Mister Potter - Jamaica Kincaid - E-Book

Mister Potter E-Book

Jamaica Kincaid

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Beschreibung

Mr. Potter ist Analphabet und verdient seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer auf den Straßen Antiguas. Er dreht seine Runden, vorbei an dem Friedhof, auf dem er begraben werden wird. Die Sonne steht direkt über ihm, das Meer umgibt ihn, unterdrückte Leidenschaften erfüllen die Luft. Mr. Potter will mehr erreichen als sein Vater, ein armer Fischer, und seine Mutter, die Selbstmord begangen hat. Er will in besseren Verhältnissen leben, ein Auto besitzen, Freundinnen haben und die Schulden seiner Töchter tilgen. Eine von ihnen wird nach seinem Tod seine Geschichte erzählen – mit ebenso viel Distanz wie Mitgefühl. Mit Mr. Potter lässt Jamaica Kincaid nicht nur eine schillernde literarische Figur entstehen, die so einzigartig wie typisch ist, so real wie fiktiv – im Schreiben nähert sie sich auch jener Person an, die ihr im Leben am meisten fehlt.

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Jamaica Kincaid

Mister Potter

Roman

Aus dem Englischen von Anna und Wolf Heinrich Leube

Kampa

Für die Nolands, Kenneth und Paige – in Liebe

Und an jenem Tag stand die Sonne dort, wo sie auch sonst stand, hoch oben und mitten am Himmel, und sie schien wie auch sonst so grell, dass selbst die Schatten verblassten, dass selbst die Schatten Schutz suchten; an jenem Tag stand die Sonne da, wo sie auch sonst stand, hoch oben und mitten am Himmel, doch Mr. Potter bemerkte es nicht, so sehr war er daran gewöhnt, die Sonne dort zu sehen, wo sie auch sonst stand, hoch oben und mitten am Himmel; wäre die Sonne nicht dort gewesen, wo sie auch sonst stand, hätte das Mr. Potters Tageslauf sehr verändert, es hätte bedeutet, dass es regnete, vielleicht nur für ganz kurze Zeit, aber es hätte Mr. Potters Tageslauf verändert, so sehr war er gewohnt, die Sonne dort zu sehen, wo sie auch sonst immer stand, hoch oben und mitten am Himmel. Mr. Potter atmete wie gewohnt, sein Herz schlug wie gewohnt unter seiner schwarzen Haut, schlug unter dem weißen Baumwollunterhemd, das er direkt auf der tiefschwarzen Haut trug, schlug unter dem schlichten weißen Baumwollhemd, das er über dem Unterhemd trug, es schlug also wie gewohnt. Er zog seine Hose an, und in die Hosentasche steckte er ein weißes Taschentuch. All dies war so normal wie sein Pulsschlag; wie er seine Kleider anzog, war so normal wie sein Pulsschlag, sein Herz schlug normal, und die Kleidung flößte Mr. Potter und Dingen jenseits von ihm Zuversicht ein, Dingen, die gar nicht wussten, dass sie Zuversicht brauchten.

Auf dem Weg zu Mr. Shouls Garage schützte er sich vor der Sonne, indem er durch enge Straßen und Gassen ging; Tag für Tag beförderte er in Mr. Shouls Wagen Fahrgäste (er war Chauffeur, es machte ihm nichts aus, Chauffeur zu sein). Er sah eine Hündin, die Zitzen prall und geschwollen, der Bauch prall und geschwollen, die im Schatten eines Baumes lag, der in den weiten trockenen Ebenen Afrikas heimisch war, doch er dachte nicht, dass diese Hündin, die vor dieser Sonne Schutz suchte, trächtig und erschöpft von den Welpen in ihrem Bauch, irgendetwas mit ihm zu tun haben könnte, nicht das Geringste; und Mr. Potter sah einen Mann in einem Hauseingang sitzen, und dieser Mann war blind, doch er hatte gute Ohren und horchte aufmerksam auf Schritte, die sich ihm näherten oder sich von ihm entfernten, und als er Schritte näherkommen hörte, richtete er sich auf, um den Herannahenden um Geld zu bitten; dieser Mann kannte das Geräusch von Mr. Potters Schritten und hatte ihn noch nie um irgendetwas gebeten. Und als Mr. Potter den Blinden mit seinem Becher in dem Hauseingang sah, sah, wie er einen Mundvoll zähflüssigen pappigen weißen Schleim, den er langsam in seiner Kehle angesammelt hatte, auf den Boden spuckte, da dachte er nicht, dass dieser Anblick irgendetwas mit ihm zu tun haben könnte. Unterwegs zu Mr. Shouls Garage sah Mr. Potter einen Jungen auf dem Weg zur Schule, er sah die an einem Draht zum Trocknen aufgehängte Wäsche, fast alle Kleidungsstücke einer einzigen Familie. Er sah eine Frau, die eine Zigarette rauchte, er roch den Gestank einer gräulichen Flüssigkeit, die sich im Rinnstein sammelte, er sah ein paar Vögel auf einem Zaun sitzen, und nichts davon erinnerte ihn auch nur im Geringsten an sich selbst, und zwar deshalb, weil alles, was er sah, so eng mit ihm zusammenhing; zwischen ihm und dem, was er sah, gab es keinerlei Distanz. Und so bog Mr. Potter in die Corn Alley ein, ging weiter und bog dann in die Nevis Street ein und stand nun vor Mr. Shouls Garage. Mr. Shoul war nicht da und brauchte auch nicht da zu sein. Und an dem Tag, als Mr. Potter Dr. Weizenger zum ersten Mal begegnete, stand die Sonne da, wo sie auch sonst immer stand, hoch oben und mitten am Himmel, sie schien wie auch sonst, so gleißend und grell, dass selbst die Schatten verblassten und Schutz suchten, sodass Mr. Potter den Weg zu Mr. Shouls Garage durch eine Reihe schmaler Gassen und schattiger Seitensträßchen nahm; an so einem Tag begegnete Mr. Potter Dr. Weizenger zum ersten Mal.

In Mr. Shouls Garage standen drei Autos, und alle gehörten Mr. Shoul, aber Mr. Shoul selber war nicht in der Garage bei seinen Autos. Mr. Shoul war in seiner eigenen Wohnung über der Garage, wo die drei Autos standen, und Mr. Shoul hatte inzwischen, das heißt, bis Mr. Potter in der Garage mit den drei Autos ankam, Eier und Porridge und Brot mit Butter und Käse gegessen und einige Tassen Lyons-Tee getrunken und unfreundliche Dinge auf unfreundliche Art zu einer Frau gesagt, die die Kleidung seiner Familie wusch, und dann unfreundliche Dinge auf unfreundliche Art zu der Frau, die ihm gerade das Frühstück gemacht hatte. Diese beiden Frauen waren in keiner Weise mit ihm verwandt, er kannte sie überhaupt nicht, sie gehörten, wie Mr. Potter, zu den Leuten, unter denen er lebte, seit er jenen so weit entfernten Ort verlassen hatte, Libanon oder Syrien oder so ähnlich, dürre alte Länder. Und im Libanon oder in Syrien, in diesen dürren alten Ländern, wäre Mr. Shouls Frühstück nicht so üppig und frisch gewesen (die Eier waren am Vortag gelegt worden, und das ganze Frühstück war mit Sorgfalt zubereitet), aber Mr. Shoul konnte sich an alles anpassen und passte sich an alles an, wie es gerade kam, und vieles kam, Gutes und Schlechtes, und er blieb, wenn es gut war, und verschwand bald, wenn die Dinge schlecht liefen. Aber jetzt standen die Dinge gut, und Mr. Shoul blieb bei seinem Frühstück sitzen, denn Mr. Potter war ja in der Garage und wusch die Autos, zuerst das, mit dem er, Mr. Potter, an diesem Tag fahren würde, also das, mit dem er jeden Tag fuhr, und dann wusch er das Auto, das sein Freund Mr. Martin fuhr, und dann wusch er das Auto, das Mr. Joseph fuhr. Mr. Joseph war kein Freund von Mr. Potter, Mr. Joseph war nur ein Bekannter.

Und an jenem Tag fuhr Mr. Potter den Wagen von Mr. Shoul zum Landungssteg, wo ein großer Dampfer aus irgendeiner düsteren Ecke der Welt erwartet wurde, irgendeinem weit entfernten Ort, wo Aufruhr, Vertreibung, Mord und Terror herrschten. Mr. Potter waren Aufruhr, Vertreibung, Mord und Terror nicht fremd; sein ganzes Dasein in der Welt, in der er lebte, verdankte er solchen Dingen, aber er hielt sich nicht damit auf und konnte sich ebenso wenig damit aufhalten wie mit dem Atmen. Und so begegnete Mr. Potter zum ersten Mal Dr. Weizenger.

Und wer war Dr. Weizenger? Und wer konnte diese Frage korrekt beantworten, oder wer konnte sie vollständig beantworten? Eigentlich niemand, jedenfalls nicht dieselbe Person, die eine genaue Beschreibung irgendeines Menschen auf dieser Welt liefern konnte und all dessen, woraus er bestehen mochte. Dr. Weizenger konnte keine genaue Beschreibung von sich selbst geben, denn eine genaue Beschreibung seiner selbst wäre zu viel für ihn gewesen. Aber der Mann namens Dr. Weizenger begegnete Mr. Potter an jenem Tag, einem Tag wie die meisten Tage im Leben Mr. Potters: Lange vor Mittag stand die Sonne schon mitten am Himmel und dann lange nach Mittag, denn Zeit, wie Dr. Weizenger sie bemessen mochte und wie er sie kannte, hatte für Mr. Potter eine andere Bedeutung; dies war nicht ihr erstes Missverständnis, es war nur eines von vielen. Dr. Weizenger war neu hier, aber seit vielen Jahren war Dr. Weizenger ständig irgendwo neu. Dreihundert Jahre lang lebten er und alle seine Leute in einem Land, das einst Tschechoslowakei hieß, er und alle seine Leute lebten dort in den Dörfern, in den Städten, in der Hauptstadt und in den Provinzen dieses Landes, und auf einmal konnten er und alle seine Leute nicht mehr in der Tschechoslowakei und Umgebung bleiben. Und deshalb war Dr. Weizenger einmal hier, einmal dort, einmal überall gewesen, und jetzt stand er vor Mr. Potter, und das war jetzt endgültig der Ort, an dem er bleiben würde, und das erklärte vielleicht seinen Hass und seinen Mangel an Sympathie für Mr. Potter (und alle, die wie Mr. Potter aussahen).

Dieser Satz sollte damit beginnen, dass Dr. Weizenger aus der Barkasse stieg, die ihn von seinem Schiff an Land brachte, das im tiefen Teil des Hafens vor Anker lag, aber es geht um Mr. Potters Leben, und deshalb darf man niemals einen Satz mit Dr. Weizenger beginnen. Das entscheide nicht ich als Autorin oder weil es der Verlauf der Handlung bedingt, ich sage dies nur, weil es wahr ist: Mr. Potters Leben gehört ihm allein, und niemand anderes sollte Vorrang vor ihm haben. Und deshalb beginnt dieser Satz, dieser Abschnitt folgendermaßen:

Als Mr. Potter Dr. Weizenger zum ersten Mal sah, dachte er an eine Frau, sie hieß Yvette und war vor Kurzem bei der Geburt von Mr. Potters erstem Kind, einem Mädchen namens Marigold, gestorben; den Namen erhielt das Mädchen von Yvettes Verwandten, und er hatte für diese Verwandten keinerlei Bedeutung und hatte mit Mr. Potter nicht das Geringste zu tun, ohnehin hatte Mr. Potter mit Yvette nicht viel zu tun. Und als er an diese Frau dachte, an Yvette, die gerade sein erstes Kind mit dem Namen Marigold zur Welt gebracht hatte, dachte er nicht, dass die Welt jetzt von Glück erfüllt war, dachte er nicht an den goldenen Schimmer, der die Welt bei ihrer Entstehung verwandelte, nicht an das neue, satte, durchsichtige Licht, nicht an das Wunder, das Geheimnis, das nie Erforschbare, die Kränkungen, auf die Zorn folgen würde, und wie der dann zu Leere führen würde, und wie es kam, dass er, Mr. Potter, in dieser Leere lebte. Die Gedanken, die Worte, die Mr. Potter bei der ersten Begegnung mit Dr. Weizenger in den Sinn kamen und die er herausbrachte, waren: »Mr. Shoul hat mich geschickt« oder vielmehr: »Ich komm von Shoul.« Und Mr. Potter sah Dr. Weizenger, und Dr. Weizenger sah Mr. Potter. Und Dr. Weizenger dachte nicht an alles, was er hinter sich gelassen hatte, nicht an die Tausende von Jahren, nicht an die Hunderte von Jahren, nicht einmal an die letzten Augenblicke, die nun etwas waren, was man Geschichte nannte, eigentlich dachte er an gar nichts, nicht einmal an seine momentane Unzufriedenheit, nicht einmal an die Wunde in seinem Bauch, verursacht durch den Aufruhr der Welt, der auf dem Weichen unter der Haut lastete, die seinen Bauch bedeckte, sodass sich sein Kopf in einem Moment leerte und sich im nächsten mit tröstlichen Bildern aus seiner Kindheit füllte, und dieser Trost irritierte ihn. »Dr. Weizenger«, sagte Dr. Weizenger und nannte seinen Namen. Potter, sagte Mr. Potter nur zu sich. So ein toter Mann, dachte Mr. Potter beim Anblick von Dr. Weizenger (Der is tot, der is tot). So viel Dummheit, dachte Dr. Weizenger bei sich, als er Mr. Potter zum ersten Mal sah, so viel Unwissenheit. Und Mr. Potter verstand Dr. Weizenger nicht, denn Mr. Potter konnte nicht lesen, und als ihn Dr. Weizenger aufforderte, sein Gepäck unter all den anderen Gepäckstücken hervorzuholen, die vom Dampfer auf die Barkasse umgeladen worden waren und jetzt dort am Boden lagen, rührte sich Mr. Potter nicht. Was soll ich machen?, sagte Mr. Potter, aber nur zu sich selbst, und er lächelte Dr. Weizenger an. Das Meer, das Meer, das Meer, das weite, weite, ach so weite Meer lag vor ihnen, vor Mr. Potter und Dr. Weizenger, und für beide barg es so viele Gefahren, so viele düstere Erinnerungen. Auf Dr. Weizengers Koffer stand »Singapur« und »Shanghai« und »Sydney«, aber Mr. Potter konnte nicht lesen und wusste deshalb nicht, was die Wörter bedeuteten. Und auf Mr. Potters Gesicht stand »Afrika« und »Europa«, doch Dr. Weizenger hatte nie die Sprache lernen müssen, in der diese Wörter geschrieben waren, und würde auch nie (wie sich später herausstellte) in der Lage sein, sie zu lesen. Und so stand er an der Mole und wunderte sich nicht darüber, dass er am Leben war, sondern darüber, dass etwas so Unbegreifliches wie Mr. Potter vor ihm stand und dass diese seltsame Sonne so gnadenlos herabbrannte, und war es dasselbe Meer mit demselben Namen und war es ihm gefolgt, seit es ihn zu den Gestaden Griechenlands, Singapurs, Shanghais und Sydneys gebracht und wieder fortgeführt hatte (nur in diesen Häfen hatte er an Land gehen dürfen). Dr. Weizenger wäre in diesem Moment fast gestorben, wäre beinahe auseinandergebrochen wie ein schlecht gezimmertes Möbelstück, aber seine Frau May (so hieß sie nämlich, May) kam und sagte: »Nun?«, und sie stammte aus England, besser noch: aus dem Teil, den man das Britische Empire nennt, und Mr. Potter verstand ihr Englisch und den Ton, in dem sie sprach.

Und da war das Meer, das Dr. Weizenger gerade hinter sich gelassen hatte und dem er jetzt den Rücken zuwandte, und da war das Meer, das Mr. Potter schon vor so langer Zeit hinter sich gelassen hatte und das dennoch immer und immer wieder sein Leben bestimmte. Mr. Potters Vater war Fischer gewesen, und er war gestorben, nachdem er das Meer verflucht hatte, weil es ihn enttäuscht hatte, und keiner von Mr. Potters vielen Brüdern war Fischer geworden. Mr. Potter fürchtete nämlich das Meer, und dann hasste er es auch, so viel Wasser, so viel Nichts, und dieses Nichts war nur Wasser. Mr. Potter sehnte sich danach, sich dem Meer überlegen zu fühlen, er wünschte sich, sich gegenüber etwas überlegen zu fühlen, das eine solche Macht über ihn besaß. Seine Mutter war damals schon tot. Und nachdem Dr. Weizenger viele Jahre lang mitten in Europa gelebt hatte (wie alle seine Leute), fand er das Meer geheimnisvoll, so viel Wasser, so unbezähmbar, nicht wie ein Fluss, nicht wie ein See; und wie grausam ihn das Meer in die Vertreibung und in die Heimatlosigkeit geführt hatte, und als er vor Mr. Potter stand und vor dem Meer (das Meer war links von ihm und auch rechts von ihm und hinter ihm), war Dr. Weizenger verwirrt, dann zornig und dann stumm. Und May sagte: »Nun!« Und in der Stille des Meeres (denn das Meer ist still, nur wenn es aktiv wird, erzeugt es Geräusche: Jammern, Schreie, Wehklagen; und dann kommen Kummer, Reue, Verzweiflung) und in dem »Nun!« seiner Frau und dem so dahingesagten »Eh, eh« von Mr. Potter konzentrierte sich alles, was sie kannten. Und dieser konzentrierte Augenblick war besonders und gewöhnlich: Denn alle Augenblicke sind besonders, und alle sind gewöhnlich, und wer macht sie dazu?

Und Dr. Weizenger blickte nach oben und sah die Sonne: Die Sonne war dort, wo sie auch sonst war, hoch oben und mitten am Himmel, und sie schien wie auch sonst, so gleißend und grell, und Dr. Weizenger konnte kaum seinen Schatten sehen, so kurz war er geworden, als hätte er vor der Hitze der Sonne Zuflucht gesucht, als wäre er von der Sonne ausgelöscht worden, und er fühlte sich so allein, denn nicht einmal sein eigener Schatten konnte ihm Schutz bieten. Und wieder blickte Dr. Weizenger nach oben und fragte sich, ob die Sonne wohl immer so schien, und hoffte, dem wäre nicht so, der Tag so strahlend, die Sonne so unentwegt am Himmel, das grelle Licht weder durch Wolken noch irgendein natürliches oder unnatürliches Hindernis gedämpft; er hoffte auf ein paar andere Tage, Tage, die zu einem Gefühl passen würden, dunkle und trübe Tage, diesige kalte Nebeltage, Tage, an denen sich die Sonne durch riesige schwarze Wolkenbänke kämpfte; Tage, die zur inneren Landschaft passen, die genau zu der Art Gefühle passen würden, die ihn für den Rest seines Lebens begleiten sollten. Denn Dr. Weizenger hatte schon Tage gesehen, an denen die Sonne überhaupt nicht schien, nicht wie sonst hoch oben und mitten am Himmel, nicht einfach morgens am Horizont auftauchte und abends nicht einfach am Horizont verschwand; er hatte Tage erlebt, die sahen aus, als wäre die Landschaft mit Schwaden verdünnter Milch gezeichnet, als wäre der Mensch, der diese Landschaft gemalt hatte, in einem verzweifelten Zustand gewesen, und das Milchige, das die Atmosphäre einhüllte, war nicht zufällig und nicht absichtlich, sondern einfach nur so; das hatte Dr. Weizenger damals gedacht. Und Shanghai und Singapur und Sydney und all die anderen Orte, aus denen Dr. Weizenger oder durch die er gekommen war, mit ihrem Smog und ihrem Nebel und der dampfigen Luft, Orte, wo die Sonne nicht tagtäglich schien, die machten Dr. Weizenger misstrauisch gegenüber dem Tag, den er jetzt erlebte, dem Tag, an dem er Mr. Potter zum ersten Mal begegnete. Dr. Weizenger war aus einer Stadt namens Prag gekommen, aber Mr. Potter hatte noch nie von ihr gehört, und Mr. Potter konnte nicht lesen, und deshalb konnte er sie auch nicht auf einer Landkarte finden; Mr. Potter hätte leicht eine Karte finden können, denn das Britische Empire schämte sich nicht, Reklame für sich zu machen, aber Mr. Potter konnte nicht lesen, weder eine Landkarte noch irgendetwas anderes.

In allen Biegungen der Straße lauert der Tod, dachte Dr. Weizenger; jede Biegung der Straße kann zum Tod führen, dachte Dr. Weizenger; aber bisher waren die Straßen zum Tod immer in Nebel gehüllt gewesen. Strahlend, dachte Dr. Weizenger bei sich, und dann Strahlen, so beschäftigt mit diesem Gedanken, dass ihm nicht bewusst war, dass ihm die Worte durch den Kopf gegangen waren. Aber er stand mitten in diesem gleißenden Licht, die Sonne stand mitten am Himmel, und es war mitten am Tag. Strahlen und strahlend, dachte Dr. Weizenger, bloß sagte er diese Wörter zu sich in einer anderen Sprache, nicht in dem Englisch, das Mr. Potter zwar verstehen, jedoch nicht lesen konnte; er sagte diese Worte in einer Sprache, die Mr. Potter noch nie gehört hatte, und als er Dr. Weizenger reden hörte, dachte er bei sich, es sei, als komme Dr. Weizenger von einer anderen Art Menschheit, Leuten, die wie Dr. Weizenger nicht einmal richtig sprechen konnten, sagte Mr. Potter zu sich. Und wieder dachte Dr. Weizenger Strahlen und strahlend, und die Wörter wirbelten in seinem Kopf; und er dachte, wie schön doch Licht jeglicher Art war und wie viel besser die Helligkeit als die Dunkelheit und wie das Licht an sich das Mittel gegen die Dunkelheit war, alles, was er kannte, hatte ihn das gelehrt, alles, was er hinter sich gelassen hatte, hatte ihm beigebracht, dass Licht der Feind der Dunkelheit war, und alles, was er sich zu eigen gemacht hatte, lief darauf hinaus, dass allein das Licht ein Heilmittel gegen die Dunkelheit war. »Strahlend, so strahlend«, sagte Dr. Weizenger laut, doch nur er konnte es hören, »und alles Gute auf der Welt, und dieses Gute ist winzig, und alles Böse auf der Welt, und dieses Böse ist riesig, wird durch dieses Strahlen verwandelt, und die Welt wird dann, endlich, nicht gleichgültig gegenüber Gut und Böse, denn das eine wird angenommen und das andere verworfen, so groß ist die Macht dieses strahlenden Lichts.« Und Dr. Weizenger sagte das alles sehr laut, ganz laut, und trotzdem konnte nur er es hören. Und Dr. Weizenger sah Mr. Potter an, und Mr. Potter dachte bei sich: Jetzt ist dieser Mann, der nicht richtig sprechen kann, böse auf mich, jetzt ist er zufrieden mit mir, jetzt ist er beides zugleich.

Und Dr. Weizenger schaute also Mr. Potter an, der im Licht der ewig scheinenden Sonne stand, der Sonne, Inbegriff des Lichts, im Sonnenlicht, dem sich alles Licht beugt, Licht, das für sich steht und auch die Metapher ist für alles andere, das Helligkeit sein will. Aber das Licht, in dem Mr. Potter stand, war gar nicht strahlend, es war nur die Sonne, die schien wie sonst auch, so wie es Mr. Potter gewohnt war, jedoch nicht Dr. Weizenger, für den es ungewohnt und enttäuschend war. Und May sagte »Nun!« und meinte damit, dass alles in Ordnung war und alles so weitergehen konnte, denn es gab kein Hindernis, das ihre Autorität nicht hätte überwinden können, und sie sagte »Nun!« und noch einmal »Nun!«. Und Dr. Weizenger dachte, wie schön Licht in jeder Form war, Licht, das nicht aus einem Hochofen kam, einem echten Hochofen, der mit Kohle oder Leichen befeuert wurde; Licht, echtes Licht, dessen Gegensatz Dunkelheit ist, echte Dunkelheit, keine Metapher für die Dunkelheit, aus der Mr. Potter und seine Ahnen gekommen waren.

Und das helle Licht, dachte Mr. Potter, war viel zu viel für ihn (aber Mr. Potters Gedanken waren zu der Zeit nicht von ihm getrennt, seine Gedanken und er waren eins), und er wünschte sich einen Blendschutz für seine Augen, einen Schutz für sich selbst, aber er kannte keinen. Und Mr. Potter zog seine hohen Wangen nach oben und seine niedrigen Augenbrauen zusammen, sodass er ganz verkniffen aussah, und er dachte, allein er sähe so aus; er wusste nicht, dass andere Menschen in genau dieser Weise auf plötzliches grelles Licht reagieren: Vielleicht verziehen sich alle Gesichter so als Reaktion auf eine bestimmte Art von Angriff. Wie abstoßend ist dieser Mann, dachte Dr. Weizenger, wie hässlich ist sein Gesicht, dachte seine Frau May. »Es könnte bald regnen«, sagte Dr. Weizenger. »Es wird bestimmt bald regnen«, sagte Mrs. May Weizenger. Es regnet bestimmt nicht, dachte Mr. Potter bei sich, aber er sprach seine Gedanken nicht laut aus, und da waren seine Gedanken nicht von ihm getrennt, seine Gedanken und er waren eins.

Und als Dr. Weizenger auf der Türschwelle des Hauses stand, seines Hauses auf der Insel Antigua, schien die Sonne, und seine Frau May Weizenger (jetzt hieß sie Weizenger, doch vorher hatte sie vielleicht Smith oder Locke geheißen, irgendwas in der Art) stand neben ihm, und er wollte durch die Tür eintreten und tat das auch, er schritt über die Schwelle und blieb genau der Mann, der er früher gewesen war, der Mann, der aus Prag gekommen war und mit allem, was damit zusammenhing, seine Errettung vor dem Tod, die Vertreibung aus seinem Paradies, seine Reisen an Orte mit jenen schrecklichen Namen, die er zuvor nur auf einer Landkarte gelesen hatte; und jetzt kam er zu Mr. Potter und dem Ort, der Mr. Potter zu dem gemacht hatte, was er war und was er sein würde, und all das hatte so gar keine Bedeutung, Dr. Weizenger hatte den Ort nicht einmal auf einer Karte gesehen, denn kein Kartograph hatte je von Mr. Potter erfahren und von seiner Herkunft und was ihn zu dem gemacht hatte, was er geworden war. Und auch Mr. Potter betrat Dr. Weizengers Haus, öffnete alle Fenster und zeigte Dr. Weizenger und seiner Frau May, wie man die Fenster öffnete und schloss, wie die Gitter erst in die eine, dann in die andere Richtung gedreht werden mussten, und Dr. Weizenger staunte, wie schlicht und präzise das funktionierte, und sofort schloss er den Gedanken aus, dass etwas so Schönes wie das saubere und effektvolle Öffnen und Schließen der Fenster irgendetwas mit Mr. Potter zu haben könnte, und er wünschte, Mr. Potter würde jetzt einfach gehen, aber Mr. Potter kannte den Mann, der die Fenster angebracht hatte, sehr gut, sie waren entfernt miteinander verwandt. Dr. Weizenger konnte das nicht wissen und wollte es in dem Moment auch gar nicht wissen, und schließlich, wieso sollte er auch?

Aber wozu machte Mr. Potter alle Fenster auf? Mr. Potter hatte das Haus betreten, ging von Zimmer zu Zimmer und machte alle Fenster auf; es gab insgesamt zwanzig Fenster, aber die Zahl interessierte Mr. Potter nicht, und Dr. Weizenger war so von Empfindungen erfüllt, dass diese vielen Fenster für ihn keine Bedeutung hatten (doch nur in diesem Moment, ein andermal wäre es vielleicht anders, aber wer wusste schon, ob es ein andermal geben würde). Und Mr. Potter öffnete die Zimmer, als wäre er zwar nicht für die Räume und die Fenster zuständig, aber für den Bereich außerhalb der Zimmer und jenseits der Fenster. Der Bereich jenseits der Fenster war einfach nur Luft, enthielt keine Dinge, die von Menschenhand gemacht waren, jedoch Dinge, die der menschliche Verstand hervorgebracht hatte: Da gab es Bäume, Sträucher, Kräuter und andere Beeinträchtigungen aus dem Reich der Pflanzen; es gab Tiere und Vögel und andere Beeinträchtigungen aus dem Reich der Tiere; da war eine Leere, die darauf wartete, mit etwas gefüllt zu werden, aber womit, womit nur und womit denn noch? Doch Mr. Potter, das ganze Wesen, das Mr. Potter ausmachte, war nichts an sich, nichts im Sinne von etwas Wertlosem, nichts in der Art eines unnötigerweise angezündeten Streichholzes, so dachte jedenfalls Dr. Weizenger, und so dachte auch der Rest der Welt, der eine Vorstellung von allem Möglichen haben und diese Vorstellung dann in den Alltag überführen konnte.

Doch beim Öffnen all dieser Fenster schaute Mr. Potter hinaus in das Licht, und es faszinierte ihn (Das macht mich ganz zittrig, es fühlt sich ganz komisch an), denn es war das Licht, das er seit eh und je kannte, so hell, dass es am Ende alles, was damit in Berührung kam, durchsichtig machte, es breitete sich vor Mr. Potter aus, als wäre es ein Meer, es bedeckte und enthüllte zugleich alles, was es umschloss; das Licht selbst war stofflich und verlieh allem anderen Stofflichkeit: Die Bäume wurden dadurch noch mehr zu Bäumen, und der Boden, in dem sie wurzelten, blieb nur noch mehr der Boden, und der Himmel offenbarte immer mehr von sich und den himmlischen Gefilden und von der Ewigkeit und kehrte dann zur Erde zurück; und Mr. Potter dachte nach, er war in das Licht draußen vor dem Fenster versunken (aber welchem Fenster? Es konnte jedes der zwanzig Fenster sein), er dachte nach, doch seine Gedanken sind inzwischen verschwunden, sein Kopf war leer, und er existierte nicht als Mensch, der jemandem Schmerzen bereiten konnte und wollte, und nicht nur als Opfer von Schmerz und Ungerechtigkeit. Und er sah, wie das Licht draußen alles so durchscheinend machte, und Mr. Potter war glücklich, er blühte auf vor Glück, ich war damals noch nicht geboren, er hatte meine Mutter noch nicht verlassen, sie war damals im siebten Monat mit mir schwanger, sie hatte noch nicht alle seine Ersparnisse an sich genommen, Geld, das er unter der Matratze des Betts versteckt hatte, das sie teilten, und sie war noch nicht davongelaufen; er konnte weder lesen noch schreiben, er konnte nicht zu einer Bank gehen, und meine Mutter hatte alle seine Ersparnisse mitgenommen, mit denen er eines Tages ein eigenes Auto kaufen und eigene Fahrgäste befördern wollte; und als sie Mr. Potter verließ und alle seine Ersparnisse mitnahm, war sie im siebten Monat mit mir schwanger. Meine Mutter hieß Annie. Und weil Mr. Potter weder lesen noch schreiben konnte, konnte er sich selbst nicht verstehen, konnte er sich anderen nicht verständlich machen, er kannte sich nicht, nicht, dass ihn das irgendwie glücklich gemacht hätte. Und weil Mr. Potter weder lesen noch schreiben konnte, machte er jemanden, der es konnte, der es sogar gern tat, lesen und schreiben. Und als Mr. Potter am Fenster stand und in die Welt hinausblickte (denn was er sah, war die Welt) in diesem besonderen Licht, auf diese besondere Art, dachte er nicht, das ist jetzt das große Glück, glücklicher als jetzt werde ich nie wieder sein, glücklicher kann kein Mensch jemals sein; das alles dachte er überhaupt nicht, denn in diesem Moment war er nicht von sich getrennt, er und dieses besondere Gefühl und dieser besondere Moment waren eins: Er war glücklich in diesem Licht, und die ganze Pracht der Welt konnte es ohne ihn nicht geben.