Mit dem Leben spielt man nicht - Uwe Heimowski - E-Book

Mit dem Leben spielt man nicht E-Book

Uwe Heimowski

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Beschreibung

Eben noch in der Türkei im Erdbebengebiet helfen, dann schon wieder weiter in den Südsudan, das zu den ärmsten Ländern der Welt zählt. Uwe Heimowski ist viel unterwegs. Er bereist die Welt, um anderen zu helfen - erst als Politiker im Menschenrechtsausschuss, heute mit humanitärem Auftrag. Sein Herz schlägt für die Menschen am Rande der Gesellschaft, für Obdachlose, Prostituierte, Aidskranke und Notleidende. Auch er selbst war mal einer von ihnen: spiel- und alkoholsüchtig und verloren in Hoffnungslosigkeit. Der Tod schien ihm damals der einzige Ausweg zu sein. Doch mitten in dieser Krise passierte etwas, das sein Leben für immer verändern würde …

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2024

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UWE HEIMOWSKI

WEIL FREIHEIT ALLES VERÄNDERT

Eben noch ein Projekt im Erdbebengebiet der Türkei besucht, dann weiter in den Südsudan, der zu den ärmsten Ländern der Welt zählt. Uwe Heimowski ist viel unterwegs. Er bereist die Welt, um anderen zu helfen – erst als Referent für Menschenrechte eines Bundestagsabgeordneten, heute mit humanitärem Auftrag. Sein Herz schlägt für die Menschen am Rande der Gesellschaft, für Obdachlose, Prostituierte, Aidskranke und Notleidende. Auch er selbst war mal einer von ihnen: spiel- und alkoholsüchtig und verloren in Hoffnungslosigkeit. Der Tod schien ihm damals der einzige Ausweg zu sein. Doch mitten in dieser Krise begegnete ihm Jesus.

»Uwe Heimowski zeichnet als Gegenüber eine seltene Balance aus: Klartext in Sache und Sprache – und gleichzeitig Differenzierung und Gottvertrauen in der persönlichen Begegnung. Dieses Buch ist eine solche Begegnung und damit die Chance auf ein Stück Hoffnung in unserer zersplitterten Welt.«

JÖRG DECHERT / Vorstandsvorsitzender ERF, Speaker und wegfinder-Podcast mit U. Heimowski

Uwe Heimowskimit Hauke Burgarth

Mit dem Leben spielt man nicht

Wie mein Glaube mich aus der Sucht befreite und ich eine zweite Chance bekam

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7643-9 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6238-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2024 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart

Titelbild: Henning Moser, WWW.HENNINGMOSER.DE

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Inhalt

Zwei Tage im Dezember

Erste Erinnerungen

Eine plötzliche Wende

Zwischen Gymnasium und Disco

Aus und vorbei

Nicht mit und nicht ohne

Gott hört Gebet

Wendepunkte

Giraffen-Therapie

Wenn Gott so viel getan hat

Für Jesus unterwegs

Auf der »sündigsten Meile der Welt«

Begleitung bis zum Schluss

Zwischen Tod und Liebe

Ausgerechnet in Gera

»Euch wollen wir hier nicht!«

Es bleibt nicht rosarot

Eine Gemeinde für die Stadt

Zwischen Kirche und Politik

Da muss man doch was tun

Menschenrechte sind unteilbar

Eine neue Berufung in Berlin

Brückenbauer

Eine Frage des Herzens

Immer noch von Gott gebraucht

Neue Herausforderungen

Armutsüberwinder

Adressen, Links und Quellen

Anmerkungen

Bildteil

In diesem Buch erzähle ich meine Geschichte so, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat. Natürlich geschieht das aus meiner persönlichen Perspektive und muss nicht unbedingt die Ansichten, Erinnerungen und Empfindungen Dritter widerspiegeln. Wo es mir angebracht schien, wurden deshalb aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes Namen, Orte und Details geändert.

Leider musste ich mich auch beschränken. Viele Menschen haben mein Leben bereichert – doch es war nicht möglich, sie alle zu erwähnen. Seht es mir nach. Und glaubt mir meine ehrliche Dankbarkeit.

Zwei Tage im Dezember

»Ich kann nicht glauben.«Komisch, manchmal beginnt der Glaube mit genau diesen vier Worten.1

Es ging mir schon eine ganze Weile nicht gut. Okay, ich war sechsundfünfzig und irgendwann muss sich jeder wohl oder übel damit anfreunden, dass man die eigenen Grenzen nicht von Jahr zu Jahr erweitern kann. Aber im Großen und Ganzen fühlte ich mich fit. »Altersentsprechend«, meinte meine Hausärztin und lächelte dabei.

Doch an diesem Tag im Dezember 2020 war mir nicht nach Lächeln zumute. Ich war nur kurz die Treppe hinuntergegangen, um ein Geburtstagspäckchen für unsere Jüngste entgegenzunehmen, und kam völlig verschwitzt und atemlos wieder oben an. Meine Brust brannte und mir war speiübel. Das konnte nicht nur Müdigkeit oder Abgeschlagenheit sein. Zunächst versuchte ich es noch mit einer kurzen Ruhepause, doch innerlich leuchteten schon alle Alarmglocken. Google gab mir recht. Als ich auf meinem Bett lag, mein Puls wieder etwas ruhiger schlug und ich langsam wieder Luft bekam, schaute ich meine Symptome nach und stieß dabei auf das hässliche Wort »Herzinfarkt«. Daneben stand warnend: »Wenn Sie diese oder ähnliche Symptome haben, dann zögern Sie bitte nicht und rufen Sie den Notarzt.«

»Christine, komm doch mal bitte her …« Kurz besprach ich mich mit meiner Frau. Sollten wir noch abwarten? Sollte ich am nächsten Tag meine Hausärztin aufsuchen? Nein, wir riefen sofort die 112 an. »Guten Tag, hier Heimowski, ich denke, ich habe einen Herzinfarkt …«

Es ging mir gut genug, um die Großaktion mit Rettungsfahrzeug und Notarzt mitzubekommen, aber es ging mir so schlecht, dass ich mich mittlerweile vor Schmerzen krümmte. Kurze Zeit später lag ich im Krankenhaus. Das EKG zeigte nichts Untypisches an, mir wurde Blut abgenommen und dann hieß es Warten. Auf der Notaufnahme herrschte Chaos. Corona-Chaos. Die Räume waren überfüllt. Ein Mann brüllte, dass er keine Maske tragen wolle, die Pandemie sei eine einzige Lüge. Die Zeit verging, die Schmerzen nicht. Nach einer Dreiviertelstunde zupfte ich einen Arzt am Ärmel. Er schaute verwirrt. »Was machen Sie denn noch hier?«

Im Eiltempo wurde ich auf die Intensivstation gebracht und bekam eine hohe Dosis Aspirin und Schmerzmittel gespritzt. Die Symptome waren zwar untypisch und die ersten Messergebnisse negativ, aber bald stellte sich heraus, dass ich tatsächlich einen Herzinfarkt hatte. Die Medikamente senkten den Blutdruck und langsam ließen die Schmerzen nach. Am nächsten Tag wurden mit dem Herzkatheter mehrere Stents gesetzt und eine Ader verödet. Es war sehr knapp gewesen.

Abends bekam ich Besuch von einer Psychologin, die mir erklärte, was nun mit mir passieren würde. »Es kann gut sein, dass Sie in den nächsten Wochen und Monaten mit Angstzuständen und Panikattacken zu kämpfen haben.« Sie schaute mich an. »Das ist völlig normal! Es ist eine Reaktion Ihrer Seele auf den lebensbedrohlichen Zustand, den Sie durchgemacht haben.«

Als ich wieder allein in meinem Zimmer lag, machte sich allerdings keine Angst breit, sondern tiefe Dankbarkeit. Ich wusste zwar nicht, wie es weitergehen würde, aber es würde weitergehen. Gott war da! Ich lebte.

Spontan dachte ich zurück an einen Dezembertag vor vierunddreißig Jahren, als mich Leben und Tod auf eine ähnlich intensive Weise berührt hatten.

1986 hatte ich Alkohol- und Drogenprobleme, vor allem aber war ich spielsüchtig. Ich hatte die Schule und meine Ausbildung abgebrochen. Gesundheitlich war ich völlig am Ende. Ich war zwar erst zweiundzwanzig, aber ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Mir fehlte jede Hoffnung und ich hatte schon einen Plan gefasst, wie ich meinem Leben ein Ende setzen wollte. Mit einer ganzen Flasche Johnnie Walker trank ich mir Mut an. Doch bevor ich mich umbringen konnte, geschah etwas, was mein Leben komplett veränderte. So merkwürdig es klingen mag: Ich hatte eine Begegnung mit Gott. Eine innere Stimme sagte mir laut und klar vernehmbar: »Wenn du das jetzt machst, stehst du vor Gott. Und so, wie du gelebt hast, kannst du vor ihm nicht bestehen.« Glaube hatte bis dahin keine große Rolle in meinem Leben gespielt. Ab diesem Moment wusste ich, dass die Stimme nicht aus mir selbst kam. Betrunken, wie ich war, fiel ich auf meine Knie: »Wenn es dich wirklich gibt, dann musst du mir einen Ausweg zeigen«, forderte ich Gott heraus. Und das Unglaubliche geschah: Der Ausweg zeigte sich. Mein Leben nahm eine unfassbare Wende. Gott befreite mich aus der Sucht und ich bekam eine zweite Chance.

Und nun lag ich hier auf der Intensivstation. Blickte zurück auf vierunddreißig erfüllte Jahre, wie ich sie mir nie hätte vorstellen können. Ich spürte keine Angst, sondern war überwältigt von Dankbarkeit.

1986 und 2020. Zwei Tage im Dezember. Beide Male sah es so aus, als wäre mein Leben zu Ende. Und beide Male machte Gott etwas daraus. Dies und all die Geschichten drum herum möchte ich gern erzählen.

Erste Erinnerungen

Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich mich nicht mehr dauernd daran erinnere, was ich alles vergessen habe.

Wenn ich spiele, dann spiele ich. Dann kann neben mir die Welt untergehen und ich lasse mich nicht stören. Das hört sich nach einem wunderbar fokussierten Leben an, als kleines Kind wurde es mir allerdings fast zum Verhängnis. Ich war zwei Jahre alt, als ich bei uns im Vorgarten mit irgendeiner wichtigen Aufgabe beschäftigt war. Musste ich Steine sammeln, um eine Burg zu bauen, oder unbedingt mit dem Ball ins Tor treffen? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls rollte mein Vater mit dem Auto rückwärts aus der Garage und sah mich nicht. Als Zweijähriger erschien ich noch nicht in seinem Rückspiegel. Außerdem war sein Blick getrübt, denn er war – wie so oft – betrunken. Erst als er einen Aufprall und dann meinen Schrei hörte, trat er auf die Bremse.

Ich hatte zahlreiche Verletzungen und am schwersten hatte es meine Hüfte getroffen. Mit mehreren Brüchen lag ich viele Monate lang in einem Streckverband fixiert im Krankenhaus. Besuch galt damals eher als Störfaktor im Krankenhausablauf, deshalb gab es nur wenige Besuchszeiten pro Woche. Ich fühlte mich elend und allein und litt darunter beinahe mehr als unter meinen Brüchen. Natürlich erinnere ich mich nicht selbst an diese Zeit, aber ich habe die Geschichte so oft gehört, dass ich fast meine, den Automotor in der Garage anspringen zu hören und den typischen Krankenhausgeruch in der Nase zu haben.

Das Ganze ist allerdings mehr als ein Kindheitserlebnis für mich. Vieles beeinflusst ein Leben, obwohl man sich kaum oder gar nicht daran erinnern kann. Meine Hüftprobleme jedenfalls lassen mich bis heute nicht los. Jahre später wurde bei einer Röntgenuntersuchung ein Hüftschiefstand festgestellt und der Röntgenarzt meinte: »Das scheint von einem schweren Unfall herzurühren. Es würde auch häufige Kopf- und Rückenschmerzen erklären. Ist da mal etwas vorgefallen?«

Von all meinen Geschwistern habe ich die wenigsten Erinnerungen an meine Kindheit. Selbst mein jüngerer Bruder erinnerte sich an Situationen, die ich nicht mehr auf dem Schirm hatte. Das liegt sicher daran, dass ich als Kind ein Träumer war. Ich las viel, hörte Radio und Kassetten, dachte mir Geschichten aus und lebte oft in einer Art Parallelwelt. Mein kleiner Bruder genoss es. Wir teilten uns nämlich ein Zimmer, und wenn es dunkel wurde und wir ins Bett gehen sollten, kuschelte er sich in die Decke und bat: »Erzähl weiter.« »Was denn?« »Du weißt schon, von der Bisonjagd, wo du gestern aufgehört hast.« Regelmäßig erfand ich für uns beide Indianergeschichten, die Winnetou und Old Shatterhand alt aussehen ließen.

Vieles in meiner Umgebung bekam ich durch meine verträumte Art nicht richtig mit, manchmal verschwammen bei mir die Realität und meine erdachte Wirklichkeit. Später korrigierten meine Familie und andere mich regelmäßig und sortierten damit meine scheinbaren Erinnerungen neu. Oft hörte ich die Worte: »Was erzählst du denn? Das war doch ganz anders …« Dieser frühe Rückzug in meine eigene Welt half mir damals wahrscheinlich, die ersten schweren Jahre meiner Kindheit zu überstehen; manches Schlimme bekam ich so schlicht und einfach nicht mit. Natürlich wurde ich trotzdem stark von meiner Herkunftsfamilie geprägt.

Mein Vater kam aus dem Osten, aus Danzig. Mein Opa war Pole – daher auch der Name Heimowski. Er war mit einer Deutschen verheiratet und wanderte im Dritten Reich nach Deutschland ein. In seiner alten Heimat sah er keine Zukunft mehr, und da er selbst Nazi war, ließ er sich in Heider umbenennen und zog ins »Großdeutsche Reich«, um für Deutschland zu kämpfen. Im Buch Die Blechtrommel wird in einem Nebensatz eine polnische Familie erwähnt: »Und nebenan Heinerts Eltern, die noch Heimowski hießen.«2 Günter Grass beschreibt hier einen ähnlichen Namenswechsel wie bei meinem Großvater. Meinte er gar meine Familie? Ich weiß es nicht. Meine Oma verließ jedenfalls den frischgebackenen Herrn Heider wegen seiner nationalsozialistischen Einstellung und dachte pragmatisch: »Der Name Heimowski ist ja jetzt frei – also behalte ich ihn.« Sie lebte nach der Scheidung weiter in Danzig und mein Vater blieb bei ihr.

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, floh sie mit meinem Vater in den Westen. Am 30.  Januar 1945 stand sie mit Tausenden anderen Flüchtlingen im Hafen von Danzig und hoffte auf eine Passage auf der Wilhelm Gustloff. Mein Vater und sie hatten keine Chance. Die Schlange der Ausreisewilligen, die vor den heranziehenden Russen flohen, war viel zu lang. Das Schiff war bereits überfüllt, bevor sie an der Reihe waren. Enttäuscht kehrten sie um und dachten: »Jetzt ist unser Leben vorbei!« Es wäre in der Tat vorbei gewesen, wenn sie an Bord gekommen wären, denn noch in derselben Nacht wurde das Schiff torpediert und sank. Nur rund tausend Personen wurden gerettet und überlebten – schätzungsweise neuntausend ertranken.

Meiner Großmutter und meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als den Weg zu Fuß, mit der Bahn oder auch mal auf einem vorbeifahrenden Pferdewagen zu bewältigen. Im Westen angekommen gerieten sie nach Hämelerwald, einem Dorf in der Nähe von Hannover. Dort wuchs mein Vater auf, schloss die Schule ab, absolvierte eine Lehre als Maurer und arbeitete später als Lkw-Fahrer. Doch wie schon mein Opa wurde auch er zum Alkoholiker.

Meine Mutter wurde 1936 als jüngstes von zwölf Kindern in Litauen geboren. Auch sie musste kurz vor Ende des Krieges fliehen. Die Russen standen vor Litauen und die deutsche Minderheit im Land war gezwungen, ihre Heimat aufzugeben. Auf der Flucht geriet ihre Familie in Gefangenschaft und die Jahre in einem Lager in Polen waren von unglaublichen Qualen erfüllt: Hunger, schwere körperliche Arbeit und Schikanen bis hin zur Vergewaltigung. Als meine Mutter endlich in Deutschland ankam, hatte sie acht Geschwister verloren, und ihre Mutter galt als vermisst. Erst Jahre später konnte sie sie mithilfe des Roten Kreuzes finden – sie lebte. Obwohl meine Mutter die Jüngste war, übernahm sie die häusliche Verantwortung für ihren Vater und zwei Brüder – einer davon war ertaubt – und arbeitete nebenbei als Serviermädchen. Die Schule hatte sie insgesamt nur ein Jahr lang besucht – mehr war nicht möglich gewesen. Sie hatte sich zwar selbst das Lesen und Schreiben beigebracht, aber noch als erwachsene Frau wurde sie nervös, wenn ihr jemand beim Schreiben auf die Finger sah.

Nach einigen Jahren in Thüringen wurden die Flüchtlinge auf ganz Deutschland verteilt. Die Behörden schickten die Familie meiner Mutter ebenfalls nach Hämelerwald in Niedersachsen. Damals war meine Mutter siebzehn. Sie war neu im Ort, kannte noch niemanden und hatte Nachholbedarf. Als Kirmes gefeiert wurde, war sie fröhlich dabei, genoss das Fest und lernte einen jungen Mann kennen. Leider vertrug sie den Alkohol nicht. Sie gab sich den Avancen meines Vaters hin, wurde sofort schwanger und »musste« heiraten.

Von den Alkoholproblemen ihres Mannes hatte sie keine Ahnung und die Ehe wurde eine Katastrophe. Mein Vater brachte sein Geld mit anderen Frauen durch. Er trank. Immer wieder schlug er meine Mutter und drangsalierte uns Kinder, wo er nur konnte. Meine Eltern bekamen im Laufe der Zeit vier Kinder: meine Schwester, nach zwei Jahren meinen Bruder, nach acht Jahren kam ich zur Welt und dreieinhalb Jahre später mein jüngerer Bruder. Meine Mutter hatte da bereits Schlimmes erlebt, aber sie sah, dass es vielen Frauen in der Nachbarschaft genauso ging. Das Leben war wohl so … Viele Jahre lang fügte sie sich deshalb in ihr Schicksal, ohne etwas dagegen zu unternehmen.

Wenn ich heute an sie denke, dann fällt mir immer wieder ein, wie ich als ängstliches kleines Kind abends in meinem Bett lag, sie mir über die Stirn streichelte und mich fragte: »Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?« »Au ja.« »Was willst du denn hören?« »Der kleine und der große Klaus!« »Aber das Märchen habe ich dir doch schon zigmal vorgelesen.« »Trotzdem. Bitte …« »Na gut«, antwortete sie, holte Andersens Märchen aus dem Regal und begann: »In einem Dorfe wohnten zwei Leute, die beide denselben Namen hatten. Beide hießen Klaus, aber der eine besaß vier Pferde und der andere nur ein einziges Pferd …« Das Vertraute dieser Erzählung gab mir Ruhe, genauso wie die Essenz der Geschichte, dass es sich lohnt, seinen Weg aufrichtig zu gehen. Im Anschluss sangen wir »Guten Abend, gute Nacht«, Mutter betete, und ich schlief ein, in der Hoffnung auf den kommenden neuen Tag.

Tagsüber fühlte ich mich wesentlich unsicherer, vor allem, wenn mein Vater da war. Wir wussten nie, wann er von der Arbeit heimkam – und vor allem nicht, in welcher Laune. Hatte er getrunken? War er laut? Würde er Mutter schlagen? Etwas kaputt machen? Die Atmosphäre war geladen wie vor einem Gewitter, bei dem jeden Moment der Blitz einschlagen konnte. Es war schrecklich, uns beherrschte die pure Angst. Sobald Vater anwesend war, befanden wir uns alle in ständiger Habachtstellung und wollten unbedingt vermeiden, ihn zu reizen.

Kein Wunder, dass ich jede Gelegenheit nutzte, um dieser Spannung zu entkommen. Unsere Nachbarn waren kinderlos. Sie war Lehrerin, er Opernsänger. Irgendwie hatten sie einen Narren an mir gefressen, deshalb konnte ich jederzeit bei ihnen klingeln und war willkommen. Oft lag ich in ihrem Wohnzimmer auf der Couch und versank in einem spannenden Hörspiel, das im Radio lief, während bei uns zu Hause wieder einmal Krisenstimmung war. Vermutlich bekam ich auch deshalb vieles einfach nicht mit, weil ich anders als meine Geschwister die Möglichkeit hatte, den Konflikten aus dem Weg zu gehen.

Ein Ereignis ist mir allerdings sehr präsent. Vater war zwar im Haus, aber es war trotzdem ruhig, bis mitten am Tag plötzlich alle panisch schrien. Mutter und die beiden Großen riefen und rannten durcheinander und liefen dann auf unseren Dachboden. Erst später erfuhr ich, was geschehen war. Mein Vater hatte sich einen Strick genommen und sich an einem Dachbalken aufgehängt. Mutter entdeckte ihn, weil die Dachluke aufstand, schnitt ihn los und rettete damit sein Leben. Warum er das getan hatte, blieb unklar, er selbst erwähnte dieses Ereignis nie wieder.

Im Laufe der Jahre konnte ich mir diese Szene so plastisch ausmalen, dass ich irgendwann dachte, ich wäre dabei gewesen, doch als ich einmal davon erzählte, erklärte mein älterer Bruder trocken: »Du warst damals unten im Kinderzimmer. Wir haben dich weggeschickt. Nie hätten wir dich dazugeholt.«

Kennzeichnend für Vaters Umgang mit uns Kindern war auch ein anderes Ereignis. Es war Sommer und sehr heiß. Wir waren als ganze Familie im Garten, spielten, lasen oder lagen in der Sonne. Da rief Vater die beiden Großen: »Kommt mal her, ihr beiden. Hier habt ihr etwas Geld. Geht in den Laden und kauft eine große Packung Vanilleeis.« Schnell zogen sie los. Bei dem heißen Wetter wäre ein Eis genau das Richtige. Kurze Zeit später kamen sie mit einer Literpackung Vanilleeis zurück. Jetzt rief Vater: »Kommt alle her und setzt euch.« Natürlich taten wir das. Uns lief schon das Wasser im Mund zusammen. Und was machte er? Er holte sich einen Löffel, öffnete den Deckel, leckte ihn sorgfältig ab und aß anschließend das Eis komplett auf. Allein. Während wir alle zuschauen mussten. Keiner von uns traute sich, auch nur ein Wort zu sagen. Als er fertig war, meinte er nur: »Jetzt könnt ihr weiterspielen.« Viele wahrscheinlich wesentlich schlimmere Dinge bekam ich nicht mit, aber an diese Szene erinnere ich mich sehr genau.

Sein Geld bekam mein Vater noch ganz klassisch in der Lohntüte. Jeweils am Freitag wurde ihm der Wochenlohn in bar ausgezahlt. Meistens bedeutete das für uns, dass wir ihn erst im Laufe des Sonntags wieder zu Gesicht bekamen, nachdem er den Inhalt der Lohntüte vertrunken hatte. Um uns als Familie durchzubringen, ging meine Mutter deshalb frühmorgens einige Stunden putzen, bevor sie uns Kinder weckte und Frühstück machte. Sie verlor nie viele Worte darum. Es war einfach so und sie nahm es lange hin, doch sie litt mehr und mehr darunter.

Eine plötzliche Wende

Manchmal fühlst du dich wie ein Schatten deiner selbst. Bis du merkst: Das geht nur, weil die Sonne scheint.

Das Leben ging weiter, aber in eine Richtung, die ich mir nie hätte vorstellen können. Eines Morgens sehr früh stand Mutter bei meinem Bruder und mir im Zimmer und weckte uns: »Guten Morgen. Aufstehen. Zieht euch an und kommt bitte gleich runter.« Unten angekommen ging unsere Mutter mit uns vors Haus. Dort standen viele unserer Möbel auf dem Gehweg. Daneben parkte ein kleiner Lkw. Am Steuer saß ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Mutter umarmte ihn und stellte ihn uns vor: »Das ist Helmut, euer neuer Vater.«

Sie luden die Möbel ein, wir packten noch unsere Kleidung in Koffer und jeder von uns nahm seine persönlichen Sachen mit, dann wurden wir ins Führerhaus gesetzt und fuhren weg. Vorübergehend wohnten wir mit Helmut im benachbarten Lengede – dem Ort, der ein paar Jahre vorher durch ein Grubenunglück und die Rettung der beteiligten Bergleute berühmt geworden war. Ich verstand diesen plötzlichen Umzug nicht, aber wie die anderen war ich froh, dass die Angst erst einmal ein Ende hatte. Obwohl ich erst vier war, weiß ich noch, wie ich aufatmete.

Helmut war ein Kollege meines Vaters. Er war schon einmal verheiratet gewesen und auch seine Ehe muss katastrophal gewesen sein. Wenn er als Fernfahrer von einer Tour heimkam, begegnete er in seinem Haus öfter fremden Männern, die bei seiner Frau waren. Bei einer Betriebsfeier kam er mit meiner Mutter ins Gespräch, und als sich die beiden näher kennenlernten, konnten sie sich gut in die jeweilige Lebenssituation des anderen einfühlen. Ihr Verständnis füreinander wurde zu Freundschaft und entwickelte sich zu Liebe, die für beide ein Strohhalm war, den sie ergriffen, um aus ihren kaputten Beziehungen herauszukommen.

Eine Weile später wurde ich in Lengede eingeschult. Auch wenn ich wissbegierig war, tat ich mich schwer damit, eine komplette Schulstunde konzentriert dabeizubleiben. Öfter träumte ich mich einfach heraus aus dieser Wirklichkeit. Die Schule nervte mich nicht besonders, aber mehrstündiges Stillsitzen war nicht mein Ding. Einmal schwänzte ich als Erstklässler sogar einen ganzen Schultag.

Es geschah völlig ungeplant. Als ich eines Morgens etwas lustlos zur Schule ging, begegnete ich einem vierzehn- oder fünfzehnjährigen Jungen, für mich also fast ein Erwachsener. Er trug Werbeblättchen aus, hatte in den ersten Stunden frei und erledigte seine Arbeit deshalb vor dem Unterricht. Er schimpfte wie ein Rohrspatz: »Ich hab keinen Bock auf diesen Scheißjob. Aber mein Vater meint, ich soll was dazuverdienen. So ein Mist – am liebsten würde ich mit den blöden Zetteln ein Lagerfeuer machen!« Ein Lagerfeuer – das klang spannend. Ich war sofort dabei. Wir liefen in den Wald und suchten uns eine schöne Ecke. Dort sammelten wir totes Holz und mein neuer Freund nahm seine Prospekte und entzündete damit ein spektakuläres Lagerfeuer. Wir fühlten uns als große Abenteurer. Die Schule hatte ich komplett vergessen …

Irgendwann im Laufe des Nachmittags machte ich mich auf den Heimweg. Meine Mutter war völlig aufgelöst, als ich dort ankam. Die Lehrerin hatte sie angerufen und gefragt, ob ich krank sei. »Wieso?« »Er ist nicht zur Schule gekommen.« Viele Mütter hätten sofort gedacht, dass ihr Kind wohl ein Alternativprogramm zur Schule gefunden hatte – nicht meine Mutter! Nicht in ihrer Situation! Sie hatte befürchtet, dass mein Vater mich entführt hätte, um Druck auf sie auszuüben oder einfach Tatsachen zu schaffen. So war sie zwar wütend, weil ich nicht zur Schule gegangen war, aber ihre Erleichterung überwog. Denn obwohl sie aus ihrer unglücklichen Beziehung geflohen war, war die Sache noch nicht ausgestanden.

Meinem Vater ging es nie ernsthaft darum, die Ehe mit meiner Mutter zu retten, aber für ihn war es ein Unding, dass sie einfach ausgezogen war. Wie stand er jetzt vor den Leuten da? Im Scheidungsprozess ging es ihm deshalb darum, meine Mutter als einzig Schuldige darzustellen. Das war nach dem Scheidungsrecht damals der wichtigste Punkt: Wer schuldig geschieden wurde, verlor seine Ansprüche. Und mein Vater erreichte sein Ziel. Meine Mutter war zu einem anderen gezogen, das genügte. Gewalt, Missbrauch, Fremdgehen – nichts von dem, was mein Vater getan hatte, spielte eine Rolle. Das Haus, das meine Mutter gemeinsam mit meinem Vater gebaut hatte, wurde ihm allein zugesprochen. Im Gegenzug bekam sie immerhin das Sorgerecht für uns Kinder, doch damit war mein Vater auch frei von allen finanziellen Verpflichtungen uns gegenüber.

Ich war zu jung, um diese Details zu verstehen – was ich mitbekam, war, wie angespannt meine Mutter oft war. Trotz der neuen Liebe ging sie durch sehr schwere Zeiten.

Der Bruch zwischen meinen Eltern war endgültig. Meine Mutter wollte ihren Ex-Mann nie wiedersehen. Auch ich traf meinen Vater jahrelang nicht mehr. Und als ich mit über zwanzig Jahren einmal versuchte, den Kontakt zu ihm aufzunehmen, ging das gründlich schief: Wir kannten uns nicht und hatten uns nichts zu sagen.

Glücklicherweise war das jedoch nicht das Ende. Jahre nach seinem Tod bekam ich einen Brief von einer mir unbekannten Frau. Sie schrieb: »Sehr geehrter Herr Heimowski, sind Sie vielleicht der Sohn von Heinz Heimowski aus Hämelerwald?« Ich schrieb zurück und bestätigte es ihr. Darauf antwortete sie mir: »Es mag seltsam für Sie klingen, aber ich hatte es auf dem Herzen, Ihnen zu schreiben. Ich bin die Tochter der Frau, die Ihren Vater nach seiner Scheidung geheiratet hat.« In dem Brief erzählte sie weiter, dass mein Vater eine Entziehungskur gemacht und nie wieder etwas getrunken hätte. Auch gewalttätig wurde er nicht mehr. Sie schloss ihren Brief mit dem Satz: »Er ist mir ein liebevoller Stiefvater geworden. Ich dachte, dass das vielleicht für Sie schön zu hören ist.« Das war es tatsächlich. Es versöhnt mich im Nachhinein damit, ein Sohn dieses Mannes zu sein. Und es zeigt mir, dass Veränderung immer möglich ist. Ich habe keine Ahnung, wie mein Vater am Schluss zu Gott stand, aber irgendwie trägt diese Entwicklung Gottes Handschrift. Trotzdem blieb ein Schmerz: Er hätte sich ja auch bei seinen leiblichen Kindern melden können …

Meine beiden älteren Geschwister mussten kurz nach der Trennung das Haus verlassen, und ich hatte über Jahre hinweg nur wenig Kontakt zu ihnen. Sie hatten massive Probleme, die direkt von unserer desolaten Familiensituation herrührten – was ich als kleines Kind weggeträumt oder nicht mitbekommen hatte, hatten sie ungefiltert erlebt. Mein Bruder kam nach einem Diebstahl bei meinem Vater in ein Kinderheim, als der ihn anzeigte. Wahrscheinlich tat er das in erster Linie, um unserer Mutter eins auszuwischen. Die Fürsorgeerziehung war in der damaligen Gesetzgebung knallhart. Meine Schwester wurde mit siebzehn schwanger und heiratete mit achtzehn, wie meine Mutter. Auch ihr Mann war Alkoholiker. All das belastete und prägte mich und die gesamte Familie, doch obwohl das für jeden von uns spürbar war, waren diese Themen damals tabu: Wir sprachen nicht darüber.

Bald darauf zogen Helmut, meine Mutter, mein jüngerer Bruder und ich in eine völlig andere Gegend. Helmut hatte im hohen Norden eine neue Arbeitsstelle gefunden – wieder als Kraftfahrer. Kurz unterhalb der dänischen Grenze lebten wir in Nordfriesland in einem Dorf mit nur wenig mehr als hundert Einwohnern. Zunächst wohnten wir zur Miete. Später konnte Vati, wie ich ihn inzwischen nannte, ein günstiges Baugrundstück kaufen. Dort baute er mit meiner Mutter zusammen unser Haus. Eine Weile später bekam meine Mutter noch ein Kind, meine Halbschwester. So wuchsen wir auf dem platten Land auf.

Unser Einzug ins eigene Haus brachte etwas Ruhe in unsere Familiensituation, auch wenn es der dritte Umzug in kürzester Zeit war. Sicher spielte das eine Rolle dabei, dass ich zu Beginn in der neuen Schule extrem schüchtern und zurückhaltend war. Die Gegend war wunderschön, doch mein Einstieg ins Dorfleben war hart. Auf dem Land wurde eben »Platt geschnackt« und ich verstand nur Bahnhof. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich als Zugezogener diese fremde Sprache lernte. Dazu kamen die anderen Kinder im Dorf, die nicht unbedingt auf mich gewartet hatten.

Auf einem meiner ersten Streifzüge in die Nachbarschaft entdeckte ich ganz in der Nähe unserer Wohnung eine große Sandgrube. Das war ein wunderbares Spielfeld, da konnte ich mit Autos fahren, etwas aus Sand bauen und einfach meinen Spaß haben. Schon bei meinem ersten Besuch dort kamen zwei Jungs aus der Nachbarschaft vorbei. Ich freute mich, sie zu sehen, und dachte, dass wir zusammen spielen könnten, doch sie schauten sich nur kurz gegenseitig an und stürzten sich dann mit Indianergeheul auf mich. Für sie war ich der Neue und musste erst einmal verprügelt werden, schließlich war ich in ihr Revier eingedrungen. Als ich längst am Boden lag, steckten sie mir noch Sand und Regenwürmer in den Mund. Ich weiß nicht, was sie noch mit mir angestellt hätten, da kam wie aus dem Nichts ein anderer Nachbarsjunge, der etwas älter war als wir. »Hey«, rief er schon von Weitem, »lasst den Jungen hier gefälligst in Ruhe!« Er stieß sie zur Seite und baute sich kampfbereit auf. Sie zögerten kurz, aber dann liefen sie fort – und er ließ sie gehen. Offensichtlich hatten sie Respekt vor ihm. »Ich bin übrigens Michael«, meinte er und half mir, aufzustehen. »Uwe«, antwortete ich, nachdem ich die Würmer ausgespuckt hatte. Das war der Beginn unserer Freundschaft.

Die beiden Jungs, die er vertrieben hatte, waren weder seine Freunde, noch hatte er etwas gegen sie, er konnte nur keine Ungerechtigkeiten ertragen, deshalb stand er mir bei, als sie sich zu zweit über mich hermachten. Für mich war das eine tolle Erfahrung. Ich war der Neue und niemand kannte mich, aber da war einer, der haute mich raus.

Michael war zweieinhalb Jahre älter als ich – es hat uns beide nicht gestört. Die nächsten Jahre war er mein Ein und Alles. Er liebte Fußball. Das war bis dahin überhaupt nicht meine Welt, aber um ihm ähnlich zu sein, tat ich von nun an das Gleiche. Ich hörte und sah mir die Bundesligaspiele an, kannte die aktuelle Tabelle auswendig und wusste, welcher Spieler bei welchem Verein auflief. Michael war ein glühender HSV-Fan und schnitt sich jedes Bild seiner Mannschaft aus den Zeitungen aus, die er bekommen konnte. Sein Zimmer war tapeziert mit Fotos von Kevin Keegan, Rudi Kargus, Horst Hrubesch und seinen anderen Helden. Das imponierte mir, aber ich wollte natürlich nicht, dass er merkte, wie ich ihm alles nachmachte, also entschied ich mich für Bayern München als Lieblingsmannschaft und sammelte Bilder von deren Stars: Sepp Maier, Karl-Heinz Rummenigge, Paul Breitner und den anderen. Das hatte den Vorteil, dass wir uns beim Sammeln der Bilder nie ins Gehege kamen – und unsere Freundschaft überlebte auch die Spiele des HSV gegen Bayern.

Während dieser Zeit zog mein älterer Bruder Peter noch einmal bei uns ein, da er volljährig geworden war und nicht mehr im Kinderheim bleiben musste. Weil es in unserem Haus kein freies Zimmer mehr gab, teilte ich mir für eine Weile wieder das Zimmer mit meinem kleinen Bruder Frank. Unser Miteinander war zwar herausfordernd, aber immer wieder sehr schön, eigentlich war es die schönste Zeit, die wir miteinander hatten. Und auch mit meinem großen Bruder verbrachte ich viele herrliche Stunden.

Peter wollte eigentlich eine Lehre als Kfz-Mechaniker beginnen, doch ihm fehlte der Schulabschluss. So fing er stattdessen eine Ausbildung als Tankwart an. Für mich war er damals so etwas wie ein Held. Er fuhr schon Moped – eine schnittige Zündapp – und nahm mich oft mit. Bei uns im Dorf war fast kein Verkehr und es gab jede Menge leere Feldwege. Oft stoppten wir bei unseren Touren und er ließ mich nach vorne: »Na, los. Du bist dran. Du weißt ja, wie es geht …« Und dann drehte ich ein paar Runden.

Wir gingen auch regelmäßig zusammen angeln. In der Nähe floss die Soholmer Au. Wo sie nicht kanalisiert war, waren die Uferabschnitte traumhaft schön. Dort verbrachten wir Stunden miteinander, und er zeigte mir, wie man die Angel vorbereitet, den richtigen Köder findet und schließlich die Angel auswirft. Die Freude war groß, wenn wir Weißfische oder Forellen mit nach Hause brachten. Diese Zeit mit meinem Bruder ist mir als sehr schön und heil in Erinnerung geblieben, wir kamen uns damals so nah wie noch nie. Nach einer Weile überwarf er sich jedoch mit seinem Chef und brach die Ausbildung ab. Es wurde schnell klar, dass er keinen zweiten Anlauf starten würde. Stattdessen arbeitete er erst auf einem Krabbenkutter in der Nordsee, bis er schließlich wieder daheim auszog und auf einem großen Hochseefischerboot anheuerte.

Als Familie hatten wir nicht viel Geld, aber eigentlich alles, was wir brauchten. Wir lebten einfach, doch es ging uns gut damit. Während andere im Sommerurlaub nach Holland oder sogar bis Italien fuhren, machten wir Ausflüge an die Nordsee, picknickten dort, spielten Fußball – vor allem, wenn Michael mit von der Partie war – und schwammen im Meer. Die Sonne war dieselbe wie im Ausland. Weil wir immer mehr zusammenwuchsen, hatte ich den heimlichen Traum, dass wir eine »richtige Familie« werden könnten. Daher ging ich eines Tages ins Wohnzimmer zu meinem Stiefvater und fragte ihn direkt: »Vati, willst du mich adoptieren?«

Ich muss damals etwa in der vierten Klasse gewesen sein und wir hatten im Unterricht über Adoption gesprochen. Der Gedanke an diese Möglichkeit hatte mich nicht mehr losgelassen und so stand ich jetzt mit erwartungsvollem Blick vor ihm. Die Frage war mir einfach so herausgeplatzt, ohne dass ich länger darüber nachgedacht hatte. Trotzdem war sie für mich logisch: Helmut war mit meiner Mutter verheiratet. Er war mein Stiefvater. Er sorgte für uns. Wieso sollte er mich nicht adoptieren? Seine Antwort haute mich um. Er schluckte kurz, dann wurde er laut: »Das fehlt mir gerade noch! Ich habe schon genug Probleme mit euch!« Danach drehte er sich um und sprach nicht weiter mit mir darüber.

Für mich warf er damit emotional eine Tür zu. Mein Traum von einer normalen, heilen Welt zerplatzte einfach. Das war mir schnell klar und so schlug ich mit meinen Waffen zurück: »Wenn du nicht mein Vater sein willst, dann bist du für mich in Zukunft nur noch der Helmut.«