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Der sechste Fall der Kultermittlerin Bella Block – die Literaturvorlage zu den ZDF-Krimis mit Hannelore Hoger jetzt neu im eBook! Für manche Menschen gibt es keine Rettung … Desillusioniert von den Abgründen der Großstadt hat die Hamburger Privatermittlerin Bella Block dem Detektivdasein abgeschworen. Doch eine Reihe rätselhafter Todesfälle zwingen die Ex-Polizistin, sich abermals ihren Dämonen zu stellen: In einer abgeschotteten Hamburger Wohnsiedlung sind zum wiederholten Male junge Mädchen in den Tod gestürzt. Haben die türkischen Verbrechersyndikate, die vor Ort den Drogenhandel und die Prostitution von Kindern organisieren, ihre Finger im Spiel? Als sie die Familien der Opfer befragt, stößt Bella auf eine Mauer des Schweigens und eine kaum mehr zurückgehaltene Aggressivität – und auch innerhalb der Polizei selbst scheint es Kräfte zu geben, die die Aufklärung der Tragödien verhindern wollen … »Diese Bella Block hat es in sich!« Süddeutsche Zeitung Der sechste Fall der legendären Kommissarin Bella Block, der unabhängig gelesen werden kann – ein bitterböser Kriminalroman für die Fans Simone Buchholz. In Band 7 besucht Bella ein kleines Dorf in Vorpommern – wo man noch dem dritten Reich nachtrauert …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Desillusioniert von den Abgründen der Großstadt hat die Hamburger Privatermittlerin Bella Block dem Detektivdasein abgeschworen. Doch eine Reihe rätselhafter Todesfälle zwingen die Ex-Polizistin, sich abermals ihren Dämonen zu stellen: In einer abgeschotteten Hamburger Wohnsiedlung sind zum wiederholten Male junge Mädchen in den Tod gestürzt. Haben die türkischen Verbrechersyndikate, die vor Ort den Drogenhandel und die Prostitution von Kindern organisieren, ihre Finger im Spiel? Als sie die Familien der Opfer befragt, stößt Bella auf eine Mauer des Schweigens und eine kaum mehr zurückgehaltene Aggressivität – und auch innerhalb der Polizei selbst scheint es Kräfte zu geben, die die Aufklärung der Tragödien verhindern wollen …
Über die Autorin:
Doris Gercke, 1937 in Greifswald geboren, ist eine der bekanntesten Krimi-Autorinnen Deutschlands. Berühmt wurde sie durch ihre Reihe um die Kultermittlerin Bella Block, im ZDF verfilmt mit Hannelore Hoger in der Titelrolle. Auf der Criminale 2000 erhielt sie den »Ehrenglauser« für ihr Gesamtwerk. Doris Gercke lebt in Hamburg.
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre 17-teilige Reihe »Ein Fall für Bella Block«. Folgende Fälle sind als Hörbücher bei Saga Egmont erschienen: »Du musst hängen«, »Das lange Schweigen«, »Schlaf, Kindchen, schlaf« und »Das zweite Gesicht«.
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eBook-Neuausgabe April 2025
Dieses Buch erschien bereits 1994 unter dem Titel »Ein Fall mit Liebe« bei Hoffmann und Campe und 2010 unter dem Titel »Kinderkorn« bei Fischer.
Copyright © der Originalausgabe 1991 by Verlag am Galgenberg, Hamburg
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/Summit Art Creations , NikhomTreeVector
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ma)
ISBN 978-3-98952-682-2
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Doris Gercke
Still, mein Mädchen
Ein Fall für Bella Block 6
dotbooks.
Motto
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Zitatnachweis
Lesetipps
Und über Plätze, unbekannte,
Ging’s durch die Stadt aufs freie Feld
Zum Friedhof, der sich »Freiheit« nannte.
Alexander Block
Sie brauchte nur einen sehr kleinen Augenblick, und es war nicht nötig, die Augen zu öffnen. Sie wusste beinahe sofort, wie es um sie herum aussah. Aber sie wusste nie, ob sie von selbst aufgewacht war oder von der Stimme ihrer Mutter. Um das herauszufinden, brauchte man bloß liegen zu bleiben.
Mit geschlossenen Augen stellte sie sich das Zimmer vor, in dem sie lag. Ihr Bett an der Wand. Zwei Meter vom Fußende des Bettes entfernt das Fenster. Sie wohnten im sechsten Stock, und der Blick aus dem Fenster zeigte die Straße, den Parkplatz, die Büsche um den Parkplatz und vor dem Nachbarhaus und das achtstöckige, hellrote Nachbarhaus, das aussah, wie das Haus, in dem sie selbst wohnten.
Auf dem Parkplatz war Betrieb. Sie hörte die anfahrenden Autos und den Kerl, der jeden Morgen zehn Minuten brauchte, um seine alte Karre in Gang zu kriegen. Einmal hatte sie geträumt, sie säße in der Karre. Sie hatte laut nun mach schon gesagt, als ihre Mutter sie weckte.
Rechts neben dem Fenster der Tisch und zwei Stühle. An der gegenüberliegenden Wand das Bett ihres Bruders. Der schlief noch. Komisch, dass Jüngere länger schliefen. Oder tat er nur so? Bestimmt nicht, dazu war er zu naiv. Zwischen den beiden Betten der Läufer. Neben den Kopfenden je ein kleiner Tisch mit einer Lampe.
Die Tür ging auf. Bevor sie die Stimme hörte, spürte sie den Luftzug, der ihr über das Gesicht strich.
Seid ihr immer noch im Bett?! Raus jetzt. Es wird höchste Zeit. Also war sie schon mal da gewesen. Plötzlich, sie hätte nicht sagen können, weshalb, wusste Manuela, dass sie heute nicht in die Schule gehen würde. Sie musste nur aufpassen, dass sie nicht gesehen wurde. Und den Bruder loswerden, ohne dass es auffiel. Am besten, sie telefonierte jetzt gleich.
Während ihre Geschwister im Bad waren, ging sie ins Wohnzimmer. Die Mutter saß am Küchentisch und wartete darauf, dass sie fertig wurden. Dabei rauchte sie ihre zweite Zigarette; die erste hatte sie geraucht, nachdem der Mann aus der Wohnung gegangen war. Neben der aufgeklappten Schlafcouch lag ein Deckbett auf dem Fußboden. Irgendwann, hatte ihre Mutter gesagt, würden sie eine größere Wohnung bekommen. Bis dahin musste der kleinere Bruder auf der Couch im Wohnzimmer schlafen.
Manuela wählte und wartete. Es dauerte eine Weile, bis abgenommen wurde. Sie hatte Zeit genug, sich zu überlegen, was sie sagen würde, wenn ihre Mutter plötzlich den Kopf zur Tür hereinsteckte. War aber unwahrscheinlich.
Kurz nach acht am Einkaufszentrum, sagte sie. Beim Bäcker. Und einen Augenblick später sagte sie: Na, Manuela. Sie legte den Hörer auf. Es erschien ihr seltsam, dass er gefragt hatte, wer dran sei. Hatte ziemlich verschlafen geklungen.
In der Küche saßen die anderen schon beim Frühstück.
Der Wachmann sah auf die Uhr. Es war erst zwanzig nach sieben. Er gähnte, während er langsam eine der Rolltreppen hinunterfuhr. Auch die Läden hier unten waren noch geschlossen. Vor acht machte niemand auf. Bis auf den Bäcker am Eingang. Langsam ging er auf die Glastür zu. Dabei hörte er auf das Geräusch, das seine harten Absätze auf dem gefliesten Fußboden machten.
Vorn standen zwei ältere Männer an hohen Tischen und tranken Kaffee. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig trödelte ein Mädchen herum. Wahrscheinlich hatte es keine Lust, in die Schule zu gehen. Vor dem Stück grauen Himmels, das durch den Eingang zu sehen war, wirkten die Männer an den Tischen älter, als sie waren. Konnte aber auch daran liegen, dass sie die Nacht auf den Bänken vor der Kirche verbracht hatten. Auf jeden Fall sahen sie so aus, als hätten sie jetzt lieber Bier getrunken. Aber der City-Treff war noch geschlossen.
Weshalb gehen sie nicht in die Bahnhofskneipe, dachte der Wachmann träge. Die stören hier den Anblick.
Er ging an ihnen vorbei auf die Glastür zu. Der kräftige Duft der frischen Brötchen verursachte ihm Übelkeit. Absichtlich stieß er mit dem Fuß gegen eine der Tüten, die neben den beiden Männern auf dem Boden standen. Keiner der beiden reagierte darauf, obwohl die Tüte einen Meter weiter gerutscht war. Sie wussten, dass er sie nicht an die Luft setzen konnte, solange sie sich ruhig verhielten. Nach der langen Nacht im Freien – gegen Morgen hatte die Wirkung des Rotweins nachgelassen, und die kalte, feuchte Frühlingsluft war ihnen in die Kleider gekrochen – genossen sie die Wärme des Kaffees, die Wärme, die aus dem Schnellbackofen kam, und den Duft der Brötchen – obwohl ihnen Bier lieber gewesen wäre.
Der Wachmann hatte den Ausgang erreicht. Er trat hinaus auf den Bürgersteig, um dem Geruch der Brötchen zu entgehen, und atmete tief. Hier draußen roch es nach Frühling und Hundescheiße. Die Kleine trödelte immer noch herum. Ganz vorn in der Straße, winzig klein neben den Reihen der rechts und links geparkten Autos und den achtstöckigen Wohnblocks auf beiden Seiten, ging sein Kollege. Die Brötchentüte, die er wie jeden Morgen in der Hand hielt, war nicht mehr zu erkennen. Jetzt verschwand er hinter den Büschen. Der Wachmann stellte sich vor, wie sein Kollege den Hauseingang erreichte, die Tür aufschob, die so demoliert war, dass sie sich nicht mehr abschließen ließ, und auf den Knopf drückte, um den Fahrstuhl herunterzuholen. Oben im fünften Stock, sozusagen am anderen Ende des Fahrstuhls, saß die Frau des Kollegen in der Küche. Sie und das Kind konnten den Fahrstuhl hören. Sie würde aufstehen und dem Mann die Tür öffnen, ihm die Tüte aus der Hand nehmen und zurück in die Küche gehen. Das Kind aß morgens nichts. Die Frau würde zwei Brötchen mit dunkelbraunem Schokoladenzeug bestreichen, während das Kind die Jacke überzog, die am Drücker der Küchentür hing. Die Brötchen würden in die Jackentasche gestopft werden, und das Kind würde die Schultasche nehmen und die Wohnung verlassen. So jedenfalls war es gewesen, als er seinen Kollegen damals nach Hause begleitet hatte.
Der Wachmann sah eine Weile zu, wie die Parklücken auf der Straße sich vermehrten, bevor er sich umwandte und seinen letzten Rundgang begann. Dieser letzte Rundgang war eigentlich überflüssig, denn inzwischen waren die meisten Geschäftsinhaber in den Läden angekommen und damit beschäftigt, die Ladenkassen zu öffnen und das Wechselgeld einzusortieren. Viertel vor acht. Das war hier die ruhigste Zeit.
Er ging nicht gern nach Hause, bevor seine Frau die Wohnung verlassen hatte. Sie mochte die Filme nicht, die er mitbrachte und die er sich, ausgestreckt auf seiner Hälfte des Doppelbetts im Schlafzimmer liegend, ansah, bevor er einschlief. Er lächelte bei dem Gedanken an die Kassette, die oben im Raum hinter der Treppe in seiner Aktentasche steckte.
Die beiden Männer, die an einem der Tischchen vor dem Bäckerladen gestanden hatten, waren verschwunden. Der Wachmann sah auf seine Armbanduhr. In einer Minute würde der City-Treff öffnen. Wahrscheinlich standen die Penner dort schon vor der Tür. Er würde jetzt nach oben fahren, den Sicherheitsschlüssel deponieren und ebenfalls verschwinden. Er betrat die Rolltreppe und fuhr nach oben.
Die ältere der beiden Verkäuferinnen im Bäckerladen sah ihm nach. Ein komischer Kauz war das. Hatte noch nie etwas bei ihnen gekauft oder ein Wort mit ihnen gewechselt. Sein Kollege war netter.
Die Verkäuferin reagierte, ohne dass sie darüber nachdachte, auf die Klingel, die anzeigte, dass eine neue Lage Brötchen fertig war. Sie öffnete die Tür, zog dicke Handschuhe an und holte das Blech aus dem Ofen. Mit trockenem Schurren rutschten die Brötchen vom Blech in den Korb auf dem Ladentisch. Der Backgeruch wurde wieder stärker.
Die ersten Mütter mit Kinderwagen tauchten auf. Das waren die, deren Kinder morgens um sieben wach wurden und sich nicht anders beruhigen ließen, als dass man sie in den Wagen legte und mit ihnen durch die Gegend schob. Immer sah man den Müttern an, dass sie gern noch liegen geblieben wären. Sie rauchten, während sie die Kinderwagen vor sich herschoben, und sahen ernst und gelangweilt zum hundertsten Mal in die Auslagen der Schaufenster. Von einem bestimmten Intelligenzgrad an hätten sie, wären sie gefragt worden, beinahe jeden einzelnen Preis der ausgestellten Waren in den einhundertundvier Schaufenstern auswendig angeben können.
Manchmal, dachte die Verkäuferin, während sie in einem unbeschäftigten Augenblick über den Ladentisch sah und eine junge Frau beobachtete, die auf der gegenüberliegenden Seite in die Auslagen eines Jeansladens starrte, manchmal erfährt man von einer neuen Schaufensterdekoration im oberen Stockwerk dadurch, dass sie alle den Kinderwagen als Erstes nach oben schieben.
Gestern hatte oben offenbar niemand nach Feierabend neu dekoriert.
Ohne dass die Verkäuferin sie hatte kommen sehen, stand plötzlich eine zierliche, schwarzhaarige Frau in einem schwarzen Kleid und einer weißen Schürze vor ihr. Die Frauen lächelten einander freundlich zu, während die Verkäuferin eine große Tüte mit Brötchen über den Ladentisch reichte, die fertig gepackt neben dem Brötchenkorb gelegen hatte.
Tschüss, sagte die in dem schwarzen Kleid freundlich, verließ den Laden und fuhr auf der Rolltreppe nach oben. Lange, gewellte, dunkle Haare hingen über die weißen Schürzenbänder auf ihrem Rücken. Die Frau mit der Brötchentüte war Kellnerin im Café NEW YORK in der oberen Etage. Während sie auf den mit ein paar Blumenkübeln abgeteilten und mit Teppich ausgelegten Teil der oberen Passage zuging, in dessen Hintergrund über einem schwarz gestrichenen Bartresen in grüner Neonschrift das Wort NEW YORK neben einer Freiheitsstatue leuchtete, hielt sie die Brötchentüte in beiden Händen. Sie spürte die Wärme in ihren Handflächen. Auf den dunklen, rotbraun gepolsterten Stühlen hatten inzwischen drei Personen Platz genommen. Sie saßen weit voneinander entfernt, rauchten und sahen in die Frühstückskarten. Die Putzfrau, eine krummbeinige, ältere Ausländerin, bewegte den heulenden Staubsauger langsam an den Blumenkübeln entlang. Die Kellnerin ging zu ihr hinüber und bedeutete ihr, sie solle aufhören. Sie mochte es nicht, wenn im Café noch geputzt wurde, wenn schon Gäste da waren. Ohne weitere Reaktion stellte die Putzfrau den Staubsauger ab und verschwand hinter einer Tür zwischen zwei Läden. Es war wieder still. Bis auf das gleichmäßige, tiefe Summen der Belüftungsanlage, das Tag und Nacht anhielt und von niemandem mehr bemerkt wurde, weil es dazugehörte wie die Rolltreppe und der Wachdienst und die Frauen mit den Kinderwagen.
Vielleicht deshalb sahen die drei voneinander entfernt sitzenden Personen an den kleinen Tischen und die Kellnerin an der Kaffeemaschine zur gleichen Zeit hoch, als die Automatenstimme zu schreien begann.
Sie wollen wissen, wie der Tag heute wird? Sie möchten wissen, was die Zukunft für Sie bereithält? Sie haben ein Recht darauf. Auch Ihnen zeigt das Leben seine glitzernde Seite. Greifen Sie zu! Investieren Sie eine Mark. Holen Sie sich Ihr Glitzerhoroskop. Nicht nur für die Stars aus Kino und Fernsehen, nein, auch für Sie glitzert das Leben. Tausend glückliche Stunden funkeln Ihnen aus dem Horoskop entgegen. Wenn Sie Ihr Leben in einen glitzernden, funkelnden Sternenhimmel des Glücks verwandeln wollen, dann kaufen Sie ein Glitzerhoroskop!
Der Automat hörte auf zu brüllen und sandte stattdessen ein Geräusch aus, das an Feuerwerkskörper erinnerte. Rot und silbern stand er vor der Tür eines Spielwarenladens. Die drei an den Tischen und die Kellnerin sahen einen Moment aufmerksam in seine Richtung, bevor die Kellnerin sich wieder der Kaffeemaschine zuwandte und die Gäste die Frühstückskarte studierten. Sie hatten den Automaten gemustert, weil er neu war auf dieser Etage. Zwei- oder dreimal würden sie noch zusammenfahren, wenn er zu schreien begann. Dann würde er ein Stück Einrichtung geworden sein, das niemand mehr wahrnahm. Bis er, nach etwa vier Monaten, während der Sommerferien von Kindern mit einer selbst hergestellten Sprengladung aus Zucker und Zelluloid zerstört werden würde. Im Augenblick allerdings brüllte er zum zweiten Mal seinen Glitzervers. Die Treppe hinauf, den Kinderwagen auf zwei Rädern in der Balance haltend, rollte die Frau, die unten vor dem Jeansladen gestanden hatte. Die Stimme des Automaten musste bis nach unten gedrungen sein, denn die Frau fingerte, noch während sie sich mit dem Kinderwagen in Richtung Spielwarenladen in Bewegung setzte, in ihrer Anoraktasche nach einem Geldstück.
Bis vor zwei Minuten hatte sie genau gewusst, wie der Tag ablaufen würde. Bis zehn wäre sie im Einkaufszentrum von Schaufenster zu Schaufenster gezogen. Gleich nach zehn wäre sie auf den Spielplatz gefahren. Dort hätte sie bis zwölf auf der Bank gesessen und mit den anderen Müttern geredet. Um zwölf wäre sie nach Hause gegangen, um das Kind zu füttern, trockenzulegen und ins Bett zu bringen. Von eins bis drei hätte sie in der Wohnung herumgesessen, ferngesehen und ein Glas Kellergeister getrunken, dann hätte sie begonnen, das Mittagessen zuzubereiten. Um zehn nach fünf wäre ihr Mann gekommen, und sie hätten zusammen gegessen. Er hätte sich anschließend eine Stunde aufs Ohr gelegt, während sie das Kind gefüttert und ins Bett gebracht hätte. Dann war es Zeit für die Tagesschau und den Film. Anschließend legte er sich schlafen. Sie hätte noch ein Glas Kellergeister getrunken und wäre dann auch ins Schlafzimmer gegangen. So war es bisher gewesen. Außer am Wochenende natürlich.
Die junge Frau hatte den Glitzerautomaten erreicht und den Schlitz gefunden, in den das Markstück gesteckt werden musste. Still stand sie neben dem Automaten und wartete.
Beim letzten Mal hatte er gesagt, sie könne zu jeder Zeit anrufen. Morgens wäre es sogar besonders günstig. Und jetzt stand sie hier auf der Straße, und er kam nicht. Beinahe hätte die alte Ziege von nebenan sie gesehen. Die hätte bestimmt nichts Besseres zu tun gehabt, als auf dem Rückweg bei ihrer Mutter zu klingeln. Und dieser dämliche Wachmann vorhin. Dem hätte sie was erzählt. Aber er war vorher verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Wenn er nicht kam, musste sie sich etwas ausdenken. Sie konnte nicht den ganzen Vormittag hier im Wohngebiet herumlungern. Zurück in die Schule, oder was? Das fehlte noch. Schlimm genug, dass sie noch zwei Jahre vor sich hatte. Dann war sie fünfzehn, hatte einen Haufen Geld und würde in eine andere Stadt gehen. Wenn die wüssten! Mit fünfzehn konnte man heute schon ganz gut durchkommen. Nur wenn man Geld hatte, allerdings. Aber das würde sie haben. Da kam er.
Manuela wandte sich um und ging langsam die Straße hinunter, wartend, dass der Wagen neben ihr anhielte. Als die Tür an ihrer Seite geöffnet wurde, stieg sie schnell ein, rutschte auf dem Beifahrersitz ein wenig tiefer und wartete darauf, dass der Wagen anfuhr. Der Wagen fuhr nicht an. Sie wandte den Kopf nach links und blickte den Mann an, der hinter dem Steuer saß und auf sie heruntersah.
Hi, Jem, was ist, fahren wir nicht?
Doch, sagte der Mann langsam. Wir fahren. Ich dachte nur: Wenn du meine Schwester wärst.
Kanaken denken da anders. Ich weiß. Fahr los, sonst erwischt mich meine Mutter. Und dein Geschäft ist hin. Der junge Mann, der unausgeschlafen aussah und einen schmuddeligen Jogginganzug trug, fuhr los. Manuela setzte sich erst auf, als sie die Häuserblocks hinter sich hatten. Sie sah interessiert nach rechts und links, einmal auch über die Lehne des Sitzes nach hinten. Da lagen die Handtücher. Zufrieden schaute sie wieder auf die Straße.
Das Autofahren war eigentlich das Beste daran. Wie sie die Autofahrten mit ihren Eltern gehasst hatte. Nie hatte sie vorn sitzen dürfen. Die Kinder hinten, die Alten vorn. Und das Geld, natürlich. Dafür machte sie es ja. Der Gedanke an das, was sie für das Geld zu tun hatte, war ihr unangenehm.
Hast du ’ne Kassette da, fragte sie.
Der Mann neben ihr zeigte auf das Handschuhfach. Wir sind gleich da, sagte er. Lohnt sich nicht mehr.
Das Mädchen öffnete das Handschuhfach, nahm eine der ihm entgegenfallenden Kassetten, stopfte die anderen zurück und schloss das Fach, bevor ihm der Inhalt erneut entgegenfallen konnte.
Könntest du auch mal aufräumen, sagte es.
Der junge Mann neben ihm lachte. Er wirkte jetzt nicht mehr so unausgeschlafen. Mit einer langsamen, ein wenig eitlen Bewegung, die das Mädchen nicht sah, weil es damit beschäftigt war, den Text auf der Kassette zu entziffern, legte er die lockigen, schwarzen Haare auf der Stirn zurecht. Seine Hände waren braun und schlank. Wahrscheinlich ging er jede Woche einmal ins Sonnenstudio.
Der Wagen bog von der Straße ab, fuhr ein paar Meter über einen Betonweg und hielt auf einem betonierten Platz. Manuela sah durch die Frontscheibe auf ein Haus, das neu zu sein schien. Eigentlich ein ganz hübsches Haus mit blau gestrichenen Fensterrahmen, nicht so sehr groß, vielleicht für zwanzig Familien.
Nee, Familien wohl nicht, dachte sie, während sie ausstieg. Der Mann nahm die Handtücher vom Rücksitz und schloss das Auto ab, kein besonderes Auto, eher ein bisschen älter und ramponiert, aber das Mädchen wusste, dass es noch ein anderes Auto gab. Einmal, abends, war es damit gefahren. War ein großer, amerikanischer Wagen gewesen.
Der Mann ging voran. Als sie den Hausflur betraten, schlug ihnen verbrauchte Luft entgegen. Es roch nach Bratkartoffeln, alten Polstermöbeln, Alkohol, ungewaschenen Kleidern.
Schlimmer als bei uns im Treppenhaus, dachte das Mädchen. Wieso machen sie das Fenster nicht auf.
Der Hausflur war lang und hatte am Ende ein großes Fenster, acht blaue Türen auf jeder Seite und in der Mitte eine Treppe, die nach oben und in den Keller führte. Ein Mann kam ihnen vom Ende des Flurs her entgegen. Die Treppe herauf aus dem Keller kam ein anderer, dessen Haare nass waren und der ein nasses Handtuch in der Hand hielt.
Ihr könnt gleich nach oben gehen, sagte der Mann, der ihnen entgegengekommen war.
Er musterte das Mädchen einen Augenblick.
Sie macht es nicht zum ersten Mal, sagte Jem. Offenbar fürchtete er Einwände. Aber der Mann, der Manuela gemustert hatte, war schon unterwegs. Er stieg vor ihnen die Treppe hinauf, ging durch einen Flur, der dem unten zum Verwechseln ähnlich sah, und öffnete weiter hinten eine der blauen Türen. Das Zimmer war offenbar eine Art Aufenthaltsraum für die Männer, die in dem Haus wohnten. Es gab einen Fernseher, ein Sofa und zwei Sessel, verschiedene blaue Kunststoffstühle und ein Tischfußballspiel. Auf der Fensterbank stand ein Gummibaum. Die Aschenbecher waren ausgeleert, aber nicht ausgewaschen worden. Es stank nach Zigarettenasche. An der Wand über dem Fernseher hing ein Plakat, auf dem weiße Häuser an einem kleinen Hafen zu sehen waren. Das Wasser im Hafenbecken und der Himmel über den Häusern waren von gleichem, tiefem Blau.
Der Mann, der die beiden nach oben geführt hatte, blieb an der Tür stehen und sah zu, wie das Mädchen sich auf das Sofa setzte.
Du kannst mit runterkommen, in die Küche.
Er hatte den Mann im Jogginganzug gemeint, der zum Fenster gegangen war, neben dem Gummibaum stand und hinaussah, als erwarte er jemanden. Aber er erwartete niemanden. Er hatte nur sehen wollen, wie hoch über der Erde sich das Fenster befand. Jetzt wandte er sich um und blickte dem Mann an der Tür ins Gesicht.
Ich bleibe.
Der Mann an der Tür zuckte die Achseln, streifte das Mädchen mit einem kurzen Blick und verließ das Zimmer. Das Mädchen stand auf und begann sich auszuziehen, während der Mann, der es hergebracht hatte, ein Handtuch über das Sofa breitete. Das Handtuch war braun und zeigte in der Mitte eine große, orangefarbene Sonne, deren Strahlen die Ränder berührten.
Jemand klopfte an die Tür, die sich gleich darauf, ohne dass eine Antwort abgewartet worden war, öffnete. Der Mann mit den nassen Haaren, der aus dem Keller gekommen war, betrat das Zimmer. Bevor er die Tür schloss, warf das Mädchen einen kurzen Blick auf die kleine Gruppe von Männern, die sich vor der Tür versammelt hatte.
Könnten mehr sein, dachte es, bevor es die Arme kreuzte, um den Pullover über den Kopf zu ziehen.
Lass den an, sagte der Mann vom Fenster her.
Er durchquerte das Zimmer, nahm einen der blauen Stühle und setzte sich neben die Tür.
Erst die Kohle.
Der Mann mit den nassen Haaren hielt das Geld schon in der Hand. Er reichte dem neben der Tür fünf zerknitterte Zehner, bevor er zum Sofa ging.
Gut, dass die Männer es brauchen, dachte das Mädchen. Wie sollte ich sonst in meinem Alter zu Geld kommen. Dreißig für mich, zwanzig für ihn. Bei zehn sind das schon dreihundert.
Als der, der es gebraucht hatte, von ihm abließ, hob es ein wenig den Kopf, um zu sehen, ob die Gruppe vor der Tür größer geworden war. Viel mehr als vorhin waren es nicht. Aber zehn, dachte es, zehn werden es bestimmt.
Als die Tür geöffnet wurde, legte es den Kopf zurück und versuchte, einen festen Punkt für seine Augen zu finden. Nie ansehen, hatte es sich vorgenommen, ein Vorsatz, den es unbedingt einzuhalten galt. Wenn man sie ansah, konnte einem leicht übel werden. Auch wenn sie geduscht hatten. Sein Blick blieb auf dem Plakat hängen.
Meistens stand drauf, welches Land abgebildet war. Aber da stand gar nichts. Sah so ähnlich aus wie das Plakat beim Griechen. Zum Griechen würde es sich fahren lassen, wenn das hier vorbei war.
Nach dem dritten, der es gebraucht hatte, blieb es ruhig liegen und sah nicht mehr zur Tür. Irgendwann hatte der Mann auf dem blauen Stuhl eine kleine Auseinandersetzung mit einem, der ihm nur vier Zehner hingehalten hatte.
Schmeiß ihn raus, sagte das Mädchen vom Sofa her und dachte: Wieso ist meine Stimme so klein.
Du hörst, was sie sagt. Verschwinde.
Er stand auf und ging, die Arme vor der Brust verschränkt, auf den Mann zu. Aber das war eine überflüssige Pose. Als habe der Freier verstanden, dass das Mädchen nichts mit ihm zu tun haben wollte, oder als habe er sich erschrocken, als er die Stimme vom Sofa vernahm, wandte er sich schnell zur Tür. Er blieb dort stehen und sah einen Augenblick zu dem Mädchen hinüber, bevor er das Zimmer endgültig verließ.
Körner, fragte der Bewacher, während er sich zurück auf seinen Stuhl begab, willst du ein paar Körner?
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Wenn sie das Zeug nahm, würde sie nicht zum Griechen gehen können. Man kam damit kaum die Treppe rauf.
Es waren dreizehn, dreizehn weiße Häuser auf dem Plakat. Sie hatten dicke Mauern und kleine Fenster. Keine Türen. Ich hätte zählen sollen. Dann wüsste ich, wie lange es noch dauert. Das obere Haus hat nicht mal ein Fenster.
Dreihundert. Dreihundert. Dreihundert.
Meinetwegen müsste er nicht drinbleiben. Passiert doch nichts. Beim Griechen haben die Häuser Fenster und Türen. Oder nicht? Kann ich nachher nachsehen.
Der Rücken, das ist das Schlimmste. Mir tut der Rücken weh. Dreihundert. Wenigstens dreihundert.
Als niemand mehr an die Tür klopfte, stand der Mann auf und sah nach. Der Gang vor dem Aufenthaltsraum war leer. Im Haus war es sehr ruhig.
Das war’s, sagte er ins Zimmer hinein und schloss die Tür.
Er kam zurück, nahm den Stuhl, auf dem er die ganze Zeit über gesessen und vor sich hingestarrt hatte, brachte ihn zurück an den Tisch und griff, bevor er sich setzte, mit beiden Händen in die ausgebeulten Taschen seines Jogginganzugs. Er häufte die Scheine vor sich auf und begann zu zählen. Das Mädchen sah ihm zu.
Dreihundertsechzig für dich, sagte er. Soll ich es dir zusammenpacken?
Als er keine Antwort bekam, stopfte er den kleineren Haufen Scheine zurück in seine Hosentasche und begann die übrigen zu glätten und sorgfältig übereinanderzulegen.
Du kannst hier duschen, willst du?
Langsam wandte Manuela den Kopf zu ihm hin. Er sah, dass sie geweint hatte.
Es ist nur, weil mir der Rücken so wehtut. Hilfst du mir? Er stand auf, ging hinüber zum Sofa und half ihr beim Aufstehen. Er wickelte ihr das Handtuch, das bis auf ihre Knöchel reichte, um den Leib, nahm, nachdem er ihr das Geld in die Jackentasche gesteckt hatte, ihre Sachen unter den Arm und führte sie aus dem Zimmer. Sie gingen langsam die Treppe hinunter. Niemand begegnete ihnen. Auch der Raum vor den Duschen im Keller war leer. Es war ein ziemlich großer Raum mit Bänken an den Wänden und einer Tischtennisplatte, von der eine Ecke abgebrochen worden war, im Hintergrund. Vor den Türen der Duschen war der Zementfußboden dunkel. Die Luft war feucht und warm.
Sie blieben vor einer der Duschen stehen. Das Mädchen ließ das Handtuch los. Als es keine Anstalten machte, den Pullover auszuziehen, ging der Mann in die Dusche und stellte das Wasser an. Mit ausgestrecktem Arm prüfte er einen Augenblick die Wassertemperatur. Dann wandte er sich um, zog dem Mädchen den Pullover über den Kopf und schob es unter die Dusche. Er setzte sich auf die Bank, die der Dusche gegenüberlag, und beobachtete durch die geöffnete Tür das Mädchen beim Duschen. Er sah, dass sie einen Moment reglos unter dem Wasserstrahl stand und dann nach der Seife griff. Er sah ihr zu, wie sie sich langsam und sorgfältig zu waschen begann. Noch immer war es still im Haus. Der Mann blickte hinüber zur Kellertreppe. Niemand kam. Er würde einfach sitzen bleiben. Wenn sie fertig war, würde sie kommen, um das Handtuch zu holen. Aufmerksam beobachtete er die Bewegungen des Mädchens unter der Dusche, die lebhafter geworden waren. Sie sah zu ihm hinüber.
Na gut, dachte sie, während sie ging, um das Handtuch zu holen, dafür zahlt er beim Griechen.