Mit 330 PS in ein neues Leben - Hamid Mossadegh - E-Book

Mit 330 PS in ein neues Leben E-Book

Hamid Mossadegh

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Beschreibung

Er ist das sympathische Gesicht des populären RTL2-Autoformats "Grip". Auf sozialen Netzwerken folgen ihm Hunderttausende von Menschen. Doch die eigentliche Geschichte von Hamid Mossadegh kennt kaum jemand. Sie handelt von seiner Herkunft im Iran, von Krieg, Flucht und Verlust und ist geprägt von zahlreichen persönlichen Rückschlägen, Depressionen und Ängsten. Aufgewachsen nahe Teheran, verändert die Revolution und der anschließende Krieg gegen den Irak sein Leben für immer. Seine Familie beschließt, nach Deutschland zu fliehen. Hier hat er es zunächst schwer, sich zurechtzufinden, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Bis er sein Verkaufstalent entdeckt, das ihn schließlich rettet. Schnell erlangt er den Ruf, an die exklusivsten Autos der Welt zu kommen, beliefert die Spitzen der Gesellschaft und wird sogar vom Fernsehen entdeckt. In diesem Buch erzählt Hamid Mossadegh erstmals seine Geschichte und blickt dabei hinter die Kulissen der ziemlich verrückten Autoindustrie.

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Seitenzahl: 321

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Hamid Mossadegh

Mit 330 PS in ein neues Leben

Hamid Mossadegh

Mit 330 PS in ein neues Leben

Bekannt aus GRIP - Das Motormagazin

Die unglaubliche Geschichte eines iranischen Flüchtlings, der zu Deutschlands berühmtestem Luxusautohändler Wurde

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbebliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

1. Auflage 2024

© 2024 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Anke Schenker

Umschlaggestaltung: Sonja Vallant

Umschlagfoto: Tamara Wachinger

Satz: Zerosoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-757-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-472-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-473-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Prolog

Hamburg, Deutschland. Irgendwann im Jahr 2013

Ich zitterte am ganzen Körper. Es war verdammt kalt hier draußen. Die Sonne war bereits seit einigen Stunden untergegangen und ich hatte keine Ahnung, wie spät wir es hatten. Ich wusste noch nicht einmal, wo genau ich hier eigentlich stand. Aber es war mir auch egal. Es war mir alles vollkommen egal. Ich befand mich in einem ganz merkwürdigen Zustand. Es war, als hätte ich die Welt um mich herum ausgeblendet. Als würde ich mich in einem Tunnel befinden. Die Realität drang nur noch schemenhaft zu mir durch. Da waren die hellen Straßenlaternen, die mich blendeten. Der kalte Asphalt unter meinen nackten Füßen. Das laute, anschwellende Hupkonzert der Autos, die an mir vorbeirauschten. Das alles geschah direkt um mich herum, doch es fühlte sich ganz fern an. Ich schloss meine Augen und breitete meine Arme aus. Ich hatte nur einen Gedanken: Hoffentlich geht es schnell. Hoffentlich muss ich nicht allzu stark leiden. Aber was hieß das schon? Ich litt seit Monaten. Es könnte doch kaum noch schlimmer werden.

Oder?

Ich vertrieb den Gedanken. Wieder spürte ich, wie Autos mit hoher Geschwindigkeit an mir vorbeifuhren. Das Hupen wurde intensiver. Immer lauter. Dann klingelte mein Handy. Die Melodie meines Klingeltons war so unwirklich, dass sie mich verwirrte. Sie riss mich aus meinem merkwürdigen, traumartigen Zustand heraus. Es sollte aufhören, dachte ich. Doch mein Handy klingelte weiter. Ich öffnete die Augen und war plötzlich wieder ganz bei mir. Ich musste schlucken. Ich stand barfuß und nur mit einer Jogginghose und einem T-Shirt bekleidet mitten auf der Autobahn. Was zur Hölle machte ich hier nur? Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu orientieren. Dann setzte mein Überlebenstrieb wieder ein. Ich lief von der Autobahn herunter und setzte mich in mein Auto, das ich am Standstreifen geparkt hatte. Dann legte ich meinen Kopf auf das Lenkrad und hyperventilierte. Hamid, was machst du da? Was zur Hölle machst du da nur? Mein Handy klingelte immer noch. Ich nahm den Anruf an.

Es war mein Bruder. »Hamid«, fragte er. »Wo bist du? Wir machen uns Sorgen.«

Ich fing an zu weinen. Alles, wirklich alles brach aus mir heraus. Ich kriegte mich gar nicht mehr ein. »Ich weiß es nicht, Hamed«, schluchzte ich. »Ich weiß nicht, wo ich bin, ich weiß nicht, was ich hier mache.«

Er merkte mir an, wie verwirrt ich war, und er tat genau das Richtige. Er sprach ganz ruhig mit mir. Er blieb so lange am Telefon, bis ich mich wieder beruhigte. Nachdem ich mich gefangen hatte, drehte ich den Zündschlüssel um und fuhr wieder nach Hause.

Was hatte ich da gerade getan? Hatte ich wirklich versucht, mich umzubringen? Mir wurde ganz schlecht. Ich schämte mich so sehr.

Als ich zu Hause ankam, erwartete mich bereits mein Vater vor der Tür. Er war blass. Als er mich sah, nahm er mich in den Arm und fing an zu weinen. »Hamid«, schluchzte er. »Was ist nur mit dir los? Ich mache mir so wahnsinnige Sorgen um dich …«

Auch ich fing wieder an zu schluchzen. »Ich weiß es nicht«, sagte ich zu meinem Vater. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Dann gingen wir in das Haus. Meine beiden Töchter schliefen bereits. Auf der Couch saßen mein Bruder Hamed und meine Frau Bettina. Bettina war völlig aufgelöst. »Es geht nicht mehr«, sagte sie. »Du kannst hier nicht mehr bleiben, du machst den Kindern mit deinem zerstörerischen Verhalten Angst. Du machst mir Angst. Ich habe vieles ertragen, aber jetzt ist eine Grenze erreicht.«

Ich musste schlucken. Meine Augen wurden wieder feucht. Nie in meinem Leben hatte ich mich selber so sehr gehasst wie in diesem Moment. Was war nur los mit mir? Wie ich konnte ich nur zu einem solchen Monster werden? »Ich werde eine Therapie machen«, sagte ich. »Ich werde das in den Griff bekommen.«

Bettina nickte. Aber sie konnte mir nicht mehr in die Augen schauen. Mein Bruder stand auf, klopfte mir auf die Schulter und verließ das Haus. Ich legte mich auf die Couch und schlief ein.

Am nächsten Morgen weckte mich Bettina. Ich schaute auf die Uhr. Es war 10:30 Uhr. Verdammt! Ich hatte völlig verschlafen. Ich sprang von der Couch und lief ins Bad. »Was machst du, Hamid?«, fragte sie mich.

»Ich muss in die Firma. Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Warum hast du mich nicht geweckt?«

»Du wirst nicht in die Firma gehen«, sagte Bettina kühl. »Ich habe dich bereits in der Klinik angemeldet. Sie erwarten dich dort.«

Die Klinik. Ich erinnerte mich. Ich hatte ihr versprochen, dass ich dort hingehen würde. Nach und nach fiel mir wieder ein, was gestern Abend passiert war. Es fühlte sich an, als wäre es nur ein böser Traum gewesen. Aber das war es leider nicht. Es war die Realität. Ich atmete einmal tief durch. »Bettina«, sagte ich. »Ich kann nicht in die Klinik gehen, ich muss arbeiten, ich muss Geld verdienen. Ich …«

Ich schaute meine Frau an und erschrak. Sie widersprach mir nicht. Sie hatte keine Kraft mehr dazu. Sie war völlig am Ende. Ich verstand, dass ich jetzt keine Ausrede mehr finden durfte. Jetzt nicht mehr. Es war zu ernst. »Okay … ich packe meine Sachen und …«

»Ich habe sie schon für dich gepackt«, sagte Bettina. Sie machte Ernst. Ich spürte, dass es für mich keine Chance mehr gab, aus der Sache herauszukommen. Dann fuhren wir gemeinsam in die Klinik, die etwas außerhalb in Harburg lag.

Die gesamte Autofahrt über sprachen wir kein Wort mehr miteinander. Ich hatte gehofft, dass Bettina mir Kraft geben würde, dass sie mir sagen würde, dass wir das schaffen, dass wir das hinkriegen. So, wie sie es mir früher immer gesagt hatte. Aber Bettina schwieg. Sie war genauso ausgebrannt wie ich. Die letzten Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen.

Dann fuhren wir auf dem Parkplatz der Klinik vor. An der Pforte meldete ich mich an. Eine Krankenschwester begrüßte mich und führte mich durch das Haus. Bettina kam nicht mit. Wir umarmten uns, dann ging sie wieder zum Auto und fuhr davon. Diese stolze und starke Frau war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Und das war meine Schuld, das hatte ich ihr angetan. Ich fühlte mich fürchterlich. Die Krankenschwester brachte mich auf mein Zimmer, das ich mir mit einem dicken Mittvierziger teilte, der gerade auf dem Bett lag und mir zunickte. Das Zimmer war klein. In der Mitte stand ein Tisch, es gab zwei Schränke, zwei Betten und ein Waschbecken. Das war’s.

Ich stellte mich meinem neuen Mitbewohner vor. »Ich bin Hamid«, sagte ich.

»Grüß dich, Hamid, ich bin Peter.« Peter schien ziemlich entspannt zu sein. Er lag auf dem Bett und las in irgendeinem Businessbuch. Doch bevor ich die Gelegenheit hatte, ihn wirklich kennenzulernen, wurde ich auch schon wieder von der Krankenschwester abgeholt.

Eine erste Untersuchung stand an. Man stellte mir einige Fragen, nahm mir ein wenig Blut ab und checkte mich allgemein durch. »Körperlich sind Sie fit«, sagte der Arzt.

Dann schickte er mich zu dem diensthabenden Psychologen. Ich betrat sein Zimmer. Eine Wand in dessen Zimmer war von einem raumhohen Regal voller Bücher bedeckt. Alles Fachliteratur. Der Psychologe war ein älterer Herr mit einer großen Brille, hatte grau melierte Haare und wirkte vertrauenswürdig. Als ich auf ihn zukam, erhob er sich aus seinem Bürostuhl und gab mir die Hand. »Herr Mossadegh, es freut mich, Sie kennenzulernen. Bitte setzen sie sich.«

Ich lächelte gequält.

Der Mann nahm meine Akte und öffnete sie. »Seit wann leiden Sie unter Depressionen?«, fragte er mich.

Das war eine gute Frage. Ich dachte zurück. »Eigentlich …« Ich zögerte. »Eigentlich kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der ich keine Depressionen hatte.« Ich blickte ins Leere. »Aber ich glaube, es ging so richtig los, als ich sieben Jahre alt war und nach Deutschland kam.«

Der Psychologe machte sich ein paar Notizen. »Sie sind suizidal?«, fragte er völlig ungerührt.

Ich musste schlucken. Es fühlte sich merkwürdig an, ein solches Wort an den Kopf geworfen zu bekommen. Aber es stimmte ja. Ich war … suizidal. Selbstmordgefährdet. »Ich fürchte, ja …«

Wieder machte sich der Psychologe Notizen. Dann beugte er sich vor. »Herr Mossadegh«, sagte er, »wie wäre es, wenn Sie einfach mal erzählen?«

»Wo soll ich anfangen?«, fragte ich.

»Ganz am Anfang, würde ich vorschlagen.«

Das würde eine lange Geschichte werden, dachte ich. Dann begann ich zu erzählen.

Kapitel 1

Es war bereits weit nach Mitternacht, als die Sirenen aufheulten. Instinktiv schreckte ich hoch. Wo war ich? Was war passiert? Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu orientieren. Ich schaute mich um. Alles war stockfinster. Ich konnte kaum die Hand vor den Augen sehen.

»Hamid«, hörte ich die Stimme von meinem großen Cousin Farshid, der neben mir lag und nach meiner Hand griff. »Ich habe Angst«, flüsterte er so leise, dass ich es kaum verstehen konnte. Seine brüchige Stimme wurde von dem Lärm geschluckt.

»Alles ist gut«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Aber ich wusste, dass die Dinge alles andere als gut waren. Die Sirenen heulten wieder auf. Es war ein lautes, schrilles Geräusch, dass meinen gesamten Körper zu durchdringen schien. Eben lag ich noch im Tiefschlaf – jetzt war ich hellwach und bereit, um mein Leben zu rennen. Ich wartete nur noch auf ein Signal. Mein Herz schlug wie verrückt.

Dann endlich wurde die Tür aufgerissen und ich hörte die Stimme von meiner mamani, meiner Oma. »Jungs«, flüsterte sie. »Seid ihr wach?« Was für eine Frage! »Kommt schon, Jungs«, drängte sie, »wir müssen hier sofort raus.« Ich hielt meinen Cousin an der Hand und zog ihn hinter mir her, dann liefen wir durch das Schlafzimmer in den großen Wohnbereich. Dort drückte mir mamani eine Taschenlampe in die Hand. »Schnell«, hetzte sie uns weiter, »wir müssen schnell runter.« Ich war noch ein wenig benommen, aber ich kannte diese Situation. Ich wusste, dass wir keine Zeit verlieren durften.

»Bleib dicht bei mir«, sagte ich zu meinem Cousin, ließ seine Hand los und schaltete die Taschenlampe ein. Ich drückte sie mir fest auf die Handfläche, sodass der Lichtkegel verschwand und nur ein gedämmter Schimmer übrig blieb, mit dem wir sehen konnten, was direkt vor uns lag. So, wie ich es gelernt hatte. Ich wusste: Licht war in dieser Situation tödlich. Die Sirenen heulten weiter. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, denn inzwischen konnte ich die Umrisse der Dinge in unserem Wohnzimmer erkennen. »Komm, los«, sagte ich zu meinem Cousin und nahm wieder seine Hand.

Wir liefen durch den großen Raum, aus dem Radio drang eine tiefe Männerstimme. »Xatar, Xatar«, wiederholte diese Stimme wieder und wieder auf Iranisch. Gefahr, Gefahr.

Mein Cousin und ich bahnten uns den Weg durch die Wohnung und versuchten nicht gegen die Kommoden und Schränke zu laufen. Dann erreichten wir endlich die Wohnungstür, wo mamani schon wartete und uns heranwinkte. »Schnell, schnell«, drängte sie uns. »Die Treppe runter, in den Keller.« Von draußen heulten die Sirenen in immer kürzeren Abständen. Wir wussten, was das bedeutete. Wir hatten keine Zeit mehr. Im Treppenhaus hörten wir die anderen Bewohner des Hauses heruntereilen. »Runter in den Keller«, drängte mamani weiter, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spürte.

Ich blieb stehen, drehte mich um und erkannte durch das matte Taschenlampenlicht meinen babai, meinen Großvater. Im Gegensatz zu allen anderen hier war er überhaupt nicht hektisch, im Gegenteil. Er stand ganz entspannt hinter uns und lächelte. »Kommt, Jungs, heute schauen wir uns das ganze Spektakel mal von oben an.«

»Bist du wahnsinnig?«, fluchte mamani, »kommt jetzt runter. Wir müssen in den Keller, wir sind oben nicht sicher.«

Aber babai ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Geh vor«, sagte er seelenruhig. »Wir kommen später nach.«

Ich hörte, wie mamani leise fluchend die Treppen hinunterhastete. Ich war wie erstarrt. Für einen ganz kurzen Moment wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich hatte gelernt, bei Bombenalarm in den Keller zu flüchten. Auf der anderen Seite wusste ich aber auch, dass babai auf uns aufpassen würde. Solange ich bei babai war, konnte mir gar nichts passieren. Da war ich mir sicher. Und so gingen wir mit ihm die Treppen hoch, er schloss die schwere Tür auf und plötzlich standen wir auf dem Dach des Hochhauses, in dem wir wohnten.

Ich hielt inne. Ich spürte, wie ich immer nervöser wurde. Mein Herz raste. Hier oben waren wir völlig ungeschützt. Ich hatte wahnsinnige Angst. Aber dass mein babai so entspannt blieb, beruhigte mich auch wieder. Von hier oben klangen die Sirenen noch sehr viel schriller. Ich hielt mir die Ohren zu, so laut waren sie. Dann setzten wir uns an den Rand des Daches und blickten auf die Stadt hinunter. Sie war stockfinster. Die Stadtwerke hatten den Strom abgestellt. Es war, als würde man auf eine schwarze Fläche schauen.

»Da oben«, flüsterte babai und wir sahen, wie ein paar gelbe Punkte über die Stadt flogen und etwas fallen ließen. Es gab ein Pfeifgeräusch. Ich kannte das schon. Wieder hielt ich mir die Ohren zu, denn ich wusste, dass auf das Pfeifen meist ein lautes Knallen folgte. Und so war es auch dieses Mal. Ein großer Feuerball stieg auf und die Erde begann zu beben. »Das sind die irakischen Flugzeuge«, erklärte uns babai. »Scheinbar haben sie etwas getroffen.«

Ich wusste, dass die Flieger jeden Abend kamen. Und ich wusste auch, dass sie sich am Licht orientierten. Dort, wo Licht war, ließen sie die Bomben fallen. Vorsichtig schaute ich auf meine Taschenlampe. Ich wollte sichergehen, dass sie auch wirklich abgeschaltet war. Ich erinnerte mich daran, dass während eines Bombenalarms einmal ein Taxi auf der Straße stand, bei dem noch Licht brannte. Sämtliche Nachbarn waren herausgekommen und schlugen mit Stöcken und Hämmern so lange auf das Fahrzeug ein, bis es nur noch ein einziger großer Schrotthaufen war.

»Da, Hamid, schau!«, riss mich mein babai aus den Gedanken und ich sah, wie ein paar grüne Striche vom Boden in Richtung der Flugzeuge aufstiegen. »Das sind unsere Jungs«, sagte er. »Sie schießen Raketen auf die Irakis.« Die Flugzeuge drehten ab.

Dann verstummten die Sirenen und es wurde wieder ruhig in der Stadt. Wir blieben noch eine Weile auf dem Dach sitzen, bis die Lichter wieder angingen und nach und nach aus der schwarzen Fläche eine Stadt voller Häuser und Straßen und Autos und Menschen erwuchs. Es war ein beinahe magischer Moment. Dann fuhr uns babai durch die Haare. »Na los, gehen wir schlafen. Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.«

Das war mein Leben. Ich war gerade einmal fünf Jahre alt und mein Alltag war der Krieg. Ich lebte mit meiner Familie in einem Vorort von Teheran. Wir schrieben das Jahr 1984 und unsere gesamte Welt befand sich in einem Umbruch. 1979, dem Jahr, in dem ich geboren wurde, fand die Iranische Revolution statt. Der liberale und westlich ausgerichtete Schah wurde von ultrafundamentalen Islamisten gestürzt und ein Jahr später führte unser Land einen Krieg gegen den Irak. Das war die Welt, in die ich hineingeboren wurde. Krieg, Revolution und Bombenalarm. Ich kannte es nicht anders.

Wenn es ein Gefühl gab, das meine Kindheit prägte, dann war es das Gefühl der Angst. Ich wuchs in einer Welt auf, in der alles bedrohlich war. Es reichte aus, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, und man war tot. Mit diesem Bewusstsein ging ich durch die Welt. Der einzige Mensch, der mir diese Angst nehmen konnte, war mein babai. Mein Opa war der wichtigste Mensch in meinem Leben und ich verbrachte beinahe meine gesamte Zeit bei ihm. Egal, wie die Zustände um uns herum waren, er gab mir immer das Gefühl von Geborgenheit. Egal, wie wenig Geld wir hatten, wir litten nie Hunger. Egal, wie tief die Bomber flogen, wir hatten nie das Gefühl, dass uns etwas passieren konnte. Mein babai würde uns immer beschützen. Egal, was passieren würde.

* * *

»Gut geschlafen?«, fragte babai, als ich in die Küche kam und mich umschaute. Ich nickte. Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, ob das gestern Nacht wirklich passiert war. Ob wir uns wirklich auf das Dach gesetzt und die Flieger beobachtet hatten oder ob ich das bloß geträumt hatte. Nein, es war kein Traum. Es war wirklich passiert. Ich dachte noch einmal an die Flugzeuge, die über die Stadt flogen und ihre Bomben herabwarfen. Bisher kannte ich nur das Hinterher. Ich wusste, wie die zerstörten Gebäude aussahen. Die Krater, die sich tief in die Erde gruben. Jetzt hatte ich zum ersten Mal gesehen, wo das alles herkam.

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich stand auf und setzte mich an unseren Frühstückstisch. Mamani hatte bereits eingedeckt. Es gab Fladenbrot und Schafskäse, dazu Oliven und einen Schwarztee. Ich beobachtete, wie babai vor dem Spiegel stand und sich zurechtmachte. Er hatte dunkle Haare, einen vollen Schnurrbart und einen stolzen Bauch, den er vor sich hertrug. Er nahm sich immer viel Zeit für eine aufwändige Nassrasur, bei der ich ihn stets fasziniert beobachtete. Sein Ritual endete damit, dass er ein süßlich riechendes Aftershave auftrug. Dann strich er seinen Anzug glatt und war bereit, in die Welt hinauszutreten. Und mein Cousin Farshid und ich, wir waren seine Gefolgschaft. Für uns war es das Größte, ihn zu begleiten.

Ich hatte keine Freunde. Ich hatte nur Farshid und meinen Großvater. Das war meine ganze Welt. Aber sie reichte mir völlig aus. Ich war ein wahnsinnig ängstliches Kind und hatte vor allem und jedem Angst. Vielleicht lag das an den Umständen. An dem Krieg. An der allgemeinen Unsicherheit im Land. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es mir unangenehm war. Dass ich mich oft schämte, wenn ich sah, wie die anderen Kinder allein durch die Stadt liefen und miteinander spielten. Sie fühlten sich unverwundbar. Ich bewunderte sie ein wenig und wünschte, dass ich auch so sorglos sein könnte, wie sie es waren. Aber das war ich nicht. Ich fühlte mich nur sicher, wenn ich bei meinem babai war.

Es war zwar noch früher Vormittag, als wir aus der Haustür traten, aber die Hitze war bereits erdrückend. Es war jede Menge los. Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen, die an uns vorbeiliefen und auf dem Marktplatz ihre Einkäufe erledigten, immer in Eile waren. Nur babai schien alle Zeit der Welt zu haben. Er schien Gott und die Welt zu kennen. Ständig hielt er an und sprach mit Menschen, die ich noch nie gesehen hatte, die er aber behandelte, als kenne er sie schon sein Leben lang.

Als wir den Marktplatz hinter uns ließen, kamen wir an einem Mann vorbei, den ich schon öfter gesehen hatte. Ein Obdachloser. Er saß an eine Hausfassade gelehnt und spielte Flöte. Babai ging in die Knie und legte seine Hand auf die Schulter des Mannes. »Wie geht es dir heute, mein Freund?«, fragte er ihn.

Der Mann legte seine Flöte beiseite und wechselte ein paar Worte mit babai. Dann steckte mein Großvater ihm ein wenig Geld zu. Aber das war gar nicht mal das Besondere. Babai behandelte diesen obdachlosen Mann einfach genauso, wie er alle anderen Menschen behandelte. Er sprach mit ihm genauso, wie er mit dem Polizisten oder dem Arzt sprach. Er sagte zu uns Jungs immer, dass kein Mensch mehr wert ist als ein anderer Mensch. Das war seine tiefste Überzeugung. Er predigte uns Kindern das nicht, er lebte es uns einfach vor. Wie so viele andere Dinge auch.

Dann gingen wir wieder nach Hause und ich hatte das Gefühl, die Welt ein wenig besser begriffen zu haben. Meine Großeltern wohnten im selben Gebäudekomplex wie meine Eltern. Mein Vater und meine Mutter wohnten im Erdgeschoss mit meinem jüngeren Bruder Hamed, babai und mamani im Dachgeschoss. Sie erklärten sich bereit, meinen Eltern etwas Arbeit abzunehmen. Darum lebte ich bei ihnen. Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte, war sie noch sehr jung. Als sie mit mir schwanger wurde, war sie gerade einmal 18 Jahre alt. Ich glaube, dass meine Eltern mit ihrer Rolle als Eltern ein Stück weit überfordert waren. Die beiden hatten schon genug damit zu tun, sich miteinander zu arrangieren. Und dann kam ich. Und die Revolution. Und der Krieg. Und das ganze Vermögen, das sie hatten, war plötzlich nichts mehr wert.

* * *

Eine Woche nach unserem Abenteuer auf dem Dach wachte ich auf und spürte, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Irgendetwas war anders. Ich konnte nur nicht sagen was. Schon als ich aufstand, wurde mir schwindlig. Ich fühlte mich schwach. Meine Beine gaben nach und ich musste mich an der Wand abstützen. Mein Körper war so schwer. Und alles drehte sich. Jeder Schritt war ein Kraftakt. Völlig neben mir stolperte ich ins Wohnzimmer.

»Um Gottes Willen«, rief meine mamani, als sie mich sah. »Wie siehst du denn aus?« Sie wirkte erschrocken. Ich meine, sie wirkte wirklich erschrocken. Sie ließ beinahe das Geschirr fallen, das sie gerade abtrocknete. Was hatte sie nur?

Ich stolperte ins Badezimmer und betrachtete mich im Spiegel. Jetzt bekam auch ich einen Schreck. Was war das denn? Mein ganzes Gesicht, nein, mein ganzer Körper war voller roter Pusteln. Ich spürte, wie meine Beine immer wieder nachgaben. Alles um mich herum wurde schwarz und ich spürte nur noch, wie ich versuchte, mich gegen die Wand zu lehnen. Aber da war es schon zu spät. Ich wurde ohnmächtig.

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich im Wohnzimmer auf der Couch. Ich hörte Stimmen. Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, aber sofort fing wieder alles an, sich zu drehen. Ich konnte nur unscharf die Umrisse von Menschen erkennen, die nervös durch den Raum liefen. Ich erkannte sie nur an den Stimmen. Meine Großeltern waren da. Und meine Mutter und mein Vater ebenfalls. Sie alle schienen sich große Sorgen um mich zu machen.

»Gibt es denn wirklich niemanden?«, fragte meine Mutter.

»Nein, nein, nein«, sagte mein Vater. »Ich habe schon alles versucht. Die gesamte Stadt ist wie ausgestorben.«

Ich versuchte, die Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, zusammenzusetzen. Scheinbar versuchte meine Familie einen Arzt für mich zu organisieren. Aber es gab keine Ärzte mehr in der Stadt. Sie wurden alle abgezogen, um die Soldaten an der Front zu versorgen.

Als meine Mutter mitbekam, dass ich wach war, setzte sie sich zu mir und strich mir mit der Hand über die Stirn. »Mein armer Schatz«, sagte sie. »Du glühst ja.«

Tatsächlich war mir wahnsinnig heiß. Der Schweiß lief mir über die Stirn und ich hatte das Gefühl, ich würde von innen heraus verbrennen. Mamani brachte meiner Mutter einen kalten Waschlappen, mit dem sie mir das Gesicht abtupfte. Es war das erste Mal, dass ich sie so besorgt erlebte. Ich spürte, wie sich die ganze Familie um mich herum versammelte.

»Was ist mit mir?«, fragte ich. Meine Stimme war so brüchig, dass ich den Satz nicht wirklich zu Ende sprechen konnte.

»Du hast die Windpocken, mein Schatz«, sagte meine Mutter.

Windpocken? Dann dämmerte ich langsam wieder weg. Alles verschwamm wieder vor meinen Augen. Die Stimmen meiner Familie hörten sich merkwürdig verformt an. Wie dumpfe Bässe. Ich fing an zu träumen. Oder zu halluzinieren. Ich konnte das nicht mehr auseinanderhalten. Windpocken, ging es mir wieder durch den Kopf. Plötzlich war ich nicht mehr auf dem Sofa. Ich war draußen, vor der Tür, mitten auf der Straße. Aber niemand war da. Ich war ganz allein. Dann hörte ich ein lautes Geräusch. Eine Sirene. Ich schaute auf und sah, wie über mir die Flugzeuge kreisten und Bomben abwarfen. Sie schienen genau auf mich herabzufallen. Ich wollte laufen, weglaufen, aber ich konnte nicht, meine Beine gehorchten mir nicht. Voller Panik schrie ich nach meinem babai. Die Bomben kamen näher.

Dann schreckte ich auf. Es war nur ein schlimmer Traum. Ich sah in das besorgte Gesicht meiner Mutter, die versuchte, mich zu beruhigen. Ich hatte das Gefühl für Raum und Zeit völlig verloren. Ich wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war und wie lange ich hier schon lag. Minuten? Stunden? Tage?

Gerade als ich wieder einschlafen wollte, ging die Tür auf und babai kam herein. Er wirkte erschöpft. »Ich habe es«, sagte er. Schwerfällig drehte ich meinen Kopf zu ihm und sah, wie er triumphierend eine große weiße Packung in der Hand hielt. »Wir haben nur noch ein Problem«, hörte ich ihn sagen. Dann schlief ich ein. Erst viele Jahre später erklärten mir meine Eltern, dass es sich bei der Packung, die er wie den Heiligen Gral präsentiert hatte, um Penizillin handelte. Babai muss ungeheure Mühen auf sich genommen haben, das Medikament aufzutreiben. Wir waren im Krieg. Es herrschte sowieso schon eine grundsätzliche Mangelwirtschaft. Aber Medikamente waren die absolute Mangelware unter der Mangelware. Babai schaffte es aber irgendwie doch, das Mittel aufzutreiben. Er tauschte es gegen zwei Säcke Reis ein, was wiederum bedeutete, dass die gesamte Familie zwei Wochen lang hungern musste. Aber das nahmen alle in Kauf.

Und das Problem, von dem er sprach? Nun, das wurde scheinbar gelöst. Und die Lösung starrte mich unverwandt an, als ich nach ein paar Stunden wieder wach wurde. Eine große, dicke Frau mit einer dicken Brille saß direkt vor mir. »Er ist wach«, rief sie und meine Familie versammelte sich um das Sofa, auf dem ich lag. Mir ging es immer noch hundsmiserabel. Ich schaute mich um. Dann schaute ich wieder auf die dicke Frau. Ich kannte sie von irgendwoher, aber ich konnte das Gesicht nicht zuordnen.

»Wer … ist das?«, fragte ich schwach.

»Das ist Fatemeh, Hamid. Sie wird dir gleich deine Medizin geben«, hörte ich jemanden sagen.

Fatemeh. Fatemeh. Irgendwoher kannte ich diesen Namen doch. Ich musterte sie. Fatemeh … ja, genau. Jetzt fiel es mir wieder ein. Fatemeh war eine Schneiderin. Mamani ließ sich von ihr ihre Kleider nähen. Aber was macht eine Schneiderin hier? Ich brauchte doch einen Arzt … das ergab alles keinen Sinn. Träumte ich jetzt schon wieder? Wenn ja, dann wurde aus meinem Traum relativ schnell ein Albtraum, denn plötzlich packte Fatemeh ihr Besteck aus. Ich glaube, das war die größte Nadel, die ich in meinem ganzen Leben jemals gesehen hatte. Ich schaute mich um, denn ich verstand noch immer nicht, was das alles sollte. Erst als mir babai erklärte, dass sie mir jetzt das Penizillin spritzen müsste, verstand ich, was hier vor sich ging. Nicht nur die Ärzte, sondern auch sämtliche Krankenschwestern waren an die Front abgezogen worden. Also griff man auf die drittbeste Alternative zurück. Oder die viertbeste. Fatemeh konnte irgendwie mit Nadeln umgehen, das reichte in der Not als Qualifikation.

Als ich begriff, was hier vor sich ging, überkam mich eine Art Wunderheilung. Von einem Moment auf den nächsten fühlte ich mich wieder komplett fit. Zumindest so fit, von der Couch aufzuspringen und um mein Leben zu laufen. Unter keinen Umständen würde ich mir von Fatemeh diese Monsternadel in den Körper jagen lassen. Keine Chance. Wie ein aufgescheuchtes Tier lief ich durch die gesamte Wohnung und versuchte, meinem Schicksal zu entfliehen. Es war natürlich sinnlos. Irgendwann hatten mich die Erwachsenen eingefangen und hielten mich fest, während ich meine Medizin bekam. Und sagen wir einmal so: Der Beruf der Schneiderin qualifiziert wirklich nicht für medizinische Aufgaben.

Ich überlebte den Stich zwar, vergessen sollte ich ihn aber nicht. Wie sollte ich kein ängstliches Kind sein, fragte ich mich, wenn ich in einer Welt lebte, in der sogar eine Schneiderin eine Gefahr für mich sein konnte.

* * *

Ich wurde wieder ganz gesund. Wir hatten zwar zwei Wochen kaum etwas zu essen zu Hause, aber dass ich überlebt hatte, schien meiner Familie wichtiger zu sein. Und dann, ein paar Wochen später, kam der große Tag. Der Tag, an dem ich in den Kindergarten musste. Auch wenn sich alle meine Verwandten bemühten, mir zu erklären, wie toll das für mich doch werden würde – ich hatte überhaupt keine Lust. »Ich will nicht in den Kindergarten«, sagte ich.

»Hamid, glaub mir, das wird ganz toll«, versuchte es meine mamani. »Du wirst viele andere Kinder kennenlernen. Ihr könnt den ganzen Tag spielen. Das wird super.«

Ich schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. »Ich will nicht in den Kindergarten. Ich will keine anderen Kinder kennenlernen. Ich will nicht den ganzen Tag spielen.«

Sie atmete tief durch und strich mir über den Kopf. »Wo hast du nur gelernt, so stur zu sein?« Sie musste nicht auf eine Antwort warten. Sie wusste es ja selbst. Sturheit lag bei uns ein gutes Stück weit in der Familie.

Je näher der erste Kindergartentag kam, desto mehr steigerte ich mich in meine Ablehnung hinein. Da war wieder dieses Gefühl, das ich dachte, schon vergessen zu haben. Das Gefühl der Angst. Mir fehlte einfach die Fantasie, um mir vorzustellen, wie ich das durchhalten sollte. An einen fremden Ort zu gehen. Mit fremden Menschen. Ganz ohne meinen babai. Allein der Gedanke bereitete mir schon Bauchschmerzen.

Am Abend, bevor es so weit war, nahm mich mein babai in den Arm. »Du wirst das schon schaffen«, sagte er. »Es ist keine große Sache. Und wenn du alles hinter dich gebracht hast, dann gehen wir in den Park und machen ein schönes Picknick. Was meinst du?«

»Ich will nicht in den Kindergarten«, wiederholte ich nur stoisch. Ich spürte regelrecht, wie sich alles in mir verkrampfte. Da konnte mir babai so viel zureden, wie er wollte. Für mich war das einfach eine Horrorvorstellung.

»Komm schon, mein Junge«, sagte er, »mach es für mich, okay?«

Ich zögerte. Dann nickte ich. Also gut, dachte ich, wenn es meinem babai so wichtig war, dann würde ich es zumindest versuchen. Die Nacht über lag ich dennoch komplett wach. Ich schlief immer nur für eine kurze Zeit ein, schreckte dann aber wieder hoch und hatte im Kopf, dass es in ein paar Stunden so weit sein würde. Am nächsten Morgen war ich kreidebleich. Alles in mir sträubte sich. Ich bekam beim Frühstück keinen einzigen Bissen runter. Meine Großeltern redeten mir gut zu, aber ich nahm das gar nicht wahr. Ich befand mich in einem Tunnel und alles, was ich spürte, war Angst. Lähmende Angst.

Wovor ich genau Angst hatte? Ich weiß es nicht. Für mich war es einfach unvorstellbar, von meinem babai getrennt zu werden. Ich verbrachte jeden Tag mit ihm, fast jeden Moment meines Lebens. Wir lebten in einer Welt, in der Familienmitglieder in schwarzen Müllsäcken nach Hause gebracht wurden. In einer Welt, in der Flugzeuge Bomben abwarfen, die riesige Löcher in die Erde rissen. Ich wollte verdammt noch mal bei der einzigen Person bleiben, bei der ich mich sicher fühlte. War das denn so schwer zu verstehen? Doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich meinem babai versprochen hatte, es zumindest zu versuchen. Ich wollte ihn nicht enttäuschen.

»Komm, Hamid«, sagte babai, »es ist so weit.« Er brachte mich runter auf die Straße, wo schon ein Fahrer auf mich wartete. »Du bist ein großer Junge«, sagte er. »Du wirst das schaffen. Ich bin sehr stolz auf dich.«

Als er die Wagentür zuschlug, zuckte ich zusammen. Ich drehte mich noch einmal um und sah aus dem Rückfenster, wie babai mir winkte. Der Wagen fuhr durch die staubigen Straßen der Stadt und babai wurde immer kleiner. Irgendwann verschwand er und ich begann zu zittern. Ich schaffe das, redete ich mir gut zu, ich werde das allein hinbekommen. Ich dachte an babai und daran, was er zu mir gesagt hatte. Und an das Picknick, das wir für den Abend geplant hatten. Also versuchte ich mich zusammenzureißen.

Der Fahrer, den ich flüchtig kannte, war ein alter Freund der Familie und versuchte es mit ein bisschen Smalltalk, aber ich saß nur versteinert auf dem Rücksitz und gab mich meinem Schicksal hin. Nach einer halben Stunde waren wir am Ziel. Der Kindergarten.

Widerwillig stieg ich aus und ging in das Gebäude, wo mich schon eine Erzieherin begrüßte. Sie beugte sich zu mir runter. »Du musst Hamid sein«, sagte sie freundlich. Ich nickte. »Na komm, dann zeige ich dir mal alles.« Sie wollte mich an die Hand nehmen, aber instinktiv zog ich sie weg und hielt ein wenig Abstand. Sie nahm es hin. Das Gebäude war nicht groß, aber auf mich wirkte es riesig. Während mir die Erzieherin alle Räume zeigte, liefen Kinder an uns vorbei, die sich gegenseitig jagten, und ich wich einen Schritt zur Seite aus. Dann brachte sie mich in einen großen Raum, in dem die restlichen Kinder waren. Es gab ein paar Tische und wenige Spielsachen, dazu ein paar Blatt Papier und Stifte. »Versuch, ein paar Freunde zu finden«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder bei dir.«

Ich schaute in die Runde. Keines der Kinder schien mich zu beachten. Ich verkroch mich in eine Ecke und setzte mich auf den Boden. Von dort beobachtete ich, was die anderen Kinder machten. Irgendwie schien es für sie ganz natürlich zu sein, hier miteinander zu spielen. Als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Mehr sogar noch: Die anderen Kinder schienen Spaß zu haben. Das konnte ich nicht verstehen. Hatten sie kein Heimweh? Wollten sie nicht nach Hause? Ich hatte das Gefühl, dass sie aus einer ganz anderen Welt kamen als ich.

Ich fühlte mich extrem unwohl. Wie lange würde das alles noch dauern? Ich schaute auf die Uhr, die an der Wand hing, und beobachtete, wie einer der Zeiger sich langsam vorwärtsbewegte. Ich konnte noch keine Uhr lesen, aber mir war schon klar, dass er sich noch sehr häufig drehen musste, bis ich wieder entlassen werden würde. In einem Regal saß ein kleiner Teddybär. Ich nahm ihn und betrachtete das lächelnde Bärchen. Freunde finden? Der kleine Kamerad hier würde mir reichen, dachte ich und drückte ihn ganz fest an mich. Die anderen Kinder beachteten mich noch immer nicht. Sie taten so, als wäre ich einfach nicht da. Als wäre ich Luft.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam die Betreuerin zurück und sah mich, wie ich in einer Ecke saß und den Teddybären drückte. »Ach, Hamid«, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. »Du musst doch nicht schüchtern sein.« Sie schüttelte den Kopf, griff meine Hand und zog mich in die Mitte des Raumes. Dann klatschte sie zweimal in die Hände. »Hallo, hallo«, rief sie in den Raum hinein und die anderen Kinder hörten auf zu spielen und verstummten nach und nach. »Schaut mal«, sagte sie. »Das hier, das ist Hamid. Der ist ganz neu bei uns.« Alle schauten mich an. »Komm, Hamid, sag den anderen Kindern doch einmal, wer du bist.«

Ich musste jetzt etwas sagen. Aber ich konnte nicht. Ich fühlte mich wie gelähmt. Ich klammerte mich mit einer Hand an dem Bein meiner Betreuerin fest, mit der anderen an dem kleinen Teddybären.

»Na los«, drängte mich die Betreuerin. »Sag doch was.«

Die anderen Kinder fingen an zu lachen. Das setzte mir zu. Der Druck, der auf mir lag, war unerträglich. Ich wollte ja etwas sagen, aber ich konnte nicht. Ich öffnete den Mund, aber es kamen einfach keine Worte heraus. Und dann passierte es. Um Gottes Willen, dachte ich. Bitte nicht. Ich spürte eine Wärme an meinem Bein und kniff die Augen zusammen. Nein, das darf doch nicht wahr sein. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht. Die ersten Kinder fingen jetzt an, laut zu lachen, und auf einmal sprang auch die Betreuerin von mir weg. »Igitt, Hamid!«, schrie sie. »Hast du dir etwa gerade in die Hose gemacht?«

Ich schämte mich fürchterlich. Was hätte ich nicht alles dafür getan, jetzt einfach zu verschwinden. Ich presste mir die Hände vor die Augen, als würde mich das auch für die anderen Kinder unsichtbar machen. Das funktionierte natürlich nicht. Im Gegenteil, sie lachten jetzt noch lauter. Ich lief rot an und fing an zu weinen. Dann lief ich zurück in die Ecke und drückte das Bärchen an mich.

Die ganze Zeit über hielt ich die Hände vor meine Augen, bis ich irgendwann eine vertraute Stimme hörte. Ich schaute hoch und sah babai vor mir. Für einen kurzen Moment wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte, und schaute ihn einfach an. Mein Bauch tat weh. Was dachte er jetzt nur von mir? Würde er böse sein? Vielleicht. Aber das war gar nicht mal das Schlimmste. Ich hatte ihn enttäuscht. Er hatte heute Morgen noch gesagt, dass er stolz auf mich wäre, und ich habe es nicht einmal geschafft, auch nur einen Tag in dem blöden Kindergarten zu bestehen.

Ich spürte, wie sich mein Hals zusammenzog. Wieder liefen mir Tränen über mein Gesicht. »Es tut mir leid, babai.« Das war alles, was ich rausbekam. Ich schämte mich so fürchterlich.

Doch babai lächelte nur und streckte mir seine Hand entgegen. »Komm, mein Junge«, sagte er ganz ruhig. »Wir gehen jetzt nach Hause.«

Ich griff nach seiner Hand und ging mit ihm zu seinem Auto. Dann fuhren wir nach Hause. Babai tat von nun an so, als wäre das, was passiert war, nie geschehen. Er ignorierte es einfach. Und ich musste nie wieder zurück in den Kindergarten. Alles im Leben hat seine Zeit, hatte er mir einmal gesagt. Und offenbar war meine Zeit für den Kindergarten einfach noch nicht gekommen. Er nahm mir das nicht übel, er bedrängte mich nicht, baute keinen Druck auf. Er nahm mich einfach so, wie ich war.

Kapitel 2