Mit den Toten leben - Delphine Horvilleur - E-Book

Mit den Toten leben E-Book

Delphine Horvilleur

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Beschreibung

Delphine Horvilleur ist eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen Frankreichs. Ein aufrichtiges und tröstliches Buch, das uns mit der Endlichkeit des Lebens versöhnt. Dass zum Leben der Tod gehört, ist die älteste und am konsequentesten verdrängte Wahrheit der Welt. Umso größer ist das Bedürfnis nach Ritualen und spiritueller Begleitung, wenn wir damit konfrontiert sind ─ unabhängig von jedem Glauben. In ihrem sehr persönlichen Essay gewährt Delphine Horvilleur Einblicke in ihre Aufgabe als Rabbinerin, Tag für Tag Menschen in dieser Situation beizustehen. Dabei erweist sie sich als Geschichtenerzählerin, der es gelingt, die Sphären des Lebens und des Todes mit der Kraft des Wortes zu überbrücken. Horvilleur schöpft aus dem Schatz der jüdischen Kultur, aber auch aus ihren eigenen Erfahrungen als Frau, als Mutter, als Tochter. Mit den Toten leben ist ein Buch, das vom Tod erzählt und das Leben feiert.

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Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über das Buch

Dass zum Leben der Tod gehört, ist die älteste und am konsequentesten verdrängte Wahrheit der Welt. Umso größer ist das Bedürfnis nach Ritualen und spiritueller Begleitung, wenn wir damit konfrontiert sind ─ unabhängig von jedem Glauben. In ihrem sehr persönlichen Essay gewährt Delphine Horvilleur Einblicke in ihre Aufgabe als Rabbinerin, Tag für Tag Menschen in dieser Situation beizustehen. Dabei erweist sie sich als Geschichtenerzählerin, der es gelingt, die Sphären des Lebens und des Todes mit der Kraft des Wortes zu überbrücken. Horvilleur schöpft aus dem Schatz der jüdischen Kultur, aber auch aus ihren eigenen Erfahrungen als Frau, als Mutter, als Tochter. Mit den Toten leben ist ein Buch, das vom Tod erzählt und das Leben feiert.

Delphine Horvilleur

Mit den Toten leben

Aus dem Französischen von Nicola Denis

Hanser Berlin

Im Gedenken an meinen Großvater, Nathan Horvilleur

Und für Samuel, Ella und Alma, die mich immer wieder zurück ins Leben holen

Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst.

Deuteronomium 30:19

Das Leben ist die Gesamtheit der Funktionen, die den Tod zu nutzen verstehen.

Henri Atlan

Wenn es den Tod nicht gäbe, würde das Leben seine Komik einbüßen.

Romain Gary

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Delphine Horvilleur

Impressum

Inhalt

AZRAEL

ELSA

MARC

SARAH UND SARAH

MARCELINE UND SIMONE

ISAAKS BRUDER

ARIANE

MYRIAM

MOSE

ISRAEL

EDGAR

ANMERKUNGEN

AZRAEL

»Leben und Tod Hand in Hand«

Unmittelbar vor einer Zeremonie auf dem Friedhof klingelt mein Handy.

»Ich kann gerade unmöglich sprechen. Ich rufe dich sofort nach der Beerdigung zurück …«

Diese Szene hat sich so häufig wiederholt, dass meine Freunde sich inzwischen darüber lustig machen. Wenn sie mich anrufen, erkundigen sie sich oft zum Spaß, wer denn heute gestorben sei und wie es mit meinem Leben auf dem Friedhof stehe. Meine regelmäßige Anwesenheit an einem Ort, den viele Menschen nie oder fast nie aufsuchen, trägt mir immer wieder ein Verhör ein: »Macht es dir denn gar nichts aus, ständig mit dem Tod umzugehen? Ist das nicht zu hart, so vielen Hinterbliebenen beizustehen?«

Ich habe mir über die Jahre zahllose ausweichende Antworten zurechtgelegt: »Nein, nein, alles in Ordnung, man gewöhnt sich daran.« — »Doch, doch, es ist furchtbar, und es wird mit der Zeit auch nicht besser.« — »Es kommt sehr auf den Tag und die jeweilige Situation an.« — »Gute Frage, danke, dass ihr sie mir gestellt habt.«

In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie der Tod auf die Lebenden wirkt, die mit ihm konfrontiert sind oder ihn begleiten. Ich bin außerstande zu sagen, welchen Einfluss er auf mich hat, da ich nicht weiß, wer ich heute wäre, wenn ich mich bewusst von ihm ferngehalten hätte.

Ich weiß hingegen, dass ich mir im Laufe der Zeit bestimmte Rituale und Gewohnheiten — für manche sind es Beschwörungsgesten oder Zwangsstörungen — zugelegt habe, die mir gewissermaßen helfen, seinen Platz in meinem Leben zu begrenzen.

So habe ich es mir zum Beispiel angewöhnt, vom Friedhof aus nie sofort nach Hause zu fahren. Nach einer Beisetzung verordne ich mir immer einen Abstecher über ein Café oder ein Geschäft. Ich errichte eine symbolische Sicherheitsschleuse zwischen dem Tod und meinem Zuhause. Es kommt nicht in Frage, ihn mit heimzunehmen. Ich muss ihn um jeden Preis abschütteln, woanders lassen, neben einer Kaffeetasse, in einem Museum oder einer Umkleidekabine, muss mich vergewissern, dass er meine Spur verliert und meine Adresse nicht ausfindig machen kann.

In der jüdischen Tradition gibt es Tausende von Erzählungen, in denen der Tod als Verfolger auftritt, sich aber fortjagen und abhängen lässt. Zahlreiche Legenden stellen ihn als Engel dar, der unsere Häuser aufsucht und unsere Städte durchstreift.

Diese Gestalt hat sogar einen Namen: Azrael, der Todesengel. Es heißt, dass er mit einem Schwert in der Hand um die Menschen herumschleicht, auf die er es abgesehen hat. Abergläubische Berichte, die zu originellen Bräuchen geführt haben. In vielen jüdischen Familien gibt man zum Beispiel jemandem, der krank wird, einen anderen Vornamen. Mit seiner veränderten Identität soll er das überirdische Wesen, das ihn zu holen droht, in die Irre führen. Stellen Sie sich vor, dass der Todesengel bei Ihnen klingelt und nach einem gewissen Mosche fragt. Sie brauchen nur zu antworten: »Tut mir leid, hier wohnt kein Mosche. Sie sind bei Salomon.« Und der Engel wird sich kleinlaut für die Störung entschuldigen und von dannen ziehen.

Auch wenn wir über diese Taktik möglicherweise lächeln, spiegelt sie doch eine tiefere Wahrheit wider. Es gehört zum Wesen des Menschen zu glauben, er könne sich den Tod vom Leib schaffen, Schutzwälle und Erzählungen um ihn herum konstruieren, ihn listig fernhalten; sich einzureden, dass ihm bestimmte Rituale oder Worte diese Macht verleihen.

Die moderne, technisch hoch perfektionierte Medizin hat ihre eigenen Methoden entwickelt. Heutzutage hält sich der Todesengel tatsächlich von unseren Häusern fern, er wird, bevorzugt außerhalb der Besuchszeiten, in Krankenhäuser, Kliniken, Seniorenheime oder Palliativstationen gebeten. Man meint, er habe nichts mehr bei uns zu suchen. Immer weniger Menschen sterben zu Hause als müssten die Lebenden vor einer lästigen Krankheit geschützt werden.

Ich denke oft an diese räumliche Aufteilung, vor allem, wenn ich durch Paris laufe und die Gedenktafeln an den alten Häusern sehe. Hier ist ein Herr Soundso gestorben, dort irgendeine Berühmtheit. Heutzutage wissen wir nur selten, wenn jemand von unseren Hausmitbewohnern im Sterben liegt, und wir vermeiden es tunlichst, daran zu denken, wer wohl eines Tages in unserem Schlafzimmer gestorben sein mag. Der Tod gehört in einen gesonderten Bereich, und man glaubt, ihn zum Rückzug zu zwingen, indem man sein Gebiet umgrenzt.

Manchmal aber erinnert uns die Geschichte mit ihren Überraschungsszenarien daran, wie beschränkt unsere Macht trotz unserer Erzählungen und Taschenspielertricks ist.

2020 hat der Todesengel überall auf der Welt beschlossen, uns heimzusuchen, an die Tür aller Kontinente zu pochen. Während ich diese Zeilen schreibe, lässt er sich noch immer nicht abwimmeln. Zwar erreicht der Tod auch die Corona-Patienten vor allem im Krankenhaus und auf der Intensivstation, weit weg von zu Hause doch er gibt uns unmissverständlich zu verstehen, dass er jederzeit in unser Leben einbrechen kann. Die Angst, er möge einen Angehörigen treffen, in unser Territorium vordringen, ist plötzlich greifbar. Der Engel, den wir fernhalten wollten, erhebt Anspruch auf einen Platz in unserem Leben und unserer Gesellschaft. Er kennt unseren Namen und unsere Adresse, er lässt sich nicht hinters Licht führen.

Auch die Bestattungsriten und die Trauerbegleitung sind durch die Pandemie erschüttert worden. Wie alle, die Sterbenden zur Seite stehen, habe ich in den vergangenen Monaten Situationen erlebt, die mir bisher unvorstellbar erschienen waren.

Besuche am Krankenbett, bei denen Masken und Handschuhe die Sterbenden um ein Gesicht, ein Lächeln oder eine tröstende Hand bringen; die Einsamkeit, die unseren Senioren zugemutet wird, um sie vor einem Tod zu schützen, der sie trotz allem, dann jedoch mutterseelenallein, ereilen wird; Beerdigungen im engsten Familienkreis, mit streng reglementierter Teilnehmerzahl, bei denen man den Trauernden eine Umarmung oder einen Händedruck verweigert.

Eines Tages, ganz zu Anfang des Lockdowns, rief mich eine Familie an. Die Angehörigen standen ohne jede Begleitung vor dem Sarg des Vaters auf dem Friedhof. Sie hatten keine Freunde dazugebeten, weil sie niemanden gefährden wollten. Sie kannten allerdings kein einziges jüdisches Gebet und baten mich, ihnen aus der Ferne zu helfen. Also murmelte ich am Telefon die entsprechenden Sätze, die sie laut wiederholten. Zum ersten Mal in meinem Leben zelebrierte ich eine Beerdigung in meinem Wohnzimmer, für eine Familie, die ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Als das Gespräch vorbei war, wusste ich, dass es keine Sicherheitsschleusen mehr gab. Der Tod war einfach so, ohne Erlaubnis, in unsere Lebensräume eingedrungen.

Er hatte unsere Adressen gefunden und sich bei uns eingeschlichen, in unsere Familien und in unsere Köpfe. Er rief uns in Erinnerung, dass er schon immer da gewesen war, dass er uneingeschränkt mit dazugehörte und unsere Macht lediglich darin bestand, die Worte und Gesten zu wählen, die wir im entscheidenden Moment zu Hilfe nehmen würden.

Jene Worte zu finden und jene Gesten zu beherrschen ist das Herzstück meiner Arbeit.

Seit Jahren versuche ich Menschen, die mich danach fragen, zu beschreiben, was ich eigentlich tue.

Was bedeutet es, Rabbinerin zu sein? Ich muss natürlich Gottesdienste zelebrieren, Menschen begleiten und unterweisen, Texte übersetzen, damit andere sie lesen können, in jeder Generation den Stimmen einer Tradition Gehör verschaffen, die ihrerseits weitergegeben werden will. Doch im Laufe der Jahre habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Beruf, der meinem am nächsten ist, der einer Geschichtenerzählerin ist.

Meine Aufgabe ist es, etwas erzählen zu können, was schon tausend Mal gesagt worden ist, aber eine dieser Geschichten dem, der sie zum ersten Mal hört, neu zu erschließen. Ich stehe Frauen und Männern bei, die in den entscheidenden Momenten ihres Lebens das Bedürfnis nach Erzählungen haben. Diese althergebrachten Geschichten sind nicht nur jüdisch, ich gebe sie auch in der Sprache dieser Tradition wieder. Sie schlagen Brücken zwischen den Epochen und Generationen, zwischen denen, die waren, und denen, die sein werden. Unsere heiligen Erzählungen knüpfen eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten. Zur Rolle eines Geschichtenerzählers gehört, neben der Tür zu stehen und dafür zu sorgen, dass sie offen bleibt

So stellt sich abermals die Frage nach Räumen und Trennungen. Wir glauben gerne, dass die Wände undurchlässig und Leben und Tod sauber voneinander getrennt sind, dass Lebende und Tote einander nicht begegnen müssen. Und wenn sie in Wirklichkeit nichts anderes täten?

Ich erinnere mich an die Situation, in der ich zum ersten Mal einen Toten gesehen habe. Es war in Jerusalem, und es handelte sich um eine Frau. Ich studierte damals Medizin, und unser Semester war der Anatomie gewidmet. Nach der Theorie mussten wir mehrere Wochen im Seziersaal verbringen. Jeder von uns bekam einen Platz zugewiesen, also einen Tisch, auf dem jemand lag, der seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte. Ich erinnere mich an den penetranten Formalingeruch, an die Körper, die wir untersuchten, an alle Organe, Muskeln und Nerven.

Wohl um uns in emotionaler Hinsicht zu schützen, um die Angst und unsere Befürchtungen auf Abstand zu halten, betrachteten wir diese Körper nicht mehr als intakte Organismen und koppelten die anatomischen Details, die wir aufmerksam beobachteten, voneinander ab. Alles musste exakt mit den Einzelheiten des Lehrbuchs übereinstimmen, die wir uns akribisch eingeprägt hatten.

In einer der Sitzungen sollten wir die Anatomie der Hand studieren und uns vergewissern, dass wir alle Bänder erkennen, dass wir Arterie und Ellennerv, Kubitalvene und Beugemuskel auseinanderhalten konnten. Als ich das Laken von dem Körper zog, den ich schon seit Tagen sezierte, spürte ich, wie mir übel wurde. Auf den gefeilten, nach dem Tod sicher noch weitergewachsenen Fingernägeln dieser Frau, die ihren Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte, schimmerte ein eleganter rosa Nagellack.

Sie hatte ihn offensichtlich erst kurz vor ihrem Tod aufgetragen. Die letzte Schicht mochte gerade erst getrocknet sein, als Azrael mit gezogenem Schwert an ihre Tür geklopft hatte, um dieser Frau mit den sorgfältig manikürten Händen das Leben zu nehmen. Der Anblick erschütterte mich. Ich glaube, dass mir in diesem Moment eine Realität, etwas Offenkundiges ins Auge sprang, das wir Medizinstudenten uns auszusprechen weigerten: Jeder dieser sezierten Körper erzählte vom Leben einer Frau oder eines Mannes, von einem komplizierten, bewegten Leben, einem Leben voller Tiefgang und Oberflächlichkeit, in dem womöglich an ein und demselben Tag die Entscheidung getroffen wurde, einen Beitrag zur Wissenschaft zu leisten und sich die Fingernägel zu lackieren.

In diesem Seziersaal der medizinischen Fakultät berührten sich der Tod und das Leben an den Fingerspitzen einer Frau, die ich auf einmal mit anderen Augen sah. Und mir kam ein berühmtes Diktum in den Sinn, von dem ich erst jetzt begriff, wie viel Weisheit in ihm steckt: »Fünf Minuten vor ihrem Tod lebte sie noch.«

Dieser Ausspruch bestätigt in aller Deutlichkeit, dass sich das Leben, selbst wenn der Tod unvermeidlich ist, seine Macht nicht entziehen lässt. Es drängt sich bis zum Augenblick unseres Ablebens auf, scheint dem Tod bis zum Schluss bedeuten zu wollen, dass ein Miteinander noch immer möglich ist.

Womöglich existiert dieses Miteinander schon lange vor dem Tod. Ohne dass wir uns dessen bewusst wären, halten sich Leben und Tod beständig an den Händen und tanzen miteinander.

Ich erkannte diesen Reigen während meines Medizinstudiums in einem Buch. Die Beschäftigung mit der Biologie der menschlichen Hand hatte etwas Verstörendes. Als bei der Vorlesung zur Embryogenese die einzelnen Entwicklungsstadien des Lebens in der Gebärmutter durchgenommen wurden, entdeckte ich, dass unsere Finger, so wie viele andere Organe auch, aus dem Zelltod entstehen. Unsere Hand entwickelt sich zunächst in Form einer Flosse ohne Spalten, bevor erst viel später im Evolutionsprozess die dazwischenliegenden Zellen zerstört und die einzelnen Finger ausgebildet werden. Anders gesagt: Unser Körper erhält seine Form durch das Absterben der Elemente, die ihn konstituieren. Das trifft nicht nur auf unsere Finger zu, sondern auch auf zahlreiche andere Organe wie Herz, Darm oder Nervensystem. Sie können nur deshalb ihre Funktionen erfüllen, weil in ihnen ein Leerraum geschaffen wurde. Erst das Verschwinden eines Teils ihrer selbst macht diese Organe funktionstüchtig. Insofern verdanken wir das Leben dem Tod, der in ihm wirksam gewesen ist.

Mit diesem faszinierenden Phänomen, der sogenannten Apoptose, hat sich der herausragende Forscher und Geschichtenerzähler Jean-Claude Ameisen beschäftigt. Der Name für den programmierten Zelltod in unserem Körper stammt aus dem Griechischen und bedeutet »abfallen«. Er bezeichnet auch das Abfallen der Blätter im Herbst.

Und so vergehen die Jahreszeiten des Lebens: Bäume und Menschen können nur weiterleben, wenn der Tod sie heimsucht. Der Frühling kommt für alle, die die Apoptose überwunden haben, er hat dem Tod die Möglichkeit seiner Wiederkehr überlassen. Auch die aktuelle Krebsforschung vertritt diesen Standpunkt: Die Zellen, in denen das Leben außer Kontrolle gerät, die sich dem Tod verweigern und eine ewige Vitalität anstreben, verwandeln sich in Tumorzellen. Der Überschuss an Leben wird uns zum Verderben, der verhinderte Tod zum Verhängnis. Nur wenn Leben und Tod sich an den Händen halten, kann die Geschichte weitergehen.

Ich habe mich mit Anatomie, Biologie und Embryogenese befasst, bin jedoch weder Ärztin noch Forscherin geworden. Letztlich habe ich entschieden, die Lebenden auf andere Weise zu begleiten.

In meinem Beruf als Rabbinerin scheint mir, dass sich das, was ich von der Biologie und den Biowissenschaften gelernt habe, auch anders übersetzen lässt; das Wissen über den Körper führt einen Dialog mit den Erzählungen, die ich in mir trage. Die Biologie hat mich gelehrt, wie eng der Tod zum Leben gehört. Mein Beruf zeigt mir Tag für Tag, dass es in unserer Hand liegt, auch das Gegenteil wahr zu machen und dem Leben einen Platz im Tod einzuräumen. Dafür müssen wir von den Verstorbenen erzählen, Worte finden, die sie uns länger erhalten als Formalin. Immer wenn ich auf dem Friedhof mein Amt ausübe, versuche ich, diesen Platz weiter wachsen zu lassen — mithilfe von Geschichten, die sich unauslöschlich in uns einbrennen und die Toten bei den Lebenden verweilen lassen.

Das vorliegende Buch vereint einige dieser Lebensgeschichten, die ich erzählen durfte; Trauerfälle, die ich erleben musste oder begleiten konnte. Manche Einzelheiten wurden abgewandelt, um das Privatleben der Hinterbliebenen zu schützen, andere wiederum entsprechen voll und ganz der Wirklichkeit und wurden mit dem Einverständnis der Familien niedergeschrieben. All diesen Frauen und Männern, denen ich beigestanden habe, egal ob ihre Geschichte auf diesen Seiten erscheint oder nicht, gilt meine grenzenlose Dankbarkeit, und ich wiederhole, welche Ehre es mir war, Hand in Hand an ihrer Seite gestanden zu haben.

ELSA

»Im Haus der Lebenden …«

»Also, erzählen Sie …!«

Mit diesen Worten begann sie jede Sitzung und lud ihre Patienten ein, die Analyse fortzusetzen so wie man den Faden einer Erzählung weiterspinnt. Elsa Cayat liebte Geschichten. Sie verstand es, zu erzählen, zu schreiben und zuzuhören.

Der folgenden Geschichte, die gleich nach ihrem Tod einsetzt, konnte sie nicht mehr lauschen. Wie gerne würde ich ihr berichten, was danach passiert ist, ihr sagen, wohin unser Kummer uns getragen hat — immerhin kann ich mir ausmalen, wie sie diese zusammenhanglose Erzählung analysiert hätte.

Es ist Donnerstag, der 15. Januar 2015, zwölf Uhr mittags. Eine riesige Menschenmenge wartet bereits am Eingang des Cimetière de Montparnasse. Totenstille. Unsere verstummten Stimmen bringen das Schweigen einer ganzen Nation zum Ausdruck. Seit einer Woche sind uns die Worte abhandengekommen.

Am vergangenen Mittwoch haben Gewehrsalven die Zeit zerrissen, um eine Erinnerung in ihr festzuschreiben. Jeder weiß ganz genau, wo er sich befand, als ihn die Nachricht ereilte, alle wissen noch, welche Gespräche der Tod unterbrochen hat.

In ein paar Minuten beginnt die Trauerfeier. Journalisten, die über die Beisetzung der »Charlie-Psychoanalytikerin« berichten wollen, warten mit ihren Kamerateams vor dem Friedhof.

Ich schlängele mich zwischen den bekannten oder anonymen Körpern hindurch, um ihre Familie ausfindig zu machen. Schnell merke ich, dass es natürlich nicht nur eine ist: die eigentliche Verwandtschaft und die Zeitungsfamilie, die Patienten und die Unmengen von Freunden, und nicht zuletzt die Familie der Leser, die dank ihrer Bücher zu Angehörigen geworden sind. Auf diesem Friedhof existieren unversöhnliche und untröstliche Welten nebeneinander, trauernde Kinder, die ihr Schicksal an das vergossene Blut geknüpft haben, an das Blut einer Zeitungsredaktion, das Blut der Kunden in einem koscheren Supermarkt, und an das Blut einer Polizistin.

Am Rand all dieser Gräber stehen viele Menschen, zu viele für eine Analysesitzung. Ich weiß nicht, wo ich anfangen, wie ich beschreiben soll, was uns widerfährt und was unser Verständnis übersteigt. Wenn man seiner Verwirrung Ausdruck verleihen will, benutzt man im Französischen manchmal diesen merkwürdigen Ausdruck: »Für mich klingt das hebräisch!«, als wäre diese Fremdsprache für alle noch ein bisschen fremder, noch weniger bezähmbar als andere. Beginnen wir also auf Hebräisch!

In dieser Sprache hat der Friedhof auf den ersten Blick einen ebenso absurden wie paradoxen Namen. Er heißt haH’ayim, »Haus des Lebens« oder »Haus der Lebenden«. Dabei geht es nicht darum, den Tod leugnen oder ihn auslöschen und damit abwenden zu wollen, sondern im Gegenteil darum, ihm jenseits der Sprache eine klare Botschaft zu erteilen. Ihm zu vermitteln, dass seine offensichtliche Anwesenheit an jenem Ort nicht automatisch auch seinen Triumph besiegelt; zu bekräftigen, dass er nicht einmal hier das letzte Wort haben wird.

Die Juden halten einen Thoravers, der im Deuteronomium als göttliches Gebot formuliert wird, besonders in Ehren: »Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt. Erwähle nun das Leben!« (Deuteronomium 30:19). Um zu beweisen, dass sie dieses Gebot beim Wort nehmen, gedenken sie bei jeder Gelegenheit des Lebens.

LeH’ayim, »Auf das Leben!«, sagen sie, sobald sie ein Glas heben, und wischen damit allem Morbiden eins aus. Der Tod mag noch so oft an ihre Tür klopfen, sich immer wieder in ihre Geschichte einschleichen, die Juden tun hartnäckig so, als könnten sie ihm ebenso gut einfach nicht öffnen, als wären sie in der Lage, ihm zu sagen: »Tut uns leid, wir sind nicht da. Komm doch später nochmal!« Selbst auf dem Friedhof verjagen sie ihn und rufen ihm zu: »Schau doch, ob wir vielleicht da drüben sind.«

Ich möchte kurz mit unserer Hebräisch-Stunde fortfahren und eine andere, nun eine grammatikalische Besonderheit herausgreifen. Das Wort H’ayim, das Leben, ist ein Plural, es existiert in dieser Sprache nicht im Singular. Dem Hebräischen zufolge hat jeder von uns mehrere Leben, keine aufeinanderfolgenden, sondern miteinander verflochtene Leben, die sich wie Fäden im Laufe des Daseins immer wieder kreuzen und erst ganz am Ende entknoten und vereinzeln. Im Hebräischen gleichen unsere Leben Webereien, bis wir die Knoten lösen und unsere Geschichten erzählen können.

»Also, erzählen Sie …«

Elsa Cayat lud alle, denen sie begegnete, zum Mitwirken ein. Jeder Text, alle Artikel oder Bücher, die sie geschrieben hat, enthalten Spuren dessen, was sie für die anderen zu entwirren versucht hat. Ob sie wusste, dass der Name »Cayat« auf Hebräisch und auf Arabisch »Näher« bedeutete? Über Jahrhunderte hinweg hatten Juden eine besondere Beziehung zum Textilhandel, die sich noch heute in zahlreichen jüdischen Witzen spiegelt:

Ein Vater sagt zu seinem Sohn:

Jetzt, wo du Sciences Po, Harvard und Polytechnique absolviert hast, musst du dich aber entscheiden: Herren- oder Damenkonfektion?

Vielleicht setzte Elsa diese Tradition auf ihre Weise fort und besserte die Texte aus, so wie man ein Gewebe stopft, Faden um Faden.

An jenem Tag in Montparnasse, im Haus der Lebenden, das eine zerrissene Nation willkommen hieß, suchte ich nach Elsas Angehörigen. Ihre Schwester Béatrice nahm meine Hand und zog mich zu der kleinen Gruppe der engsten Vertrauten, der Familie Cayat und der Clique von Charlie. Dann sagte sie etwas, das mich zusammenzucken ließen:

»Das ist Delphine, unsere Rabbinerin. Aber keine Sorge, eine laizistische Rabbinerin!«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und blieb stumm. Sollte das ein Scherz sein? Hatte ich nicht begriffen, was von mir erwartet wurde? Welche Funktion hatte ich zu erfüllen?

Im Grunde erfasste ich richtig, was Elsas Schwester den anderen mit diesen beschwichtigenden Worten sagen wollte.

Der Atheismus der Familie Cayat, Elsas Verbundenheit mit dem Laizismus und dem Geist von Charlie Hebdo, wo sie zweimal im Monat ihre berühmte Kolumne »Charlie Divan« publizierte, mussten mit den Worten der jüdischen Tradition, die mir als Rabbinerin an jenem Tag oblagen, in einen Dialog treten können.

Es musste ein Mittel geben, diese Welten miteinander zu versöhnen, all die Fäden von Elsas Leben zu verknüpfen, und an diesem Ort nicht nur ihre eigene Vielschichtigkeit zu zeigen, sondern auch die eines ganzen Landes, dessen Gewebe gerade auseinanderfiel.

In diesem Augenblick mussten die vielfältigen Leben einer Frau — Gelehrte, Religionsgegnerin, sefardische Jüdin, feministische Aktivistin, liebevolle Mutter, ungenierte Freundin, brillanter Kopf und Großmaul — miteinander in einen Dialog treten, um endlich das Gespräch all jener wieder zu ermöglichen, die im Januar 2015 in Frankreich plötzlich felsenfest davon überzeugt waren, dass sie einander nichts mehr zu sagen hatten. All diese Stimmen mussten sich versöhnlich wieder vereinbaren lassen. Denn in diesem Augenblick ging es auch darum: um die Möglichkeit, die Fetzen einer Nation zusammenzuflicken.

Als ich an jenem Tag vor den Überlebenden von Charlie Hebdo die überlieferte Liturgie rezitierte, bin ich nicht zu einer »laizistischen Rabbinerin« geworden, sondern habe vielmehr verstanden, dass ich schon immer eine war. Dieser Begriff, den manche für absurd oder unsinnig halten mögen, offenbarte mir eine tiefe Wahrheit, die ich zunächst nicht in Worte zu fassen vermochte.

Der französische Laizismus trifft keine Unterscheidung zwischen Glauben und Unglauben. Er treibt keinen Keil zwischen diejenigen, die an einen behütenden Gott glauben, und jene, die ebenso fest davon überzeugt sind, dass er tot oder erfunden ist. Er erklärt den Himmel weder für leer noch für bewohnt, verteidigt eher die Vorstellung von einer Erde, auf der stets noch Platz ist für einen anderen Glauben als unseren. Der Laizismus besagt, dass der Raum unserer Leben nie mit Überzeugungen gesättigt ist, und garantiert immer einen von Gewissheiten freien Ort. Er verhindert, dass ein Glaube oder eine Zugehörigkeit alles andere vereinnahmen. In diesem Sinne ist der Laizismus eine Transzendenz. Er bekräftigt, dass es in ihm immer einen Freiraum geben wird, der den eigenen Glauben übersteigt und den Glauben eines anderen aufzunehmen bereit ist.

Ich habe oft das Gefühl gehabt, dass das Judentum in seiner Sprache etwas enthält, was dieser Idee entspricht. Auch die jüdische Identität beruht auf einer Leerstelle. Zum einen, weil sie nicht bekehren und die anderen davon überzeugen will, dass sie im Besitz der einzigen Wahrheit ist. Zum anderen, weil sie sich schwer damit tut, ihre Grundlagen zu formulieren. Niemand weiß wirklich, was eine Jüdin und noch weniger, was eine »gute Jüdin« ausmacht. Ihre Herkunft, ihre religiöse Praxis, ein Glaube, eine kulinarische Tradition? Die jüdische Identität befindet sich stets jenseits des Sagbaren und lässt sich nie in eine einzige, ihre Möglichkeiten einengende Definition einmauern.

Mit anderen Worten: »Das« Judentum ist stets größer als »meines«. Es erhält einen Freiraum für eine andere Vorstellung als meine und damit eine grenzenlose Transzendenz: die der Definition durch einen anderen.

Das Judentum hat Raum für Elsa und für mich, für eine nichtgläubige Jüdin und für eine Rabbinerin, ohne dass eine von uns beiden legitimer wäre als die andere. Keine kann »mehr« oder »besser« Jüdin sein als die andere.

Wenn ich ihr in meinem Judentum keinen Platz zugestehe, verrate ich es gewissermaßen. Es wäre eine Herabwürdigung, es auf meine oder auf ihre Definition zu beschränken.

Dem Laizismus ist dieses Bewusstsein nicht fremd.

In meinen Augen sollte eine »laizistische Rabbinerin« die Tatsache, dass ihr Glaube weder innerhalb der französischen Nation noch in der jüdischen Tradition je eine Vormachtstellung innehaben wird, als Segen empfinden. Sie sollte sich darüber freuen, dass unter dem Himmel genug Luft zum Atmen für alle ist.

In nur zwei Worten brachte Elsas Schwester besser auf den Punkt, als ich es je vermocht hätte, weshalb ich hier an ihrer Seite sein, weshalb ich mit den Überlebenden einer »antireligiösen« Redaktion beten und bekräftigen durfte, dass wir uns alle zusammen noch immer für das Leben entscheiden konnten. Dafür bin ich ihr für immer dankbar.

Durch ihren Ausspruch wurde mir klar, welche Geschichte ich zu erzählen hatte, welche Wörter ich miteinander verknüpfen konnte, um in der Sprache meiner Tradition Elsas verschiedene Leben Revue passieren zu lassen. Ich wusste, dass ich meine Vorgänger bemühen musste — die, deren Geschichte sich an jenem 15. Januar 2015 auf einem Pariser Friedhof spiegelte. Ich begriff, dass wir eine altüberlieferte Unterhaltung fortsetzen mussten, die vor langer Zeit auf den Seiten des Talmuds begonnen hatte und geduldig auf ein Echo wartete.