Wie geht’s? - Delphine Horvilleur - E-Book

Wie geht’s? E-Book

Delphine Horvilleur

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Beschreibung

Eine zutiefst persönliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Der unverzichtbare Aufruf der Rabbinerin Delphine Horvilleur zum Dialog in Zeiten unerbittlicher Fronten Mit dem Massaker vom 7. Oktober bricht Delphine Horvilleur der Boden unter den Füßen weg. Sie, deren Aufgabe als Rabbinerin es ist, das Leid anderer Menschen mit Worten zu lindern, Brücken der Verständigung zu bauen, fällt in einen Zustand ohnmächtigen Schmerzes. In einem mitreißenden inneren Gespräch – etwa mit ihren Großeltern, mit Antirassisten, mit ihren Kindern, mit dem Messias – geht Horvilleur auf sehr persönliche Weise dem jahrtausendealten Antisemitismus auf den Grund, aus dem sich ihre Angst speist. Sie umkreist ihn aus immer wieder neuen Perspektiven und setzt dem jede Menschlichkeit untergrabenden Hass den Glauben an die Kraft des Miteinandersprechens entgegen, den Aufruf zum Dialog. Ein essentieller Text, der klarmacht: Nur wenn wir offen dafür bleiben, den Schmerz der anderen wahrzunehmen, ist Hoffnung möglich.

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Seitenzahl: 130

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das ist das Cover des Buches »Wie geht’s?« von Delphine Horvilleur

Über das Buch

Mit dem Massaker vom 7. Oktober bricht Delphine Horvilleur der Boden unter den Füßen weg. Sie, deren Aufgabe als Rabbinerin es ist, das Leid anderer Menschen mit Worten zu lindern, Brücken der Verständigung zu bauen, fällt in einen Zustand ohnmächtigen Schmerzes.In einem mitreißenden inneren Gespräch — etwa mit ihren Großeltern, mit Antirassisten, mit ihren Kindern, mit dem Messias — geht Horvilleur auf sehr persönliche Weise dem jahrtausendealten Antisemitismus auf den Grund, aus dem sich ihre Angst speist. Sie umkreist ihn aus immer wieder neuen Perspektiven und setzt dem jede Menschlichkeit untergrabenden Hass den Glauben an die Kraft des Miteinandersprechens entgegen, den Aufruf zum Dialog.Ein essentieller Text, der klarmacht: Nur wenn wir offen dafür bleiben, den Schmerz der anderen wahrzunehmen, ist Hoffnung möglich.

Delphine Horvilleur

Wie geht’s?

Miteinander sprechen nach dem 7. Oktober

Aus dem Französischen von Nicola Denis

Hanser Berlin

Wenn du dein Frühstück bereitest, denk an den Andern und vergiss nicht das Futter der Tauben.

Wenn du in deine Kriege ziehst, denk an den Andern und vergiss nicht jene, die Frieden fordern.

Wenn du deine Wasserrechnung begleichst, denk an die Andern, die ihr Wasser aus den Wolken saugen müssen.

Wenn du zu deinem Hause zurückkehrst, deinem Hause, denk an den Andern und vergiss nicht das Volk in den Zelten.

Wenn du schlafen willst und die Sterne zählst, denk an den Andern, der hat keinen Raum zum Schlafen.

Wenn du dich mit Wortspielen befreist, denk an den Andern und denk an jene, die die Freiheit der Rede verloren.

Wenn du an die Anderen in der Ferne denkst, denke an dich und sage: Wäre ich doch eine Kerze im Dunkeln.

Mahmud Darwisch, palästinensischer Dichter

Für meine Kinder Samuel, Ella und Alma …

Und für all die anderen, jene im Werden begriffenen »mentshn«, die in Paris, Tel Aviv, Gaza oder anderswo … den Hass überwinden und Kerzen im Dunkeln zu sein vermögen.

I

Gespräch mit meinem Schmerz

Oy a brokh’ …

In meiner Kindheit begannen die Gespräche oft damit.

Ein Erwachsener betrat den Raum, ein Eltern- oder Großelternteil, ein Freund der Familie. Er schaute uns tief in die Augen und stieß seufzend diese Zauberformel aus:

Oy a brokh’ …

Diese drei Wörter konnten ebenso gut heißen »Was für ein Sch…tag« wie »Es geht gar nicht übel, aber Achtung, das kann sich schnell ändern«. Sie konnten bedeuten »Ach, seid ihr süß, Kinder« oder aber »Puh … Kaum zu glauben, dass ihr auch mal irgendwann so alte Knacker sein werdet«. Es kam jeweils auf den Kontext an.

Es gab noch weitere Varianten, sämtlich auf Jiddisch, subtile Abwandlungen der klassischen Formel: »Oy vey«, »Oy vavoy« oder »Oy vey iz mir«. Egal wie sie vorgebracht wurden — in ihnen mischten sich immer auf paradoxe Weise Humor und Verzweiflung, das Bewusstsein der Tragödie und eine bestimmte Art, sich über sie lustig zu machen. Sie bildeten das, was auf Jiddisch »krekhts« genannt wird, ein schwer auszusprechendes Wort. Es kratzt im Hals und zwingt einen fast zum Ausspucken, ist aber weicher, als es zunächst den Anschein hat. Es eint die sehr jüdische Fähigkeit, mit Humor zu klagen. Sozusagen ein auflachendes Schluchzen.

Mein Kinderohr erkannte die Wortmelodie sofort. Sie klang nach Klezmer-Musik und barg ein besonderes Versprechen. Sie sagte in dieser geheimnisvollen Sprache, dass wir auf ewig mit unserer Geschichte verbunden sind. Die wenigen Silben beschworen alte Legenden herauf, die geradezu andächtig von Generation zu Generation überliefert worden waren: das Bewusstsein des Unglücks und die Pflicht, es zu überleben, die Erinnerung an die Tragödien und die Weigerung, sich durch sie zu definieren.

»Hör zu, mein Kind«, sagten sie, »Folgendes ist uns passiert, aber wir sind nicht ›nur‹ das, was uns passiert ist … sondern auch das, was wir daraus machen, keyn eyn-hore*1 … nimm noch ein bisschen Bouillon.«

Oy a brokh’ …

Schon als Kind wusste ich, dass ich diese Worte nicht zu übersetzen brauchte, um sie zu verstehen. Ihre wörtliche Bedeutung tat letztlich wenig zur Sache. »Was für eine Katastrophe!«, »Unglück über mich!« Jenseits ihres Signifikanten verbarg sich eine von meinen Vorfahren verschleierte heimliche Botschaft: ein Wortversteck in einer Sprache, die eigentlich keine war.

Heute sind sich die Spezialisten einig: Das Jiddische ist keine strukturierte Sprache, eher ein vielgestaltiger Dialekt, ein Kauderwelsch aus Deutsch, Russisch und Hebräisch. Wie an einem breiten linguistischen Klebeband haften an ihm die Rückstände einer verzweifelten Wanderschaft. Es trägt die Spuren sämtlicher Orte, von denen wir vertrieben wurden — leidlich lebendig oder aber weidlich abgeschlachtet. Es ist die Sprache dessen, der beim Verlassen eines Landes achtsam ein paar Wortkrumen aufliest, um unterwegs von ihnen zu zehren.

So wird die Sprache des wandernden Menschen gesprochen: Sie duldet keine zuverlässige Übersetzung, die sie in ein Wörterbuch zwängen würde. Jeder Versuch, sie irgendwo, selbst in einem Lexikon, festzuhalten, ist vergeblich, denn sie wandert ebenso stetig wie ihr Sprecher.

Offizielle Übersetzer aus dem Jiddischen, und seien sie noch so aufmerksam oder gelehrt, sind immer ein Flop. Sie liegen systematisch daneben, diese pots*2, und müssen immer irgendwann darauf verzichten, eine exakte — wörtliche oder übertragene — Bedeutung anzubieten. Falsch. Und wieder falsch. Die Feinheiten des Jiddischen bewirken stets ein »nicht ganz genau«. Sie lassen sich weder ganz genau fassen noch ganz genau erfassen. Das trifft auf alle Wörter zu, besonders aber auf die Beschimpfungen, die das schönste Schatzkästchen meines Volks bilden. In den Flüchen verbergen sich ungeahnte Reichtümer, Perlen der Verzweiflung, die wir einem Feind ins Gesicht schleudern, wissend, dass er sich davon kaum wieder erholen wird. Selbst wenn er sich gerade unserer Vernichtung widmet.

Diese Worte ändern natürlich nichts an unserer Ohnmacht oder Verletzlichkeit. Aber weil sie uns darüber lachen lassen, machen sie uns zu einem unbesiegbaren Gegner. Das Jiddische kennt Tausende von Ausdrücken, um einen Feind zu verfluchen oder ihm die schlimmsten Katastrophen an den Hals zu wünschen. »Alter Kacker, auf dass du alle Zähne verlierst … bis auf einen … der hoffentlich von Karies befallen ist!«

Oy a brokh’ …

Für meine Kinderohren beschworen diese drei Wörter ein merkwürdiges Bewusstsein von Zugehörigkeit herauf. Nicht zu einem Judentum, das mir ziemlich egal war, zu einem Stamm oder einer religiösen Gruppe, sondern zu einer menschlichen Bruderschaft: eine brüderliche Verbundenheit im Pech, ein internationaler Bund der Glücklosen, dem ich, komme, was wolle, angehörte.

Bei diesem Schlachtruf scharte sich ein sonderbares Regiment um mich, eine Armee aus Habenichtsen, die quer durch Raum und Zeit alle vereinte, die bald eins draufkriegen würden. Alle, die die Geschichte in ihrer großen Kegelpartie in regelmäßigen Abständen rauskicken würde. Auf die wieder und wieder der unbändige Zorn einer Welt niedergehen würde, die wild entschlossen war, ihnen niemals Ruhe zu gönnen.

Als Kind gefiel mir die Idee, dass das Jiddische von unserer vergangenen Größe erzählte: ein Erbe von Verlierern, das uns so etwas wie einen Stammbaum vermachte, eine Fähigkeit über das, was uns widerfahren war, zu lachen.

Als ich größer wurde, lernte ich natürlich andere Sprachen. Solidere, selbstbewusstere. Und ließ darüber mein Jiddisch einschlafen.

Ich fühlte mich sicher genug und redete mir ein, dass uns all das natürlich nicht widerfahren würde. Ich dachte, dass diese Sprache für meine vor Bedrohungen geschützte Generation nicht zu gebrauchen wäre. Die Trompeten des »oy a brokh’« würden nahezu stumm bleiben. Womöglich würden meine eigenen Kinder sie gar nicht mehr hören. Kurzum, ich machte mir etwas vor.

Kennst du die Geschichte? Zwei Juden haben gemeinsam zahlreiche Prüfungen und Tragödien durchgestanden. Dann wurden sie vom Leben getrennt. Sie verloren sich jahrzehntelang aus den Augen, bis sie sich eines Tages auf wundersame Weise wiedertrafen, durch puren Zufall.

Der eine sagt zum anderen: »Ich freue mich so, dich wiederzusehen, Moishe. Aber sag doch, was machst du so? Wie geht’s?«

Ohne lange zu überlegen, antwortet Moishe:

»Gut!«

»Ernsthaft, Moishe, sag mir doch ein bisschen mehr: Wie geht’s? In zwei Worten …«

»In zwei Worten? — Nicht gut!«

Gut … Nicht gut. Diese Geschichte ist natürlich meine. Seit dem 7. Oktober 2023 bin ich Moishe. Ich und viele andere, die genauso mitgenommen sind. Wir laufen uns täglich über den Weg, haben aber das Gefühl, uns aus den Augen verloren zu haben. Ich begegne Männern und Frauen, mit denen ich nicht mehr richtig ins Gespräch komme. So als wäre die Alltagssprache wirkungslos geworden: Ich betrete einen Raum, und die üblichen Konventionen, die Regeln für ein Standardgespräch scheinen außer Kraft gesetzt. Man fragt mich: »Wie geht’s?«

Natürlich weiß ich, dass mein Gesprächspartner mir mit dieser banalen Frage nicht wehtun, manchmal sogar nur guttun will. Er fragt naiv und wohlwollend, er versucht eine Verbindung herzustellen, ohne das Ausmaß meines Schmerzes zu ahnen.

»Gut«, erwidere ich ihm … und dem nächsten antworte ich: »Nicht gut!«

Manchmal wende ich mich an beide gleichzeitig, indem ich auf einen alten Trick der jüdischen Tradition zurückgreife und die Frage mit einer Gegenfrage zu entschärfen versuche. Auf ein »Wie geht’s?« entgegne ich: »Und dir? Wie spät ist es? Findest du nicht, dass es für November ganz schön trocken ist?«

Manchmal, wenn gar nichts mehr geht, erinnere ich mich an die vergessene Herkunft dieser alltäglichen Wendung. Im Mittelalter fragte man den anderen: »Wie geht’s dem Stuhlgang?« Er — Konsistenz, Häufigkeit oder Geruch der Ausscheidungen — war der wichtigste Indikator für den Gesundheitszustand. Unser »Wie geht’s?« ist also eine sanitäre Abkürzung, das lexikalische Überbleibsel einer physiologischen Frage. Ehrlich gesagt: eine Scheißfrage!

Seit dem 7. Oktober gehe ich ihr sorgfältig aus dem Weg. Ich befreie mich von den Konventionen.

Ich träume davon, dass sich die Gesprächsregeln plötzlich ändern, dass menschliche Begegnungen mit nahestehenden oder unbekannten Personen andere Worte zu Hilfe nehmen. Ich träume davon, dass es uns gelingt, eine andere Sprache zu erfinden. Oder vielmehr davon, dass die ganze Welt begreift, wie wichtig es ist, künftig alles auf Jiddisch zu sagen.

Egal, ob wir jüdisch sind oder nicht, pro-israelisch oder pro-palästinensisch, pro-fund in unseren Analysen oder einfach nur gelähmt vor Schmerz! Wir, die wir am Boden zerstört sind, die wir in unseren Wörtern und Leben das ganze Leid unserer Geschichte transportieren, können nur noch in dieser Sprache sprechen. Und wie sehr würde ich mir wünschen, dass wir uns mit einem »Oy a brokh’« anreden, einer ehrlich gemeinten Begrüßung, bei der sich uns vor Schmerz sämtliche Eingeweide zusammenziehen.

»Oy a brokh’, Monsieur.«

»Oy a brokh’, Madame.«

»Oy vey iz mir, was ich darf ich Ihnen heute bringen?«

»Oy vey … einen Espresso, wie immer, danke!«

Wo wir auch sind, egal, mit wem wir sprechen oder in welcher Situation wir uns befinden — seit dem 7. Oktober denke ich, dass wir in allen Sprachen Jiddisch sprechen sollten. Verstehen Sie mich nicht falsch: nicht die Sprache der Juden, sondern die Sprache jener Menschen, die tief in ihrer Verzweiflung spüren, dass ihre ins Wanken geratene Menschlichkeit nach Rettung ruft.

II

Gespräch mit meinen Großeltern

»Oy a brokh’, Opa …«

»Ach, meine große Kleine (so nannte er mich in ernsten Gesprächen immer) … meine große Kleine, so kannst du doch nicht sprechen!«

»Wie kann ich nicht sprechen, Opa?«

»Auf Jiddisch. Du sollst doch Französisch sprechen. Nur Französisch.«

Französisch sprechen. Das konnte mein Großvater väterlicherseits besser als alle anderen. Von Berufs wegen und aus Leidenschaft. Er unterrichtete Literatur, Latein und Griechisch. Die Grammatik verehrte er über alles. Er korrigierte meine Übersetzungen in beiden Sprachrichtungen. Oft kommentierte er meine Aufsätze — auch ungebeten. Vor allem ungebeten. Er kramte einen Rotstift hervor, unterstrich die Fehler, nahm stilistische Verbesserungen vor und schrieb Randkommentare.

Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass er, der so zurückhaltend und emotional gehemmt, so sparsam mit liebevollen Gesten war, auf diese Weise seine Gefühle zeigte. Die von A bis Z durchkorrigierte Arbeit war seine Form einer Liebeserklärung, der verbesserte Stil ersetzte die Umarmung. Ein reflexives Verb verriet mir seine Zuneigung. Eine beiordnende Konjunktion bestimmte alles für mich.

Er war ebenso geschickt im Umgang mit den Grammatikregeln wie ungeschickt im Umgang mit Menschen. Frei nach Molière: Unterdrücken Sie diesen Schluchzer, den ich nicht hören will.

Eines Tages zum Beispiel, ich hatte gerade Die Nacht von Elie Wiesel gelesen, schickte ich meinem Opa eine kurze Nachricht. Ich wollte unbedingt meine Lektüreeindrücke mit ihm teilen, ihm sagen, wie sehr mich diese ergreifende Schilderung der Deportation aufgewühlt hatte. Am folgenden Tag bekam ich einen langen Brief zurück: Mein Großvater belehrte mich auf bestürzende Weise darüber, dass »génocide mit einem Accent aigu und nicht mit einem Circonflexe geschrieben wird«. Zugegebenermaßen eine enorme Liebeserklärung. Wir befanden uns auf dem Höhepunkt der Emotionen. Ich bewahrte seine kostbare Nachricht noch lange in meiner Handtasche auf. Ich nahm sie überall mit hin und las sie, wann immer ich die Kontrolle über meine Gefühle zu verlieren drohte. Dann wusste ich wieder, dass génocide zwar mit einem Accent aigu geschrieben wurde, gênance hingegen noch immer mit einem Circonflexe. Mit diesen Wörtern hatte ich es schwarz auf weiß: Mein Großvater liebte mich ebenso innig wie die französische Sprache, und das wollte etwas heißen.

Denn diese Sprache war seine größte Liebesgeschichte, das Symbol seiner grenzenlosen Dankbarkeit gegenüber Frankreich. Der Republik verdankte er seine Erziehung und seine Leidenschaft, vor allem aber sein Leben. Sie hatte ihm die Möglichkeit gegeben, an gefälschte Papiere zu kommen und auf einige Gerechte zu treffen. So hatte er den Krieg überstanden, mit einem Pseudonym und wirklich erstaunlichen Berufen.

Er, der große Intellektuelle, der nicht in der Lage war, eine Glühbirne auszuwechseln oder einen Nagel einzuschlagen, der Kopfmensch mit seinen spröden Emotionen und gehemmten Affekten hatte heimlich den Beruf eines »Schleusenwärters« ausgeübt.

Er, der seinen Tränenkanal so effizient verschließen, die Deiche der Gefühle hermetisch abdichten konnte, hatte unter einem anderen Namen die Kurbel an Flussübergängen betätigt, um das Wasser ablaufen und die Schiffe vorbeiziehen zu lassen …

Ich denke oft an jenen anderen Großvater, den heimlichen Schleusenwärter und mysteriösen Doppelgänger, der er im Krieg gewesen war, an einen Mann, den ich natürlich selbst nie erlebt habe. Manchmal frage ich mich, ob er vielleicht Rechtschreibfehler machte. Ob es vorkam, dass er ein Partizip falsch anglich oder seine Lieben einfach in den Arm nahm?

Wenn mein Großvater von Frankreich, einem glorreichen, Widerstand leistenden Frankreich sprach, klang ewige Dankbarkeit heraus. Er verwandelte sich in den perfekten französischen Juden, in einen, den man bis vor Kurzem noch »Israeliten« nannte. Der Israelit ist ein Patriot, dessen Judentum höchster Diskretion unterliegt und nur im häuslichen Kreis praktiziert wird. Mein Großvater war ein Marrane der Republik, ein perfekt assimilierter Jude, wie es sie nicht mehr gibt.

Schade, werden manche sagen. Ich bin mir da nicht so sicher. Hinter der diskreten, nahezu unsichtbaren jüdischen Praxis der Israeliten verbarg sich vermutlich eine tiefsitzende Angst, die Furcht, niemals die rechtmäßige Gattin eines geliebten Landes zu werden, auf ewig die heimliche Geliebte zu bleiben, die man früher oder später zwangsläufig verleugnet, um sein Heim zu schützen. Die Schuld gegenüber dem Vaterland enthielt etwas von diesem existenziellen Zweifel. Die extreme Dankbarkeit war das leuchtende Gewand, das elegant typisch jüdische Ängste und Schmerzen umhüllte: die Angst, nicht genauso geliebt zu werden, wie man selbst liebt.

»Oy a brokh’, Opa …«

»Nein, nein, meine große Kleine. Sprich kein Jiddisch! Es gibt genug Wörter im Französischen, die deinen Schmerz oder deine Einsamkeit präzise beschreiben. Du musst sie nur gut wählen. Aus diesen Tausenden von Wörtern sind Meisterwerke entstanden. Das weißt du doch, denk an die langen Tiraden, die wir gemeinsam gelesen haben. An Racine, oder Corneille, an die Bedeutung des klassischen Theaters und die Macht der großen Tragödien.«

»Du hast recht, Opa. Ich habe es dir zu verdanken, wenn ich diese Repliken und Gedichte in Alexandrinern auswendig kenne: universelle Verse und Intrigen. Alles, was es braucht, um beherzt anderer Menschen Schmerz zu deklamieren … und um zu verhindern, dass unser eigener allzu sichtbar wird. Sieh nur, wie gut ich mich erinnere:

Rom, alleiniges Ziel meiner Rache!