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Ronald Reng

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Beschreibung

Miroslav Klose war einzigartiger Torjäger und selbstloser Teamspieler. Einen wie ihn wird es im Profifußball nicht mehr geben: Mit 20 spielte er noch in der Bezirksliga und wurde dann Weltmeister und bester Torschütze in der Geschichte der Nationalmannschaft. In enger Kooperation mit Miroslav Klose erzählt Ronald Reng von einem Mann, den jeder aus dem Fernsehen kennt - den aber keiner wirklich kannte: Mit acht kam er aus Polen, lernte Zimmermann und wurde Weltstar. Er spielte als Kopfballspezialist und Techniker in europäischen Topclubs. Mitreißend und berührend bringt uns »Miro« eine Zeit im Fußball nahe, die längst untergegangen ist: die Zeit des Straßenfußballers, der aus einfachsten Verhältnissen den Weg nach ganz oben geschafft hat.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de© Piper Verlag GmbH, München 2019Covergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Markus TedeskinoSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Prolog

Ganz oben

Dort oben, vier Jahre später

Die jungen Jahre

1 Im Land der schnurrenden Autobahnen

2 Ein kleiner Franzose

3 Auf der Wiese hinter dem Haus

4 Über Kaiserslautern leuchtet der Berg

5 Im Reich der Verteidiger mit den dicken Hintern

Auf dem Weg in den Profifußball

6 Herr Rubeck will nur das Beste für ihn

7 Alle wollen Klose, nur der 1. FC Kaiserslautern nicht

8 Mirek und Michi – eine Fußballfreundschaft

Ein erfüllter Traum: Die Zeit beim 1. FC Kaiserslautern

9 Es gibt nur einen Olaf Marschall

10 Salto vorwärts

11 Fritz Walters Adoptivsohn

Weltmeisterschaft 2002

12 Die unerwartete Schönheit eines Kopfballs

Reifen in Bremen

13 Erwartungen

14 Die neue Zeit

15 Gott ist ein Physiotherapeut

Weltmeisterschaft 2006

16 Sommer in Deutschland

Hoch und runter bei Bayern München

17 In der Tiefgarage

18 Das italienische Lächeln

19 Gefangen in Planquadraten

Weltmeisterschaft 2010

20 Kein Trikot passt so gut wie das weiße

Der Weg führt nach Rom

21 Sag zum Abschied leise Servus

22 Gelassenheit

23 Das Wort Heimat gibt es auch im Plural

24 Dicke Fische

Weltmeisterschaft 2014

25 Willkommen im Club, Klose

26 Sechzehn

27 Mario macht das Ding

Die späten Jahre

28 Tanzen

29 Nach dem Feuerwerk

Epilog

Mehr als Tore

Danksagung

Anmerkungen

Textnachweis

Motto

»Es war ein perfekter Sommer, so wie alle Sommer mit einer Fußballweltmeisterschaft perfekt sind.«

Karl Ove Knausgård, Kein Heimspiel

Prolog

Ganz oben

In der Mittagspause greift er sich manchmal die Tageszeitung der Arbeitskollegen und liest in stiller Konzentration Berichte über Fußballprofis, die es nach »ganz oben« geschafft haben. Danach, wenn die Pause zu Ende ist, steigt er wieder ganz nach oben.

Vom Baugerüst aus schwingt er sich auf die Firstpfette, wie der oberste Balken des Dachstuhls in ihrer Fachsprache heißt. Er steht acht Meter über der Erde, freihändig auf einem nackten Holzbalken, und einen Moment lang, bis der Kranfahrer den nächsten Seitenbalken durch die Luft zu ihm heranbringt, hat Miroslav Klose Zeit, die Welt von oben zu betrachten.

Gleich hinter dem Neubaugebiet beginnt der Wald, leuchtend grün im Sommerlicht. Es spielt keine Rolle, ob sie in Rehweiler, Ruschberg oder Rammelsbach arbeiten, der Wald ist überall, Pfälzerwald, das weiteste zusammenhängende Waldgebiet Deutschlands, 177 000 Hektar groß. Vom Dachfirst aus betrachtet erscheint die Weite der Natur wundervoll, der Wald auf sanft anschwellenden Hügeln, an den Hängen bisweilen saftige Weiden. Für Miroslav Klose ist der Ausblick perfekt, wenn außer den Bäumen auch eine Landstraße zu sehen ist. Dann kann er Autos anschauen. Er erkennt die vorbeifahrenden Modelle von dort oben zielsicher, ein 3er Golf, die A-Klasse von Mercedes, ein schwarzer BMW M3, so einen Wagen müsste man haben.

Mit den Arbeitskollegen redet er viel über Autos, aber über die Momente, wenn er vom Dachfirst auf die Welt blickt, spricht er mit niemandem. Über solche Dinge redet man doch nicht. Er fühlt es still, für sich: wie schön diese Augenblicke sind, eigentlich nur ein rasches Aufschauen, ehe er wieder einen Seitenbalken vom Kranhaken losbindet und an die Firstpfette nagelt. Dass niemand über solche Momente spricht, hat auch etwas Gutes. So gehört das Gefühl, im Himmel zu stehen und bis zum Horizont schauen zu können, ihm allein. Ganz oben, in den paar Sekunden Muße, spürt er: Er ist zufrieden mit diesem Leben.

Der Dachbalken, auf dem er steht, ist gut 25 Zentimeter breit. Links und rechts davon ist das Nichts. Um nicht hinunterzufallen, geht er seitwärts, immer einen Fuß nach dem anderen setzend. Die Spitzen seiner Sicherheitsschuhe mit den schweren Stahlkappen ragen über den Balken hinaus. Er ist schwindelfrei, die Natur hat ihn mit körperlicher Geschicklichkeit gesegnet, und trotzdem ist er das eine oder andere Mal oben auf dem Dach kurz ins Schwanken geraten. Er fing sich jedes Mal wieder, doch erstaunt registrierte er, wie er nach dem Schreck die Kontrolle über seine Beine verloren hatte. Sie zitterten unablässig. Er musste sich setzen, oben auf dem Dachbalken, und ein anderer Zimmermann stieg hinauf, um ihn kurzzeitig abzulösen, sie konnten sich nicht mit solchen Sperenzchen aufhalten, sie hatten keine Zeit zu verlieren.

Dieses unkontrollierbare Zittern in den Beinen kannte er, schien ihm, er strengte seine Erinnerungen an, und schließlich kehrte das Bild zurück: Er war als Junge mit den Cousins bei seinem Onkel auf dem polnischen Land auf einen Baum geklettert, um Kirschen zu stehlen, als der Bauer erschien. Die Cousins rannten, er rutschte beim Runterklettern ab und fiel ins Nichts. Bevor er aufschlug, bekam er gerade noch einen Ast zu greifen. Mit ausgestreckten Armen hing er am Baum und spürte dieses Zittern zum ersten Mal, die gesamten Beine vibrierten. »Komm runter, dann kriegst du’s!«, schrie der Bauer. »Ich komm ja schon«, sagte Miroslav, sprang ab und rannte augenblicklich davon, das war ein irres Gefühl, mit den zitternden, eigentlich nicht mehr kontrollierbaren Beinen zu rennen, so schnell er konnte.

Die Erinnerungen an die polnische Kindheit sind immer in ein warmes Licht getaucht. Er war neun, als die Eltern mit ihm und der Schwester im Sommer 1987 aus Polen nach Kusel in der Pfalz zogen. Elf Jahre ist das her. Er beschäftigt sich nicht mit der Frage, was seine Heimat ist, warum auch soll der Mensch nur eine Heimat haben, was ihn betrifft, ist er ein Deutscher mit polnischen Wurzeln, er sieht da kein Problem. Er spricht Deutsch wie die Freunde, die ihr gesamtes Leben in Kusel verbracht haben, mit dem weichen T, das aus Tür Diir macht, und mit den ständigen sch-Lauten, wo eigentlich ein ch oder g geboten wäre: rischdisch statt richtig. Wenn er an seine Zukunft denkt, sieht er sich in Kusel.

Oben auf dem Dach arbeiten sie jetzt im Sommer mit nacktem Oberkörper, das ist wie eine Gehaltserhöhung, ein Bonus. Boah, du wirst auch noch braun auf der Arbeit!, sagen die Freunde, als sie nach Feierabend im Eissalon Campo zusammensitzen. Über die Hände reden sie weniger. Doch betrachtet Miroslav Klose sie gelegentlich nicht ohne Faszination, ihm kommt es so vor, als würden sie von der Arbeit immer größer, auch wenn er weiß, dass das nicht stimmen kann. Die Handflächen sind voller Schwielen, wie Inseln stechen die Stellen dickster Hornhaut hervor. Das mag nicht dem allgemeinen Schönheitsideal entsprechen, aber den Stolz auf seine Hände nimmt ihm niemand. Die praktische Prüfung der Zimmermannslehre hat er als Zweitbester des gesamten Jahrgangs an der Berufsschule Kusel abgeschlossen. Er ist zwanzig, Geselle bei B+F Holzbau und hat einen Traum. Er wird die Meisterprüfung ablegen, seinen eigenen Zimmermannsbetrieb gründen und dann, mit seinen Angestellten und seinen Händen, den Eltern ein Haus bauen.

 

Das ist ein echter Traum, vielleicht sollte er besser sagen: ein Ziel, um es von diesen Träumereien abzugrenzen, denen Jugendliche nachhängen; die er natürlich auch mal hatte. Er werde Fußballprofi, hat er früher immer gesagt, wie man das halt so sagt als Teenager. Er lächelt bei der Erinnerung.

Er spielt immer noch Fußball. Nun, im Sommer 1998, ist er gerade von der siebten in die fünfte Liga gewechselt, der alltägliche Aufstieg eines Amateurfußballers, aber ihm bedeutet er etwas, von der SG Blaubach-Diedelkopf aus der Bezirksliga zur Reservemannschaft des FC 08 Homburg in die Verbandsliga. Theoretisch könnte er jetzt wirklich noch Fußballprofi werden. Die erste Mannschaft des FC Homburg spielt in der dritten Liga, Regionalliga, am unteren Rand des Berufsfußballs, und wenn er in der Reserveelf auffiele, dann könnte vielleicht der Trainer der ersten Mannschaft … diese Träume lassen sich niemals stoppen.

Miroslav Klose, der neue Stürmer mit den angeblich so wuchtigen Kopfbällen, fällt im Sommer 1998 bereits während der Saisonvorbereitung der Homburger Reserveelf auf. Weil er beim Waldlauf nicht hinterherkommt.

Der Wald schließt unmittelbar ans Stadion des FC Homburg an, der Trainer hat ihnen eine schöne Runde ausgesucht, zum Start geht es sofort 300 Meter bergan. Viel länger als fünfzehn Minuten sind sie nicht unterwegs, als einer aus dem Pulk ruft: »Der Klose schafft’s nicht mehr!«

Frank Oberinger schaut sich um. Er ist der Mannschaftskapitän, sechsundzwanzig, in den letzten Semestern des Lehramtsstudiums, ein Erwachsener unter lauter jungen Fußballern in der Reserveelf, er fühlt sich automatisch verantwortlich.

»Es kann doch nicht sein, dass der jetzt schon nicht mehr mithält.«

»Der ist doch neu, der kennt sich hier gar nicht aus, wenn er zu weit zurückfällt, wird er sich verlaufen!«

»Wie will der denn Verbandsliga spielen, wenn er nicht mal die einfachen Dauerläufe durchhält?«

Laufen ist die Basis des deutschen Spiels, da sind sich die Deutschen sicher, auch wenn im Sommer 1998 einiges infrage gestellt wird, weil die Nationalelf bei der Weltmeisterschaft in Frankreich solch einen bedauernswerten Eindruck macht. Selbst gegen biedere Gegner wie Jugoslawien und Mexiko lässt sie nur noch eine Strategie erkennen: sich mit aller Physis gegen die Niederlage zu stemmen.

In Homburg an der Saar hat der Trainer einer fünftklassigen Reserveelf, Peter Rubeck, der tagsüber in der Verwaltung des Kreiskrankenhauses Völklingen arbeitet, durchaus einige innovativere Spielideen. Er experimentiert mit der Raumdeckung und verlangt bedingungsloses Pressing. Aber um die originelle Spielweise durchzuziehen, wird in der Vorbereitung umso intensiver gelaufen. Setzt ein Fußballer im Training beim Verteidigen nicht nach, unterbricht Rubeck das Spiel. Der Missetäter muss zehn Liegestütze machen. Die Waldläufe variieren mit Tempoläufen auf der Tartanbahn, vier mal tausend Meter. Als die Hauptgruppe der Mannschaft ins Ziel kommt, ist Miroslav Klose noch in der Kurve vor der Zielgeraden unterwegs.

Seine Oberschenkel brennen. Er ist ein Sprinter, wann immer er länger laufen soll, kriecht ihm diese Schwere in die Beine, und in der Brust scheint seine Lunge zu hüpfen. Er macht sich Hoffnung, dass er sich in zwei, drei Wochen an die Intensität des Fünfte-Liga-Trainings gewöhnen könnte. Nach zwei, drei Wochen kommt er aus dem Zustand der Erschöpfung gar nicht mehr heraus, jeden Tag acht Stunden in der Sonne auf dem Dach und dann zum Training nach Homburg.

Doch etwas Interessantes geschieht: Das Training, das ihm zusetzt, fasziniert ihn gleichzeitig. Es ist für ihn das Symbol einer schönen, neuen Welt, denn auch wenn sie mit der Reserve die meiste Zeit auf einem staubigen Aschenplatz trainieren, so ist dieses Training doch wohl ein Vorbote des Profifußballs. Es weckt seine Entschlossenheit. Er möchte das Training bestehen, unbedingt. Er möchte dazugehören zu dieser Welt.

Frank Oberinger glaubt mit seinem Blick des erfahrenen Fußballers im Sommer 1998 tatsächlich einige Jungen in der Mannschaft zu erkennen, die es zum Profi schaffen könnten. Sanel Nuhic vor allem, der bändigt den Ball mit seinem rechten Fuß. Und da sind noch mehr, zwei, drei Namen kommen Oberinger in den Sinn. Der von Miroslav Klose ist nicht dabei. Obwohl dieser im Training praktisch jedes Kopfballduell gegen ihn gewinnt. Langsam wird es Oberinger wirklich peinlich, er misst 1,90 Meter, ein Abwehrspieler, wie er in Deutschland sein soll, hart am Mann, unnachgiebig auf Zweikämpfe aus, und da kommt dieser Junge aus der Bezirksliga, einen halben Kopf kleiner als er, hält keine zwanzig Minuten Dauerlauf durch, und besiegt ihn in jedem Kopfballduell. Nach einem dieser Duelle hat Oberinger das unangenehme Gefühl, dass ihn alle anstarren. Vielleicht kann der Klose trotz seiner offensichtlichen Mängel auf einige Einsätze in der Verbandsliga kommen.

Denn das Kopfballspiel ist der Schlüssel für einen deutschen Mittelstürmer. Lange, hohe Bälle aus der Abwehr mit dem Kopf verlängern, Flanken ins Tor köpfen, da brauchen die arroganten Sportreporter nicht die Nase rümpfen, es hat immer noch gereicht. Bei der WM in Frankreich schlagen Tarnat und Heinrich gegen Mexiko Dutzende hohe Flanken, immer wieder nichts als hohe Flanken, und drei Minuten vor Spielende köpft Bierhoff den Ball rein, da sollen sie sich in der Welt ruhig über die Banalität des deutschen Fußballs aufregen, so gewinnt man Spiele.

 

Wegen der WM-Übertragungen läuft der Fernseher, wenn Miroslav Klose gegen sechzehn Uhr von der Arbeit nach Hause kommt. Der Vater betrachtet Fußballspiele mit dem konzentrierten Blick eines Studierenden. Er war selbst einmal Profi, ein kleiner, wendiger Außenstürmer in Polens erster Liga. Zum Ende der Karriere, als das kommunistische Polen verzweifelt Devisen brauchte, durfte er sogar ins kapitalistische Ausland wechseln, zu AJ Auxerre nach Frankreich. Wie die meisten Berufsfußballer findet der Vater Reden beim Fußballschauen unangemessen. In der Kirche reden die Leute ja auch nicht.

Der Ton, den Miroslav Klose mit nach Hause kommen verbindet, ist das Rattern der Nähmaschine. Die Mutter näht Gardinen, ändert Kleider, um Geld zu verdienen. Der Vater arbeitet im Schichtdienst bei TDK in Rammelsbach, wobei im Ort geredet wird, wie lange sich das Werk wohl noch hält. Wer hört denn noch Musik von Tonbandkassetten?

Das Rattern der Nähmaschine ist der Ton zur Fußball-WM im Fernsehen. Ihre Wohnung in Kusel hat drei Zimmer, in einer Straße mit siebzehn mehr oder weniger gleichen Blöcken. Vor den Wohnblöcken sind schmale Grasflächen angesät, um die Häuser ansehnlicher zu gestalten. Die Balkone am Haus der Kloses sind aus nacktem Beton. Miroslav teilt sich das Zimmer mit seiner Schwester. Auf der linken Seite stehen sein Bett und sein Schreibtisch, auf der rechten Seite ihr Bett und ihr Schreibtisch. Die Schwester ist dreiundzwanzig. Wenn ihr Freund kommt, ist das kein Problem, er sei sowieso nie da, sagt Miroslav, er sei immer unterwegs: Arbeit, Fußball, Eisdiele, Auto fahren. Und übernachten darf der Freund sowieso nicht.

Miroslav hat nie konkret darüber nachgedacht auszuziehen, sie sind eine Familie, sie gehören zusammen. Wenn ihn einer fragen würde, wann ziehst du aus, dann würde er vermutlich sagen: wenn ich eine Frau habe. Oder wenn er den Eltern das Haus gebaut hat.

 

Seine Wochenenden haben einen klaren Rhythmus. An einem Tag steht ein Fußballmatch an, am anderen geht er arbeiten. Meister Schmitz von B+F hat stets irgendwelche, nun, wie soll er sagen, Privataufträge an Land gezogen, die es in der Freizeit zu erledigen gilt, Dachstühle errichten, Dächer reparieren. Mit Miroslav Klose arbeitet Meister Schmitz gern zusammen. Der Junge redet wenig und leistet dafür umso mehr, vor Emsigkeit geradezu in das Werken auf dem Dach versunken. Miroslav ist immer da, wenn man ihn ruft, pünktlich auch an einem Samstagmorgen.

Einmal ist er am Wochenende in einer Diskothek gewesen. Er war achtzehn geworden und wollte das deshalb einmal ausprobieren. In der Disco stand er neben den Freunden und kam sich plötzlich ungelenk vor. Während ihre Gespräche in der Eisdiele immer flossen und ihn das Gefühl zusammenzugehören wie warmes Badewasser umschloss, wusste er in der Dunkelheit bei dem stampfenden Bass des Tanzlokals nicht mehr, was er sagen sollte. Er war kein Tänzer, und er trank partout keinen Alkohol. Er war glücklich, als es spät genug war, um in der Disco sagen zu können: Ich gehe nach Hause.

Von seinem Lehrlingsgeld hat er sich eine Makita für die Extraarbeit bei Meister Schmitz gekauft. Es fasziniert ihn jedes Mal wieder, wie leicht und geschmeidig die japanische Säge in seiner Hand liegt, ein Meisterwerk der Technik. Nicht selten werden die Balken falsch zugeschnitten vom Sägewerk geliefert, der eine ist fünf Zentimeter zu lang, bei einem anderen ist die Auskerbung nicht tief genug ausgehöhlt. Mit seiner Makita bessert er die Fehler aus. Ohne abzusetzen, trennt er die überflüssigen fünf Zentimeter vom Balken. Zum Abschluss fährt er mit seiner flachen Handfläche über die Schnittstelle, und dabei spürt er die eigenen Schwielen, aber keine einzige Erhebung am Holz. Wie sanft sich das frisch geschnittene, absolut glatte Holz anfühlt.

Außer der Makita hat er sich von seinem Lehrlingsgehalt Fußballschuhe und einen Renault Mégane Coach gekauft, rot, mit polierten Chromfelgen. Er hatte den Wagen eines Morgens auf dem Weg zur Baustelle in einem Autohaus entdeckt. Als er nachmittags zu Hause die Felgen beschrieb, die Kurven der Karosserie, dachte sich der Vater: »Er ist verliebt. In ein Auto.« Jeden Morgen, auf dem Weg zur Baustelle in Altenglan, sah Miroslav den Wagen. Jeden Morgen fand er ihn schöner. Er wurde sein Ziel.

Der Vater gab ihm 5000 Mark von den Ersparnissen. So, findet der Vater, muss es sein: den Kindern helfen, wo es geht, aber ihnen niemals das Gefühl vermitteln, es gäbe im Leben etwas geschenkt. Den Rest des Geldes für den Renault sollte sich Miroslav selbst erarbeiten.

Obwohl sein Verdienst als Zimmermann im ersten Berufsjahr überschaubar ist, fällt es ihm nicht schwer, die monatlichen Raten für den Wagen vom Gehalt abzuzwacken. Das Sparen hat er unbewusst verinnerlicht, seit er als Kind erlebte, wie die Eltern in Deutschland bei null wieder anfangen mussten. Er kann sich gar nicht mehr erinnern, ob die Eltern die Angst aussprachen, die Kredite für den Kühlschrank oder die Möbel nicht zurückzahlen zu können, oder ob die Angst einfach immer da war, im Raum.

Sein erstes Auto hatte ihm der Vater geschenkt, ein ziemlich gebrauchter Golf für tausend D-Mark. Mit dem konnte er sich nicht vor der Eisdiele sehen lassen. Der Wagen hatte lila Blitze auf dem weißen Lack. Irgendwann konnte er das Auto nicht mehr vor den Freunden verbergen, er ließ den Spott über sich ergehen, lila Blitze!, und dann war es auch nicht mehr so schlimm. Aber der rote Renault ist etwas anderes. Den Wagen hat er sich erarbeitet, der Wagen gibt richtig Gas, wenn er in Kusel an den Ampeln beschleunigt, und die Chromfelgen glänzen, während die Reifen kurz durchdrehen. Es gibt in Kusel in der Innenstadt zahlreiche Ampeln, das ist das Gute an der Stadt, sagen die Freunde.

Er weiß, dass viele Menschen dieses Gehabe mit den Autos kindisch finden, und ehrlich gesagt ist es ihm auch nicht so wichtig, wie etwa der Fußball oder das Sägen mit der Makita. Es ist einfach modern, das, was man halt macht: mit dem Auto vor dem Campo beschleunigen, Puff Daddy voll aufgedreht.

Was er wirklich mag, worüber man aber genauso wenig spricht wie über den stillen Blick vom obersten Dachbalken, ist, mit Timo und dessen Vater abends in den Wald zu gehen und nach Tieren Ausschau zu halten. Timos Vater, Herr Weingarth, ist Jäger. Stundenlang sitzen sie still auf dem Jägersitz. Hinter den Bäumen geht die Sonne unter, aber die Helligkeit bleibt an diesen Sommertagen, die dafür gemacht sind, die Natur anzuschauen und sich ohne weiteren Grund glücklich zu fühlen.

Manchmal glaubt Miroslav, ein Geräusch zu hören, ein Knacken des trockenen Holzes am Boden, und er flüstert Timo und Herrn Weingarth zu: »Jetzt kommen sie.«

»Die kommen noch nicht«, sagt Herr Weingarth trocken, und gemeinsam schweigen sie wieder.

Als die Wildschweine schließlich auf die Lichtung treten, versteht Miroslav nicht, woher. Es war doch nichts zu hören gewesen!

Auch der Schuss ist kein spektakuläres Geräusch, ein kurzer, trockener Knall.

Er muss mit anpacken, um das Wildschwein an den Hinterbeinen zum Auto zu tragen, das Schwein scheint fast mehr zu wiegen als er.

Sie hängen den Keiler im Garten auf, die Beine hart zur Seite gebunden, sodass das Wildschwein noch einmal wehrlos wirkt, obwohl es doch schon tot ist. Miroslav und Timo treten zurück, während Herr Weingarth mit dem Messer den Bauch von oben bis unten aufschlitzt und hineingreift. Zielsicher packen seine Hände etwas Hellrotes, Blutgesprenkeltes, Miroslav will nicht hinsehen und kann die Augen doch nicht abwenden.

Er hat auf dem Hochsitz kein Verlangen gespürt, selber ein Gewehr in der Hand zu halten und abzudrücken. Was ihm gefällt, ist, still in der Höhe zu sitzen und zu horchen, während die Spannung steigt. Er mag die Abende, wenn die Wildschweine kommen und sie vom Hochsitz aus tatenlos zuschauen, wenn Herr Weingarth das Gewehr gar nicht dabeihat.

Die Freunde fragen ihn, kommst du mit zur Jagd, kommst du mit in die Eisdiele, sie haben ihn gern dabei, Miroslav ist angenehme Gesellschaft, zurückhaltend, aber bereit mitzulachen. Eine innere Ruhe, die einen wohltuend anstecken kann, scheint von ihm auszugehen. Er selbst ist gern dabei. Auf eigene Initiative macht er wenige Dinge. Nur bei der Arbeit als Zimmermann und, neuerdings, beim Fußball ist ein enormer Selbstantrieb zu erkennen, den die Freunde so nicht entdeckt hatten.

Wenn die Berndt-Brüder, Markus und Michael, ihn mal fragen, ob er mitkommt, zur Kaserne, geht er selbstverständlich hin. Ihr Vater bewirtschaftet die Kantine der Unteroffizier-Krüger-Kaserne auf der anderen Seite der Bundesstraße. Es ist ein Paradies. Sie dürfen, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen, in die tiefe Gefriertruhe greifen und sich ein Eis herausnehmen. Und sie können in der Turnhalle Fußball spielen. Manchmal eilen ein paar Soldaten herbei, wenn sie den Klang des Balls hören, und verlangen mitzuspielen.

Die Berndts haben einen neuen Fußball, einen Tricolore. Es ist schon jetzt, nach wenigen Wochen, Miroslavs Lieblingsball. Optisch gefällt ihm der Ball mit dem kreisförmigen, blauen Muster, und er lässt sich – wegen des Musters – besonders gut köpfen. Wenn der Ball bei der Flanke durch die Luft fliegt, kann Miroslav Klose präzise eine Stelle – einen Kreis des Musters – fixieren, die er beim Kopfstoß mit der Stirn treffen will.

Der Tricolore ist der offizielle Ball der WM 1998 in Frankreich, die am Sonntag mit dem Endspiel zu Ende geht. Die Deutschen sind im Viertelfinale ausgeschieden, 0:3 gegen Kroatien, immer nur Rennen, Flanke und Kopfball, sagen die Leute jetzt, das kann doch nicht gut gehen, das ist doch kein Fußball.

Frankreich und Brasilien stehen im Finale. Frankreich hat Zidane, der sich mit dem Ball am Fuß um die eigene Achse dreht und am Ende der Drehung in eine unvorhersehbare Richtung davonzieht. Das hat man noch nicht gesehen, sie probieren die Finte in der Bundeswehr-Turnhalle aus, mit dem Tricolore. Brasilien hat Ronaldo. Ein Stürmer mit Hasenzähnen, der den Gegnern mitten im Spiel ein freundliches Lächeln schenkt und dann plötzlich antritt, mit einer Schnelligkeit in den Bewegungen, die Verteidiger fragen lässt: Wo kam der jetzt her?

Die Berndts kennen alle WM-Stars. Sie sind die besten Fußballer in Kusel. Markus spielt mit zweiundzwanzig bei den Profis in der ersten Mannschaft des FC 08 Homburg. Michael, zwanzig wie Miroslav, hat beim deutschen Meister 1. FC Kaiserslautern einen Vertrag als Jungprofi.

Miroslav Klose hört ihnen zu, wenn sie von Ronaldo reden. Auch er verfolgt die WM, schließlich ist es Fußball. Patrick Kluivert, der niederländische Stürmer, gefällt ihm, die Leichtigkeit seiner Bewegungen. Aber Miroslavs Interesse an der Weltmeisterschaft bleibt oberflächlich. Es sind Spiele, die vorbeirauschen in seinem Alltag, in seinem Leben zwischen der Arbeit auf den Dächern und den Laufeinheiten im Wald.

 

Jahre später erinnert er sich nicht einmal mehr, ob er das WM-Finale überhaupt angeschaut hat, als alle Welt aufgeregt über Ronaldo redete, Ronaldo, der offenbar am Nachmittag vor dem Endspiel im Hotel zusammengebrochen war, niemand wusste, was geschehen war, Ronaldo, der im Finale gegen Frankreich wie ein betäubter Geist über den Rasen schlich. Alles, was Miroslav Klose von diesem WM-Finale noch ganz genau weiß, ist, dass er am nächsten Morgen wie an jedem Arbeitstag um 5.15 Uhr aufstehen musste.

Dort oben, vier Jahre später

Die Stille des Hotelzimmers nachmittags um zwei macht Ronaldo nervös. Der Trainer hat Mittagsruhe angeordnet, um die Kräfte vor dem Weltmeisterschafts-Finale zu sammeln. Aber die Gedanken wollen nicht ruhen, wegen der Stille fangen sie an zu kreisen. Ronaldo muss an das vorangegangene WM-Finale denken, 1998 in Frankreich, und da durchfährt es ihn: Damals waren die Probleme im Mittagsschlaf gekommen!

 

Krämpfe hatten Ronaldos Körper vor dem WM-Finale 1998 geschüttelt, berichteten Mitspieler hinterher übereinstimmend: Ronaldo Luís Nazário de Lima, der beste Fußballer der Welt, zuckte und schlug beim Mittagsschlaf unkontrolliert um sich. Panisch schrie sein Zimmerkollege Roberto Carlos um Hilfe. Edmundo war einer der Ersten, die eintrafen. »Ronaldo hatte die Zähne zusammengepresst und schlug seinen eigenen Körper«, sagt er. Edmundo rannte sofort wieder aus dem Zimmer, den Gang entlang und trommelte mit der Faust gegen jede Zimmertür, damit endlich irgendjemand kam, der das stoppte. Von den herbeieilenden Mitspielern erinnerte sich einer, César Sampaio, an eine Erste-Hilfe-Schulung. Er zog Ronaldo die Zunge aus dem Hals. Die Krämpfe ließen nach, und Ronaldo schlief übergangslos erschöpft ein, die Mitspieler sagten: wie ein kleines Kind, sechs Stunden vor dem WM-Finale. Der Mannschaftsarzt, Doktor Toledo, befand, ihn am besten schlafen zu lassen.

Als Ronaldo eine Stunde später aufwachte, bleich zum Tee erschien und sich an nichts erinnerte, schickte der Doktor ihn in das Pariser Krankenhaus Les Lilas. Die Ärzte untersuchten das Herz, das Blut, die Pupillen. Medizinisch ließ sich angeblich keine Anomalie feststellen. Hatte er einen epileptischen Anfall erlitten? Hatte die Anspannung den Körper kurzzeitig durcheinandergebracht? Oder konnte ein falsch gespritztes Schmerzmittel die Krämpfe ausgelöst haben? Niemand vermochte es zu sagen.

40 Minuten vor Anpfiff des WM-Finales 1998, später als die meisten Zuschauer, erschien Ronaldo in Tennisschuhen ohne Socken direkt vom Krankenhaus im Stade de France und sagte, er könne spielen. Die Ärzte hatten nichts gefunden.

Nachträglich wurde er auf dem Spielberichtsbogen eingetragen. Brasilien unterlag Frankreich 0:3, und die Leute sagten: Sie spielten wie unter Schock.

 

Ich darf nicht einschlafen, denkt Ronaldo vier Jahre später in einem japanischen Hotelzimmer, im zwölften Stock des Yokohama Prince Hotels, sechs Stunden vor dem nächsten WM-Finale: Ich darf auf keinen Fall einschlafen, sonst wiederholt sich womöglich der Anfall!

Bei der WM 1998 teilten sich die Spieler noch Doppelzimmer, nun, 2002 in Japan und Südkorea, stehen für die großen Teams Einzelzimmer bereit, so entwickelt sich der Spitzenfußball. Allein in einem Zimmer quält Ronaldo beim Einschlafen öfter die Stille. Er schaltet dann den Fernseher ein, damit da wenigstens ein Geräusch ist. Aber im Yokohama Prince Hotel laufen nur japanische oder englische Programme, fremde Geräusche im Fernseher. Er springt vom Bett und läuft aus dem Hotelzimmer.

Im Hotelgang ist es genauso still wie in seinem Zimmer. Seine Mitspieler schlafen fest wie Murmeltiere, denkt er, er kann sie doch nicht aufwecken, vor dem Finale. Also klopft er bei Dida an der Tür. Dida ist der Ersatztorhüter, er wird nicht spielen, er kann auf seinen Schlaf verzichten. Als Dida öffnet, sieht Ronaldo, dass er den Freund aufgeweckt hat.

Den ganzen Nachmittag redet Dida auf seinem Zimmer mit Ronaldo irgendeinen Blödsinn. Hauptsache, es ist halbwegs lustig, Hauptsache, es ist leicht. Hauptsache, Ronaldo findet keine Zeit nachzudenken. Als die brasilianische Mannschaft gut anderthalb Stunden vor dem Anpfiff im Stadion von Yokohama eintrifft, fokussieren sich die Fernsehkameras auf Ronaldo, den besten Torschützen, den großen Star dieser Weltmeisterschaft. Sein Gang wirkt federnd. Als er eine Kamera bemerkt, lächelt er. Er denkt, das habe er als Fußballprofi gelernt: in der Öffentlichkeit immer selbstsicher zu wirken.

 

Die Gegner kommen fast zeitgleich am Stadion an. Aus dem Fenster des deutschen Mannschaftsbusses beobachtet Miroslav Klose fasziniert, mit welcher eingespielten Genauigkeit die Motorradstaffel der japanischen Polizei rund um den Bus zum Stehen kommt: Der Abstand zwischen den einzelnen Motorrädern scheint stets auf den Zentimeter gleich.

Schon während der Fahrt hatte er die Augen nicht von der Motorradstaffel lassen können. Zu einer Pfeilspitze angeordnet fuhren sie vor dem Bus her, und die Ordnung, den exakten Abstand zueinander, behielten sie bei Tempo achtzig in jeder Kurve. Wie von magischer Hand geführt stießen bisweilen einige Motorräder aus der Formation vor, um die nächste Kreuzung abzusperren, und fügten sich, nachdem der Bus vorbeigefahren war, wieder synchron in die Staffel ein. Welch eine Präzision, dachte Miroslav Klose. Wenig fasziniert ihn so sehr wie technisches Geschick von Menschen.

Als der Bus und die Motorräder am Stadion zum Stehen kommen, fällt Miroslav Klose wieder seine Rippe ein. Beim Aufstehen vom Sitz hat sich das Stechen ruckartig gemeldet.

Zwei Rippen sind wohl geprellt, im Halbfinale gegen Südkorea bekam er beim Gerangel um einen hohen Ball einen Schlag ab, er hat gar nicht registriert, ob es ein Kopf oder ein Knie war, das ihn traf, sein Blick war auf den Ball fixiert gewesen.

Der Physiotherapeut hat die zwei Rippen am nächsten Tag ein, zwei Zentimeter zurück in ihre ursprüngliche Position schieben müssen. Langsam, aber bestimmt drückten die Hände des Physiotherapeuten gegen die Knochen. Miroslavs verzweifelte Schmerzensschreie musste er ignorieren, er musste gleichmäßig weiterdrücken, nicht hektisch werden. Mit seinen Fingern kann der Physiotherapeut der deutschen Nationalmannschaft, Klaus Eder, durch Haut und Gewebe hindurchfühlen. Neugierig fragt ihn Miroslav während der Behandlungen oft: »Was spürst du gerade?« Das hat Eder auch noch nicht erlebt, dass ein Fußballspieler wissen will: »Bist du da gerade auf einem Nerv oder auf einem Muskel mit deinen Fingern?«, oder sich nach der Funktion des Rippenbogens erkundigt.

In der Umkleidekabine von Yokohama legen die Physiotherapeuten Miroslav Klose ein oranges Schaumstoffpad an, das die Rippen gegen Schläge und Erschütterungen schützen soll. Es ist zentimeterdünn, damit Kloses Bewegungen nicht eingeschränkt werden; und damit es die Brasilianer nicht entdecken. Sonst käme einer ihrer Verteidiger womöglich noch auf die Idee, Klose in einem Zweikampf absichtlich dort zu treffen. Die meisten Profifußballer halten sich für fair. Aber ihren Gegnern trauen sie alles zu.

Das Schaumstoffpad hat sich Miroslav Klose in den Tagen vor dem Finale selbst zurechtgeschnitten. Er probierte es an, er fühlte, es zupfte noch irgendwie an einer Ecke, also nahm er die Schere der Physiotherapeuten und besserte mit sicheren Schnitten nach. Er hat nicht gezählt, wie oft er den Rippenschutz testete und korrigierte, bis er zufrieden war. Es erscheint ihm selbstverständlich, dass er das Schaumstoffpad eigenständig angepasst hat. Materialien sauber zu schneiden, hat er gelernt, das erledigt er noch immer gern, auch wenn er nun, plötzlich, nicht mehr Zimmermann im Pfälzerwald ist, sondern der Herausforderer von Ronaldo im Duell der besten Torjäger bei der Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea.

 

Während einer WM, 1998 in Frankreich, baute Miroslav Klose Dachstühle, lief abends beim Konditionstraining eines Fünftligisten den anderen hinterher und sah beiläufig Ronaldo im Fernsehen. Bei der nächsten WM, 2002, gehen Ronaldo mit sechs Treffern und Miroslav Klose mit fünf als beste Torschützen des Turniers ins Finale. Üblich ist so ein Weg nicht.

Karrieren im modernen Spitzenfußball verlaufen wie bei Ronaldo: Schon von Kindheit an ist das Leben auf den Hochleistungssport zentriert. Mit vierzehn zog er des Fußballs wegen von zu Hause aus; ein Proficlub aus Belo Horizonte verpflichtete ihn als Wette auf die Zukunft. Auf einmal lebte er sechs Autostunden von der Familie entfernt, mit vierzehn. Später holte ihn die PSV Eindhoven nach Europa. Da war er siebzehn, noch immer ein Junge. Eindhoven zahlte knapp zehn Millionen D-Mark Ablöse für ihn.

Je länger Miroslav Klose neben den Ronaldos dieser Welt auf höchstem Niveau spielte, desto klarer wurde der Gedanke: Einen wie ihn wird es nicht mehr geben. Der bis zwanzig ausschließlich im Bezirksligaclub seiner Kleinstadt spielte. Und dann Weltmeister wurde.

Während der langen Jahre seiner Karriere veränderte sich um ihn herum der Profifußball. Am Anfang war er der einzige Nationalspieler aus einem Amateurclub unter Kollegen, die in den Jugendteams von Bayern München oder dem Karlsruher SC gelernt hatten. Später tauchten neben ihm Jungen wie Manuel Neuer oder Toni Kroos auf, die seit ihrem sechsten oder zwölften Lebensjahr in Nachwuchsleistungszentren ausgebildet worden waren, wo sich selbst die Schule nach dem Training richtete. Die Lebenswege großer Fußballer wurden immer uniformer, Cristiano Ronaldo war mit elf allein ins Fußballinternat nach Lissabon gezogen, Tausende Kilometer von der Heimat entfernt, Lionel Messi hatte mit dreizehn seine gesamte Familie auf einen anderen Kontinent gebracht, damit er beim FC Barcelona spielen konnte. Manche erhielten mit siebzehn, als Jugendspieler, von ihren Vereinen schon 4000 oder 5000 Euro im Monat. Den meisten standen zur Karriereplanung Spielerberater zur Seite, seit sie sechzehn waren. Und der beste Torschütze aller Weltmeisterschaften wurde Miroslav Klose.

Wie war das möglich? Die Frage stellt er sich selbst, kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag, als wir beginnen, für diese Biografie auf sein Fußballerleben zurückzublicken. Etliche berühmte Fußballer lassen heute ihre Biografien schreiben, während sie noch mitten in der Karriere stecken. Miroslav Klose hätte das nie gemacht. Es fühlt sich nicht richtig an. Eine Biografie muss man sich verdienen, mit einer abgeschlossenen Lebensleistung, einem außergewöhnlichen Lebenslauf. Fritz Walter, der Mannschaftskapitän der ersten deutschen Weltmeister, schrieb auch erst nach dem Triumph 1954 sein Buch. Miroslav Klose bewundert niemanden im Fußball so sehr wie Fritz Walter, der vor siebzig Jahren spielte.

Er selbst hat nicht allzu viele Biografien gelesen, die des Tennisspielers Andre Agassi fällt ihm ein und die eines Chefs der Hells Angels. Er lächelt bei der Erinnerung, »damals dachte ich, das könnte für mich interessant sein. Ich war wohl jung.« Wie immer, wenn sich Miroslav Klose auf einem Gebiet nicht tiefergehend auskennt, äußert er sich auch im Gespräch über Bücher vorsichtig, mit Respekt für die Fachleute. Wie gesagt, er ist da kein Spezialist, aber er hat diese Vorstellung: In einer Biografie lernt im Idealfall der Protagonist selbst einiges über seinen Weg.

 

Zur Mittagessenzeit, was doch keine Zeit für ein WM-Finale ist, warten Miroslavs Eltern und die Schwester am 30. Juni 2002 in Kusel darauf, dass sein Gesicht im Fernsehen erscheint. Aufgrund der Zeitverschiebung ist Deutschland Japan sieben Stunden hinterher. Die Mutter und die Schwester sind sich sicher, dass sie seine Gemütslage vor einem Spiel im Fernsehen erkennen können, in seinen Gesichtszügen. Der Vater sagt dazu nichts.

Sie schauen das WM-Finale bei seiner Tante Renata. Sie war die erste der Kloses, die nach Deutschland auswanderte, mittlerweile sind von den fünf Geschwistern des Vaters alle im Land. Es ist in der Kürze der Zeit, in der Miroslav für Deutschland spielt, eine Tradition geworden, dass sie die Übertragungen der Länderspiele als Großfamilie gemeinsam schauen. Das fühlt sich wie der ideale Rahmen an, um das emotionale Durcheinander durchzustehen, in das Miroslavs Fußball sie stürzt. Unter Brüdern und Schwestern, Tanten und Onkel sind sie nicht allein und nicht unter Beobachtung.

Einmal während der WM in Japan und Südkorea sahen die Kloses ihren Balkon im Fernsehen. Die Journalisten wollten zeigen, woher Miroslav Klose kommt, der Fußballer, der wie aus dem Nichts kam.

Die vielen Reporter, die schlagartig nach Kusel eilen, um über Miroslavs Ursprünge zu berichten, erscheinen den Eltern und der Schwester als Last. Sie wollen keine Interviews geben. Sie finden, das gehöre sich nicht – das könnte doch so aussehen, als wollten sie sich in Miroslavs Erfolg sonnen. Auch wollen sie unter keinen Umständen etwas Falsches, etwas Lächerliches sagen, was Miroslav schaden könnte.

Einmal spricht ein Fotograf den Vater auf der Straße vor ihrer Wohnung an.

»Entschuldigung. Können Sie mir sagen, wo die Familie Klose wohnt?«

»Oh, das weiß ich nicht«, entgegnet der Vater. »Ich lebe erst seit zwei Wochen hier. Tut mir leid.«

Sie wohnen unverändert in der Straße Unterm Feist. Nur die Schwester ist nach ihrer Hochzeit ausgezogen, seitdem hat Miroslav, als Bundesligaprofi und Nationalspieler, das einstige Kinderzimmer für sich allein.

Nach der Weltmeisterschaft, irgendwann im Herbst, wird auch er ausziehen. Er ist vierundzwanzig, er hat eine Freundin. Er baut in Blaubach ein Haus, einen Kilometer von Kusel entfernt. Das Dach hat er bei seinen ehemaligen Kollegen von B+F Holzbau in Auftrag gegeben. Bevor er zur WM reiste, schaute er nachmittags, nach dem Training beim 1. FC Kaiserslautern, immer auf der Baustelle vorbei. Als er die Kollegen die Holzbalken zurechtschneiden sah, konnte er nicht mehr zusehen. Er packte mit an. Er stieg selbst auf die Firstpfette, um die Seitenbalken zu befestigen. Es erschien ihm als das Natürlichste der Welt.

Nun, während seiner Abwesenheit wegen der Weltmeisterschaft, kümmert sich sein ehemaliger Jugendtrainer um die Bauaufsicht, Erich Berndt, der Vater von Markus und Michael. Manchmal, wenn sich am Bau ein Problem auftut, ruft Herr Berndt zwischen Viertel- und Halbfinale bei Miroslav in Japan an, natürlich nur in dringenden Fällen, die Treppe in den Keller etwa erscheint ihm zu eng, da kommt doch niemand mit einem Wäschekorb durch. Miroslav selbst ruft jeden Tag bei den Eltern an. Dass er an der Rippe verletzt ist und unter furchtbaren Schmerzen leidet, sagt er ihnen nicht. Er will sie nicht mit Sorgen belasten.

Niemand soll von der Schwere der Verletzung erfahren. Ein Profi jammert nicht.

Im Finale nicht zu spielen, ist keine Option. Es ist ein WM-Endspiel.

Außerdem hat Deutschland nur einen Mittelstürmer von Format, fühlt Bundestrainer Rudi Völler. »Wären die Alternativen andere gewesen, hätten wir uns überlegt, den Miro draußen zu lassen«, sagt er. Aber Carsten Jancker lag nach dem Halbfinale mit 40 Grad Fieber im Hotelbett, ein Virus, »bei Jancker ging nichts mehr«, sagt Völler, »und Oliver Bierhoff hatte seinen Zenit überschritten. Miros Aufstellung war eigentlich alternativlos.«

So werden auch die Journalisten nur nebenbei und im harmlosen Ton über eine Rippenprellung bei Miroslav Klose informiert. Man braucht daraus kein Thema machen. Stattdessen ist er damit beschäftigt, den internationalen Sportreportern die unterschiedlichen Handwerksberufe zu erklären: »Bitte schreiben Sie nicht, dass ich Dachdecker war.«

 

Als die brasilianischen Spieler nach dem Aufwärmen in Yokohama noch einmal in die Umkleidekabine zurückkehren, 30 Minuten vor dem Anpfiff, sehen sie, dass ihr Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari dort einen großen Fernsehbildschirm aus dem Hotel hat aufbauen lassen. Ohne etwas zu erklären, bringt der Trainer ein Video zum Laufen. Journalisten des Fernsehsenders Globo haben es auf seine Bitte hin angefertigt; als ob sie nicht Berichterstatter, sondern Mitarbeiter der Nationalelf wären.

Im Bild erscheinen die Heimatorte der Nationalspieler, einer nach dem anderen. Mädchen schmettern »Brasil!« in die Kamera, Strommasten sind mit grünen und gelben Girlanden geschmückt. Der Film läuft schon ein wenig, als Ronaldo plötzlich die Straßen von Bento Ribeiro erkennt, im Norden Rio de Janeiros. Dort wurde er groß. Die Eltern arbeiteten als einfache Angestellte in einer Telefongesellschaft, ihr Haus war nicht groß, Ronaldo, der Jüngste der drei Geschwister, schlief auf der Wohnzimmercouch. Er zählte seine Familie zur Mittelklasse.

18 000 Kilometer entfernt, in der Umkleidekabine kurz vor dem WM-Finale, lösen die Fernsehaufnahmen aus Bento Ribeiro bei Ronaldo einen Strom der Erinnerungen aus: Die Mauern der Häuser sind von Kinderhänden mit der brasilianischen Flagge und auch seinem Konterfei bemalt. So wie er zwanzig Jahre zuvor, zur WM 1982, mit den anderen Kindern der Straße die Wände in den brasilianischen Farben bemalte. Zur Übertragung der Spiele lud sie damals oft ein älterer Nachbar ein, es gab Pommes frites und Limonade, das waren Festtage, den Namen des Nachbarn hat Ronaldo nicht vergessen: Herr Renato.

Als der Film zu Ende ist, muss der Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari nichts sagen. Jeder weiß: Jetzt geht es los.

 

Miroslav Klose muss hoch, in die Lüfte, kaum hat das Finale begonnen. Oliver Kahn, der Torwart, schlägt den Ball weit und hoch in die brasilianische Spielhälfte, damit ihn Klose mit seiner Kopfballstärke behaupten kann. Aus den Niederlanden und Spanien verbreitet sich schon seit einigen Jahren die Idee, dass der Torwart als erster Aufbauspieler den Ball über kurze Distanz präzise und flach zu den Verteidigern passt, denn je einfacher, je genauer der Pass, desto größer die Chance, den Ball zu behalten. Bei langen, hohen Abschlägen dagegen steht die Chance fünfzig zu fünfzig, ob die eigene oder gegnerische Mannschaft den Ball erobert. Aber mit langen und hohen Abschlägen ist man zumindest schon mal dem gegnerischen Tor nahe, und dann muss eben der Zufall helfen. Kahns Abschläge sind, für einen Mann von Weltklasse, miserabel. Viel zu hoch und unpräzise fliegen sie. Sie fallen steil, schwer wie Steine, aus dem Himmel und sind für den Stürmer deshalb schwierig zu kontrollieren. In den ersten zehn Spielminuten schlägt Kahn den Ball sechsmal weit ab. Sechsmal steigen Miroslav und sein Bewacher Edmílson hoch. Einmal, am linken Flügel, schlägt Miroslav dabei seinem Gegner versehentlich den Ellenbogen auf die Schulter, einmal, am rechten Flügel, knallt ihm Edmílsons Ellenbogen in den Rücken. Der Ball hüpft meistens unkontrolliert aus ihrem Duell davon. Die Mutter und Schwester in Kusel sehen nach diesen Luftkämpfen in Miroslavs Gesicht. Es ist regungslos starr. Nichts ist darin zu sehen als absolute Konzentration. Den Schmerz, der ihn bei jedem Absprung von der Rippe aus durchflutet, verarbeitet er innerlich. Er macht sowieso das meiste in seinem Inneren mit sich aus, findet die Schwester, Marzena.

Ronaldo lauert. Klaus Eder, sein Freund, der Physiotherapeut, hat Miroslav Klose gesagt, er hätte Ronaldo mal früher sehen sollen. Früher im Fußball bedeutet vor wenigen Jahren. Ronaldo nahm den Ball und rannte einfach los, rannte brachial durch Abwehrreihen hindurch, in seinen Schritten lag eine so unglaubliche Energie, dass es manchen Betrachter vom Stuhl riss; ob sie wollten oder nicht, die Zuschauer mussten aufspringen.

Ronaldo hat ein neuer Spieler werden müssen. Ende 1999 riss die Patellasehne im rechten Knie, vier Monate später stand er im italienischen Pokalfinale gegen Lazio Rom wieder für Inter Mailand auf dem Fußballfeld, rannte wie immer los, rannte an Fernando Couto vorbei und sank, ohne Gegnerkontakt, abrupt zu Boden. Die Sehne war erneut gerissen. Sechs Minuten hatte sein Comeback gedauert.

Erst drei Monate vor der Weltmeisterschaft in Japan kam er zurück, nach anderthalb Jahren ohne Fußball. Das Knie erlaubt es ihm nicht mehr, alle zu überrennen. Er wartet, er lauert, in Tornähe des Gegners. In der Kunst des Zuschlagens ist er immer noch unübertroffen. Miroslav Klose hat ihn während der bisherigen WM-Spiele studiert, er betrachtet in einem Fußballspiel nie, was passiert, sondern was gemacht wird. »Ronaldo nimmt den Ball in einer schnelleren Geschwindigkeit an als praktisch alle anderen«, registriert er, »egal, wie schwierig der Ball kommt, hoch, halbhoch, flach, holprig, er hat ihn sich sofort perfekt zum Schuss zurechtgelegt.« Die Zeitungen nennen Kloses Namen im selben Satz wie den von Ronaldo. Er nimmt sich vor, soweit es geht, von Ronaldo zu lernen.

Die Deutschen haben fünf Verteidiger aufgeboten, um die drei brasilianischen Stürmer aufzuhalten, Ronaldo, Ronaldinho, Rivaldo. So wie ihre Namen in Reihe klingen, so spielen sie bei dieser WM: exotisch schön. »In diesem mittelmäßigen Turnier«, schrieb der Maestro des Fußballjournalismus Santiago Segurola in der spanischen Zeitung El País zum Finale, »entpuppte sich Brasilien als eine Art letztes Naturschutzgebiet für den Angriffsfußball.« Bei den Deutschen dagegen, notierte Segurola, »das Übliche: Flanke und Kopfball.«

Über zwanzig Jahre lang hatten sich die Deutschen im Fußball auf den Willen fixiert. Sie mussten es nur mehr wollen als der Gegner. Jegliche Biederkeit im Spiel wurde vor sich selbst damit gerechtfertigt, dass dies eben die deutschen Tugenden seien: rennen, kämpfen, niemals aufgeben. In den vier Jahren seit der WM 1998 war die Irritation darüber, dass Athletik und Weitermachen nicht mehr reichen sollten, Kleinmut gewichen. Wir haben halt keine tollen Fußballer mehr, sagten die Deutschen neuerdings. »Es war die Phase, als es in Deutschland gerade an Offensivakteuren extrem mangelte«, erinnert sich Rudi Völler. »Wegen Härtefällen musste ich mir bei der WM-Nominierung 2002 keine Sorgen machen.«

Als inmitten der Dürre aus dem Nichts ein Angreifer wie Miroslav Klose auftauchte, fühlte Völler: »Er ist ein Geschenk.« In der Tat, dachten nicht wenige Deutsche, war dies die einzige verbliebene Art, wie sich in diesem Land noch ein großartiges Talent finden ließ: Es fiel vom Himmel.

Dass sie schon dabei waren, das wahre Problem, die monotone Ausbildung der Talente, zu lösen, merkten die Deutschen 2002 selbst nicht. Es war eine kleine Gruppe von Jugendtrainern um den Brückenbau-Ingenieur Helmut Groß in Stuttgart oder Ernst Tanner in München, die, unbemerkt von der Öffentlichkeit und sogar von den Machern im Profifußball, mit neuen kreativen Trainingsformen die Talentförderung revolutionierten. Die Deutschen jedoch glaubten 2002, es werde immer so weitergehen mit der Biederkeit, und so staunten sie dankbar, dass sie trotzdem, irgendwie, ins Endspiel gekommen waren, mit drei 1:0-Siegen von Achtel- bis Halbfinale.

Das Finale aber will sich nicht an das angedachte Skript mit biederen Deutschen und sprühenden Brasilianern halten. Vom ersten Moment an, vom ersten weiten Abschlag Oliver Kahns hoch in den japanischen Abendhimmel, ist Tempo im Spiel. Jedes Fußballspiel hat seine eigene Melodie, dem Klang von Yokohama traut man erst nicht, kann es wirklich wahr sein, aber schon bald ist es nicht mehr zu überhören: Die Melodie dieses Endspiels ist hell und pfiffig, getragen von einer enormen Spielfreude. Es geht hin und her, beide Teams missachten das Mittelfeld mit langen Bällen aus der Abwehr, aber das wirkt nicht hölzern, sondern flott. Die Aktionen der Deutschen sind flinker, auch filigraner, frecher, wenn Neuville und Schneider am Ball sind. Und da schickt Neuville schon Schneider mit einem Flachpass den rechten Flügel hinunter. Mit einem Hackentrick leitet Schneider den Ball überraschend zu Frings weiter, Frings macht daraus einen Doppelpass zurück zu Schneider, wenn das nicht brasilianisch ist! Schneider setzt seine niedrige Flanke so, dass sie am Fünfmeterraum aufsetzt, damit der Ball durch den Aufprall für die brasilianischen Verteidiger unberechenbar wird. Das ist der Moment!

In einer Zeit, die ein Schmetterling zum Flügelschlag benötigt, steigert Miroslav Klose sein Tempo von Dauerlauf auf Sprint. Er zieht aus der Mitte des Strafraums in Richtung rechter Pfosten, aber nur einen Schritt, nur eine Finte, schon sprintet er in die andere Richtung, auf den hinteren Torpfosten zu, so steht er ungedeckt, einschussbereit, vier Meter vor dem Tor. Edmílson, der versuchte, unbeeindruckt von Kloses Manöver den Flug der Flanke vorauszusehen, grätscht am vorderen Pfosten in Not nach dem hereinfliegenden Ball. Gerade noch lenkt er ihn über die Torauslinie. Miroslav Kloses rechter Fuß war schon in der Luft; angehoben, um das Tor zu schießen.

Das Spiel geht weiter, die Zuschauer vergessen die Szene bereits wieder, es war doch nur eine Torchance, die keine wurde. Miroslav Klose wird den Moment sechzehn Jahre später noch abrufen können. Das Leben eines Torjägers besteht zum Großteil aus knapp verpassten Möglichkeiten.

Ronaldo wartet.

Bei allem Entzücken über Brasiliens offensive Wucht wird im Endspiel noch mehr als in den bisherigen WM-Spielen deutlich, dass Brasiliens Schönheit ausschließlich im letzten Drittel des Spielfelds lebt. Den Ball so schnell wie möglich nach vorne, zu den drei Rs, so lautet die schnöde Marschroute. Sie kommen selten so weit. Gewaltlos, geradezu artistisch sind die Grätschen, mit denen die deutschen Verteidiger Ramelow und Linke erfolgreich einschreiten. Die Leute glauben, einer wie Ramelow stehe dafür, was dem deutschen Fußball fehle, nur Handwerker überall, aber dieser Ramelow spielt spektakulär, im WM-Finale, er blockiert Ronaldo, und seine Pässe nach vorne sind mutig, scharf; prächtig. Dann, auf einmal, lässt Ronaldinho ein Anspiel einfach durchrollen, durch die Lücke zwischen den überrumpelten Ramelow und Metzelder. Ronaldo sprintet schon. Diagonal vom Flügel kommend erreicht er den Ball im Strafraum frei vor Torwart Kahn. Er tritt den Ball sofort mit dem Außenrist des näheren Fußes, dem linken. Er trägt, das erlaubt sich sonst niemand, silberne Fußballschuhe. Sein Schuss fliegt deutlich neben das Tor. Doch wer ein Gespür für das Spiel besitzt, hat wohl verstanden: Die Deutschen spielen beachtlich, aber ihre Anstrengungen bleiben bemüht. Die Brasilianer dagegen brauchen keine Dominanz. Sie flackern kurz auf und sind gefährlich. Ihr Spiel ist die Plötzlichkeit.

Kommt Ronaldo an den Ball, verschwinden die Zuschauer im Stadion hinter Tausenden weißen, blitzenden Lichtern. Die Japaner verfügen in ihren Handys über eingebaute Fotokameras, das hat man noch nicht gesehen, die Japaner sind bei technischen Geräten immer so weit voraus. Die Tausenden Blitzlichter der Fotohandys, die er unterschwellig auf sich spürt, erscheinen Ronaldo auch noch nach fünf Wochen Weltmeisterschaft kurios. Miroslav Klose verblüfft der Klang eines japanischen Fußballstadions. Die Schreie der Massen sind höher, schriller als in Europa, nicht so kriegerisch dumpf. Sie feuern nicht aggressiv an, sondern drücken bei gelungenen Aktionen der Fußballer laut Erstaunen aus. Seine Konzentration ist während jeder Partie aufs Äußerste auf das Spielgeschehen gerichtet, und trotzdem, sagt Miroslav Klose, kriege ein Fußballprofi die Regungen der Zuschauer mit, manchmal sogar einzelne Rufe.

Die Halbzeitpause unterbricht das Spiel nicht – es geht danach genauso weiter. Die Deutschen bleiben fleißig, Neuville schießt einen Freistoß vehement an den Pfosten, man glaubt, den Pfosten wackeln zu sehen. Die Brasilianer schlagen zu. Gilberto Silva wuchtet aus nächster Nähe einen Kopfball auf das Tor, Kahn hält, aber der Ball rutscht ihm aus den Händen, das kennt man nicht von ihm, Gilberto stochert nach dem freigegebenen Ball. Er stupst ihn knapp am Tor vorbei. Kahn schaut theatralisch auf seine Hände, wie konnten sie ihn so unerwartet im Stich lassen? Doch es ist kein Schaden entstanden – und so etwas passiert einem wie ihm doch sicher nur einmal.

»Das ist ein fantastisches Endspiel, das beste seit vielen Weltmeisterschaften«, denkt Santiago Segurola, der selbst Weltmeister wäre, gäbe es den Titel für Fußballjournalisten.

Miroslav Klose legt den Ball mit der Fußspitze an Roque Júnior vorbei, schlägt einen Haken, zieht nach innen, er holt aus, achtzehn Meter zum Tor, zentrale Position; ideale Position. Der Ball rutscht ihm beim Schuss über den Spann und fliegt Richtung Eckfahne. Die Rippe sendet heiße Wellen aus.

Er ist unermüdlich eifrig, in mancher Szene wirkt es, als bringe ihn die Schnelligkeit des Finales an seine Grenzen, die Koordination verrutscht ihm dann, aber er stakst, er stupst den Ball irgendwie weiter, er gibt ihn den Brasilianern nicht her. Er hat seine fünf WM-Tore allesamt in der Vorrunde erzielt, drei Spiele ohne Treffer liegen dazwischen, vor dem Finale hat er sich deshalb selbst zugeredet, »du hast dir das sechste Tor nur für das Endspiel aufgehoben«.

Bei Kopfballduellen achtet er darauf, auf der rechten Seite des Gegners hochzuspringen, beim Dribbling geht er nach Möglichkeit links am Gegner vorbei. Damit seine verletzten rechten Rippen auf der sicheren Seite sind. Objektiv gesehen ist es nur schwer möglich, derart gehandicapt Höchstleistung abzurufen. Es ist, nach nur wenigen Jahren im Profisport, eine vertraute Situation: Er ist eingeschränkt und wird selbstverständlich an seinem höchsten Niveau gemessen.

Ronaldo senkt den Kopf und wackelt mit den Schultern, als er ins Dribbling geht. Linke bleibt einfach gerade stehen und schnappt ihm den Ball vom Fuß. Welche Kühle! Ronaldo fällt von der Wucht des Zusammenpralls mit dem Deutschen zu Boden.

Der Ball ist schon bei Hamann. Ronaldo springt auf, als hätte er etwas entdeckt, er fliegt, stemmt seinen Körper in Hamann, »Foul!«, schreit Rudi Völler an der Seitenlinie, und niemand hört ihn. Ronaldo fischt einmal mit dem Fuß nach dem Ball, zweimal, dann hat er ihn Hamann geklaut. Steil saust Ronaldos Pass auf Rivaldo am linken Strafraumeck, sein Schuss ist flach, halbwegs hart, Oliver Kahn begräbt ihn unter sich. Denkt doch jeder im Stadion. Ronaldo aber sprintet auf Kahn zu, als wäre die Aktion noch nicht zu Ende. Im Training während der Weltmeisterschaft hatte ihm der Trainer verboten, Abstauber zu üben, Scolari fürchtete, der Torwart oder der Stürmer könnten sich verletzen, wenn sie beide frontal mit voller Wucht aufeinander zujagten, der Ball zwischen ihnen. Seinen Jagdinstinkt allerdings verliert Ronaldo nicht durch Trainingsverbote.

Stürmer wie er oder Miroslav Klose sehen auf dem Spielfeld Situationen, die entstehen könnten. Sie sind Spekulanten. Also rennt Ronaldo auf Kahn zu. In dem Moment, in dem der beste Torwart der Welt den Ball an die Brust ziehen will, rutscht er ihm aus den Händen. Das passiert ihm einmal bei tausend vergleichbaren Schüssen. Es gibt nur einen, der diese Möglichkeit in Betracht gezogen hat. Ronaldo jagt heran und schiebt den Ball mit dem Innenrist ins Tor.

Es sind noch 23 Minuten zu spielen, aber es fühlt sich wie das Ende an.

 

Ein Trainer darf nicht glauben, dass es vorbei ist. Er muss gegen sein Gefühl hoffen, dass sie noch die Wende schaffen, und so wechselt Rudi Völler eine Viertelstunde vor dem Abpfiff einen neuen Stürmer ein. Auch wenn Völler nicht mehr wirklich von Oliver Bierhoffs Fähigkeiten überzeugt ist. Doch er hat sonst keinen. Miroslav Klose trabt dafür vom Spielfeld, mit seinem typischen Laufstil, die Schultern wirken leicht angezogen, die Ellenbogen sind im 90-Grad-Winkel gebeugt. Die Augenlider hat er gesenkt. Ihm muss niemand sagen, wie er gespielt hat, das weiß er stets selbst, die Ausreden von Freunden und Bekannten, die es gut mit ihm meinen, interessieren ihn nie, »die Flanken waren aber auch miserabel«, »der Rasen war zu hoch, die Sonne zu niedrig«. Er weiß, dass ihm in diesem WM-Finale die meisten Sachen fast gelangen. Aber nie das eine Mal so ganz.

 

Auch Ronaldo wird ausgewechselt, ganz kurz vor Schluss. Der Trainer schenkt ihm diesen Triumphzug. Die Zuschauer erheben sich, die Blitzlichter der Handys werden zum Gewitter. Ronaldos Augen schimmern. Vor einem Jahr hatte sein Arzt gesagt, er wisse nicht, ob Ronaldo jemals wieder Fußball spielen werde.

Von irgendwo spielen unsichtbare Hände den brasilianischen Fußballern auf der Auswechselbank Landesflaggen zu, Ronaldo legt sie sich um den Hals, und als der Abpfiff ertönt, läuft er los, längs über den Rasen. Weil die Freude im Stillstand nicht auszuhalten ist, muss er noch einmal laufen, nach dem Schlusspfiff. Die grün-gelbe Fahne auf seinem Rücken weht im Fahrtwind. Nach einer Bahn aus Sprinten, Hüpfen, Tanzen bleibt er stehen und schaut auf einmal ernst. Etwas ist ihm eingefallen. Er geht, als erster brasilianischer Spieler, zu den Gegnern, um den Deutschen die Hand der Fairness zu reichen. Sein zweites Tor zum 2:0 war nur noch eine bürokratische Bestätigung.

In den Katakomben des Stadions drängen sich die Reporter, um Ronaldo die ersten Fragen nach dem Sieg zu stellen: Ronaldo, was war schwieriger, die WM zu gewinnen oder die fünf Wochen auf Sex zu verzichten?

»Beides war schwierig. Aber eine Weltmeisterschaft spielt man nur alle vier Jahre. Und Sex werde ich gleich wieder haben.« Freude, sieht man in seinem Gesicht, berauscht mehr als Alkohol.

Drei Tage lang hat Ronaldo wenig Zeit zu schlafen. Auf dem Rückflug nach Brasilien feiern die Spieler mit einer wilden Kissenschlacht. Beim Empfang in der Hauptstadt Brasília heftet ihm Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso die Ehrennadel des Landes ans Revers. Ronaldo schreit laut auf. Entweder hat ihn die Nadel durch das Polohemd hindurch tatsächlich ins Fleisch gestochen, oder er hat es als Scherz exzellent geschauspielert. Die Mannschaft fliegt weiter, von Brasília nach Rio, von Rio nach São Paulo, ein Empfang genügt nicht, überall wollen die Menschen sie sehen. Ronaldo, berichten die Fernsehreporter, sei aber in Rio ausgestiegen. Er wolle dort seine eigene Party feiern.

 

Am Römer, dem historischen Frankfurter Rathaus, wo traditionell Sieger empfangen werden, versammeln sich am Montag danach Zehntausende, um die Verlierer zu feiern. Das gab es in Deutschland noch nicht, einen Empfang für eine Nationalelf ohne Pokal. Überhaupt ins Endspiel gekommen zu sein, gilt als Erfolg in Zeiten der Biederkeit. Und eine neue gesellschaftliche Lust ist erwacht: in Massen zu feiern. Es entsteht ein neues deutsches Wort dafür: Event.

Oben auf dem Römerbalkon, die Masse zu Füßen, hält sich Miroslav Klose eher am Rand. Er lächelt leise vor sich hin. Es sieht aus, als staune er über die vielen Fans, aber auch als würde ihn ihre Freude anstecken. Ein zweiter Platz ist doch gar nicht so schlecht.

Klaus Eder ist bei ihm. Ach, übrigens, sagt der Physiotherapeut, bevor Miro in den Urlaub reise, solle er sich doch noch mal die Rippen anschauen lassen. »Ich denke, zwei Rippen sind angebrochen.«

»Wie? Ihr habt mir doch gesagt, die seien nur geprellt!«

»Ja, da konnte man vor dem WM-Finale doch nicht so richtig drüber reden.«

Miroslav Klose versteht sofort. Er hat also das Endspiel mit zwei angebrochenen Rippen bestritten. Um ihn im Finale nicht zu verunsichern, hat ihn bloß niemand über die Schwere der Verletzung unterrichtet. Er muss lachen. Er denkt, das hat der Mannschaftsarzt gut gemacht: ihn so auszutricksen.

Denn im Weltmeisterschaftsfinale spielt jemand wie er nur einmal im Leben. Davon ist er überzeugt, als er die Treppen des Römers hinuntersteigt. Die tolle Zeit, das Duell mit Ronaldo um den Titel des besten Torschützen der Weltmeisterschaft 2002, liegt hinter ihm. Und niemand ahnt, dass das Duell erst begonnen hat.

Die jungen Jahre

1 Im Land der schnurrenden Autobahnen

Als er nach einer Nacht im Auto auf dem Rücksitz erwachte, merkte Miroslav Klose, dass das neue Land anders klang. Das vertraute, dumpfe Bumm war verschwunden, das in Polen regelmäßig alle paar Sekunden zu hören gewesen war, wenn ihr Ford Escort wieder über eine der Rillen zwischen den Betonplatten der Autobahn rollte. In Westdeutschland war der Asphalt der Straßen aus einem Guss, erklärte ihm der Vater, da gab es keine Rillen. Dann war ja zumindest schon einmal eine Sache besser als zu Hause, dachte sich Miroslav.

 

Der Vater hatte bei der Arbeit in Opole Bescheid gegeben, dass er für eine Ohrenoperation in die Bundesrepublik reise. Er hörte auf einem Ohr schlecht. Den Kindern hatte er eingeschärft, sie dürften auf keinen Fall jemandem verraten, dass sie nicht mehr zurückkämen. Miroslav war neun, er verstand die Anspannung in den Worten des Vaters. Sie waren dabei, etwas Unerlaubtes zu tun.

Gemessen daran, dass ein Eiserner Vorhang Ost- und Westeuropa trennte, waren die Kloses geradezu Routiniers der Ost-West-Reisen. Von 1978 bis 1984 hatte der Vater als verdienter Fußballspieler seine letzten Karrierejahre im kapitalistischen Ausland verbringen dürfen, so erhielt die Familie in jenen Jahren die seltene Genehmigung, zwischen den beiden politischen Blöcken hin- und herzureisen. Am innerdeutschen Grenzübergang Herleshausen, auf den ersten oder letzten Metern westlichen Bodens, machte der Vater jedes Mal an derselben Tankstelle Rast, trank ein kleines Bier und aß eine heiße Bockwurst. Den Moment genoss er.

Diese Reise im August 1987 war die erste, auf der Josef Klose und seine Frau Barbara Angst hatten. Sie hatten keine konkrete Vorstellung, was geschah, falls sie als Republikflüchtlinge ertappt würden, ob ihre Reisepässe für immer eingezogen würden oder der Vater womöglich gar seine Arbeitsstelle verlor. Sie wussten nur, dass sie es sich selbst nicht verzeihen würden, falls ihnen die Ausreise misslang.

 

Schon das Abheben der Ersparnisse auf der Bank in Opole erschien der Mutter wie eine Straftat, obwohl sie doch nur ihr Geld holten, ihre Devisen, die der Vater rechtschaffen als Fußballer in Frankreich verdient und diszipliniert zur Seite gelegt hatte. Die Mutter blieb mit den zwei Kindern im vollgepackten Auto und beobachtete, wie ihr Mann in die Bank ging. Er war von der Sommersonne braun gebrannt und trug eine Sonnenbrille, vielleicht hätte sie in anderen Momenten gedacht, er sieht noch immer sportlich aus, mit vierzig. Diesmal aber dachte sie: Oh Gott, er sieht aus wie ein Bankräuber mit der Sonnenbrille. Er wollte die Brille tragen, um die Augen zu verbergen. Sie waren von der gestrigen Abschiedsfeier gezeichnet. Öfter als nötig sagte die Mutter den Kindern auf der Rückbank, sie sollten ruhig sein. Ihre Schläfen entspannten sich, als Josef wieder aus der Bank kam. Er lächelte.

Barbara steckte die D-Mark in ihre Handtasche, wo sie die wichtigsten Dokumente aufbewahrte, die Reisepässe und eine Videokassette. Darauf befand sich eine Aufzeichnung des französischen Pokalfinales vom 16. Juni 1979. Der mit Nationalspielern reichlich gesegnete FC Nantes hatte den großen Außenseiter, den Zweitligaclub AJ Auxerre, im ausverkauften Pariser Prinzenpark erst nach Verlängerung in die Knie gezwungen. Obwohl das Ergebnis mit 1:4 Toren am Ende deutlich ausgefallen war, ließ das Ereignis Auxerres wendigen Außenstürmer Josef Klose mit der tiefen Befriedigung zurück, wirklich etwas erreicht zu haben als Sportler. Vor Anpfiff waren er und seine Mitspieler nach Tradition des Pokalfinales dem französischen Staatspräsidenten, Valéry Giscard d’Estaing, vorgestellt worden.

An der Grenze Polens zur DDR fragten die Zöllner Barbara Klose, warum sie so viel Geld in der Tasche hatte.

»Wir wollen in der Bundesrepublik ein Auto kaufen.«

Unter Stress hatte die Mutter nicht daran gedacht, dass jemand, der bereits das Privileg eines Ford Escorts besaß, kaum noch einen Wagen im Westen kaufte.

Aber sie hatten die Reisevisa, redete sie sich zu, die Papiere waren in Ordnung, Ausreise wegen Ohrenoperation für mehrere Wochen genehmigt, die Grenzbeamten durften sie doch nicht aufhalten, die konnten sie doch nicht aufhalten. Oder?

»Kommen Sie mit«, sagte der Zöllner zu Barbara Klose.

Womöglich machte sie auch noch die Videokassette verdächtig, dachte die Mutter, was, wenn der Zöllner einen verbotenen Film darauf vermutete, diese blöde Kassette!

Im Zollhaus musste sie vor dem Beamten die D-Mark zählen. Bei zweitausend unterbrach sie der Zöllner: »Stopp. Ist schon in Ordnung. Sie können weiterfahren.«

Reisevisa für den Westen wurden in der Volksrepublik Polen im Sommer 1987 vergleichsweise großzügig erteilt, und auch die Grenzsoldaten standen entweder unter Anweisung, nicht zu streng zu wachen, oder ihr eigener Verdruss mit dem Staat machte sie umgänglich.

»Reformen« war das Lieblingswort der polnischen Regierung unter General Wojciech Jaruzelski, aber die Bürger spürten seit Beginn der Achtzigerjahre vor allem zwei Neuerungen: Es gab immer weniger zu kaufen. Und das Wenige wurde immer teurer. Polen konnte seine Auslandsschulden nicht mehr erstatten. Im verzweifelten Versuch, die Finanzen in den Griff zu bekommen, hatte die Regierung im April 1987 erneut über Nacht die Preise angehoben, Kohle wurde schlagartig 50 Prozent teurer, Benzin 25 Prozent. Das Schlangestehen war zur Ferienarbeit für Kinder wie Miroslav geworden. Sie hielten in der Reihe vor dem Bäcker eine halbe oder auch eine ganze Stunde die Position, ehe die Mutter übernahm und einkaufte. Wenn sie Glück hatte, war noch Brot vorrätig.

Ein bisschen mehr Reisefreiheit gehörte zu den Besänftigungsmaßnahmen der Regierung Jaruzelski. Nach Urlaub, sagte selbst der Leiter des staatlichen Meinungsforschungsinstituts, Oberst Stanislaw Kwiatkowski, sei allerdings den wenigsten Polen zumute. Das vorherrschende Gefühl sei: »Rette sich, wer kann!«