Mit achtzehn Jahren vogelfrei - Ignatius B. Burnett - E-Book

Mit achtzehn Jahren vogelfrei E-Book

Ignatius B. Burnett

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Beschreibung

Im Winter 1943 können Ignacy und Stanislaw gemeinsam aus dem Zwangsarbeiterlager fliehen. Sie schlagen sich durch bis ins besetzte Warschau, wo sie für kurze Zeit untertauchen. Von dort aus versucht Ignacy, seinen Bruder und dessen Familie aus dem Lager zu befreien – vergeblich. Unter falschen Namen erhalten die beiden als Mechaniker Arbeit auf einer Baustelle in Riga. Dort überleben sie unentdeckt den Krieg. Anhand von Tagebuchaufzeichnungen schildert Ignatius Burnett die bewegende Geschichte seiner Odyssee durch das von der Besatzung und den Kriegswirren gezeichnete Polen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 336

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Ignatius Burnett

Mit achtzehn Jahren vogelfrei

Ignacy und Stanisław aus Polen 1943–1945

FISCHER Digital

Aus dem Polnischen und Englischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Beate Kosmala

Inhalt

Die Zeit des Nationalsozialismus [...]LebensbilderIn autobiographischer Form schildert [...]Vorwort von Beate KosmalaDer Autor und sein FreundVon Tomaszów in das Arbeitslager BliżynIm Arbeitslager BliżynDie ersten TageLadekommando und erneuter FluchtplanMein Fluchtgenosse Stanisław und das Leben in BliżynHinrichtung beim AppellDie Flucht aus Bliżyn und das Leben in WarschauErste EnttäuschungDer schwarze BanditAn der Bahnstation SzydłowiecDer Zug nach WarschauWarten auf ZenekDas Leben in WarschauDer RettungsversuchFryderyk Górniak alias Friedl GoldbergEin Stempel, der Leben retteteDie Entscheidung für RigaReisevorbereitungen und Fahrt nach Riga (Tagebuch)Auf der Baustelle in RigaStanisław und die lettischen JudenStreit mit VyslučilAus dem TagebuchDer KerosinschmuggelDer Brief von ZenekAus dem TagebuchDie Freunde aus der GertrudenstraßeDas geklaute FotoBriefe von Frau IndikowskiBesuch bei KozłowskiDie Auflösung der BaustelleDie Flucht der SołowiejczyksDas gestohlene Radio und die Abreise der DeutschenFriede in SichtZweiter Besuch auf dem Bauernhof von KozłowskiDritter Besuch bei KozłowskiDie Oper in RigaAbreisepläne und ein Brief von »Mama«Im GefängnisWieder in TomaszówRückkehr nach BliżynEin Brief von RomaDer Tod meines VatersBreslau – Warschau – MailandAbbildungsnachweis

Die Zeit des Nationalsozialismus Eine Buchreihe

Herausgegeben von Walter H. Pehle

Lebensbilder

Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse

 

Herausgegeben von Wolfgang Benz

In autobiographischer Form schildert der Autor seine Erlebnisse in den Jahren zwischen 1943 und 1945. Im besetzten Polen erlebt der junge Ignacy die Deportation seiner Mutter ins Vernichtungslager Treblinka. Er selbst wird bei der Auflösung des Ghettos ins Zwangsarbeiterlager Bliżyn verschleppt. Um der Vernichtung durch Arbeit zu entgehen, beschließen Ignacy und sein Freund Stanisław, von dort zu flüchten. Ende des Jahres 1943 entkommen sie aus dem Lager. Die beiden begeben sich auf eine abenteuerliche Odyssee durch das winterliche Polen. Schnell müssen sie erkennen, daß ihnen fast niemand freundlich gesonnen ist. Sie entkommen einigen lebensgefährlichen Situationen mit knapper Not und erreichen Warschau.

Aber auch das Leben im von den Nationalsozialisten terrorisierten Warschau wird überschattet durch ständige Kontrollen, Razzien und Verhaftungen. Sie können dank der Hilfe eines Freundes für kurze Zeit untertauchen. Ignacy unternimmt von dort aus einen Versuch, seinen Bruder und dessen Familie, die in Bliżyn verblieben waren, zu befreien – vergeblich. Die Freunde beschließen daraufhin, sich mit gefälschten Papieren um eine Arbeit in Riga zu bewerben. Stanisław fährt als erster. Im Februar des Jahres 1944 verläßt Ignacy Warschau in Richtung Riga.

Dort arbeiten Ignacy und Stanisław als Mechaniker in einem Werk, das Treibstofftanks für die deutsche Armee herstellt. Im Oktober des Jahres 1944 erleben sie die Befreiung. Erst fünf Monate später, im Februar 1945, kann Ignacy von dort aufbrechen, um in seine Heimat zurückzukehren. Durch die Wirren der Nachkriegszeit verzögert sich seine Reise jedoch immer wieder. In seiner Heimatstadt Tomaszów erfährt er schließlich vom Tod seiner Freundin, die er in Bliżyn zurücklassen mußte; Ignacy sucht seine Schwägerin in Deutschland und findet ihr Grab in Neustadt-Gleve, wo sie kurz nach ihrer Befreiung starb.

Vorwort

Ignatius Burnett erlebte als Vierzehnjähriger, wie seine Heimatstadt Tomaszów Mazowiecki in Polen wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde. Damals trug er noch den Familiennamen seiner Eltern, Bierzyński, die in Tomaszów ein Pelzgeschäft führten. Sein älterer Bruder Henryk, der ein Jahr zuvor in Montpellier sein Medizinstudium begonnen hatte, verbrachte gerade die ersten Semesterferien zu Hause.

Tomaszów war eine der Textilstädte der Lodzer Industrieregion und Heimatstadt verschiedener nationaler bzw. religiöser Bevölkerungsgruppen. Einst hatte die Stadtgeschichte hoffnungsvoll begonnen. Graf Antoni Ostrowski, Reformer und Industriepionier in Polen, hatte in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts deutsche Tuchmacher und Weber und jüdische Kaufleute, Weber und Tagelöhner eingeladen, sich zu gleichen Bedingungen auf dem Gebiet der späteren Stadt anzusiedeln, um die Textilindustrie aufzubauen und mit den polnischen Einwohnern gemeinsam »im polnischen Haus« zu leben. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren von den etwa 43000 Einwohnern knapp 30 Prozent Juden und fast zehn Prozent evangelische Deutsche. Das Leben im Tomaszów der zwanziger und dreißiger Jahre war von ökonomischen Krisen, hoher Arbeitslosigkeit und sozialen und politischen Spannungen geprägt, da sich die Textilindustrie, die überwiegend in jüdischen und deutschen Händen lag, wegen des Verlusts des riesigen russischen Marktes nicht wieder zu ihrer früheren Bedeutung hatte entwickeln können. Dennoch verlief das Zusammenleben von Polen, Juden und Deutschen in dieser Stadt bis Mitte der dreißiger Jahre ohne offene Feindseligkeiten. Der jüdische Dichter Zusman Segalowicz, der sich 1936 in Tomaszów aufhielt, formuliert seinen Eindruck: »Wirklich eine originelle Stadt, wo die Fabrikschornsteine von grünen Bäumen umgeben sind«, und er fügt hinzu, daß ihm auch die Beziehungen der drei Teile der Bevölkerung menschlicher und freundlicher erschienen als in anderen Städten. Ignatius Burnett, dessen Familie es zu gewissem Wohlstand gebracht hatte und zum Kreis der eher assimilierten Juden gehörte – man sprach zu Hause polnisch, nicht jiddisch – war Schüler des 1903 entstandenen »Philologischen Gymnasiums«. Dort wurde Ignacy, wie der polnische Vorname des Autors lautet, zusammen mit deutschen, jüdischen und polnischen Mädchen und Jungen, meist Kindern aus den wohlhabenderen Kreisen der Stadt, unterrichtet.

 

Die eigentliche Geschichte, die von Widerstand, Flucht und dem Überlebenskampf der Freunde Ignacy und Stanisław handelt, beginnt im Mai 1943. Schon in den Jahren davor hatte sich das Leben dieser jungen Leute drastisch verändert. Mit der deutschen Besetzung von Tomaszów wurde Schritt für Schritt alles zerstört, was ihr Leben bisher geprägt hatte. Ignacy, ein lernbegieriger und guter Schüler, mußte, wie alle polnischen und jüdischen Gymnasiasten, im Dezember 1939 sein Lyzeum verlassen, das ab sofort eine deutsche Oberschule wurde.

Im Frühjahr 1941 zwangen die deutschen Besatzer alle Juden von Tomaszów, in einen »jüdischen Wohnbezirk« zu ziehen. Auch Familie Bierzyński mußte Geschäft und Wohnung im eigenen Haus verlassen und in der qualvollen Enge des Tomaszówer Ghettos leben. Neben den etwa 13000 einheimischen Juden befanden sich dort jüdische Flüchtlinge aus Lodz, die bereits Ende des Jahres 1939 aus dem von Deutschland annektierten Warthegau in das 60 Kilometer entfernte Tomaszów geflohen waren, das im Generalgouvernement lag. Zu ihnen gehörte Ignacys Jugendliebe Stella Robinson, genannt Tetka, die mit Mutter und Bruder in Tomaszów lebte; ihr Vater, Berufsoffizier der polnischen Armee, war nach der Kapitulation von Warschau nicht mehr zurückgekehrt. Vor dem Zwangsumzug in das Ghetto konnten sich Tetka und Ignacy fast noch wie normal aufwachsende Jugendliche kennenlernen. Sie gehörten zu einer Gruppe von Gleichaltrigen, die auf dem Hinterhof zusammen Ball spielten, Gespräche über die Existenz Gottes führten und sich gemeinsam auf den Unterricht vorbereiteten, der ihnen heimlich in Privatwohnungen erteilt wurde.

 

Im Dezember 1941 riegelten die deutschen Besatzer das Ghetto endgültig ab; auf Verlassen des jüdischen Wohnbezirks stand fortan die Todesstrafe. Immer mehr Juden aus umliegenden Orten oder auch weiter entfernten Städten wurden in das Tomaszówer Ghetto verbracht. Unter den besonders grausamen Bedingungen des Winters 1941/42 – extreme Kälte, Mangel an Brennmaterial und katastrophale hygienische Verhältnisse – grassierten Typhus-Epidemien, denen viele Ghetto-Bewohner zum Opfer fielen, da die Deutschen keine Medikamente zur Verfügung stellten. Auch Ignacys Vater erkrankte an Typhus und starb im Februar 1942 im Ghettospital.

Ignacy wurde in dieser Zeit oft mit dem Tod konfrontiert. Zu einem alltäglichen Anblick auf den Straßen um das Ghetto wurden die Leichen von Kindern, die von verzweifelten Eltern auf die »arische« Seite geschickt worden waren, um Lebensmittel zu kaufen, tauschen oder zu erbetteln. Es gab deutsche Polizisten, die es darauf anlegten, diese Kinder zu erschießen, unter ihnen einige Volksdeutsche aus Tomaszów und Umgebung, die auch an Erschießungskommandos im Ghetto teilnahmen. Im Mai 1942 erlebte Ignacy, inzwischen siebzehn Jahre alt, eine der nächtlichen »Aktionen«. Dr. Hirschsprung, ein guter Freund seines Vaters und stadtbekannter Rechtsanwalt, wurde vor den Augen seiner jungen Söhne Jerzy und Fred von einem Volksdeutschen erschossen, der für die Gestapo arbeitete. Wenige Tage später lagen auch die beiden Hirschsprung-Söhne ermordet auf der Straße.

Es waren diese Verbrechen, die Ignatius Burnett, seinen Bruder Henry Bernard und Stanley Grosman Jahrzehnte später von Sydney nach Darmstadt führten, wo sie, wie viele andere der jüdischen Überlebenden aus Tomaszów, inzwischen in alle Welt zerstreut, als Zeugen in einem Prozeß gegen diesen Mörder aussagten, der sich nach dem Krieg in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassen hatte. In einem langwierigen und mühseligen Procedere versuchte das Gericht, die damaligen Ereignisse im Tomaszówer Ghetto zu rekonstruieren.

 

Im Sommer 1942 waren etwa 2000 jüdische Handwerker aus dem Ghetto in Schneider-, Schuster- oder Holz-Werkstätten in den »arischen« Stadtvierteln beschäftigt und verrichteten vorwiegend für die deutsche Zivilbevölkerung Zwangsarbeit. Außerdem wurden täglich etwa 1800 Personen aus dem Ghetto auf die »arische« Seite geführt, wo sie in der Tischlerei der Organisation Todt (OT), im Verpflegungslager, in Textilfabriken und für verschiedene Wehrmacht-Stellen eingesetzt waren. Ignacy fand Arbeit in der Tischlerei. Dort lernte er einen jungen Mann aus Lodz kennen, der zu seiner Tante nach Tomaszów geflüchtet war. Es war Zenon Neumark, genannt Zenek. Seine Eltern und die Schwester waren in Lodz, das die Deutschen inzwischen »Litzmannstadt« nannten, geblieben und befanden sich dort im Ghetto. Zenek und Ignacy wurden enge Freunde; in der Tischlerei schmiedeten sie die ersten Fluchtpläne. Ignatius Burnett hat nach wie vor Kontakt zu Zenon Neumark, der heute ein Los Angeles lebt.

 

Der 30. Oktober und 2. November 1942 waren die Tage der großen »Aussiedlung«, als die 15000 Juden des Tomaszówer Ghettos durch die Straßen der Stadt zum Bahnhof getrieben und in die Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka deportiert wurden. Bereits Tage zuvor waren in den Straßen der Stadt, außerhalb des Ghettos, die Vorbereitungen zu bemerken. Auffallend viele polnische Polizisten in blauer Uniform, schwarz uniformierte Ukrainer, die man nie zuvor in Tomaszów gesehen hatte, deutsche Soldaten, deutsche Gendarmerie in grüner Uniform und Schutzpolizei sorgten für Gerüchte, daß Teile der Ghetto-Bewohner »in Arbeitslager im Osten« umgesiedelt werden sollten. Unmittelbar vor den beiden Deportationstagen durften die jüdischen Arbeiter der Tischlerei die Fabrik nicht mehr verlassen und mußten die Nacht auf dem Fußboden schlafen. Als Ignacy am Morgen, durch Schüsse und Schreie geweckt, auf den Hof vor dem Fabrikgebäude blickte, bemerkte er seine Mutter, Teodora Bierzyńska, die neben Frau Robinson, Tetkas Mutter, abmarschbereit in einer Kolonne stand. Dies war das letzte Mal, daß er sie sah.

 

Etwa 900 Bewohner des Ghettos im Alter von etwa 17 bis 50 Jahren, die in den verschiedenen Werkstätten und Fabriken arbeiteten, blieben zurück, unter ihnen Ignacy und Henryk, außerdem Zenek Neumark und Stanisław Grosman. Zusammen mit Gruppen von Juden aus dem Landkreis war das »Kleine Ghetto« nach den Deportationen mit etwa 1200 Menschen belegt. Tod und Terror nahmen kein Ende. Am 6. Januar 1943 wurde die »Palästina-Aktion« zur tödlichen Falle: Alle, die Verwandte in Palästina hatten, sollten sich registrieren lassen, um angeblich gegen deutsche Geiseln in Händen der Alliierten ausgetauscht zu werden. Im Verlauf dieser »Aktion« wurden weitere Hunderte Personen deportiert, so daß sich die Zahl der Insassen des Restghettos in Tomaszów auf 850 Personen reduzierte. Am 21. April 1943, einen Monat vor der endgültigen Liquidierung, folgte die »Purim«-Aktion, im Verlauf derer Ärzte und Rechtsanwälte, die sich noch im Lager befanden, auf den jüdischen Friedhof gefahren und von Mitgliedern der örtlichen Gendarmerie ermordet wurden.

 

Dies sind die Erfahrungen des achtzehnjährigen Ignacy, als er im Mai 1943, nach der Auflösung des kleinen Ghettos, zusammen mit seinem Bruder, seinen Freunden und fast allen anderen Gefangenen mit unbekanntem Ziel deportiert wurde – in das Arbeitslager Bliżyn bei Radom.

Am 10. Februar 1944, kurz nachdem Ignacy nach gelungener Flucht noch einmal von Warschau nach Bliżyn zurückgekehrt war und vergeblich versuchte, seine Freundin Tetka, seinen Bruder und dessen Freundin zu befreien, wurde dieses Arbeitslager in ein Konzentrationslager umgewandelt und von einer SS-Mannschaft aus dem KZ Majdanek bei Lublin übernommen. Ab diesem Zeitpunkt wurde das blutige Lagerregiment gemildert, die Verpflegung etwas verbessert, Selektionen fanden seltener statt, da die jüdischen Arbeitskräfte in dieser Etappe des Krieges verstärkt ausgebeutet werden sollten. In der zweiten Julihälfte 1944, als sich die Ostfront näherte, wurde die Liquidierung des Arbeitslagers Bliżyn angeordnet. Etwa 4000 jüdische Häftlinge wurden nach Auschwitz deportiert. Dieses Schicksal erlitten mit vielen anderen Ignacys Bruder Henryk, dessen Freundin Halinka und Stanisławs Freundin Hela.

 

Seinen um ein Jahr älteren Fluchtgenossen lernte Ignacy erst im Arbeitslager Bliżyn kennen. Stanisław Grosman kommt aus einer frommen jüdischen Familie aus Tomaszów, die dort vor dem Kriege einen kleinen Laden besaß. Er war stärker als Ignacy mit dem Judentum verbunden, sprach jiddisch und war als Junge in einer jüdischen Pfadfindergruppe der Betar-Jugend. Beide Eltern und drei Schwestern wurden in Treblinka ermordet, und auch der einzige Bruder und die vierte Schwester kamen in den ersten Kriegsjahren um, so daß Stanisław mit achtzehn Jahren völlig allein zurückblieb. Im Ghetto arbeitete er im Schneider-Shop, wo er das Mädchen Hela kennenlernte, seine spätere Frau, die er 1945 in Bergen-Belsen wiederfand. Trotz gelungener Existenzgründung nach dem Krieg in Berlin-Tempelhof – er produzierte Füllfederhalter – entschlossen sich Stanisław und Hela, Deutschland wieder zu verlassen und in Australien eine neue Heimat zu suchen. Seit 1949 leben die beiden in Sydney. Stanley Grosman, wie er sich in Australien nannte, wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann in der Textilbranche und ist Mitbesitzer einer großen Ladenkette für Bekleidung in Australien. Wenn Hela Grosman darüber spricht, was sie in Auschwitz-Birkenau erlebt und wie Stanley sie nach Kriegsende in Bergen-Belsen gesucht und gefunden hat, nimmt er bewegt ihre Hand. Das Ehepaar Grosman war am Aufbau des jüdischen Museums in Sydney beteiligt und ist dort immer noch engagiert. Hela macht regelmäßig Führungen und spricht über ihre Erlebnisse in Auschwitz.

Bis zum heutigen Tag ist Stanley Grosman mit seinem Fluchtgenossen Ignacy befreundet, der seinen Namen in den fünfziger Jahren in Australien aus beruflichen Gründen in Ignatius Burnett geändert hat. Nach einer Karriere als Ingenieur in der Atomphysik absolvierte er in fortgeschrittenem Alter ein Medizinstudium und arbeitete viele Jahre als Arzt und Menschenfreund in einem sozialen Brennpunkt von Sydney.

 

Was hat Ignacy und Stanisław befähigt, unter Lebensgefahr die Flucht aus dem Arbeitslager Bliżyn zu wagen und mit gefälschten Papieren als junge polnische Arbeitskräfte mitten aus den Gefahren des okkupierten Warschau scheinlegal nach Riga zu gelangen? Was war neben ihrem Mut und dem unbändigen Überlebenswillen noch ausschlaggebend für diesen Schritt? Mit Sicherheit spielten außer der erforderlichen physischen und psychischen Stärke auch ihr Aussehen eine Rolle, das nicht für typisch jüdisch gehalten wurde. Ignacy konnte durch seine polnische Erziehung und sein völlig akzentfreies Polnisch die jüdische Herkunft verbergen. Mit Sicherheit war auch die Tatsache, daß sie völlig allein und ungebunden waren, ausschlaggebend dafür, daß sie auf eigene Rechnung und völlig ichbezogen vorgehen konnten. Wichtig waren ihre Fähigkeit, rational zu planen und zu handeln, ihre hohe Risikobereitschaft und völlige Disziplin. Eine notwendige Voraussetzung waren die Kontakte zur Außenwelt; ohne eine Adresse, eine Anlaufstelle wäre es zwei abgerissenen jüdischen Ankömmlingen aus der Provinz, gerade aus einem Arbeitslager entlaufen, kaum möglich gewesen, sich in Warschau zu bewegen. Ohne ein konkretes Ziel draußen wäre eine Flucht so gut wie aussichtslos gewesen, und ohne die selbstlose Hilfe des polnischen Bauern Wrona aus Szydłowiec, der sich selbst in Lebensgefahr brachte, hätten sie kaum eine Chance gehabt, ihr Ziel zu erreichen. Und schließlich haben sie auch einfach Glück gehabt, zum Beispiel, als ihnen in Warschau eine eingehende medizinische Untersuchung vor der Abreise zur Arbeit auf der Baustelle in Riga erspart blieb.

 

Als Ignacy im Februar 1944 in der Stadt Riga eintraf, die am 1. Juli 1941 von der deutschen Wehrmacht besetzt worden war, konnte er nicht wissen, daß bereits der größte Teil der jüdischen Bevölkerung der lettischen Hauptstadt ermordet war. Das psychische Überleben in Riga war für Ignacy nur möglich, indem er versuchte, das Wissen um die Dimension der Vernichtung zu verdrängen, wie das Tagebuch deutlich zeigt, wo er fast pedantisch scheinbar nichtige Alltagsdinge in ihren ständigen Wiederholungen festhält, was zuweilen die Geduld des Lesers auf die Probe stellt. Verdrängungen, aber auch Schuldgefühle werden deutlich, wenn Ignacy und Stanisław mit dem jüdischen Schicksal, dem sie gerade entronnen sind, auf ihrem Arbeitsplatz, der Baustelle der deutschen Firma Schmitt & Junk, konfrontiert werden, wo jüdische Häftlinge aus dem Konzentrationslager Kaiserwald zur Arbeit eingesetzt sind, was sie aus ihrer quasi privilegierten Situation beobachten. Die Möglichkeiten für die beiden jungen Männer, irgendwelche Hilfe zu leisten, waren äußerst begrenzt, da sie auch auf der Baustelle in Riga in der Angst lebten, als Juden erkannt zu werden, wenn diese Gefahr dort auch sehr viel geringer war als in Warschau. Verdrängung und Ichbezogenheit wurden zur Überlebensstrategie.

Immer wieder beschreibt Ignacy in seinem Tagebuch die Qualen der Ungewißheit über das Schicksal der im Arbeitslager Zurückgebliebenen, – daß seine Mutter nicht mehr am Leben war, ahnte er, wußte es aber nicht –, und wenn er sich zu stark abgelenkt und zu wenig an seine Freundin Tetka und den Bruder gedacht hatte, peinigten ihn Schuldgefühle. Für den Leser ist es zuweilen schwierig, daß manches im Dunkeln bleibt, z.B. was Nachrichten »von zu Hause« betrifft, die Ignacy in Riga erreichen. Gemeint sind die Nachrichten über die Angehörigen im Konzentrationslager, die er aus Angst vor Entdeckung nicht festhält. Viele Gedanken und Fakten sind nur verschlüsselt formuliert, vor allem wenn es um Juden geht, die ebenfalls mit gefälschten Papieren untergetaucht waren. In diesen Fällen sind die Personen in den Tagebuchnotizen mit dem Adjektiv »sympathisch« gekennzeichnet.

 

Trotz aller Existenzprobleme und seelischen Belastungen suchen und erleben diese beiden jungen Leute im besetzten Riga auch eine Art Normalität. Sie flirten mit Mädchen, gehen ins Kino, freunden sich mit Gleichaltrigen an, machen Geschäfte. Ignacy kämpft um seine Anerkennung auf der Baustelle als fachlich ausgewiesene Kraft, zuweilen macht ihm die Arbeit auf seinem Traktor richtig Spaß. Doch immer wieder taucht die Frage bei ihm auf, wie sich einzelne Personen, deren Sympathie oder Wertschätzung er erlangt hat, verhalten würden, wenn sie wüßten, daß er Jude ist. Er erlebt die schizophrene Situation, daß er, solange er vorgibt, ein junger Pole zu sein, Beliebtheit und Akzeptanz erreichen kann, während ihm in seiner Eigenschaft als junger Mann jüdischer Herkunft das Lebensrecht abgesprochen werden würde. Bei Ignacy kommt die enorme Bemühung hinzu, sich ständig selbst zu disziplinieren, zu lernen und zu studieren, was für sein Selbstwertgefühl von großer Bedeutung ist und ihm offenbar hilft, die seelische Belastung und Gefühle von Einsamkeit und Verlassenheit auszuhalten. Der zähe Kampf um Ausbildung, Studium und intellektuelle Entwicklung, die er sich abverlangt, werden zu seinem Lebensmuster; es ist immer auch ein Kampf um Anerkennung durch andere und um die Selbstachtung eines Menschen, der als Heranwachsender erfahren mußte, daß sein elementares Recht zu leben ständig bedroht wurde.

Viele Überlebensgeschichten des Holocaust enden mit der Befreiung. Ignatius Burnett beschreibt, wie er sich nach Kriegsende aus dem inzwischen sowjetisch besetzten Riga bis in seine Heimatstadt Tomaszów durchkämpft und damit ein Versprechen einlöst, das er sich an dem Tag, als er in der Häftlingskolonne vom kleinen Ghetto zum Bahnhof marschieren mußte, selbst gegeben hat: um jeden Preis noch einmal hierher zurückzukehren. Nach und nach muß er sich mit der Gewißheit konfrontieren, daß Menschen, die ihm nahestanden, unwiederbringlich verloren sind. Er kehrt nach Bliżyn zurück und steht am Grab von Tetka, seiner großen Liebe, und auch auf der Suche nach Halinka in Neustadt-Glewe findet er nur noch ein Grab vor. Von neuem nimmt er den Kampf auf, einen Platz im Leben zu finden: Zuerst in Mailand, schließlich in Sydney.

 

Ignatius Burnett hat seinem Buch, das 1993 in Australien in englischer Sprache erschien, sein Tagebuch zugrundegelegt, das er in der Zeit von Januar 1944 bis Juli 1945, als er unter falschem Namen in Warschau und Riga lebte, in polnischer Sprache geführt hatte. Zum Verständnis des Lesers fügt er Kommentare und Erklärungen hinzu. In der polnischen Ausgabe von 1995 ist der ursprüngliche Tagebuch-Text, der lebendiger wirkt als die Übersetzung ins Englische, mit geringfügiger Bearbeitung wörtlich übernommen worden. Die Übertragung ins Deutsche beruht daher auf der polnischen Fassung unter Berücksichtigung der englischen Ausgabe.

 

Beate Kosmala

Der Autor und sein Freund

Diese Erinnerungen sollen kein literarisches Meisterwerk sein. Ich habe niemals zuvor ein Buch geschrieben und nie die Kunst des Schreibens erlernt. Während der dunklen Tage des Krieges, als wir, weit entfernt von unserem Elternhaus, in einem fremden Land von unserer Vergangenheit abgeschnitten waren und so leben mußten, als wären wir andere, fühlte ich den Drang, die Erinnerungen an die täglichen Geschehnisse und die mich bewegenden Gedanken in einfacher Form aufzuschreiben. Es ist die absolut wahre Geschichte von Stanisław und mir. Sie stammt aus einer Zeit, als menschliches Leben nicht viel wert war. Diese Geschichte umfaßt unsere Erlebnisse seit dem Zeitpunkt der Flucht aus dem Arbeitslager Bliżyn in Polen bis zur Rückkehr in unsere Heimatstadt Tomaszów Mazowiecki, d.h. vom 13. Dezember 1943 bis zum 13. März 1945.

Die Grundlage des Berichtes bildet mein Tagebuch, weshalb der Text manchmal monoton erscheinen mag und Wiederholungen enthält. Als ich das Tagebuch schrieb, konnte ich darin z.B. nicht angeben, daß wir gefälschte Dokumente hatten und daß wir Juden waren, die sich unter fiktiven Namen versteckten. Deshalb habe ich hie und da Anmerkungen eingefügt, die die Hintergründe erklären sollen. Die vorliegende Schilderung schrieb ich erst fünfzig Jahre später. Zuerst ist es mir schwergefallen, doch dann ging es viel leichter, als ich anfangs dachte. Ich möchte noch einmal betonen, daß ich diesem Buch keinerlei literarischen Wert beimesse. Der größte Teil des Textes besteht aus dem Tagebuch eines Jungen im Gymnasialalter, der die Ereignisse lakonisch notiert und mit einfachen Worten kommentiert hat. Auf gewisse Art können wir hier einen Bezug zum berühmten »Tagebuch der Anne Frank« finden, da es sich ebenfalls um ein Tagebuch aus dieser Zeit handelt, geschrieben von einem ebenso ungeübten und einfachen Erzähler.

 

Ignatius Burnett

Von Tomaszów in das Arbeitslager Bliżyn

Übermorgen würden sie uns wegfahren. Wohin? Das wußte nicht einmal der liebe Gott. Er war zu beschäftigt, einige Probleme zu lösen, die das Elend des Krieges mit sich gebracht hatte, der nun schon das vierte Jahr andauerte. Es war der späte Abend des 28. Mai 1943. Welcher Wochentag? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Es tat auch nichts zur Sache. Alle Tage waren gleich bis auf den Sonntag, denn »am Sonntag wird nicht gearbeitet« – einige gaben nur vor zu arbeiten, blufften, wann und wo immer es möglich war. Zenek und ich konnten bluffen, weil wir als Elektriker in der Schreinerei beschäftigt waren, in der Tischlerei der Organisation Todt, die zur siegreichen deutschen Armee gehörte, welche nun den größten Teil Europas beherrschte.

Die Zeit verging. Vielleicht war es Montag? Oder Dienstag? War das wichtig? Ich lag auf einer Matratze in meinem Hemd und den alten grauen, geflickten Unterhosen, die später so wichtig werden sollten. Es war ein Eisenbett, ohne Bettbezüge. Wozu auch? Bis die Matratze dreckig sein würde, wäre ich nicht mehr da. Oder ich hätte aus einer der leeren Wohnungen, die wir für die Deutschen im großen Ghetto nach der Deportation der Juden »reinigten«, eine andere holen können. Der Raum hatte an den gegenüberliegenden Wänden zwei Türen, eine führte zu einer breiten, ungefähr fünf Meter langen gepflasterten Passage, durch die man auf die Straße kam, die andere führte zu einem anderen Zimmer. Die Einfahrt erinnerte mich an die guten alten Tage, als noch Pferdekutschen in den Hof des Gebäudes hineinfuhren. Das zweite Zimmer belegten Halina Rozaner, Marys Robinson und seine Schwester Stella, genannt Tetka, die meine platonische erste Liebe war. Sie hatten drei Betten und einen Tisch. Eine Deckenlampe und ein kleiner Tisch zwischen zwei Betten vervollständigten die Einrichtung. Neben meinem Bett stand ein Karton für meine »Schätze«, Kleidung und andere Habseligkeiten. Es war ein dunkler Raum mit einer hohen Decke, und Tageslicht drang nur durch ein kleines Fenster zur Straße über meinem Bett herein. Die Wände waren fast schwarz. Diejenigen, die hier viele Jahre gelebt hatten, hatten sich offenbar nur Tünche leisten können, Farbe war wohl zu teuer für sie gewesen. Durch das kleine Fenster sickerte etwas Licht und warf den Schatten des Fensterkreuzes an die Wand vor mir. Es herrschte völlige Stille. Niemand schnarchte. Ich wußte, daß wir übermorgen nicht mehr hier sein würden. Zenek hatte von Herrn Triebe, dem Direktor der Tischlerei, erfahren, daß morgen der letzte Arbeitstag wäre und daß man uns woanders hinschicken würde. Aber er wußte nicht, wohin. Was erwartet uns? In Gedanken spielte ich alle Möglichkeiten durch. Meine gefälschten Dokumente bestanden aus einer Kennkarte, die von der Untergrundarmee zur Befreiung Polens mit der Hilfe von Herrn Wojciechowski, einem Schneider, der in der Antoniego-Straße Nr. 8 im Erdgeschoß über dem Hausmeister wohnte, hergestellt worden war. Die Blanko-Formulare waren im Rathaus gestohlen worden, und mein Foto ersetzte das Original. Der Stempel war perfekt. Das zweite Dokument war ein vollständig gefälschtes Beschäftigungszertifikat, das Marys einige Monate zuvor unter lautem Gesang, um das Geräusch des Tippens zu übertönen, auf einer der Schreibmaschinen hergestellt hatte. Den Stempel hatten Zenek und ich am 7. Februar 1943 in der Tischlerei, in der wir arbeiteten, gestohlen. (Einige Einzelheiten werden später beschrieben.) Tetka besaß genau die gleichen Dokumente. Auch mein Bruder Heniek und seine Freundin Halina waren mit ähnlichen Papieren versehen. Dies war der erste Schritt.

Das war ungefähr zu Ostern 1943. Die Papiere hatten wir mit unseren Ersparnissen bezahlen müssen. Wir erhielten sie von außerhalb der Mauer, von der anderen Seite des Stacheldrahts, wo die »freien« Polen lebten. Damit mußten wir nun nur noch durch den Stacheldraht, der das kleine Ghetto umgab, flüchten, um wieder in Freiheit zu sein. Vielleicht – aber es blieb uns nur noch ein Tag. Wir hätten am 29. Mai die Flucht versuchen sollen. Aber an diesem Tag gingen wir noch zur Arbeit, und Tetka würde im Lager zurückbleiben. Wie könnte ich sie in die Fabrik einschleusen? Irgendwie würde ich es schon deichseln. Angenommen, sie wäre da, was dann? Wir würden die Fabrik verlassen. Wenn Herr Zasepa erschiene, um uns in den Wald zu den Partisanen zu geleiten, wäre alles gut. Aber wenn er nicht kommen würde? Dann würden wir ohne ihn gehen, dachte ich. Aber wohin? Wohin? Immer dieselbe Frage wälzte ich im Kopf, ohne eine Antwort zu finden. Der Schatten des Fensterkreuzes wanderte weiter, und die Zeit verfloß. Es gab keinen anderen Ausweg – Herr Zasepa mußte kommen, er durfte mich nicht im Stich lassen. Er hatte es versprochen. Er hatte gesagt, daß er mich in den Wald führen würde. »Falls er doch nicht erscheint«, dachte ich, »sollten wir dann vielleicht zu seiner Wohnung gehen? Nein. Wenn er nicht kommt, bedeutet dies, daß er nicht kommen will.« Er wohnte in der Warschauer Straße 212. Ich öffnete die Augen. Marys stand bereits angekleidet neben meinem Bett. »Steh auf, es ist sechs Uhr.« Es war der 29. Mai 1943. Ich zog mich eilig an und packte meine Habseligkeiten zu einem kleinen Bündel. Ich würde wohl in dieser Nacht und auch in den folgenden Nächten nicht mehr hierher zurückkehren. So verabschiedete ich mich von meinem Zimmer – für immer, wie ich dachte.

Aber ich hatte mich geirrt. Herr Zasepa kam nicht. Und ich kehrte an diesem Abend mit Tetka zurück. Es war ein seltsamer Tag. Wie gewöhnlich stellten wir uns in einer Kolonne und in Viererreihen nebeneinander auf und gingen zur Arbeit in die Tischlerei. Zenek und ich befanden uns in der Mitte der Kolonne. Um 6.30 Uhr marschierten wir durch das Lagertor in die »freie Welt« hinaus. Von dieser Welt trennte uns ein zwei Meter hoher Stacheldrahtzaun. Die Wieczność-Straße und die Krzyżowa-Straße waren die beiden Hauptwege, die zur Fabrik führten. Diese umgab ebenfalls ein fast zwei Meter hoher Bretterzaun, der noch um einen halben Meter Stacheldraht erhöht war. Den größten Teil des Geländes nahm ein Holzlager ein, wo verschiedene Bretter, Planken und anderes gesägtes Holz ordentlich in langen Reihen gestapelt waren. In der Nähe des Tores zur Wieczność-Straße stand ein kleines Haus, in dessen zwei Räumen sich die Elektrikerwerkstatt befand. Hier gaben Zenek und ich vor zu arbeiten, und hier planten wir unsere Flucht sowie unseren Stempeldiebstahl vom 7. Februar, mit dem wir die falschen Dokumente herstellten. Jedes Stück Papier mit unserem amtlichen Stempel war wichtig. Hier taten wir so, als montierten wir elektrische Anlagen. Wann immer wir Schritte in der Nähe hörten, nahmen wir die Lötkolben zur Hand und gaben vor, eifrig zu arbeiten.

An diesem letzten Tag war Zenek zur Flucht bereit. Sein Plan bestand darin, zu Freunden seiner Tante, Volksdeutschen, zu flüchten, um sich bei ihnen einige Tage zu verstecken. Von dort wollte er sich irgendwie nach Warschau durchschlagen. Sein Plan war jedoch voller Unwägbarkeiten und deshalb höchst unsicher. Vor allem wußte er nicht, wie man ihn bei den Volksdeutschen aufnehmen würde und ob die Freunde der Tante tatsächlich bereit wären, einen Juden zu verstecken. Zenek kannte sie nicht persönlich, sondern nur vom Hörensagen.

Etwa um zehn Uhr ging ich zur deutschen Wache. Zenek begleitete mich, und in seinem guten Deutsch erklärte er, daß ich noch jemanden zur Arbeit bringen wollte: »Er gibt Ihnen hundert Mark.« Der Deutsche, ein einfacher älterer Mensch, war einverstanden. Mit ihm zusammen begaben wir uns zum kleinen Ghetto. Weder der jüdische Polizist, genannt Kapo, der den Lagereingang bewachte, noch der deutsche diensthabende Polizist stellten Fragen, da ich mich in der Begleitung des deutschen Soldaten befand, der am Tor wartete. Ich ging zur Werkstatt, in der Roma und Tetka arbeiteten. Mit knappen Worten erklärte ich ihnen die Situation und sagte zu Tetka: »Komm mit und sag nichts! Geh immer weiter!« Wir kamen zum Tor und meldeten dem wachhabenden Deutschen, daß wir zur Arbeit gingen und die Wache bereits draußen warten würde. Tatsächlich stand »mein Deutscher« direkt vor dem Eingang. Die Wache öffnete das Tor, und zu dritt marschierten wir vom Lager zur Fabrik zurück. Mein Herz klopfte wie ein Dampfhammer, denn Zenek war noch immer da. Nun hatte sich das Problem verdoppelt. Was, wenn Herr Zasepa nicht käme? In der Fabrik versteckten wir uns hinter einigen Holzstapeln, warteten und beobachteten das Tor. Es wurde Nachmittag und niemand kam. Um zwei Uhr sagte Zenek zu mir: »Ich gehe jetzt. Viel Erfolg.« Er schüttelte mir die Hand, küßte Tetka und verschwand zwischen den Holzstapeln, um das Fabrikgelände durch ein Loch im Zaun zu verlassen.

Ich blieb mit Tetka zurück. Gehen oder warten? Die Zeit verfloß. Es blieb uns nur noch eine halbe Stunde und kein Herr Zasepa in Sicht. Die Minuten schlichen dahin, bis wir uns schließlich entschieden, ins Lager zurückzukehren. Ich bat Icek, den Gruppenführer, um Hilfe. Er erwiderte: »Du hast mich nicht danach gefragt, bevor du sie hergebracht hast. Warum fragst du jetzt, wie du sie zurückbringen sollst? Es geht um deinen Kopf, dein Risiko, mach, was du willst!« Er hatte recht. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß wir zurückkehren würden. Jetzt mußte ich mir schnell etwas ausdenken. Tetkas Haar steckte ich unter die Mütze, warf ihr die Tasche über die Schulter, und so nahm sie Zeneks Platz in der Kolonne neben mir ein. Niemand wurde vermißt, denn die Kopfzahl war korrekt. Wir verließen zum letzten Mal die Fabrik, und um sechs Uhr abends befanden wir uns wieder im verschlossenen Lager.

Dort redeten alle über den morgigen Tag. Das ganze Lager war am Überkochen. Aber die Ungewißheit über das, was uns am nächsten Morgen bevorstehen würde, überschattete alles andere. Ich sprach mit Halina und Marys in unserem Zimmer über die mißlungene Flucht. Unsere Dokumente besaßen wir noch. Ich hatte die Last der Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen gespürt – für Tetka. Doch plötzlich fühlte ich mich, als wäre ein großer Druck von mir genommen: Ich hatte sie heil zurückgebracht. Das war mein erster Triumph! Oder vielleicht eine Niederlage? Morgen würde es ein neues Kräftemessen geben. Wir gingen um Mitternacht zu Bett. Ich schlief ein, sobald ich meinen Kopf auf das Bett legte. In Tetkas Zimmer wohnte noch ihre Kusine Halina Rozaner, die immer von ihrem Freund Abram Morgenstern besucht wurde. Alle wußten, daß am Morgen des 30. Mai alle 700 Arbeiter des Lagers deportiert werden sollten. Nur eine kleine Gruppe würde zurückbleiben, um sauberzumachen, die Überbleibsel, Habseligkeiten und Möbel aufzuräumen und um Stacheldraht sowie Zaun, die Spuren der Unmenschlichkeit, zu entfernen. Diese Arbeiter würden – so lauteten die Gerüchte – in ein anderes Arbeitslager geschickt werden. War das die Wahrheit? Wohin? Wie? Wie weit entfernt? Niemand wußte es. Aber seltsamerweise schien niemand darüber besorgt zu sein.

Erneut unterhielt ich mich mit Tetka über die mißlungene Flucht, und wir fragten uns, was wir morgen tun sollten. Noch einmal versuchen zu entkommen? Schließlich waren wir noch im Besitz der wertvollen Dokumente. Aber Heniek und seine Frau Halinka standen einem neuen Fluchtversuch skeptisch gegenüber. Wir beschlossen, in unserem »neuen Umfeld« auf eine günstige Gelegenheit zu warten. Aber würden wir in diesem »neuen Umfeld« die Chance haben zu flüchten? Wir waren uns nicht darüber im klaren, daß eine Flucht äußerst schwierig sein konnte oder sogar völlig unmöglich. Man denke an Alcatraz oder San Quentin. Noch nie hatte ich von fluchtsicheren Orten gehört. Ich glaubte fest daran, daß – egal, wohin man mich schickte – es auch einen Weg geben würde, von dort zu flüchten.

Ich steckte meine Habseligkeiten in einen Beutel, machte ihn aber nur zu einem Viertel voll. Man konnte schließlich nicht wissen, wie weit man marschieren mußte, und es war besser, so wenig wie möglich tragen zu müssen. Der Diamant war sorgfältig in meine einzige Unterhose eingenäht, die ich jeden Tag trug und am Abend auswusch. Am Morgen war sie immer noch naß und trocknete tagsüber an meinem Körper. Ich ahnte, daß der Diamant eines Tages eine große Hilfe sein könnte. Er war eines der wenigen wertvollen Dinge, die unserer Familie geblieben waren, und vor ihrer Deportation hatte mir meine Mutter diese Unterhose aus altem, grauem Stoff angefertigt und sie mit Löchern und Flicken versehen, damit sie wirklich schlecht aussah. Unten am Hosenschlitz nähte sie den kleinen Diamanten aus ihrem Verlobungsring oder aus einem ihrer Ohrringe ein. Wir wußten alle, daß die Deutschen uns nicht in Urlaub schickten, und wir waren auf das Schlimmste gefaßt. Der Tod war niemals fern, alle waren wir mit ihm vertraut und lebten mit dieser Bedrohung.

Im Arbeitslager Bliżyn

Ich hatte gut geschlafen und wurde von Stimmen geweckt, die draußen vom Hof hereindrangen und auf deutsch schrien: »Alle raus, alle raus!« Innerhalb weniger Minuten begaben wir uns auf die Straße und bildeten eine lange Kolonne in Sechserreihen. Das Warten war am schlimmsten. Wie lange würde es noch dauern? Was würde geschehen? Ich hatte meine gefälschte Kennkarte in der einen und einige in Papier eingewickelte Dokumente in der anderen Tasche. Wenn ich ein Dokument verlieren würde, hätte ich so für die Flucht noch einige andere. Obwohl sie für mich von unschätzbarem Wert waren, steckte ich sie weder in den Beutel noch nahe an meinen Körper in die verborgene Tasche meines Hemdes. Falls wir durchsucht werden würden, wollte ich mir so die Möglichkeit offenhalten, sie wegzuwerfen oder zu vergraben.

Dazu sollte es bei dieser Gelegenheit doch noch nicht kommen. Ungefähr um zehn Uhr vormittags begann der langsame Marsch aus dem Stacheldrahttor des Lagers heraus durch die Straßen der Stadt, die zum Bahnhof führten. Die lange Menschenschlange wurde von Autos eskortiert und von Polizisten in Uniform, Gendarmen sowie schwarzuniformierten SS-Männern in Stiefeln bewacht. Der größte Teil der Eskorte hatte seine Maschinengewehre entsichert – schließlich waren wir Tiere, wie Hitler gesagt hatte.

Teodora Bierzińska, die Mutter des Autors. Das Foto entstand kurz vor ihrer Deportation aus dem Ghetto Tomaszów im Jahre 1942.

Es war ein warmer und sonniger Tag. Wir erreichten die Stadtmitte und gingen auf die Brücke zu, die über den Fluß Wolbórka führte; die Sonne stand hoch über uns und schien genau zu beobachten, was da unten vor sich ging. Während wir durch die Straßen marschierten, stand die einheimische Bevölkerung auf den Gehwegen, entweder einzeln oder in kleinen Gruppen. Ich bin sicher, daß einige von ihnen so manchen in der Kolonne erkannten. Es war wenig Verkehr auf den Straßen. Die meisten Einheimischen standen schweigend, fast bewegungslos, wie in ungläubigem Staunen oder in Angst erstarrt. Hin und wieder bewegte jemand seine Hand, winkte mit dem Taschentuch, wischte Tränen ab. Wir kamen an dem Haus vorbei, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, ein graues, einstöckiges Gebäude in der Antoniego-Straße 10, mit zwei oder drei Geschäften im Erdgeschoß. Nebenan befand sich die Nummer 8, ein zweigeschossiges großes Haus, wo wir vor dem Krieg und in den ersten Kriegsjahren lebten. Unsere Wohnung lag im Ostflügel des zweiten Stocks mit vier Fenstern zur Straße und mit dem Blick auf die Wolbórka-Brücke.

Ich schaute hinauf und glaubte in den Fenstern einige Gesichter zu erkennen. Ein großes Spruchband am Bahnhof – oder war es über der Straße in der Nähe des Flusses? –, an beiden Seiten an einem Strommast befestigt, verkündete: »Tomaszów ist judenfrei!« Mir war, als sagte mir eine innere Stimme, daß ich wieder hierher zurückkehren und als freier Mensch durch diese Straßen gehen würde, daß dies nur ein vorübergehender Abschied sei. Am Bahnhof wartete ein Güterzug mit weitgeöffneten Waggontüren, und lange Bretter dienten als Rampe zum Einstieg in die Güterwagen. Niemand war in der Nähe. Die einzigen menschlichen Wesen, die umherliefen, waren, wie sich herausstellte, Ukrainer in schwarzen Uniformen und deutsche SS-Offiziere in glänzenden schwarzen Stiefeln und eleganten Mützen. Hin und wieder konnte man die braune Uniform der SA sehen, der gefürchteten Sturmabteilung, die für ihr sadistisches und grausames Vorgehen bekannt war. Einige deutsche Schäferhunde wurden an strategischen Punkten für den Fall eines Fluchtversuchs von Häftlingen an der Leine bereit gehalten.

Welche andere Bezeichnung konnte man jemandem in einer solchen Zwangslage geben als »Häftling«? Es gab unter uns weder Kinder noch ältere Personen. Ihrer hatte man sich bereits im November 1942 entledigt. Die Gruppe bestand nur aus jungen, gesunden und kräftigen Menschen, die arbeitsfähig waren. Einige Rufe, das Zischen einer Peitsche, das die Luft durchschnitt, gefolgt von einem Schrei, sowie die gedämpft aufgeregten Stimmen der Häftlinge waren die einzigen Laute, die den pfeifenden Lärm der wartenden Lokomotive übertönten. Männer und Frauen, die in getrennten Kolonnen aus dem Lager hergebracht worden waren, wurden nun abgezählt und in die Waggons verfrachtet. Dort mußten wir alle dichtgedrängt stehen, und manche stellten sich auf ihr kleines Gepäckstück. Man roch die Ausdünstungen und den Atem des Nachbarn. In der Seitenwand des Waggons, wo ich mich befand, gab es eine kleine Luke mit einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern, einen halben Meter von mir entfernt: Ich konnte die Außenwelt sehen.

Drinnen war es heiß und stickig, aber man ignorierte diese Unbequemlichkeit. Der alles beherrschende Gedanke war: »Was wird geschehen?« Durch unsere aufgewühlten Gemüter wirbelten alle möglichen Gedanken, Gerüchte von Massenexekutionen und Greueltaten, die angeblich an Gefangenen begangen wurden. Bis jetzt hatte ich sie immer als Märchen und unglaubwürdige oder unwahrscheinliche Übertreibungen abgetan. Jetzt plötzlich, als ich mich mit Hunderten anderer Menschen in einem Güterwaggon eingesperrt wiederfand, verwandelten sich alle Gerüchte in eine mögliche Wirklichkeit, und ich wurde von bangen Vorgefühlen überwältigt. Doch irgendwie fühlte ich keine Angst. Die Dokumente besaß ich noch, und mein unwiderruflicher Entschluß, die Freiheit zu erlangen, stand fest.

Im Waggon gab es ein Loch im Boden, ein herausgenommenes Brett, das als Toilette benutzt wurde. Wer seine Notdurft verrichten wollte, mußte sich durch den überfüllten Waggon zu dieser Stelle drängen, an der man sich erleichtern konnte. Schließlich fuhr der Zug ab. Er kam zunächst nur langsam voran und fuhr in ruckartigen Bewegungen. Durch die kleine Luke konnte ich die Namen der Bahnstationen, die wir passierten, lesen. Etwa um fünf Uhr nachmittags hielt der Zug an. Durch die Luke entzifferte ich den Namen Bliżyn. Wie sich herausstellte, war das unser Bestimmungsort. Von draußen waren Rufe, Hundegebell, Schritte und Motorengeräusche zu hören. Bliżyn – ich hatte nie zuvor davon gehört. Jemand sagte: »Wir sind in der Nähe von Szydłowiec.« Plötzlich wurden die Türen aufgerissen, und das gleißende Licht des spätnachmittäglichen Sonnenscheins blendete uns für einen Augenblick. Schon waren die Rampen vom Waggonrand zum Bahnsteig angebracht worden. Der Ruf »Alles raus!« durchschnitt die Luft wie ein scharfes Messer. Diejenigen, die neben der Tür standen, begannen auszusteigen. Draußen prügelten sie mit Stöcken und Peitschen auf die Körper derer, die am Rand der etwa zwei Meter breiten Rampe standen. Nur diejenigen, die beim Verlassen des Waggons in der Mitte der Rampe heruntergingen, entkamen dieser schmerzhaften Begrüßung.