemals gesehen hatte.

Er dachte daran, während er der Dellbrück gegenübersaß, und auch daran, wie die Nacht gewesen war, die dann folgte. Und er registrierte, dass die Erinnerung an den Anblick des Hinterteils seiner inzwischen von ihm geschiedenen Frau auf einem mit dunkel­rotem Velours ausgelegten Treppenaufgang ihn noch immer in eine gewisse Erregung versetzen konnte.

„Ja“, sagte er, „das ist ein praktikabler Vorschlag“, und war froh, dass sie seine Gedanken nicht lesen konnte. Dann wusste er nichts mehr zu sagen, jedenfalls nichts, was den Erwartungen der Dellbrück in irgendeiner Weise entsprochen hätte. Sie saßen sich noch eine Weile schweigend gegenüber, bevor die Dellbrück aufstand und er sie, an dem Sofa im Flur vorbei, zur Haustür brachte. Er bedankte sich bei ihr, während sie sich voneinander verabschiedeten. Wenigstens hoffte er später, dass es so gewesen war, wenn er an die Szene zurückdachte.

Dann ging er spazieren. Die Reihenhäuser lagen am Rand der Stadt, und nach zwanzig Minuten konnte auch ein Krüppel das freie Feld erreichen. Er fand einen Radweg, auf dem niemand unterwegs war. Schon während seines Kuraufenthalts war er kürzere Wege gegangen, aber er hatte sich vorgenommen, sobald er wieder zu Hause wäre, jeden Tag mit einem Fünf-­Kilometer-Fußmarsch zu beginnen. Die Hoffnung, dadurch das rechte Bein wieder beweglich zu machen, bestand nicht, aber wenigstens würde er nicht wegen Bewegungsmangels verfetten. Den Besuch der Kollegin Dellbrück vergaß er beinahe sofort. Er dachte darüber nach, weshalb nachgewachsener Klee heller ist als älterer, und verglich das verrottete Kar­toffellaub mit den Trümmerlandschaften auf Fotos von neunzehnhundertfünfundvierzig. Er war ziemlich stolz auf diesen, wie er fand, gelungenen Vergleich. Unterwegs begegnete er niemandem, außer ein paar ungewöhnlich großen Raubvögeln, die in niedriger Höhe über die Äcker segelten. Eine Weile lief ein kleiner Fuchs vor ihm her, der dann in einem Graben verschwand. Er dachte lange darüber nach, wie das Wort hieß, das Jäger für das Laufen der Füchse benutzen, und war beinahe fröhlich, als es ihm endlich einfiel.

„Sie schnüren, Füchse schnüren“, murmelte er vor sich hin.

Als er seine fünf Kilometer hinter sich gebracht hatte und auf die Uhr sah, war er enttäuscht. Für die Strecke, die ein gesunder Mann in fünfzig Minuten schafft, hatte er anderthalb Stunden gebraucht. Dabei war er, wie er glaubte, schnell gegangen und würde sich, er spürte es deutlich, im Haus erst einmal hinlegen müssen.

Im Halbschlaf, eine Decke über den Knien, den Kopf neben dem Radio, aus dem leise Musik kam, begann er, sich wieder wohl zu fühlen. Er merkte es daran, dass süße Rachefantasien seinen Kopf ausfüllten.

Er musste schon eine Weile geschlafen haben, als er durch die Haustürklingel geweckt wurde. Irgendjemand war anscheinend ungeduldig geworden, denn er nahm seine Finger nicht mehr vom Klingelknopf. Beringer stieß sich den Fuß an dem verdammten Sofa im Flur, als er auf dem Weg zur Tür war. Davor standen zwei Kollegen, ehemalige Kollegen, die ein ernstes Gesicht machten.

„Wir würden dich gern einen Augenblick sprechen“, sagte der eine, während sie eintraten, als habe er sie hereingebeten. Er kannte diese Art, er hatte sie selbst oft genug praktiziert.

***

Dann stand diese Geschichte über ihn in der Zeitung, und ich begriff, weshalb ich nicht sofort darauf gekommen war, welchen Beruf er hatte. Er hatte nämlich keinen mehr. Es war alles genau beschrieben. Seine Karriere hatte er nicht nur seiner Herkunft zu verdanken, stand da. Das Bild mit dem Haus, das zu Zeiten seines Großvaters gebaut worden war, nahm einen großen Platz auf der Doppelseite ein. Das Haus gefiel mir, eine alte Villa im Tudor-Stil, weiß gestrichen und mit viel dunklem Holz. Es gab einen offenen, überdachten Balkon über die gesamte Vorderseite im ersten Stock und dahinter einen verglasten Gang, von dem Türen ins Innere abgingen. Das Haus hatte einen Turm, den man bewohnen konnte, wunderschöne, bunt verglaste Fenster und einen riesigen Balkon über der Terrasse auf der Gartenseite. Die Fotografen hatten sich sehr viel Mühe gegeben, die prächtigen Seiten des Hauses richtig ins Bild zu setzen. Es sollte so aussehen, als wäre es zumindest merkwürdig, dass sich ein Kripo-Mann so ein luxuriöses Haus leisten konnte. Und so war es auch. Es gab auch ein Bild seiner geschiedenen Frau. Sie sah gut aus, ein bisschen sehr blond, eine Art Marilyn-Monroe-Typ, von der man schrieb, das Haus gehöre ihr, sie habe auf einer dicken Abfindung bestanden und sie auch bekommen. Jeder, der das las, musste sich sofort fragen: Woher hatte der das Geld? Auch von ihm waren Bilder in der Zeitung. Eins zeigte einen finster, beinahe bösartig blickenden Mann mit dunklen Augen und Schatten im Gesicht, die daher kamen, dass er sich nicht rasiert hatte. Im Grunde sah der Mann auf dem Foto krank aus. Sie schrieben dazu, dass er bis zu seiner Verletzung der härteste und erfolgreichste Verbrecherjäger gewesen sei. Als ich das Foto sah, musste ich unwillkürlich denken: Kein Wunder, dass der seine Pappenheimer kennt, der gehört ja dazu. Der ganze Bericht war darauf abgestellt, den Mann niederzumachen. Ich hätte ihn auch auf dem Foto nicht erkannt, wenn nicht noch das zweite gewesen wäre. Auf dem stand er in der Haustür seiner Wohnung und die Polizisten sagten ihm offenbar gerade, dass man seine Kollegin erschossen in der Nähe seines Hauses gefunden habe. Auf diesem Foto sah er aus wie der Mann, der bei uns gewesen war.

Die ganze Geschichte ging so: Eine ehemalige Kollegin hatte ihn besucht, um sich nach seinem Gesundheitszustand nach der Kur zu erkundigen. Vielleicht ist das üblich bei der Polizei. Sie haben ein Auge aufeinander, auch wenn einer aus dem Dienst ausgeschieden ist. Die Verabredung mit ihm hatte sie in ihrem Terminkalender eingetragen, auch ihre Sekretärin hatte Bescheid gewusst. Sie hatte sie unterwegs noch auf ihrem Handy erreicht. Das Handy war nicht bei der Leiche gefunden worden. Jean Beringer, das war sein Name, und er gefiel mir von Anfang an, auch schon, als ich ihn noch gar nicht persönlich kannte, Jean Beringer hatte zugegeben, dass die Frau bei ihm gewesen war.

„Sie wird vielleicht eine halbe Stunde bei mir gewesen sein, vielleicht auch etwas weniger, auf keinen Fall länger. Sie hat sich nach meinem Gesundheitszustand erkundigt und danach, was ich jetzt tue. Ich hab ihr gesagt, dass ich mich noch schonen müsse und dass ich noch keine Ahnung hätte, was ich tun würde.“

Seine Kollegen hatten ihn mitgenommen, nicht verhaftet, wie ausdrücklich betont wurde. Man wollte seine Aussagen zu Protokoll nehmen. Später hat er mir erzählt, dass sie im Präsidium seine Hände nach Schmauchspuren untersucht hätten. Natürlich haben sie nichts gefunden.

Er hat ihnen gesagt, dass er spazieren gegangen und gerade erst zurückgekommen sei, als sie bei ihm klingelten. Seine Aussage konnte nicht widerlegt werden. Spuren fanden sie weder an ihm noch in seinem Haus. Also ließen sie ihn gehen. Und nach ein paar Tagen hatten ihn auch die Zeitungen wieder vergessen.

Zu uns kam er wieder am Abend dieses Tages. Da ahnte ich noch nicht, wer er war, denn die Berichte hatte ich erst am nächsten Tag gesehen. Er fiel mir nur wieder auf, weil er so absolut einsam wirkte. Es lag aber nicht daran, dass niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte. Ich konnte zweimal beobachten, wie jemand versuchte, mit ihm ein Gespräch anzufangen. Zuerst die Kollegin, mit der ich an dem Abend hinter der Theke stand, Waltraud. Wir hatten kurz über ihn gesprochen, sie ging hin, er bestellte ein Bier, sie brachte es ihm und blieb neben seinem Tisch stehen. Meistens sagen die Gäste dann etwas, vor allem wenn es Männer sind, die allein da sitzen. Sie sind froh, dass sie jemanden zum Reden haben. Deshalb kommen sie doch abends noch einmal aus ihrem Bau gekrochen. Aber er hat Waltraud nur angesehen und gesagt: „Ist noch etwas?“

Sie kam zurück hinter die Theke und war gekränkt. Wenn wir Zeit haben, nehmen wir unsere Arbeit ernst. Man weiß doch, in welchem Zustand die Leute sind, die abends hier allein reinkommen. Aber im Grunde hätte ich vorher sagen können, dass er nicht auf ihr Angebot eingehen würde. Dann sprach ihn ein junger Mann an, den wir schon länger kannten. Wir waren uns nicht ganz sicher, ob er in Ordnung war, ob er richtig tickte, sozusagen. Sie hatten ihn seine Lehre nicht zu Ende machen lassen.

„Weil ich zu blöd bin“, hatte er uns erzählt und dabei so gelacht, als mache er sich über die anderen lustig und nicht sie sich über ihn. Vielleicht war er wirklich ein bisschen zu dumm für eine Bäckerlehre gewesen, aber er war harmlos und es gab keinen Grund, ihn anzublaffen, nur weil er das Bedürfnis hatte, ein paar Worte zu dem Mann zu sagen, der da allein am Tisch saß und vor sich hin starrte. Den Jungen, Ronny, hatte er total eingeschüchtert. Viel hätte nicht gefehlt, und wir, eine von uns, hätte ihn in den Arm nehmen müssen, um ihn wieder zu beruhigen. Am nächsten Morgen stand die ganze Sache dann in der Zeitung.

Vielleicht hätte ich unter anderen Umständen von Anfang an versucht, Beringer aufzutauen. Aber ich war total mit meinen eigenen Problemen beschäftigt. Der Mann, mit dem ich zu der Zeit hin und wieder zusammen war, fing an, Ansprüche zu stellen, deren Erfüllung ihm nicht zustand. Wir trafen uns alle vierzehn Tage am Freitag oder am Sonnabend und verbrachten die Nacht miteinander. Wir trafen uns bei ihm, um Tita nicht zu beunruhigen. Alle vierzehn Tage konnte ich mir einen Babysitter leisten. Die Nächte waren nicht unangenehm. Wir gingen irgendwo essen, dann in eine Bar und anschließend ins Bett. Manchmal brachte er mir etwas mit, ein Wäschestück oder Pralinen. Die Pralinen aßen wir nachts gemeinsam. Das Wäschestück musste ich ihm vorführen. Es war alles ganz harmlos, gemessen an dem Sex, von dem ich manchmal träumte.

Aber so harmlos war es eben doch nicht. Er wollte dann irgendwann, dass wir das ganze Wochenende miteinander verbringen.

„Und Tita?“, fragte ich ihn.

„Herrgott, die wirst du doch irgendwie loswerden können“, war seine Antwort.

Das hat mich natürlich hellhörig gemacht. Also, um es kurz zu machen, er wollte mich für sich allein haben. Er konnte Kinder nicht ausstehen und lag mir schließlich dauernd damit in den Ohren, dass ich ihn heiraten und das Kind weggeben sollte. Ich hätte mit ihm Schluss machen sollen, aber es hat eine Weile gedauert, bis ich so weit war. Für eine Frau mit Kind, Anfang dreißig und nicht besonders reich, ist es nicht so einfach, einen Liebhaber wegzuschicken, wenn nicht schon ein neuer vor der Tür steht. Ich hatte keine Lust, immer allein zu sein, und ich dachte, das würde mir bevorstehen, wenn ich mit ihm Schluss machte. Das war dumm, aber es war so. In den Wochen bevor es endgültig so weit war, stand er manchmal nachts vor der Tür, wenn ich die Lagune verließ. Ist natürlich angenehmer, mit dem Auto abgeholt zu werden, als mit dem Fahrrad durch die Nacht zu gondeln. Aber ich hatte schon verstanden, dass dieses Abholen mit dem Auto so etwas wie ein Bestechungsversuch war.

„Da, siehst du, wie gut du es bei mir haben könntest. Du brauchst nur zu wollen.“

Ich wollte, aber nicht ohne Tita.

Also gab es vor der Tür eine lange Diskussion, und das Ergebnis war, dass ich in diesen Nächten noch später nach Hause kam als sonst. Zum Schluss bin ich ein paar Mal durch den Hintereingang abgehauen. Aber dann habe ich gemerkt, wie lächerlich ich mich benehme. Und dann kam auch ganz schnell das Ende.

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