Mission: Weisse Weihnachten - Andreas Benz - E-Book + Hörbuch

Mission: Weisse Weihnachten Hörbuch

Andreas Benz

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Beschreibung

Für vier Seniorinnen und Senioren des in die Jahre gekommenen Altersheims "Abendrot" im Zürcher Oberland ist klar: Sie wollen ihrer todkranken Freundin Maria den letzten Wunsch erfüllen – nochmals weisse Weihnachten in den Bergen. Mit von der Partie sind Hans, ehemaliger Primarlehrer und erfolgloser Autor, Inge, Grande Dame mit mysteriöser Herkunft, Frida, zupackende Reinigungsunternehmerin im Ruhestand, und Luky, alternder Playboy mit Narkolepsie. Aber leider fehlt der "Sonnenuntergäng", wie sie sich selber nennen, für diese Mission das nötige Kleingeld. Der Überfall auf eine Bijouterie, der das Abenteuer finanzieren soll, schlägt fehl, und anstatt mit vollen Taschen Richtung weisse Berge befinden sich die Alten nun plötzlich auf der Flucht. Sie schlagen der Polizei ein Schnippchen, zeigen einem Drogendealer, wo der Bartli den Most holt, und feiern im Hotel Montreux Palace eine legendäre Party. Die alten Freunde erleben unterwegs ihren zweiten Frühling, und selbst Maria blüht nochmals auf, obwohl es ihr gesundheitlich immer schlechter geht und weisse Weihnachten in den Bergen immer unwahrscheinlicher wird. Doch noch mehr zu schaffen macht Maria, dass ihr wohl keine Zeit mehr bleibt, sich mit ihrer Enkelin zu versöhnen. Aber die "Sonnenuntergäng " gibt auch dann noch nicht auf, als eine riskante Entführung aus dem Spital direkt unter den Christbaum nötig wird, um ihre Mission erfolgreich zu beenden.

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Zeit:6 Std. 50 min

Sprecher:Eveline Ratering

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Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2020 Wörterseh, Lachen

Lektorat und Korrektorat: Andrea LeutholdUmschlaggestaltung: © Thomas Jarzina, unter Verwendung zweier Motive von www.shutterstock.com (Auto: »jakkapan«, Figuren: »ProStockStudio«)Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Beate SimsonDruck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-122-5 E-Book ISBN 978-3-03763-805-7

www.woerterseh.ch

 

Für Vanessa und Anna

 

Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

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Über das Buch

Für vier Seniorinnen und Senioren des in die Jahre gekommenen Altersheims Abendrot im Zürcher Oberland ist klar: Sie wollen ihrer todkranken Freundin Maria den letzten Wunsch erfüllen – nochmals weisse Weihnachten in den Bergen. Mit von der Partie sind Hans, ehemaliger Primarlehrer und erfolgloser Autor, Inge, Grande Dame mit mysteriöser Herkunft, Frida, zupackende Reinigungsunternehmerin im Ruhestand, und Luky, alternder Playboy mit Narkolepsie. Aber leider fehlt der »Sonnenuntergäng«, wie sie sich selber nennen, für diese Mission das nötige Kleingeld. Der Überfall auf eine Bijouterie, der das Abenteuer finanzieren soll, schlägt fehl, und anstatt mit vollen Taschen Richtung weisse Berge befinden sich die Alten nun plötzlich auf der Flucht. Sie schlagen der Polizei ein Schnippchen, zeigen einem Drogendealer, wo der Bartli den Most holt, und feiern im Hotel Montreux Palace eine legendäre Party. Die alten Freunde erleben unterwegs ihren zweiten Frühling, und selbst Maria blüht nochmals auf, obwohl es ihr gesundheitlich immer schlechter geht und weisse Weihnachten in den Bergen immer unwahrscheinlicher wird. Doch noch mehr zu schaffen macht Maria, dass ihr wohl keine Zeit mehr bleibt, sich mit ihrer Enkelin zu versöhnen. Aber die »Sonnenuntergäng« gibt auch dann noch nicht auf, als eine riskante Entführung aus dem Spital direkt unter den Christbaum nötig wird, um ihre Mission erfolgreich zu beenden.

»Soll uns noch mal jemand einreden, das Alter könne nicht abenteuerlich sein! Man möchte mit im rumpeligen Bus sitzen und mit den fröhlichen Alten auf Reise gehen! Eine herzerwärmende, berührende Geschichte, die man sich auch sofort auf grosser Leinwand wünschen würde.«

Heidi Maria Glössner, Schauspielerin

»Eine wundervolle und berührende Weihnachtsgeschichte, die ich geradezu verschlungen habe. Beim Lesen hatte ich allerdings auch immer etwas Wehmut, weil ich wusste, dass es irgendwann zu Ende geht und die ›Sonnenuntergäng‹, die ich mit ihren liebenswürdigen Menschen so gern bekommen habe, ohne mich weiterziehen wird. Aber ich freue mich jetzt schon auf nächste Weihnachten, wenn ich das Buch erneut lesen werde.«

Stefan Gubser, Schauspieler

 

Über den Autor

© Anna Tina Eberhard

Andreas Benz, geb. 1961, war über zwanzig Jahre als erfolgreicher Manager in der Finanzwelt tätig, bevor er sich 2010 entschied, nochmals ganz neu zu beginnen und seine Passion, das Filmemachen, zu leben. Er besuchte die New York Film Academy, bevor er in Los Angeles das Drehbuchschreiben lernte. Einige seiner danach entstandenen Kurzfilme wurden an bekannten Filmfestivals gezeigt. Heute ist er an verschiedenen Projekten der Constantin Film beteiligt, für die er unter anderem auch das Drehbuch »Mission: Weisse Weihnachten« schrieb. Doch gerade als Schauspieler wie Heidi Maria Glössner und Stefan Gubser zugesagt hatten, bei einer Verfilmung mitzumachen, und es um die Finanzierung ging, kam Corona, und so schrieb der Zürcher während des Lockdown sein Script zu seinem ersten Roman um. Andreas Benz arbeitet als Coach und Consultant sowie im Corporate Storytelling. Er lebt mit seiner Familie in Benken SG.

Mission: Weisse Weihnachten

 

1

»Noch eine Kurve und dann sieht man ihn schon, den Vorhof zur Hölle«, dachte Luky Landolt. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass er schon kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag in einem Alters- und Pflegeheim leben müsste.

Er hatte doch ganz andere Pläne. Er wollte mit seinem alten Austin Healey, den er über Jahre selber restauriert hatte, auf der Route Napoléon von Grenoble nach Cannes fahren und dort mit einem Freund ein Segelboot chartern. Doch dann schlug ohne Vorwarnung diese verdammte Krankheit zu. So heimtückisch, dass sie ihm einen dicken Strich durch all seine Pläne machte. Er war von einem Tag auf den anderen nicht mehr fähig, allein zu wohnen, war plötzlich eine Gefahr für andere und vor allem für sich selbst. Diese gesundheitliche Fragilität stand ganz im Gegensatz zu seiner immer noch attraktiven Erscheinung. Obwohl er einige graue Haare hatte, war sein Haarschopf noch dicht, und der Fünftagebart gab ihm etwas Abenteuerliches. Seine dunklen Augen funkelten noch immer, obschon sie mittlerweile von einigen Falten umgeben waren – die aber definitiv von viel Sonne und häufigem Lachen und weniger von Sorgen stammten.

Luky lehnte seinen Kopf gegen die Seitenscheibe des Busses, beobachtete, wie sie sich bei jedem Ausatmen kurz beschlug. Dann wieder schaute er entlang der nassen Landstrasse, die links und rechts von braunen Wiesen gesäumt war. Blätterlose Obstbäume trotzten dem kalten Wind. Obwohl es erst Nachmittag war, wurde es schon langsam dunkel. Es war einer dieser trüben Dezembertage, an denen es nie so richtig hell wird.

Auch dass es ihn jemals wieder ins Zürcher Oberland zurück verschlagen würde, hätte er vor kurzem noch für absolut unmöglich gehalten. Er wuchs zwar nur wenige Kilometer von hier auf und erinnerte sich gut daran, dass es früher zu dieser Jahreszeit auf den sanften Hügeln so viel Schnee gab, dass er mit dem Schlitten zur Schule fahren konnte. Auch kleine Skilifte gab es in fast jeder Gemeinde. Aber heute, mit der Klimaerwärmung, oder was auch immer das war, musste man ja schon froh sein, wenn es an Weihnachten mal wieder ein paar Schneeflocken gab.

Schon früh zog es den jungen Lukas, der später zu Luky wurde, nach Zürich. In der Stadt merkte er schnell, dass er mit seinem guten Aussehen, den flotten Sprüchen und seinem angeborenen Charme vor allem bei den Zürcherinnen sehr gut ankam. Auch lernte er, dass man in der Limmatstadt nicht unbedingt jeden Tag zehn Stunden in einem grauen Anzug in einem ebenso grauen Büro sitzen musste, um über die Runden zu kommen. Nein, da gab es viele einsame Banker- und Anwaltsgattinnen, die sich seine Gesellschaft, ob auf dem Golfplatz, als Tennislehrer oder auch mal nur als charmante Begleitung für ein Champagner-Cüpli am Limmatquai, einiges kosten liessen. Trotzdem hatte er nie viel Geld – »Easy coming, easy going«, das war seine Devise.

Gedanken über das Alter machte er sich nie, wahrscheinlich weil er sich nie alt fühlte und eine Altersvorsorge aus seiner Sicht eh nur etwas für Spiesser war. Er konnte nie etwas mit Typen anfangen, die schon mit fünfzig immer von der Rente redeten und davon, dass dann erst das Leben beginnen würde, bla, bla, bla. Er lebte jetzt, und das richtig.

Doch dann, vor knapp zwei Jahren, fuhr er mit seinem Oldtimer in einer leichten Linkskurve einfach geradeaus und schrottete unzählige Arbeitsstunden und viel Geld an einer alten Eiche. Er kam glücklicherweise mit dem Schrecken und ein paar blauen Flecken davon. Im Polizeirapport war unter Unfallursache zu lesen: Sekundenschlaf. Luky wusste nicht, ob das stimmte, er konnte sich schlicht an nichts mehr erinnern. Doch dieses plötzliche Einschlafen sollte nicht das einzige Mal bleiben. Immer öfter geschah es, dass er plötzlich einfach weg war. Das war der Anfang einer Odyssee, die ihn von Arzt zu Arzt und von Spezialist zu Spezialist führte, ohne dass sich wirklich etwas besserte.

Der Bus der Verkehrsbetriebe Zürichsee und Oberland verlangsamte seine Fahrt und bog blinkend in die Haltestelle. »Alters- und Pflegeheim Abendrot«, kündigte die monotone Buslautsprecherstimme die Haltestelle an. Zischend öffneten sich die Türen. Doch niemand stieg ein oder aus. Der Busfahrer schaute ungeduldig in den Rückspiegel, mit dem er den Fahrgastraum überblicken konnte, dann nahm er das Mikrofon aus der Halterung und drehte die Lautstärke voll auf. Mit lauter Stimme wiederholte er: »Alters- und Pflegeheim Abendrot.« Luky schrak hoch, er musste auf den letzten Metern doch noch eingeschlafen sein. Er stand schnell auf, nahm seine grosse Apothekertüte – weiss mit grünem Kreuz –, die er während der Fahrt zwischen seinen Füssen festgeklemmt hatte, und stieg aus. Sofort kroch die nasse Kälte unter seinen Mantel. Er schlug den Kragen hoch, während er wartete, bis der Bus wieder losfuhr, in Richtung Rapperswil.

Luky überquerte die Strasse und ging zu der leicht ansteigenden Auffahrt hinüber, die zum Altersheim führte. »Was für ein Bild«, dachte er, »wie aus einem düsteren Hitchcock-Film. Es fehlen nur noch eine Leiche und ein paar verdammte Raben.«

Das Altersheim Abendrot hatte tatsächlich schon bessere Zeiten gesehen. Bis um die Jahrhundertwende war es die noble Fabrikantenvilla eines erfolgreichen Patrons der im Zürcher Oberland ansässigen Webindustrie gewesen. Doch diese Zeiten waren vorbei, und die Jahre hatten ihre Spuren an dem Haus hinterlassen. Nun war es in einem wirklich schlechten Zustand – genau wie die meisten seiner Bewohner: Wer im »Abendrot« wohnte, der träumte nicht von der nächsten Kreuzfahrt, sondern war auf staatliche Ergänzungsleistungen angewiesen, um einigermassen über die Runden zu kommen.

Langsam ging Luky die Auffahrt hoch. Es war ihm ein wenig schwindlig, wie immer, wenn er aus dem Schlaf gerissen worden war. Ein Auto bog von der Hauptstrasse in die Auffahrt, und Luky machte einen Schritt in die Wiese, damit es passieren konnte. Als der Wagen auf seiner Höhe war, stoppte er, und der Fahrer liess die Scheibe hinunter. Es war Doktor Steiner, der Arzt, der sich um die Bewohner des Altersheims kümmerte.

»Guten Abend, Herr Landolt. Wie geht es Ihnen?«

»Danke, ganz okay.«

»Hatten Sie in letzter Zeit wieder einen Anfall?«

Luky nickte und antwortete: »Grad vorhin im Bus, aber es ist alles wieder gut.«

»Wollen Sie mit hochfahren?«, fragte der Arzt besorgt.

»Nein, die paar Meter schaffe ich schon allein, bin ja jetzt wieder ausgeschlafen.«

»Schön, dass Sie den Humor nicht verlieren«, meinte der Arzt schmunzelnd und fuhr weiter die Auffahrt hoch.

Luky schaute dem Auto nach, das auf den kleinen Parkplatz einbog und neben dem alten Kleinbus des Heims parkte. Ausser Puste erreichte er den Parkplatz wenig später, und wie jedes Mal, wenn er von irgendwoher zurückkehrte, wartete da schon der alte Paul auf ihn. Warm eingepackt, sass er in seinem Rollstuhl, die alte rot-hellblau-weisse Mütze – ein Werbegeschenk einer Bank, die seit Jahrzehnten einen neuen Namen hatte – tief ins Gesicht gezogen, und kaute auf dem Mundstück einer längst gerauchten Villiger Kiel herum.

»Hey, Luky, wie gehts?«, fragte Paul in seinem breiten Ostschweizer Dialekt.

»Ging schon besser. Und dir?«

Paul antwortete mit einem seiner typischen Hustenanfälle und zeigte mit dem Kopf auf die Plastiktüte in Lukys Hand.

»Hast du mein Zeugs auch bekommen?«

Luky hob die volle Apothekertüte hoch.

»Ja, ich komme mir vor wie ein Drogenkurier.«

Er legte den Sack auf Pauls Beine, löste die Bremse des Rollstuhls und schob ihn in Richtung Altersheim. Paul drehte sich zu Luky um.

»Du, machen wir nochmals Sapporo?!«

Luky tat überrascht, obwohl er längst mit dieser Frage gerechnet hatte.

»Meinst du wirklich?«, fragte er.

Paul nickte voller Begeisterung.

»Ja, bitte!«

»Gut, dann mach dich auf etwas gefasst!« Luky setzte eine ernste Miene auf und umklammerte die Griffe des Rollstuhls fester. Er bewegte ihn vor und zurück, wie das die Bobfahrer mit ihren Schlitten tun, bevor sie sich in den Eiskanal stürzen. Seine Stimme klang jetzt wie die eines Sportreporters: »Am Start steht Schweiz eins, dem Bob fehlt nur noch ein guter Lauf zum sensationellen Olympiasieg!« Aufmerksam schaute er Paul an, der sich an den Armlehnen seines Rollstuhls festklammerte und sich leicht nach vorn beugte, und schrie: »Ready?!«

Paul nickte.

Luky beugte sich über den Rollstuhl.

»Und eins und zwei und go, go, go!«

Luky rannte los und schob den Rollstuhl, so schnell er konnte, über den Parkplatz in Richtung Altersheimeingang.

Paul lachte und rief aus vollem Hals: »Hopp Schwiiz! Hopp Schwiiz!« – dann ein kräftiger Huster und nochmals: »Hopp Schwiiz! Hopp Schwiiz!«

Luky war total darauf konzentriert, dass der Rollstuhl in der anspruchsvollen Zielkurve nicht samt Paul umkippte und trotzdem möglichst viel Tempo auf die Zielgerade mitnehmen konnte. Deshalb sah er nicht, wie Daniela Kunz, die Leiterin des Heims, just in dem Moment aus der Tür trat, als die beiden mit vollem Tempo der Ziellinie entgegenrasten. Nur mit einem beherzten Sprung konnte sie sich vor einer fatalen Kollision mit dem Rollstuhl retten. Ihr omnipräsentes Klemmbrett flog durch die Luft, und Daniela Kunz landete neben dem Eingang in einer Pfütze, direkt neben der alten verwitterten Tanne, an der eine schäbige Weihnachtsbeleuchtung flackerte. Vor Wut schnaubend, stand sie auf, wischte sich das Dreckwasser von der Hose und hob fluchend das Klemmbrett auf.

Luky keuchte und klopfte Paul wie wild auf die Schultern.

»Bestzeit! Das ist die Goldmedaille für den Schweizer Zweierbob! Sensationell!«

Paul riss seine Arme hoch, jubelte und strahlte übers ganze Gesicht.

Kunz schaute Luky vorwurfsvoll an und schüttelte ihren hochroten Kopf.

»Mich nimmt wunder, wann Sie mal erwachsen werden!«

Luky wischte sich den Schweiss von der Stirn.

»Hoffentlich nie«, sagte er und zwinkerte ihr zu.

Noch völlig ausser Atem, zog er zwei billige Zigarren aus seiner Manteltasche, steckte sich eine in den Mund und reichte die andere Paul.

»Die Siegerzigarre!«, lachte Paul in Richtung der Heimleiterin und kramte ein Plastikfeuerzeug aus seiner Manteltasche.

Kunz schaute Luky mit strafendem Blick an.

»Sie wissen doch, dass der Paul mit seinen Lungen nicht mehr rauchen darf.«

Paul hatte in der Zwischenzeit einen Flachmann aus einer der Seitentaschen seines Gefährts geholt, nahm einen grossen Schluck und reichte ihn an Luky weiter.

Jetzt war die Kunz vollends entsetzt.

»Das auch noch?!«, japste sie vorwurfsvoll und stemmte ihre Arme in die Hüfte.

Paul winkte ab, hustete und meinte: »Keine Bange, junges Fräulein, ich trinke nicht viel – muss ja noch fahren.«

Dabei bewegte er seinen Rollstuhl hin und her. Die beiden Männer lachten los, und Luky hielt der fassungslosen Kunz jovial den Flachmann entgegen.

»Sie sollten sich etwas entspannen, ich kenne da eine gute Massage …«

Wieder lachten die Männer.

Kunz hatte jetzt endgültig genug von dem kindischen Getue, liess die Männer wortlos stehen und ging auf einen alten Kleinbus zu, der auf dem Parkplatz stand.

 

2

Maria Gerber sass in ihrem alten, mit geblümtem Stoff bezogenen Ohrensessel und löste den neuen Jahreskalender der Pro Senectute, den sie jedes Jahr im Dezember bekam, aus dem Zellophanpapier. Die kleine, zierliche Frau versank fast in dem voluminösen Fauteuil. Er war immer ihr Lieblingssessel gewesen und eines der wenigen Möbelstücke, die sie ins Altersheim mitgenommen hatte. Zu gross und umständlich war die Wohnung geworden, in der sie fast fünfundvierzig Jahre mit ihrem Mann gelebt hatte. Und jetzt war sie auch schon fast zehn Jahre hier im »Abendrot«.

Sie blätterte die zwölf Landschaftsbilder des Kalenders durch, und plötzlich kam ihr ein Satz in den Sinn, den sie als Kind häufig von ihrer Grossmutter gehört hatte: »Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit.« Ihre Grossmutter hatte das immer genau dann zu ihr gesagt, wenn sie entweder die Zeit vertrödelte oder wenn es ihr langweilig war und sie nicht wusste, wie sie die Zeit herumkriegen sollte. Sonntags, wenn sie lange ausschlief, fügte die Grossmutter noch den Zusatz an: »Das ist dem Herrgott den Tag gestohlen«, erinnerte sich Maria weiter und zupfte, versunken in vergangenen Zeiten, ein paar welke Blätter aus dem Blumenstrauss, der auf dem kleinen Tisch stand. Sie war sehr froh, dass sie immer noch so klar im Kopf war und sich noch an fast alles erinnern konnte. »Das Einzige, was einem im Alter bleibt, sind doch die Erinnerungen«, dachte sie etwas melancholisch.

Neben der Blumenvase lag eine Glückwunschkarte mit einer goldenen, in geschwungener Schrift geschriebenen Neunzig. Obwohl ihr der Krieg einen Teil ihrer Jugend geraubt hatte und sie ihren Traum, Architektur zu studieren, zum Wohl der Familie begraben musste, hatte sie doch ein schönes Leben gehabt. Jahrelang machte sie das Büro einer kleinen Baufirma, wo sie auch ihren Mann kennen lernte. Ein gelernter Maurer, der dort als Polier arbeitete. Es folgte die Heirat, und schon bald war sie schwanger. Leider war es eine sehr schwierige Schwangerschaft, und auch die Geburt verlief nicht ohne Komplikationen, was zur Folge hatte, dass das Neugeborene ihr einziges Kind blieb.

»Ja, ich kann, nein, muss doch zufrieden sein«, dachte sie. »Es war lange Zeit ein ganz normales Leben, bis an dem Tag, als …«

Ein Klopfen an der Zimmertür riss sie aus ihren Gedanken. Maria schaute kurz auf die alte Kuckucksuhr an der Wand, eine Erinnerung an ihre Hochzeitsreise in den Schwarzwald.

»Pünktlich wie immer«, dachte sie, zupfte ihre Strickjacke zurecht und rief: »Herein!«

Doktor Steiner betrat das Zimmer, und sofort fielen ihm die Blumen auf.

»Oh, da gratuliere ich aber herzlich«, sagte er und setzte sich auf einen Stuhl zu Maria an den Tisch.

»Haben Sie schön gefeiert?«

»Ja, danke, es war ganz nett.«

Es entstand eine unangenehme Pause.

Ohne Maria in die Augen zu schauen, zog der Arzt einen Umschlag aus seiner Tasche und sagte mit ernster Stimme: »Die Testresultate und der Laborbericht sind gekommen.«

Maria fiel der sachliche Ton des Mediziners auf, was sie als ungutes Zeichen deutete.

»Und?«, fragte sie.

Doktor Steiner presste seine Lippen zusammen und schüttelte nur den Kopf.

 

3

Die Eingangstür des Altersheims öffnete sich langsam. Hans Bolliger kam nicht zum ersten Mal zu spät ins Altersheim zurück. Er wusste genau, dass er die Tür ganz vorsichtig öffnen musste, wollte er das verräterische Knarren vermeiden. Trotz seiner vollen Konzentration konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Genau so mussten sich damals seine Schüler gefühlt haben, wenn sie sich verspätet hatten und versuchten, unbemerkt ins Klassenzimmer zu schleichen. Nur war auch er längst kein Schüler mehr, sondern ein achtzigjähriger Mann. Sich wie ein Schuljunge mit schlechtem Gewissen zu fühlen, belustigte Hans zwar, doch ganz tief in ihm machte es ihn auch wütend und traurig. Wie konnte er sich wegen einer Hausordnung und eines Hausdrachens wie der Kunz so kleinmachen? Das konnte doch nicht wahr sein. Erniedrigend. Er, Hans Bolliger, der …

»Es ist Viertel nach vier, und wann sollten wir zurück sein? Herr Bolliger, Sie wissen, dass das Konsequenzen hat!«

Daniela Kunz stand vor Hans wie ein Offizier. Sie überragte den nicht sehr grossen Mann um fast einen Kopf und schien das zu geniessen.

Hans suchte verzweifelt nach einem Ausweg, und dann fiel sein Blick auf die Tür zur Gästetoilette, die direkt neben dem Eingang lag. Ohne ein Wort zu sagen, schob er die Kunz zur Seite, rannte zur Toilette und verschwand in dem kleinen Raum, der eigentlich für Gäste reserviert war.

»Um vier … aber ich musste unterwegs dreimal einen Toilettenhalt einschieben – die verdammte Prostata, Sie wissen ja«, rief er durch die geschlossene Tür.

Kunz machte sich eine Notiz auf ihrem Klemmbrett und ging in ihr Büro zurück. Nach einer Weile öffnete Hans die Toilettentür einen Spaltbreit und spähte hinaus, um zu sehen, ob die Luft rein war. Daniela Kunz war verschwunden. Schnellen Schrittes ging er durch die Eingangshalle und die Treppe hoch zu seinem Zimmer. Auf dem Flur kam ihm Doktor Steiner entgegen. Steiner nickte Hans zu und fragte ihn, wie es ihm gehe.

Hans zog die Schultern hoch.

»Einigermassen«, antwortete er, »aber ich kenne mittlerweile jede Toilette im Umkreis von zehn Kilometern.«

»Das Bier nicht zu kalt trinken«, schlug der Arzt lächelnd vor.

Hans tippte sich bedankend an die Stirn und ging weiter.

Doktor Steiner ging zum Ausgang, wo er von Daniela Kunz abgefangen wurde.

»Wie geht es Maria Gerber?«, fragte sie.

Der Arzt schüttelte nur leicht den Kopf und ging an ihr vorbei zur Tür hinaus und zum Parkplatz.

Kunz drehte sich zu ihrer Assistentin um, die ihr gefolgt war, und sagte: »Claudia, ruf bei der Gemeinde an, hier wird bald ein Zimmer frei.«

 

4

Hans schloss die Zimmertür hinter sich und hängte den nassen Wintermantel zum Trocknen über den Heizkörper. Die Schuhe, in die er altes Zeitungspapier gestopft hatte, stellte er darunter und prüfte mit der Hand, ob die Heizung auch wirklich warm genug eingestellt war. Sein Zimmer war akribisch aufgeräumt. Alles hatte genau seinen Platz. Auffallend war ein grosses Bücherregal, in dem Hunderte Bücher perfekt einsortiert waren. Ja, es musste alles seine Ordnung haben in Hans’ Leben. Er wusste, dass er mit seinem Ordnungssinn fast alle beinahe in den Wahnsinn trieb. Die Einzige, die immer gemocht hatte, dass sie nie hinter ihm herräumen musste, war seine Frau. Auch wusste er, dass er damals von seinen Sekundarschülern den Spitznamen »Meister Proper« bekommen hatte, aber das kümmerte ihn nicht. Die klare Ordnung und die Tatsache, dass er immer und für alles einen Plan brauchte, gaben ihm Sicherheit.

Auf einem kleinen Tisch stand seine alte mechanische Schreibmaschine, eine Hermes Baby, die er vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt in Zürich für ein paar Franken erstanden und natürlich vor dem ersten Gebrauch bis in die letzte Ritze perfekt gereinigt hatte. Daneben, ebenfalls fein säuberlich geordnet, eine ganze Sammlung verschiedener Medikamente. Hans massierte seine schmerzende Hüfte. Er wollte eine längst fällige Hüftgelenkoperation hinausschieben, solange es ging. Idealerweise bis zum Frühling. Krücken im Winter waren in seinem Alter keine gute Idee. Zudem hasste er Krankenhäuser und war überzeugt, dass die Menschen meist kränker entlassen wurden, als sie eingetreten waren – wenn sie überhaupt zurückkehrten.

Hans nahm aus drei Medikamentenschachteln je zwei Tabletten und schluckte sie trocken hinunter. Langsam und unter grossen Schmerzen setzte er sich an die Schreibmaschine, zog sein kleines, schwarzes Notizbüchlein aus der Hosentasche und schlug es bei der Seite auf, wo ein Buchzeichen drinsteckte. Fein säuberlich – wie konnte es anders sein – hatte er sich mit lehrertypisch gleichmässiger Handschrift Notizen gemacht. Nicht irgendwelche Notizen, sondern neue Ideen für seinen dritten Roman – seine beiden ersten Manuskripte lagen akkurat gebunden und unveröffentlicht in seinem Bücherregal. Hans öffnete die Tischschublade und zog ein weisses Papier heraus, steckte es hinter die Walze der Schreibmaschine und drehte das Walzenrad. Mit klickendem Geräusch wurde der jungfräuliche Papierbogen um die Walze gezogen und erschien auf der anderen Seite wieder. Dann bediente Hans ein paarmal den Zeilenschalthebel, beförderte das Blatt so an die genau richtige Position und begann zu tippen.

Lesen und Schreiben waren schon immer seine grossen Leidenschaften. Ein bekannter Schriftsteller zu sein – das wäre sein Wunsch gewesen. Natürlich verehrte er die grossen Schweizer Schriftsteller, hatte alles von Dürrenmatt und Frisch mehrmals gelesen und piesackte als Lehrer auch seine Schüler immer wieder mit den kleinen gelben Reclam-Büchlein. Aber am liebsten mochte er doch die alten Krimis von Agatha Christie. Genau solche Romane wollte er schreiben. Einen eigenen Hercule Poirot erschaffen, das war sein Traum.

Jetzt aber wurde sein konzentriertes Tippen schon nach wenigen Zeilen jäh von lauter Musik aus dem Nachbarzimmer unterbrochen. Wütend schob er die Lesebrille auf den schon fast kahlen Kopf.

»Nicht schon wieder dieser Julio Iglesias, den halte ich nicht aus!«, rief er und schlug mit der Faust gegen die Wand. »Frida! Mach leiser!«

Doch Julio trällerte unverändert laut seine spanische Schnulze. Irgendetwas über »amor, amor, amor«. Grauenhaft. Hans stand langsam auf und ging zum Zimmer seiner Nachbarin Frida Pizetta. Energisch klopfte er an die alte Holztür. Nichts. Er klopfte nochmals, lauter, und schlug dazu den goldenen Siegelring, der an seinem kleinen Finger steckte, gegen die Tür. Der Ring mit eingraviertem Familienwappen der Bolligers war ein Erbstück seines Vaters. Jetzt war ein fürchterlicher Hustenanfall aus dem Zimmer zu hören, gefolgt vom Geräusch schlurfender Schritte. Endlich öffnete Frida.

»Was?!«, wollte sie wissen und fuhr sich mit der Hand durch das struppige graue Haar. Sie sah aus, als komme sie eben aus dem Bett, was durchaus zutreffen konnte. Neben ihr stand auf einem kleinen Wagen eine Sauerstoffflasche, von der ein durchsichtiger Schlauch zu ihrer Nase führte. Das gab ihr zwar einen gewissen Anschein von Gebrechlichkeit, doch im Gegensatz zu Hans’ drahtiger Figur wirkte Frida geradezu burschikos. Man sah ihr an, dass sie ihr ganzes Leben lang körperlich gearbeitet hatte. Auch im Winter trug sie meistens kurzärmlige Pullover, weil ihr immer zu warm war.

»Musst nicht so nervös klopfen, bin kein Rennpferd«, schnaubte Frida nun.

Hans zeigte mit dem Kopf in die Richtung, aus der die schreckliche Musik kam.

»Die Musik, ich bin am Schreiben.«

»Ja und? Dein Zeugs liest ja eh kein Schwein.«

»Kann der Gigolo nicht auch ein bisschen leiser singen?«, fragte Hans, ohne auf die Anspielung auf seine ziemlich erfolglose zweite Karriere als Schriftsteller einzugehen.

Frida drehte sich wortlos um und stellte die Musik ein ganz kleines bisschen leiser.

»Eifersüchtig?«, fragte sie zurück.

Hans brauchte einen Moment, bis er die Frage richtig begriffen hatte.

»Du meinst auf Julio Iglesias?«

Frida nickte, und ihr Blick wanderte über Hans’ Schulter irgendwohin in die unendliche Ferne.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Frida wirklich attraktiv war. Das war, bevor sie über fünfzig Jahre lang als Putzfrau den Dreck anderer Leute wegmachen musste. Sich ihre Lunge mit ätzenden Säuredämpfen ruinierte und die Bandscheiben kaputt schuftete. Eine Zeit, in der sie glaubte, mit ihrem Reinigungsinstitut so viel Geld zu verdienen, dass sie im Alter auf Capri auf der Veranda ihres kleinen Häuschens würde sitzen können und der Sonne zuschauen, wie sie langsam im Meer versank.

Doch das Einzige, was unterging, war ihre Firma. Natürlich war sie weder einer Pensionskasse angeschlossen noch hatte sie sonstige Ersparnisse. Sie musste ihr ganzes Leben weiterschuften und immer für das Nötigste kämpfen – da blieb keine Zeit für Männer oder »amor«. Nur das Träumen hatte Frida nie verlernt. Warum es unbedingt Capri sein musste, wo sie ihr Alter verbringen wollte, wusste sie nicht – oder nicht mehr. Sie war nie dort gewesen, eigentlich noch überhaupt nirgendwo. Wusste nicht einmal mehr, wann sie das letzte Mal richtig Ferien gemacht hatte. Als junges Mädchen hatte sie eine Zeit lang im Welschland gelebt, später war sie ein paarmal in Italien, wo die Familie ihres Vaters herkam.

»Iglesias wäre der einzige Mann gewesen, den ich geheiratet hätte«, sagte sie endlich und seufzte laut. »Gegen den sind doch alle anderen nur Schlappschwänze.«

Sie klopfte Hans auf die Schulter, um sicherzugehen, dass er begriff, dass auch er zu dieser Kategorie Männer gehörte.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Hans leicht gereizt. »Kümmere du dich doch lieber um deine Freundin, der Arzt war gerade bei ihr.«

Frida wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt und schloss keuchend und kommentarlos ihre Zimmertür.

 

5

Maria und Frida sassen nebeneinander auf Marias Bett. Sie waren ein sehr ungleiches Paar. Die noch immer kräftige Frida mit den kurzen Haaren und daneben die kleine zierliche Maria. Zusammen blätterten sie in einem alten Fotoalbum, das auf Marias Knien lag. Die Fotos waren schon leicht vergilbt, wurden aber einst liebevoll eingeklebt. Maria fuhr mit ihrem leicht zitternden Zeigfinger über eines der Bilder, auf dem eine Frau Mitte fünfzig zu sehen war, die ein Baby auf dem Arm trug.

»Das war Steffis erster Geburtstag«, sagte Maria und wischte sich mit einem Papiertaschentuch, das sie aus dem Ärmel ihrer Strickjacke gezogen hatte, eine Träne aus dem Gesicht.

Frida schaute sich das Foto genauer an.

»Und die Frau …?«

»Ja, das bin ich«, nickte Maria.

Frida nahm Marias Hand in ihre und drückte sie leicht. Erst jetzt fiel ihr auf, wie klein und zerbrechlich Marias Hände waren. Die Adern schimmerten bläulich durch die dünne Haut, die von Altersflecken übersät war. Dagegen wirkten Fridas Arbeiterhände wie Pranken.

Vorsichtig blätterte Maria eine weitere Seite des Albums um und strich die Falten aus dem dünnen transparenten Mittelblatt, das die Fotos schützte.

»Da ist Steffi wohl schon etwas älter«, sagte Frida, und Maria nickte.

Das Foto zeigte ein kleines Mädchen, das in tiefem Schnee kniete und dabei war, einen Schneemann zu bauen. Neben ihm lagen eine Möhre und zwei Baumnüsse bereit, um dem weissen Mann später ein Gesicht zu geben. Unter dem Foto klebte ein weiteres, das schon fast verblichen und etwas dicker war als die anderen. Aufgenommen mit einer der ersten Polaroid-Sofortbildkameras – damals die absolute Sensation.

Maria erinnerte sich, wie Steffi die Fotos, sobald sie vorne an der Kamera aus dem Schlitz geschoben wurden, freudig packte und wie empfohlen damit in der Luft umherwedelte. Staunend sah sie zu, wie aus den als Erstes erkennbaren Umrissen wie von Geisterhand ein Bild entstand, das immer schärfer und konkreter wurde, bis es perfekt entwickelt war. Auch Maria empfand diesen Vorgang als absolutes Wunderwerk der Technik. Kein wochenlanges Warten mehr, bis man das Resultat sehen konnte, nachdem man die Filmrolle in einem Fotogeschäft in eine Papiertasche geschoben und zum Entwickeln in Auftrag gegeben hatte. Steffi liebte die Kamera, und obwohl die dafür nötigen Spezialfilme sehr teuer waren, knipste sie alles, was sie festhalten wollte. Auf dem Polaroid-Foto im Album war Steffi schön angezogen; die blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten, stand sie neben einem Christbaum, an dem die Kerzen brannten, und spielte auf der Blockflöte, wohl ein Weihnachtslied.

»Ich kann nicht glauben, dass das schon fast dreissig Jahre her ist. Dreissig Jahre, mein Gott«, sagte Maria. »Warte, das muss Weihnachten … ich glaube, einundneunzig gewesen sein«, ergänzte sie.

»Wo wart ihr da?«, wollte Frida wissen.

»Im Wallis, in Verbier, mein Mann kam von dort, und immer an Weihnachten konnten wir ein kleines Haus von seinem Bruder mieten.«

Maria blätterte erneut um. Auf der nächsten Seite war kein Foto, sondern eine Kinderzeichnung eingeklebt. In die Mitte war ein grosses rotes Herz gemalt, und darüber stand in wackliger Kinderschrift, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe: »Für Omi – von Steffi«. Maria strich über die Zeichnung, als wollte sie Steffi streicheln, die sie jetzt so gern bei sich gehabt hätte.

»Wo sie jetzt wohl sein mag?«, dachte Maria, und wieder kamen ihr die Tränen. Sie schaute vom Album hoch und aus dem kleinen Fenster ihres Zimmers. Es war dunkel, und es hatte wieder zu regnen begonnen. In ihren Gedanken war sie dreissig Jahre zurück, in einer Zeit, in der noch alles in Ordnung war.

»Ja, da waren wir immer am glücklichsten … an Weihnachten, in den Bergen. Mit viel Schnee und Schweinebraten mit Kruste … ja, das wäre jetzt schön«, sagte sie geistesabwesend, während ihr die Tränen über die gefurchten Wangen rannen.

 

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