Wo es wehtut - Doris Gercke - E-Book

Wo es wehtut E-Book

Doris Gercke

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Beschreibung

MILENA PROHÁSKA LIEBT DIE GEFAHR - UND DIE GEFAHR LIEBT MILENA PROHÁSKA Milena hat es nach Kiew verschlagen, wo sie für den Bundesnachrichtendienst arbeitet. Doch Milena steht im Verdacht, ein doppeltes Spiel zu treiben: Man vermutet, dass sie nicht nur für Deutschland und die Ukraine, sondern auch für Russland arbeitet. Den Auftrag, der Sache auf den Grund zu gehen, erhält ausgerechnet Beringer - jener Mann, der sich nach Kräften bemüht, seine Milena zu vergessen, die ihn wenig zuvor verlassen hat. Nun soll er, der Milena einst so nahe war wie kein anderer, seine Beziehung zu ihr wieder anknüpfen, um mehr zu erfahren. LIEBESGRÜSSE AUS KIEW - SCHAUPLATZ ZWISCHEN BOMBENHAGEL UND TERRORANSCHLÄGEN Chaotische Zustände empfangen Beringer in Kiew - es herrscht Krieg auf den Straßen, die Regierung hat die Kontrolle verloren. Immer wieder gibt es Anschläge, Entführungen sind an der Tagesordnung. Die Zukunft der verarmten Bevölkerung steht in den Sternen. Mitten in all dem Chaos kümmert sich die Stiftung des idealistischen Amerikaners Bill um verwahrloste Kinder in Kiew. Bill gewinnt schnell sowohl Milenas als auch Beringers Sympathien - doch kann man ihm wirklich trauen? VERFÜHRERISCHE KRIMISPANNUNG MIT BLICK AUF DIE SCHATTENSEITEN DER GESELLSCHAFT Unterhaltung mit Anspruch: Schonungslos prangert Doris Gercke in ihren Kriminalromanen Missstände und politische Doppelmoral an. Sie zeigt, wie brutal die sogenannte Demokratie sein kann, dass Menschen für ihren eigenen Vorteil über Leichen gehen, der Teufel nie schläft, wie verschwommen die Grenze zwischen Gut und Böse ist und wie verführerisch die Gefahr sein kann. "Doris Gercke ist zurück - und besser denn je. So lange habe ich auf ein neues Buch mit Milena Proháska gewartet, und es hat sich gelohnt!" "Kritisch, klug, spannend - Doris Gercke ist meine Lieblingskrimiautorin, weil ihre Krimis nicht nur wahnsinnig mitreißend sind, sondern auch eine politische Position beziehen."

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Doris Gercke

Wo es wehtut

Ein Milena-Proháska-Krimi

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Milena
Z. / Wiesbaden
Wadim / Kaliningrad
Klein / Wiesbaden
Milena / Kiew
Beringer / Hamburg
Bill / Kiew
Milena / Kiew
Wadim / Kiew
Beringer / Kiew
Bill / Kiew
Milena / Kiew
Klein / Wiesbaden
Wadim / Kiew
Milena / Kiew
Klein / Berlin und Kiew
Beringer / Kiew
Bill / Kiew
Milena / Kiew
Anna Maria Klein / Kiew
Ronny / Hamburg
Beringer / Kiew
Wadim / Kiew
Milena / Kiew
Bill / Kiew
Kurz / Kiew
Bill / Kiew
Beringer, von Koesen und Wadim / Kiew
Ronny / Hamburg
Milena / Kiew
Bill / Kiew
Beringer und Wadim / Kiew
Milena / Kiew
Irina / Moskau
Beringer und Ronny / Hamburg
Doris Gercke
Zur Autorin
Impressum
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Der Schnee wird tauen, das grüne ukrainische Gras wird wachsen und die Erde bedecken, die Saaten werden üppig aufgehen, darüber werden Hitzewellen flimmern, und kein Blut wird zu sehen sein. Das Blut ist billig auf diesen rotgoldenen Feldern, und niemand wird dafür zahlen.

Niemand.

Michail Bulgakow, „Die weiße Garde“

Milena

Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin. Ich weiß nicht, ob es Morgen ist oder Abend. Ich weiß, dass ich sterben werde, aber ich weiß nicht, wann.

Z. / Wiesbaden

Es ist ein gewöhnlicher Sonntag Ende Oktober. Ronny ist zum Frühstück gekommen, wie häufig. Von den Fliederbüschen im Garten sind die Blätter endgültig abgefallen; in der Nacht hat es den ersten Frost gegeben. Ronny verbreitet sich über die Erkenntnisse, die er durch seine frühe Zeitungslektüre gewonnen hat.

„Kiew“, sagte er, man müsste jetzt nach Kiew. „Das stell’ ich mir interessant vor.“

Beringer lächelt belustigt. Ihn amüsiert Ronnys Übereifer. Es ist alles wie sonst.

Dann klingelt das Telefon, und vier Tage später ist Beringers Leben vollkommen aus den Fugen geraten.

Er war zum Telefon gegangen, von Ronny beobachtet, dessen Neugierde zu zügeln Beringer längst aufgegeben hatte. Er hatte dem Anrufer eine Weile zugehört, „in Ordnung“ gesagt und den Hörer aufgelegt.

Die Sonne schien auf den Frühstückstisch, als er zurückkam. Die Bestecke glitzerten, die silbernen Eier­becher glitzerten, der Deckel auf dem Honigglas glitzerte, und das alles war nichts gegen das Glitzern in Ronnys Augen.

„Z.“, sagte er, „das kann nur Z. gewesen sein. Das letzte Mal hat er sich auch an einem Sonntag gemeldet …“

Es hatte keinen Sinn, vor Ronny etwas geheim zu ­halten.

Unwillkürlich dachte er zurück an die Zeit, in der er Ronny kennengelernt hatte. Er, Beringer, hatte damals jeden Abend, kalt, aber innerlich rasend vor Rachegefühlen, in der Blauen Lagune gesessen und die Leute beobachtet.

Rachegefühle, ja, die hatten ihn damals beherrscht. Er, hochdekorierter Kriminalist, als Spezialist von Europol geschätzt, noch nicht einmal fünfzig, körperlich und geistig in bester Verfassung, hatte sich von einem skrupellosen, dämlichen Drogendealer berufsunfähig schießen lassen. Natürlich hätte er auch mit einem zerschossenen Knie weiterarbeiten können. Aber er hatte nicht weitergearbeitet, als man ihn aus dem Krankenhaus, aus der Reha entließ. Er wollte nicht weiterarbeiten. Er wollte den Scheißkerl kriegen, und deshalb hatte er Nacht für Nacht in der Blauen Lagune gesessen und gewartet. In der weiteren Umgebung der Lagune hatte bei der missglückten Festnahme der Schusswechsel stattgefunden. Hier würde der Kerl wieder auftauchen. Hier würde er ihn kriegen.

Blaue Lagune, so nannten sie auf dem Land die Tankstelle, der das große Bistro angeschlossen war und deren Dächer mit blauem Neonlicht eingefasst waren. Wenn man nachts durch das finstere Niedersachsen fuhr und das blaue Licht tauchte auf, dann war diese Beschreibung gar nicht so unpassend. Er hatte nachts in der Lagune gesessen und sich die Zeit damit vertrieben, die Einheimischen von den Durchreisenden zu unterscheiden. Er bildete sich ein, er könnte ihnen ansehen, dass sie alle das blaue Licht angelockt hatte. Nun saßen sie da und warteten darauf, dass die Verheißungen, auf die sie von fern gehofft hatten, wahr würden. Statt­dessen gingen die Einheimischen, wenn die Nacht vorüber war, angetrunken und enttäuscht nach Hause. Die, die mit dem Auto unterwegs waren und von weiter her kamen, fuhren mit sehnsüchtigen Augen in die Nacht und suchten nach der nächsten Lagune.

Vielleicht wartete ja dort das große Abenteuer auf sie.

Eines Abends war plötzlich Ronny neben seinem Tisch gewesen. Er hatte ihn nicht kommen sehen. Er musste schon länger dort gestanden haben, und als sein Blick ihn traf, hatte er schüchtern gelächelt. Er war noch einen Schritt näher getreten, und ein merkwürdiger Dialog hatte sich zwischen dem Jungen und ihm entwickelt.

Ronny war damals, vielleicht, fünfzehn gewesen, lang und dünn, zu lang für sein Alter, mit zu großen Händen und Füßen, mit langen, dunklen Haaren und großen Augen in einem blassen Stubenhockergesicht.

Wahrscheinlich war ihm ihr erstes Gespräch deshalb im Gedächtnis geblieben, weil dieser Dialog damals dazu beigetragen hatte, dass er sich für einen Fünfzehnjährigen zu interessieren begann, was ihm sonst sicher ferngelegen hätte.

„Ja?“, hatte Beringer gesagt, als der Junge näher getreten und dann stehengeblieben war.

„Sie sind Kommissar“, hatte der geantwortet und geschwiegen. Es war eine Feststellung gewesen, keine Frage.

„Ich war Kommissar“, hatte Beringer geantwortet.

„Kommissare müssen vorsichtig sein“, war das Nächste gewesen, was der Junge gesagt hatte.

„Weshalb glaubst du das?“, hatte er gefragt und dabei überlegt, ob er das merkwürdige Gespräch abbrechen sollte. Der Junge hatte nicht geantwortet, war nur neben dem Tisch stehengeblieben und hatte ihn weiter angestarrt.

„Haben Sie Ihre Waffe immer dabei?“, wollte er dann wissen.

„Ich bin nicht mehr im Dienst“, hatte er geantwortet. „Das hab’ ich doch schon gesagt.“

Und der Junge hatte gesagt: „Das wollte ich nicht wissen. Ich hatte Sie nach Ihrer Waffe gefragt. Ich könnte mir denken, dass Sie sie noch einmal brauchen werden. Ich wollte nur wissen, ob Sie der gleichen Meinung sind wie ich. In dieser Sache. Nur in dieser Sache. In vielen anderen Dingen werden wir vermutlich unterschiedliche Ansichten haben. Das ist eine Generationenfrage. Obwohl ich eigentlich nicht viel von diesem Generationentheater halte. Bei den Problemen, die die Leute miteinander haben, geht es wohl darum zuletzt.“

Der Junge stand noch immer neben seinem Tisch, so, als warte er auf etwas. Er fühlte sich unbehaglich, und nur, um etwas zu sagen, fragte er: „Und was machst du tagsüber?“

„Sie meinen, was ich arbeite“, hatte der Junge geantwortet, und Beringer sah deutlich, dass er errötete. Seine Stimme allerdings blieb gleichmütig wie zuvor.

„Jeder findet irgendwann das, was für ihn das Richtige ist“, hatte er geantwortet. „Bei manchen dauert es nur länger. Aber ich bin bald so weit, das weiß ich.“

So hatten sie sich kennengelernt, vor dreizehn oder vierzehn Jahren. Inzwischen hatte Ronny sein Jura-Examen glänzend bestanden. Er hätte auch zur Kriminalpolizei gehen können. Milena und er hätten seine Ausbildung finanziert. Ronny aber bewunderte Milena und hatte sich deshalb für ihren Beruf entschieden.

Milena. Was für eine wunderbare Frau war sie gewesen, als er sie kennengelernt hatte: jung und voller Elan, mit wilden, roten Haaren, klug und schön und vollkommen fehl am Platz als Bedienerin in dieser Blauen Lagune; wie ein Edelstein unter Sandkörnern. Als Strafverteidigerin war sie gerade gescheitert, aber sie hatte ihr Leben trotzdem im Griff. Er aber, besessen von seinen Rachegelüsten, hatte sie nicht einmal bemerkt, bis sie ihn um Hilfe gebeten hatte …

Er hatte ihr geholfen, ja, aber nur, um sie anschließend für seinen Rachefeldzug einzuspannen. Ja, auch als sie sich später zusammengetan und eine erfolgreiche Kanzlei geführt hatten, war er niemals bereit gewesen, sie bedingungslos zu lieben, wie sie es von ihm erwartete.

Als sie dann verschwunden war, hätte Ronny sich geweigert, ihre Stelle einzunehmen, auch wenn Beringer ihn darum gebeten hätte. Das tat er nicht, aus verschiedenen Gründen, sicher auch, weil er ahnte, dass Ronny ablehnen würde, aber hauptsächlich deshalb, weil er nicht dort weitermachen wollte, wo die gemeinsame Arbeit mit Milena zu Ende gegangen war. Die Erinnerung daran hatte er gemieden.

Ronny und er waren trotzdem Freunde geblieben.

‚Soweit man mit mir befreundet sein kann‘, dachte er. ‚Kann sein, er ist nur deshalb noch hier, weil ich ihn nie danach gefragt habe, weshalb er nicht arbeitet. Mit seiner Examensnote hätte er jederzeit in eine gute Kanzlei einsteigen können.‘

In Wirklichkeit war es so, dass Ronny noch immer hoffte, Milena würde zurückkommen und sie könnten die gemeinsame Arbeit dort wieder aufnehmen, wo sie sie beendet hatten. Darauf wartete er und dafür wollte er frei sein. So weit aber ging Beringer, wenn er über Ronny nachdachte, was eher selten vorkam, in seinen Überlegungen nicht. Sie hätten ihn zu sehr an seine eigenen Wünsche erinnert.

Z. war tatsächlich am Telefon gewesen. Ronny würde den Bürodienst übernehmen, solange Beringer in Wiesbaden zu tun hätte.

Sie frühstückten dann, das heißt Ronny frühstückte, während er Beringer damit unterhielt, das Neueste über das BKA, Z. und Wiesbaden zu erzählen.

Im Gegensatz zu Beringer war Ronny Zeitungs­leser. Er kaufte die Zeitungen nicht, sondern er stahl sie, wenn er kein Geld hatte, um sich im Café niederzulassen und dort die Zeitungen durchzusehen. Im Hinterzimmer seines Lieblingscafés war es erlaubt zu rauchen, und manchmal, wenn Ronny ein paar Stunden lang die Zeitungen studiert hatte, roch man an seiner Kleidung, wo er gewesen war.

„Z.“, sagte er. „Interessant, mit welchen Leuten Sie befreundet sind.“

Während er sprach, war er intensiv damit beschäftigt, ein hartes Ei in Viertel zu zerlegen. Er sah nicht auf.

„Ich hab’ mit ihm zusammen Abitur gemacht“, sagte Beringer, „von Freundschaft kann nicht die Rede sein.“

„Ich dachte nur … Sonntagsanrufe … jedenfalls hat Ihr“, er zögerte und setzte neu an, „jedenfalls hat Ihr Abiturfreund Probleme. Er war gerade zum vierten Mal vor den Untersuchungsausschuss des Bundestags zur NSU-Affäre geladen und nach allem, was man liest, lügt er dort wie gedruckt.“

Beringer sah Ronny an, der noch immer nicht aufblickte. Der junge Mann ihm gegenüber war achtundzwanzig Jahre alt, seine Haare waren zu lang, seine Augen waren von dunklen Rändern umgeben, und er roch nach Rauch. Die Augenränder hatten damit zu tun, dass Ronny sich im Milieu herumtrieb. Es gab keine Kneipe in der Hafengegend, die er nicht kannte. Er hatte türkische, deutsche, russische und chinesische Freunde, für deren Unbescholtenheit er jederzeit die Hand ins Feuer legte, obwohl er wusste, womit sie sich in Wirklichkeit wahrscheinlich beschäftigten: mit Zuhälterei, Einbrüchen, Drogengeschäften, Diebstählen; mit allem, was Geld einbrachte, ohne steuerpflichtig zu sein. Es war klar, dass er diese Bekanntschaften aufgeben müsste, wenn Milena wieder auftauchen und sie zu dritt die Kanzlei wieder eröffnen würden. Aber Milena war nicht wieder aufgetaucht. Sie blieb verschwunden. Und je länger sie verschwunden blieb, desto intensiver trieb Ronny sich im Milieu herum.

Er schlief schlecht und behauptete, auch nachts Bewegung zu brauchen. Der Rauch kam aus dem Café, in dem er die Zeitungen gelesen hatte, bevor er zum Frühstück erschienen war. Woher der Verstand kam, der den Jungen auszeichnete, war unklar. Aus seinem Elternhaus jedenfalls nicht.

Ronny war bei seiner Mutter aufgewachsen. Er hatte seinen Vater nicht kennengelernt. Die Mutter war keine Prostituierte. Sie trank und hatte viele wechselnde Männerbekanntschaften. Ronny hatte schon als Kind Ekel empfunden beim Anblick betrunkener Frauen und Männer. Gleichzeitig fühlte er sich angezogen von Menschen, die „nicht nach dem Lineal“ lebten; so nannte er die Verlorenen und Vergessenen und Hoffnungslosen, denen seine Sympathie gehörte. „Es geschieht ihnen Unrecht“, behauptete er, „sie wissen es bloß nicht und deshalb lassen sie sich alles gefallen.“

‚So, Z. lügt also‘, dachte Beringer.

„Dass das Bundeskriminalamt nicht die schnellste Truppe ist, wissen Sie ja selbst“, sagte Ronny endlich und unterbrach damit Beringers Gedanken. Der Skandal mit dem Nationalsozialistischen Untergrund schreit zum Himmel. Und immer, wenn man dort besonders schlau sein wollte, fiel man auf die Schnauze. Peinlich, wenn so etwas vor dem Untersuchungsausschuss deutlich wird. Kann sein, dass Ihr Abiturfreund nun in Schwierigkeiten steckt.“

‚Ich finde‘, dachte Beringer flüchtig, ‚dass seine Ausdrucksweise nicht zu diesem sehr schön gedeckten Frühstückstisch passt.‘

„Der Wiesbadener Verfassungsschutz hat übrigens ebenfalls Schwierigkeiten mit den Nazis“, sagte Ronny. „Man fragt sich mehr oder weniger öffentlich, welche Rolle diese Gurkentruppe im Jahr 2006 bei dem Mord an einem türkischen Internetbetreiber in Kassel gespielt hat. Der damals verantwortliche Innenminister ist heute Ministerpräsident, wie Sie – vielleicht – wissen. Möglicherweise braucht Ihr Abiturfreund Z. Sie, um ihm oder dem Ministerpräsidenten aus der Patsche zu helfen? Ne, kann ich mir nicht vorstellen. Dazu holt man sich niemanden von außen. Vielleicht geht es um die Amerikaner? Die haben ihr europäisches Spionage-Hauptquartier nach Wiesbaden verlegt und wollen dort jetzt einen deutschen General zum Stabschef machen. Ein Pappkamerad wird gesucht, nehme ich an, der sich vor den Abhörskandal stellen soll …“

Beringer antwortete noch immer nicht, und Ronny sah irritiert auf. Beringers Gesicht war sehr blass. Er wirkte hilflos, so, als habe er sich erschrocken und der Schreck habe ihn verstört zurückgelassen. Ronny sagte nichts, und Beringer blieb weiter still.

„Milena“, sagte Ronny endlich.

Beringer nickte.

Beringer war schon ein paar Mal von Z. nach Wiesbaden eingeladen worden. Er hatte vor Jahren als Privatdetektiv für eine Gruppe von Hamburger Geschäftsleuten erfolgreich in Kaliningrad ermittelt, und dieser Erfolg war im Bundeskriminalamt nicht unbemerkt geblieben. Es hatte seitdem den einen oder anderen Fall gegeben, in dem das BKA den Sondereinsatz eines privaten Ermittlers vorzog. Er war frei. Sie hatten die Kanzlei längst geschlossen. Die Aufträge waren gut bezahlt worden. Es hatte nie einen Grund gegeben, sie abzulehnen, auch wenn sie sich manchmal mit Blick auf die Verfassung in einer Grauzone bewegten. In der Hinsicht war Beringer inzwischen großzügiger geworden. Es hätte auch diesmal keinen Grund gegeben, die Einladung auszuschlagen. Weshalb Z. es am Ende ihres Gesprächs für nötig gehalten hatte hinzuzufügen: „Außer­dem hast du jetzt die Chance, deine schöne Freundin wiederzutreffen“, wusste Beringer nicht.

Er hatte sich nie Illusionen darüber gemacht, dass Z. über Einzelheiten seines privaten Lebens informiert war. Die Leute vom BKA waren, vielleicht, ein bisschen langsam, aber die Grundregeln beherrschten sie. Grundregel Nr. 1: Zusammenarbeit mit Menschen, die nicht zum Haus gehören, erst nach gründlicher Durchleuchtung.

Er hatte nichts zu verbergen. Trotzdem wäre es ihm lieber gewesen, wenn man von Milena in Wiesbaden nichts gewusst hätte.

Er selbst hatte lange versucht, ihre Existenz zu vergessen. Ronny unterstützte ihn dabei, sobald er das verstanden hatte. Ihr Name war nicht mehr erwähnt worden. Tief im Innern hatte er nicht wirklich geglaubt, Milena auf diese Weise vergessen zu können. Aber die Methode, sie im Gespräch nicht mehr zu erwähnen und möglichst jeden Gedanken an sie zu verbannen, hatte doch einen gewissen Erfolg gehabt.

Beringer fuhr zwei Tage vor dem mit Z. verabredeten Termin nach Wiesbaden. Auch wenn Z. darüber unterrichtet war, dass er vor Jahren eine gewisse Milena gekannt hatte, so hielt er es doch nicht für nötig, sich bei der Suche nach ihr beschatten zu lassen. Wiesbaden war überschaubar, und er würde sie finden, wenn sie dort war, ohne sich bei der Suche gestört zu fühlen.

„Ich werde hier im Haus bleiben“, hatte Ronny zum Abschied gesagt, „bis Sie zurück sind. Sie können jederzeit anrufen, wenn Sie Hilfe brauchen.“

Beringer hatte zum ersten Mal seit dem Gespräch mit Z. gelächelt.

Der Taxifahrer am Bahnhof von Wiesbaden sprach Russisch mit einem Kollegen. Als Beringer, neben den beiden stehend, sich auf Russisch in das Gespräch einmischte, sah der Fahrer ihn erstaunt an.

„Ich such’ ein Hotel, in dem ich für zwei Tage unbehelligt wohnen kann, ohne von Anmeldezetteln und Polizeikontrollen belästigt zu werden“, sagte er, als er auf der Rückbank saß.

Der Fahrer sah ihn prüfend an. Beringer konnte in seinem Gesicht lesen, was er dachte.

„Passt nicht zu Ihnen“, sagte er, „und legal ist es auch nicht, aber ich mach’s trotzdem. Kann ja sein, dass Sie in den zwei Tagen hin und wieder ein Taxi brauchen. Ich geb’ Ihnen meine Karte.“

Sie fuhren knapp zehn Minuten durch eine Gegend, die Beringer nicht kannte; lebendig, laut, Baustellen und Mülltonnen, bunt; das Gegenteil von Kurstadt-Atmosphäre.

„Warten Sie einen Augenblick“, sagte der Fahrer, als er hielt.

Er verschwand durch eine Glastür. Dahinter war es dunkel. Ein paar schwarzhaarige Kinder versammelten sich um das Taxi und machten Faxen. Der Fahrer kam zurück.

„Alles in Ordnung“, sagte er.

„Holen Sie mich in einer Stunde wieder ab“, sagte Beringer, während er ausstieg.

Er bekam von einer freundlichen Frau, vielleicht vierzig, dunkle Haare, ungeschminkt, kleine Hände, den Zimmerschlüssel. Das Zimmer war schmal, hatte ein Fenster, das nicht zur Straße hinaus lag, ein Bett, einen Stuhl, einen Tisch und einen Schrank. Es roch sauber. Er stellte seine Tasche ab und setzte sich auf das Bett.

Seit dem Anruf von Z. hatte er wohl hundertmal darüber nachgedacht, wo sich Milena in Wiesbaden aufhalten könnte. Er war sicher, dass sie nicht mehr als Anwältin arbeitete. Sie war die beste Strafverteidigerin gewesen, die er gekannt hatte. Ihre unglückselige Leidenschaft für halblegale oder illegale Ermittlungsmethoden hatte ihr oft zu schaffen gemacht. Aber schließlich war ihr die Hemmungslosigkeit, mit der sie ihren sexuellen Bedürfnissen nachgegangen war, zum Verhängnis geworden.

Während er in Kaliningrad gewesen war, länger als ursprünglich beabsichtigt, hatte Milena sich darauf eingelassen, als Juristin für einen Verbrecher zu arbeiten, der nach außen zu den Honoratioren der Stadt gehörte. In Wirklichkeit verdiente er sein Geld, viel Geld, mit Frauenhandel, Bordellen und Waffengeschäften. Vielleicht, ziemlich sicher, war sie der Meinung gewesen, sie könne die Verbrechen dieses Herren öffentlich machen, wenn sie für ihn arbeitete. Dabei war sie in die Falle gelaufen, die man für sie aufgestellt hatte. Sie war nicht verliebt gewesen, dazu war sie zu klug, zu nüchtern, aber sie war neugierig. Das intime Verhältnis zu einem Partner ihres Auftraggebers war zu sexueller Abhängigkeit geworden. Sie hatte die Demütigungen hingenommen, denen sie sich, wäre sie bei Verstand gewesen, niemals ausgesetzt hätte.

Am Ende hatte sie ihren Geliebten, ihren Peiniger erschossen.

Sie wurde angeklagt, ergriff vor Gericht die Gelegenheit, die Geschäfte ihres Auftraggebers aufzudecken, und konnte den Mord an ihrem Geliebten glaubhaft als Notwehr darstellen. Sie wurde freigesprochen.

Aber wer, außer Mandanten aus der Halbwelt, wollte sich von einer Frau verteidigen lassen, von der alle Welt wusste, dass sie für den übelsten Zuhälter der Stadt gearbeitet hatte? Von einer Frau, die ihren Liebhaber erschossen hatte, sich dann selbst verteidigte und freigesprochen wurde? Die Vorstellung, die Milena bei ihrer Verteidigung im Gericht gegeben hatte, war unglaublich gewesen. Damals hatten er und Milena nach seiner Rückkehr aus Kaliningrad die Kanzlei noch gemeinsam betrieben. Beringer hatte zum ersten Mal bedauert, dass Kameras im Gerichtssaal nicht erlaubt waren. Man hätte einen Lehrfilm für angehende Verteidigerinnen herstellen können.

Nach dem Freispruch, der von ein paar ehrpusseligen Hamburger Damen im Zuschauerraum mit Buhrufen quittiert worden war, hatten Milena und er sich in die Kantine des Strafjustizgebäudes zurückgezogen, er wohl auch, um der lauernden Meute der Reporter aus dem Weg zu gehen.

„Du warst gut“, hatte er gesagt und dabei in seine Kaffeetasse gesehen.

„Ja“, hatte Milena geantwortet. „Ich war schon immer eine gute Hure. Kannst du dich an unsere erste Begegnung erinnern?“

„Lass das“, hatte er geantwortet.

Er wollte nicht, aber er hatte die Szene von damals genau vor sich gesehen.

Es hatte damit angefangen, dass sie sich in den Sessel setzte, die Beine übereinanderschlug und sagte: „Jetzt, wo alles Unwesentliche besprochen ist, möchte ich gern wissen: Wovor laufen Sie eigentlich davon?“

Beringer war überrascht gewesen, hatte aber nicht die Absicht gehabt zu antworten, sondern war aufgestanden, um das Gespräch zu beenden. Sie war sitzen geblieben.

„Wir sind Partner“, hatte sie gesagt.

Heute war er sicher, dass es kein Zufall gewesen war, dass ihr Rock höher rutschte, während er vor ihr gestanden und auf sie hinunter gesehen hatte.

„Möchten Sie, dass ich Ihnen sage, wovor Sie davonlaufen?“, hatte sie scheinheilig gefragt.

Und dann hatte er nein gesagt, und seine Stimme war so heiser gewesen und sein Mund so trocken, dass er eigentlich schon verloren gewesen war.

„Möchten Sie, dass ich Ihnen zeige, wovor Sie davonlaufen“, hatte sie wiederholt und war aufgestanden. Zwischen seinem und ihrem Körper war kaum noch Platz gewesen. Sie hatte sich umgedreht, und er hatte gewusst, dass sie sein Geschlecht in ihrem Rücken spürte, und es war ihm plötzlich vollkommen richtig erschienen, seine Hände um ihre Hüften zu legen, und er hatte es gemacht, einfach so, im Stehen, mit dieser Frau, die er kaum kannte, und mit Dingen im Kopf, die mit ihr überhaupt nichts zu tun hatten.

„Wir sollten endlich klarsehen“, hatte sie gesagt, als sie sich bei ihrer letzten Begegnung in der Kantine des Gerichts gegenübersaßen. „Du wirst ewig der verklemmte Spießer bleiben, der du bist, und ich werde immer wieder das tun, wozu ich Lust habe. Lust, verstehst du? “

Er hatte verstanden, war aufgestanden und gegangen.

Draußen auf der Treppe vor dem Strafjustizgebäude hatten sich noch immer die Reporter gedrängt, die auf Milena warteten.

In der alten Villa, die ihm gehörte und in der Milena und er mit Ronnys Hilfe bis dahin die Kanzlei unterhalten hatten, war Ronny ihm entgegengekommen.

„Ich hab’s im Radio gehört, auch den Kommentar“, hatte Ronny gesagt.

„Es ist vorbei“, hatte er geantwortet. „Sie lässt ihre Sachen holen.“

Ronny war stumm geblieben.

„Diesmal ist es endgültig“, hatte er hinzugefügt, war wortlos die Treppe hinaufgegangen und hatte bei jedem Schritt gespürt, wie der Schmerz in dem zerschossenen, steif gebliebenen Knie zunahm.

Er hatte Milena nicht wiedergesehen. Ein paar Mal hatte Ronny versucht, mit ihm darüber zu sprechen, wohin sie gegangen sein könnte. Dann war ihr Name zwischen ihnen nicht mehr erwähnt worden. Eine Weile hatte er Ronny im Verdacht gehabt, auf eigene Faust nach Milena zu suchen. Vielleicht hatte er das sogar wirklich getan. Gefunden hatte er sie jedenfalls nicht, so viel stand fest. Ronny hatte Milena bewundert, ja verehrt. Es wäre ihm unmöglich gewesen zu verbergen, dass er entdeckt hatte, wohin sie gegangen war.

Er selbst hatte „Vergessen trainiert“. So nannte er bei sich die anstrengende Arbeit, jeden Gedanken an Milena, jede Erinnerung an sie zu verdrängen. Einfach war das nicht gewesen. Jahrelang war das Eis sehr dünn, auf dem er sich bewegte. Die Tatsache, dass weder er noch Ronny irgendetwas von Milena hörten oder lasen oder sahen, hatte den Prozess des Vergessens erleichtert. Eigentlich hatte er sich inzwischen sicher gefühlt; bis zu dem Augenblick, als Z. unvermittelt am Telefon ein Wiedersehen mit Milena in Aussicht gestellt hatte.

‚Das Eis ist sehr viel dünner gewesen‘, dachte er, ‚ich muss diesen Zustand beenden. So oder so. Ich werde Milena finden. Wir haben uns geliebt, ich weiß es, auch wenn wir nie darüber gesprochen habe. Jetzt werden wir reden.‘

Beringer wusch sich die Hände in einem halbdunklen Bad, das keine Fenster hatte und dessen Lüfter sehr laut war. Er blickte auf die Uhr und trat im Zimmer ans Fenster. Er sah in einen Innenhof; sah einen aufgelassenen Handwerksbetrieb, winzige Balkons, auf einigen standen Wäscheständer, graue Hauswände, die Hauswand rechts in verblichenem Rot, eine weiß-orangefarbene Katze mit einem besonders dicken, hässlichen Kopf, die lauernd in die Luft starrte. Keine Sonne, kein Grün.

Er brauchte einen Spaziergang, um klar denken, einen Plan machen zu können. Als er das Hotel verließ, spürte er zum ersten Mal, dass die Luft warm war.

„Wohin würden Sie gehen, wenn Sie einen Spaziergang machen wollten, um Ihre Gedanken zu sammeln?“

„Am Rhein entlang, natürlich“, sagte der Taxifahrer.

Beringer ließ sich in Biebrich absetzen. Er ging ein paar hundert Meter die von Platanen gesäumte Hauptstraße zum Rhein hinunter. Die Platanen rechts und links der Straße waren die verkleinerte Ausgabe der prächtigen Bäume in der Wilhelmstraße. Sie hatten ihren Wuchs dem kleinbürgerlichen Biebrich angepasst. Im Schaufenster eines Fotogeschäfts hing das Großfoto des Bauchs einer Schwangeren. Jemand hatte mit Lippenstift ein Kussmaul darauf gemalt. Ein alter Mann schob einen Kinderwagen vor sich her und überquerte die Straße. Er war sichtlich stolz auf den Nachwuchs, der strampelnd vor ihm lag; stolz auf den Nachwuchs, der irgendwann genauso wie er einen Kinderwagen mit Nachwuchs vor sich her schieben würde.

Je näher er dem Rhein kam, desto heller wurde das Licht der Herbstsonne. Wasser, Himmel, Bäume, die Gesichter der Menschen, ja die Luft waren weiß vom Licht, als er die Rheinpromenade erreichte. Ströme von Spaziergängern waren unterwegs. Es war ihm sofort klar, dass er am falschen Ort war. Hier würde er nicht nachdenken können.

Hochschwangere Frauen kamen ihm entgegen. Sie schleppten ihre unerlösten Bäuche die Promenade entlang; auch sie von Stolz erfüllt. Worauf? Er trottete eine Weile in der Menge der Spaziergänger mit, bog ab, als ihm Kinder, Bäuche, Hunde, vierzehnjährige Liebespaare zu viel wurden, und fand sich im Schlosspark wieder. Auf einer Bank am Rand sitzend beobachtete er eine Hochzeitsgesellschaft. Er sah und hörte reiche indische oder pakistanische Jung-Banker aus Frankfurt, teure Karossen, aus denen laute Musik dröhnte, die Braut schulterfrei, Luftballons, Lachen und Tanzen.

‚Freuen sie sich einfach nur ihres Lebens oder der ergaunerten Millionen‘, dachte Beringer.

Ihm gegenüber auf dem Rasen im Park wurde eine Picknickdecke ausgebreitet; drei, vier herumhüpfende Kinder, behäbige, dunkelhaarige Mütter, die beim Aufbauen der mitgebrachten Speisen ihre dicken Hinterteile in die Luft reckten.

Ganz plötzlich wurde ihm bewusst, dass das, was ihn die ganze Zeit über ärgerte, nichts weiter war als das Leben.

Er stand auf, rief den Taxifahrer an und ging zum verabredeten Treffpunkt. Er ahnte, dass es einen Zusammenhang gab zwischen dem weißen Licht, der warmen Luft, den glücklichen Menschen um ihn herum und der plötzlich aufgetauchten Möglichkeit, Milena wiederzusehen. Milena, das war Leben gewesen, und seit sie gegangen war, hatte er sich vom Leben zurückgezogen. Er wollte sie wiedersehen. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte keine Vermutung gehabt, wo.

„Ein Bordell“, sagte er dem Taxifahrer.

Der Mann wandte sich um und sah ihn ungläubig an. Beringers Gesicht blieb unbewegt.

„Ich kann Sie hinfahren“, antwortete der Russe endlich.

„Nicht jetzt, bringen Sie mich ins Hotel und holen Sie mich gegen 22.00 Uhr beim Theater ab.“

Es würde nur ein Versuch sein. Er kannte Milenas Leidenschaft fürs Theater.

Er hatte eine Karte für Tschechows Drei Schwestern gekauft, ohne darauf zu achten, was gespielt wurde, und es fiel ihm schwer, sich auf das Stück zu konzentrieren. In der Pause war das Foyer überfüllt. Milena entdeckte er nicht unter den Zuschauern. Seine Blicke streiften den historistischen Prunk an der Decke, an den Wänden, an den Treppen, ohne viel wahrzunehmen, außer aufgetakeltem Publikum. Neben ihm stand ein älteres Ehepaar, sie in Lang und Schwarzgeblümt mit Perlenkette, er im Smoking, auf dem Stehtisch davor eine Champagnerflasche im silbernen Kühler. Die beiden unterhielten sich.

Er: „Ich muss das Buch mal lesen, glaube ich. Da passiert ja gar nichts, nur der gewöhnliche Alltagskram.“

‚Da hat einer etwas verstanden, ohne es zu begreifen‘, dachte Beringer.

Das Taxi stand vor dem Theater, als er auf den Säulengang hinaustrat.

„Sie wollten das Bordell“, sagte der Fahrer, während sie darauf warteten, dass sich die Menge verlief. „Es gibt Wohnungen, die, vielleicht, komfortabler …“

„Ich wollte das Bordell“, sagte Beringer scharf.

Sie fuhren am Bahnhof vorüber, eine breite Ausfallstraße entlang, ein riesiger Neubau mit dunklen Fenstern zur Linken, verwahrlostes Gelände zur Rechten, die Betonpfeiler einer Brücke. Der Fahrer hielt gegenüber eines zweistöckigen Hauses, der Putz im Licht der Scheinwerfer schmutzig-rot und grau, alle Fenster erleuchtet, eine einzelne, lächerlich wirkende Laterne stand auf dem Weg, der zur Eingangstür führte.

„Ich möchte, dass Sie warten“, sagte Beringer, als er ausstieg.

Während er auf die Tür zuging, der Weg war rechts und links mit weiß bemalten Steinen eingefasst, Schrebergarten-Dekoration, wusste er plötzlich, dass er Milena hier nicht finden würde; nicht in einem Provinz-Bordell an einer Ausfallstraße zwischen Industrieruinen und brachliegendem Baugelände; nicht zwischen Eisenbahnschienen und Schnellstraßen, hinter einer Haustür, die mit einem Türklopfer aus falschem Messing ausgestattet war, der leicht in der Hand lag und ein schepperndes Geräusch erzeugte.

Die Frau, die ihn einließ, trug einen Kimono aus falscher Seide, rot, mit einem goldenen, gestickten Drachen auf dem Rücken. Während er hinter ihr herging, er suche eine Freundin und würde wohl auch bleiben, wenn er sie nicht finde, dafür aber eine andere, die ihm gefiele, betrachtete er den zerknitterten Kimono und den lächerlichen Drachen. Er hörte der Frau nicht zu, die unentwegt auf ihn einredete.

Auf dem Rückweg sah er in ein Büro, dessen Tür offen stand. An der Wand über einem vollgekramten Schreibtisch hing ein vergrößertes Foto von Milena.

„Das war schon hier, als wir den Laden übernommen haben“, sagte die Drachenfrau. „Wir haben es hängen lassen. Macht doch was her, oder?“

Den nächsten Tag verbrachte Beringer im Hotel. Er ließ sich die örtlichen Zeitungen und Anzeigenblätter bringen; die las er, wenn er nicht schlief oder fernsah. Er fand keinen Hinweis auf eine Anzeige, die Milena aufgegeben haben konnte. Irgendwann stopfte er die Zeitungen in den Papierkorb und verfluchte die Idee, früher nach Wiesbaden gefahren zu sein. Er fühlte sich von Z. hereingelegt und beschloss, ihm am nächsten Tag besonders zurückhaltend zu begegnen.

Der nächste Tag begann damit, dass der Taxifahrer ihn zum Bahnhof fuhr und unterwegs laut auf die EU und deren Ukraine-Politik schimpfte.

„Das soll eine Revolution gewesen sein? Revolution ist, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen …“

„Lenin“, sagte Beringer und dachte an Ronny, der ihn noch vor ein paar Tagen mit seinen Lenin-Kenntnissen unterhalten hatte.

„Ja, klar“, sagte der Fahrer, „aber da fehlt noch was. Da fehlt eine dritte Kraft, die sich an die Spitze stellt und mit den Menschen gemeinsam das ganze System über den Haufen wirft. Aber in der Ukraine? Da ändert sich doch nichts. Da ist doch nur die eine korrupte Oligarchen-Clique durch die nächste ersetzt worden, oder glauben Sie, dass auch nur ein Euro von den Milliarden, die wir nun aus unserer Tasche zahlen sollen, beim Volk da drüben ankommt? Nichts wird ankommen. Alles verschwindet in dunklen Kanälen der korrupten Oli­garchen. Aber ich sag’ Ihnen was. Wer da wirklich seine Finger im Spiel hat, wissen wir das? Zum Beispiel das riesige Spionage-Zentrum, das die Amis hier ganz in der Nähe, in Erbenheim, aufbauen – ich kann Sie hinfahren, wenn Sie Zeit haben …“

„Wir sind da“, sagte Beringer, „ich würde gern aussteigen.“

Er blieb vor dem Bahnhof stehen, im Büro von Z. wusste man, wann sein Zug ankam. Er wartete auf das Auto, das ihn abholen sollte.

Er fühlte sich unbehaglich, wenn er an Z. dachte. Nicht nur, dass er glaubte, Z. habe ihn mit dem Hinweis auf Milenas Anwesenheit in Wiesbaden für dumm verkauft, ärgerte ihn. Auch die Fakten, die Ronny ihm über das Verhalten von Z. im Untersuchungsausschuss des Bundestages mitgeteilt hatte, gefielen ihm nicht. Das BKA – und damit Z. – war dafür verantwortlich, dass intime Dinge aus der Personalakte des Ausschussvorsitzenden in der Öffentlichkeit auftauchten, die den Mann zwangen, sein Mandat niederzulegen. Da war einer rechtzeitig mundtot gemacht worden, der dem BKA und dem Verfassungsschutz hätte gefährlich werden können. Beringer hatte genug Erfahrung, um das durchsichtige Manöver zu verstehen. Er hatte nicht die geringste Lust, für Leute zu arbeiten, die vorgaben, Kriminalisten zu sein, sich in Wirklichkeit aber Methoden bedienten, die dem FBI zu Zeiten Edgar Hoovers zur Ehre gereicht hätten.

Er starrte vor sich hin und bemerkte den Dienstwagen erst, als vor ihm die Tür geöffnet wurde.

Das Auto hatte dunkle Scheiben und wurde von zwei Motorradfahrern begleitet. Auf dem Rücksitz saß Z., der ihm die Hand entgegenstreckte.

„Schön, dich zu sehen“, sagte er. „Ich hab’ leider wenig Zeit. Die in Berlin spielen verrückt. Wir müssen ihnen irgendetwas in den Rachen werfen, das sie beruhigt. Hör zu …“

„Wir?“, fragte Beringer.

Z. sah älter aus als im letzten Jahr, sehr viel älter. Seine Haut war fahl und zerknittert, tiefe Ringe unter seinen Augen deuteten Schlaflosigkeit an.

„Ach, du weißt schon“, antwortete er ärgerlich. Sie sprachen nicht mehr, bis sie sich im Büro von Z. gegenübersaßen.

Der Auftrag, ein Verhör, für das Z. ihn gewinnen wollte, war so lächerlich, dass Beringer erneut das Gefühl hatte, hereingelegt zu werden. Deswegen hatte Z. ihn kommen lassen?

Er lehnte trotzdem nicht ab. Jetzt interessierte ihn, was man in Wirklichkeit von ihm wollte. Z. sprach weiter, unruhiger als sonst, wie es schien.

„Der Mensch, um den es geht, kommt aus Russland, genauer gesagt aus Kaliningrad. Das gibt er jedenfalls an. Wir wissen nicht, ob seine Angaben richtig sind. Du bist dort gewesen. Du kennst dich aus. Wenn es dir gelingt, nachzuweisen, dass er Kaliningrad nie gesehen hat, sind wir einen Schritt weiter.“

„Und dann?“

Z. antwortete nicht auf Beringers Frage. Das war normal. Was mit den Ergebnissen seiner Arbeit gemacht wurde, ging ihn nichts an.

„Es ist doch möglich, dass du den Mann in Kaliningrad kennengelernt hast. Er ist schon eine Weile hier. Wiesbaden zieht die Russen an wie der Honig die Fliegen. Und jetzt, die Situation in der Ukraine, du verstehst …“

Beringer verstand gar nichts. Er schwieg.

„Wir haben ihn festgenommen, vorübergehend, versteht sich, die üblichen 48 Stunden ohne Haftbefehl. Du findest ihn im Polizeipräsidium am Konrad-Adenauer-Ring. Wir lassen dich hinbringen.“

„Danke“, sagte Beringer. „Ich bin lieber allein unterwegs. Ich kann dann besser nachdenken. Habt ihr seinen Namen? Seine Adresse dort?“

„Natürlich“, sagte Z., „steht alles in seinem Pass, aber die Frage ist eben, ob der Pass …“

„Wie heißt der Mann?“, fragte Beringer.

Z. sah ihn erstaunt an. Weshalb war der Name wichtig? Beringer würde den Russen treffen und dessen Pass sehen.

„Ich bin gern vorbereitet auf das, was mich erwartet“, sagte Beringer, als hätte er die Gedanken von Z. erraten.

„Natürlich“, sagte Z. und lächelte. „Es hat ja Gründe, weshalb deine Ermittlungsarbeit allseits geschätzt wird. Der Mann heißt Koslow, Wadim Koslow.“

Er sah Beringer an.

„Du kennst ihn?“, fragte er.

„Nein“, antwortete Beringer, „vielleicht, aber dazu müsste ich ihn erst sehen.“

Er dachte an Wadim und Vera und an den Abend in Kaliningrad, als die beiden ihn zu sich nach Hause eingeladen hatten. Sie waren beim Essen gestört worden und hatten dann gemeinsam Veras Freundin aus einer illegalen Abtreibungsklinik geholt, bevor sie dort verblutet wäre.

Das Telefon klingelt und Vera geht in den Flur. Sie hören sie sprechen, ohne zu verstehen, was sie sagt. Vera kommt zurück.

„Galina. Wir müssen sie holen.“

Wadim sieht ernst aus und ärgerlich.

„Tut mir leid, wir müssen unseren Abend ein anderes Mal fortsetzen. Galina, Veras Freundin, braucht Hilfe.“

Er besteht darauf, mitzukommen.

„Wir werden Veras Freundin in einem Hotel in Empfang nehmen“, sagt Wadim unterwegs. „Wahrscheinlich wird man uns sagen, ihr sei schlecht geworden. Im Hotel befindet sich eine Abtreibungsklinik. Sie gehört einem ehemaligen Oberst der Roten Armee, besser bekannt unter dem Namen ‚Der General‘.“

„Weshalb gehen die Frauen nicht in eine richtige Klinik?“, hört er sich fragen.

„Haben Sie mal eine richtige Klinik von innen gesehen? Die Gänge vollgestopft mit Wartenden. Medikamente müssen Sie mitbringen, Verbandszeug müssen Sie mitbringen, Spritzen müssen Sie mitbringen. Die Behandlung wird von Wesen vorgenommen, die aus einer Drachenkolonie ausgebrochen zu sein scheinen.“

„Er übertreibt“, sagt Vera. „Außerdem ist die Klinik gar nicht für uns. Die meisten Frauen, die da hingehen, kommen aus Polen. Da ist Abtreibung verboten. Die Kirche ist dagegen. Daran verdient der General.“

Sie finden Galina in der zweiten Etage. Sie sitzt auf dem Fußboden, jämmerlich, sehr blass, feuchte Haarsträhnen im Gesicht. Wadim trägt sie die Treppe hinunter. Sie bringen die Frau nach Hause. Vera bleibt bei ihr.

Wadim war sein Freund geworden.

Z. ließ ihn zum Ausgang bringen. Er ging die Straße hinunter, an dem grauen Block des BKA-Gebäudes vorüber … nein, dachte er, das ist kein Block. Das ist ein riesiges Gekröse, eine Art Geschwür hinterm Drahtzaun, stumm und gewalttätig.

Dem Gekröse folgten Fachwerk-Villen, in Größe und Form Kleinstadtbahnhöfen vom Anfang des 20. Jahrhunderts ähnlich, und teure, terrassierte Eigentumswohnungen. Die Langeweile, die hinter den Terrassen­fenstern zu erahnen war, hatte sich nach draußen gefressen. Sie hing als graue Grasbüschel über Balkonmauern. Es war still; sonntägliche Stille an einem gewöhnlichen Donnerstag.

Wadim / Kaliningrad

Wadim, Dienststellenleiter der Kriminalpolizei in Kaliningrad, und Stepan, sein einziger Untergebener, saßen sich in dem Büro gegenüber, das sie seit Jahren miteinander teilten. Das Büro befand sich im Parterre eines kleinen, älteren Einfamilienhauses, dessen übrige Räume unbenutzt waren.

Stepan freute sich, als Wadim aus Kaliningrad abgerufen wurde.

„Es ist keine Vertretung für mich vorgesehen“, hatte Wadim auf Stepans lauernde Frage geantwortet.

„Das heißt, ich werde die Dienststelle übernehmen.“

„Das heißt es wohl“, antwortete Wadim und hatte dabei gedacht, dass die Arbeit der vergangenen Jahre sehr schnell zunichte gemacht sein würde. Stepan war korrupt, „in der Seele korrupt“, wie Vera, Wadims Frau, es einmal genannt hatte, und damit hatte sie recht gehabt. Er war aber auch feige und faul, so dass man ihn, wenn man die nötige Strenge zeigte, durchaus im Zaum halten und manchmal sogar nützlich einsetzen konnte.

Es hatte eine Weile gedauert, bis er, Wadim, seine Stadt einigermaßen in Ordnung gebracht hatte. Er hatte die Zuhälterei nicht beseitigt, aber das Leben der Mädchen dadurch sicherer machen können, indem ein paar allzu brutale Freier bestraft wurden. Es hatte sich in bestimmten Kreisen herumgesprochen, dass man dem Geschäft der Zuhälterei ruhiger nachginge, wenn alle damit verbundenen Tätigkeiten einigermaßen manierlich abliefen.

Was natürlich nicht bedeutete, dass es nun keine Männer mehr gab, die gern schlugen.

Nun würde es sich herumsprechen, dass Stepan die Dienststelle leitete, und wer daran interessiert war, würde sehr bald wissen, wie man Stepan dazu bewegen konnte, beide Augen zuzudrücken.

Die deutsche Organisation, die sich seit einigen Jahren um die verwahrlosten Kinder im Untergrund kümmerte und mit der er Kontakt gehalten hatte, musste er sich selbst überlassen. Stepan würde diese Aufgabe nicht übernehmen, das wusste er. Die Deutschen waren ihm „unheimlich“, wie er sagte. In Wirklichkeit meinte er damit, dass er ihnen nicht gewachsen war, was sicher stimmte. Diese Leute waren fürsorglich und eloquent und von so viel unschuldiger Hilfsbereitschaft durchdrungen, dass sie einem so einfachen, auf seinen Vorteil bedachten Gemüt wie Stepan, durchaus unheimlich erscheinen mochten.

Die Anordnung, den Deutschen gelegentlich auf die Finger zu sehen, hatte damit im Zusammenhang gestanden, dass Moskau seit einiger Zeit darauf bestand, von im Land arbeitenden ausländischen Organisationen die Herkunft ihrer Finanzen abzufragen. Die deutsche Kinderhilfsorganisation in Kaliningrad, die Wadim zu beobachten hatte, schien in Ordnung zu sein. Ihm war nicht aufgefallen, dass diese Leute, die die Spenden, die sie in Deutschland gesammelt hatten, in ein „offenes Heim“ investierten, sich mit Dingen beschäftigten, die mit der Hilfe für Kinder nichts zu tun hatten. Offenes Heim, so nannten sie das komfortable Holzhaus mit Schlaf-, Ess- und Lerngelegenheiten. Mit dem Leiter, einem mittelalten Mann, drahtig und mit grauen, im Nacken zusammengebundenen Haaren, der aus Hamburg kam und dort schon mit Jugendlichen gearbeitet hatte, war er sogar ein paar Mal abends zusammen gewesen. Die Erfahrungen, die er Jahre zuvor mit dem Deutschen Jean Beringer gesammelt hatte, waren ihm dabei nützlich gewesen. Offenbar gab es für Deutsche sehr unterschiedliche Motive, sich in Russland zu engagieren. Der Leiter der Hilfsorganisation war eher nachdenklich und litt offenbar unter irgendeiner Untat, die mit seiner Familie während des Großen Vaterländischen Kriegs zu tun hatte. Es musste wohl einer seiner Großväter gewesen sein, der sich auf besondere Weise schuldig gemacht hatte und dessen Schuld der Enkel abzutragen versuchte.

Wadim verstand den Mann nicht, aber es schien offensichtlich, dass sein Motiv, helfen zu wollen, ehrlich war, und er akzeptierte dessen Arbeit und erleichterte sie, wo er konnte. Dazu würde Stepan sich nicht aufraffen. Es war zu leicht, Faulheit hinter bürokratischen Hürden zu verstecken. Da mussten die Deutschen nun allein durchkommen.

Ein Problem, das größere Bedeutung erlangen konnte, blieben die Truppen der Flotte, die an der Ostsee stationiert waren. Deren Kasernierung war nach wie vor menschenunwürdig. Die sehr jungen Soldaten lebten zusammengepfercht, wurden schlecht verpflegt und streng gehalten. Immer wieder gab es Versuche, nachts auszubrechen und auf illegale Weise ein bisschen Vergnügen zu organisieren. Rauschgifthändler, die über die Kurische Nehrung einreisten, fanden in den Soldaten leichte Opfer, die bereit waren, ihren Drogenkonsum durch nächtliche Einbrüche zu finanzieren. Wo am besten etwas zu holen war, würde man ihnen schon sagen.

Wadim, der das Soldatenproblem in der Stadt als dringlich ansah, hatte damit begonnen, Kontakt zum Kommandanten herzustellen, den er zufällig bei einer gemeinsamen Parade von Militär und Polizei am 9. Mai kennengelernt hatte. Der Kommandant war neu im Amt. Mit seinem Vorgänger, einem fetten, alten Mann, der die doppelte Ordenreihe auf seiner Brust wie einen Abwehrzaun vor sich hergetragen hatte, wäre ein Gespräch nicht möglich gewesen. Auch mit dem neuen, jungen Kommandanten war noch keine wirkliche Veränderung der Lage eingetreten, aber immerhin war ein Anfang gemacht worden, hatte ein Gespräch stattgefunden.

Das würde nun abbrechen. Abgesehen davon, dass Stepan keine Notwendigkeit sah, dem Rowdytum der Soldaten Einhalt zu gebieten, wäre er auch intellektuell nicht in der Lage, mit dem Kommandanten zu verhandeln.

Wadim, an seinem aufgeräumten Schreibtisch sitzend, sah durch den struppigen Vorgarten über den Zaun hinweg auf die Straße. Er sah Vera, die langsam die Straße heraufgeschlendert kam, und ihm wurde bewusst, dass er in Wirklichkeit gern für eine Weile aus Kaliningrad wegging, auch wenn er so viel Unerledigtes zurücklassen würde, und dass sein eigentliches Problem, das er bisher so weit wie möglich zurückgedrängt, über das er vermieden hatte nachzudenken, Vera war.

Wadim liebte seine Frau, und er war gleichzeitig in den Gedanken verliebt, durch den überraschenden Sondereinsatz Karriere machen zu können. Er hatte seine Wurzeln in Kaliningrad, und er war sich seit langem klar darüber gewesen, dass er die Stadt, außer während seiner Zeit beim Militär, wohl niemals mehr verlassen würde. Das war ausschlaggebend dafür, dass er sich darum gekümmert hatte, das Leben in der Stadt – soweit es ging – erträglich zu gestalten. Er hasste es, in unordentlichen, unübersichtlichen, von Korruption und Kriminalität geprägten Verhältnissen zu leben. Er war zu sehr Polizist, als dass er solche Verhältnisse einfach hingenommen oder – wie Stepan – sogar davon profitiert hätte. Aber alle Mühe, die er sich gegeben hatte, hätte doch niemals dahin geführt, ihn in eine größere Stadt zu versetzen, in eine Stadt wie Moskau etwa, oder, eigentliches Ziel seiner geheimen Wünsche, St. Petersburg.

Nun, durch den Sonderauftrag, bekam er, vielleicht, doch noch die Möglichkeit, versetzt zu werden. Aber für diesen Auftrag musste er Vera verlassen.

Er musste sie in der Stadt zurücklassen, von der er, zu Recht oder zu Unrecht, annahm, dass der Müll wieder an die Oberfläche quellen würde, den er mühsam zurückzudrängen versucht hatte. Er konnte auch nicht Stepan damit beauftragen, Vera zu beschützen; Stepan, von dem er nicht einmal sicher wusste, ob er ihm wenigstens in Bezug auf Vera vertrauen konnte.

Er stand auf und verließ das Büro, um Vera entgegenzugehen. Im Vorgarten, um den sich niemand mehr gekümmert hatte, seit seine Versetzung bekannt geworden war, standen vertrocknete Herbstastern in kümmerlichen Büscheln. Der Sommer war so sehr ohne Regen gewesen, dass die Früchte der Heckenrosen schon jetzt runzelig an den Zweigen hingen. Der Weg zum Tor des Vorgartens bestand aus gelbem Staub.

Vor dem Tor stand Vera und lächelte ihm entgegen. Er konnte sehen, dass das Lächeln die Traurigkeit verbergen sollte, die sie empfand. Und er nahm an, dass sich ihrer beider Gesichtsausdruck wahrscheinlich im Augenblick ziemlich ähnelte.

Sie küssten sich über das Gartentor hinweg. Wadim öffnete das Tor und sie gingen Hand in Hand zurück in sein Büro.

„Ich hätte dich immer abholen sollen“, sagte Vera, „der Weg war schön. Ich hab’ unterwegs Eis gegessen.“

„Ja, wenn ich jeden Tag pünktlich Schluss gehabt hätte. Kommt mir so vor, als wäre heute ein Ausnahme­tag.“

Natürlich war dies ein Ausnahmetag. Es war sein letzter in dieser Dienststelle. Er hatte sehr unregelmäßig Dienst gehabt, und oft genug musste Vera nachts noch einmal aufstehen, um für ihn Kaffee zu kochen, wenn er nach Hause gekommen war.

Er ärgerte sich, dass er auf den letzten Tag angespielt hatte, obwohl sie doch beide wussten, dass der Abschied bevorstand.

„Stepan ist nicht da“?, fragte Vera.

Es war deutlich, dass sie sich bemühte, das Thema zu wechseln.

„Er wird gleich kommen, denke ich.“

Stepan war vor einer halben Stunde gegangen, hatte behauptet, er sei gleich zurück, was immer eine halbe Stunde Abwesenheit bedeutete, und als Wadim zum Fenster hinübersah, kam Stepan die Straße herauf. Er trug etwas im Arm, in Papier eingewickelt und nicht zu erkennen.

Wadim sah Vera an, die sich am Schreibtisch von Stepan zu schaffen machte.

„Was tust du da?“, fragte er. „Es ist alles abgeschlossen.“

„Schade“, sagte Vera. „Ich hätte zu gern gewusst, womit Stepan sich beschäftigt, wenn du weg bist.“

‚Ich auch‘, dachte Wadim.

Laut sagte er: „Du kannst ihn fragen, er kommt gerade.“

Beide sahen sie Stepan den Gartenweg entlangkommen und hörten ihn vor der Tür des Büros mit Papier rascheln. Als er eintrat, strahlte er ihnen entgegen.

„Für Sie, Chef“, sagte er und hielt Wadim ein Bund Dahlien hin. „Hat mich eine Menge gekostet. Sie wissen ja, wie schwer es ist, Blumen aufzutreiben. Aber wo wir doch so gut zusammengearbeitet haben. Und wenn Sie weg sind, hat Ihre Frau auch noch was davon.“

Selbst jemand, der unbefangener als Wadim gewesen wäre, hätte nicht umhin können, den hämischen Unterton zu hören, der in Stepans Worten mitklang.

„Danke, Stepan“, sagte Wadim, „du hast wohl nichts dagegen, wenn wir dich jetzt allein lassen.“

Später, sie saßen in ihrer Wohnung nebeneinander auf dem Sofa, die Tür zum Flur stand offen und der gepackte Koffer und Wadims Aktentasche waren zu sehen, versuchte Wadim, den Eindruck zu verwischen, den Stepans Abschiedsvorstellung bei ihnen beiden hinterlassen hatte.

„Du kennst ihn ja“, sagte er. „Ich glaube nicht, dass du viel mit ihm zu tun haben wirst. Und wenn er irgendeinen Ärger macht, dann lass dich, bitte, auf nichts ein. Wende dich an seine Vorgesetzten. Er ist in Wirklichkeit nur ein kleines Licht, und sie werden ihn schnell zurückpfeifen.“