Mit dir kommt ein neuer Morgen - Simonne van Gennip - E-Book

Mit dir kommt ein neuer Morgen E-Book

Simonne van Gennip

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Beschreibung

Sie ist erst Mitte Dreißig und im 7. Monat schwanger, als Simonne van Gennip einen schweren Schlaganfall erleidet. Das Baby übersteht die Hirnblutung der Mutter unversehrt. Doch die aktive Frau wird zum Pflegefall, der sich weder um sich selbst, geschweige denn um sein Baby kümmern kann. Die Ärzte bezweifeln, dass Simonne je wieder eigenständig wird leben können. Aber die Kraft der Mutterliebe kennt keine Grenzen: So wie das Baby Julie wächst und gedeiht, erkämpft sich Simonne ihre Selbständigkeit zurück, um voll und ganz für ihre Tochter dasein zu können.


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Seitenzahl: 258

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungGedichtTeil 1: ErwachenWach werdenMamaLesenPlatzFoto»Hallo«Neues ZimmerPfahl auf RollenEssenKlopf-klopf, klopf-klopfEin Sänger in einem KrankenhausNaschmädchenLaufenArztFahrt im KrankenwagenAlleinDuschenFrühstückIrrtumAllesPräsidentFrüh am MorgenEin bisschen fluchenZu HauseMailenWegfahrenUnruhigStützstrümpfeFalschklingelDas NAngst»Nett«KinderzimmerSinterklaasLetzter TagJemand andersNervösOmaWeihnachtenSchlimme KrankheitenTragenAlleinMatratzeFluchenZweipersonenhemdWeinenBeratungsstelleRehazentrumKleines KindWörterTurnenWitzSchwimmenUrlaubBestrahlungTeil 2: ÜberlebenDie AngiografieVier SchraubenDefiziteRöchelnErschöpfungAmputationGlasschaleGeduldVorbeiTeil 3: WeiterlebenZurückEin serbischer AkzentBaguettebrötchenIch früherSchnipsel von damalsStiefmutterFreundschaftWir vorherWir danachDer FilmEin zweites KindNachwortZwei Jahre späterDank

Über dieses Buch

Sie ist erst Mitte Dreißig und im 7. Monat schwanger, als Simonne van Gennip einen schweren Schlaganfall erleidet. Das Baby übersteht die Hirnblutung der Mutter unversehrt. Doch die aktive Frau wird zum Pflegefall, der sich weder um sich selbst, geschweige denn um sein Baby kümmern kann. Die Ärzte bezweifeln, dass Simonne je wieder eigenständig wird leben können. Aber die Kraft der Mutterliebe kennt keine Grenzen: So wie das Baby Julie wächst und gedeiht, erkämpft sich Simonne ihre Selbständigkeit zurück, um voll und ganz für ihre Tochter dasein zu können.

Über die Autorin

Simonne van Gennip, geboren 1974, schrieb als Journalistin für verschiedene niederländische Zeitungen. Sie war mir ihrem ersten Kind im 7. Monat schwanger, als sie einen Schlaganfall erlitt. Ihre Genesung dauerte sehr lange, aber heute kann sie ein normales Leben führen: Simonne van Gennip arbeitet wieder in ihrem Beruf und hat ein zweites Kind bekommen.

Simonne van Gennip

Mit dir kommt ein neuer Morgen

Wie mein Baby mir half, nach einem Schlaganfall zurück ins Leben zu finden

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieses Buch beruht auf Tatsachen. Zum Schutz der Rechte der Personen wurden einige Namen, Orte und Details verändert.

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Simonne van Gennip. Originally published by Cargo, an imprint of De Bezige Bij, Amsterdam | Antwerpen

Titel der niederländischen Originalausgabe: »Een foutje in mijn hoofd«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg

Titelillustration: © gettyimages/Soren Hald

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4061-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für meinen Mann und meine Töchter

Aber wenn ich um Schweigen bitte,glaubt nicht, dass ich sterbe.Das Gegenteil widerfährt mir:Ich werde leben.

Pablo Neruda

Teil 1Erwachen

Wach werden

Ich öffne die Augen. Ich rieche Blumen, viele Blumen. Ich höre jemanden von weit her atmen oder besser gesagt röcheln. Jemand kneift mich in die Hand, streicht mir über die Stirn. »Still. Still.«

Peter kommt dicht an mich heran. »Hallo. Hi. Hey.« Er sagt es lieb und ganz leise. Ich schaue ihn an. Er ist alt geworden.

Er schaut mich an. Seine Augen sind müde, sein Gesicht ist aufgedunsen, er ist blass. Er versucht zu lächeln. Ich auch. Halb.

Ich sage: »Entschuldigung.« Auch wenn ich nicht weiß, warum. Es klingt seltsam. Es klingt wie »Schulliligung«. Peter weint. Er sagt, er ist froh, dass ich da bin, dass ich jetzt ab und zu wach bin. Ich will ihn fragen, was los ist. Warum er so traurig ist. Aber ich bin müde. Zu müde. »Julie«, sage ich und fasse mir mit der linken Hand an den Bauch. Es klingt wie »Dschuhuhuliie«.

Das Röcheln wird heftiger. Eine Frau kommt. Sie sagt, er muss »unbedingt anders liegen«. Unter großem Seufzen und Stöhnen nimmt der Mann – es klingt zumindest nach einem Mann – eine andere Position ein; er hört auf mit den Geräuschen. Vorerst. Ich deute fragend in seine Richtung. »Andere Leute. Andere Dinge.« Peter berührt mit der Stirn meinen Arm. »Schlaf jetzt einfach weiter.«

Mama

Mama hat drei Nächte hier geschlafen. Peter hat erzählt, dass er und meine Mutter im Krankenhaus geblieben sind. Er wollte damit erklären, warum er so einen steifen Hals hat. Ich verstand nicht, warum er hier geschlafen hat. Das habe ich ihm auch gesagt.

Auch meine Mutter hat zu Hause ein viel bequemeres Bett. Ich finde es einfach unpraktisch, hier zu schlafen. Angezogen, und dann das Frühstück.

Sie sitzt neben mir, und ich sage zu ihr, dass ich es nicht verstehe. »Schlschlafnie.« Mama lächelt und streichelt mir übers Haar. Sie antwortet nicht. Sie lächelt wieder und sagt, dass sie froh ist. Aber sie sieht nicht so aus. Sie ist froh, sagt sie, weil ich bald – heute oder morgen – in ein anderes Zimmer verlegt werde. Ein Zimmer mit weniger Pflege, also eines, in dem es mir immer besser gehen wird. »Und«, fährt sie mit ihrer Geschichte fort, als würde sie mir ein Geheimnis erzählen, »wir können da auch einfach den ganzen Tag zu dir. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir sind immer da, wenn du das möchtest.«

Ich lache. Laut. Sie schaut mich verständnislos an. Aber ich lache, weil ich mich frage, was so toll daran ist, mich in einem Krankenhaus zu besuchen. Ich verstehe auch nicht, warum es nötig ist, dass sie hier schlafen. Schon hier zu sitzen scheint mir anstrengend, so eng und heiß ist es hier. Und außerdem soll sie mir doch mal erklären, ob sie nichts Besseres zu tun hat. Muss sie denn nicht arbeiten oder ganz normal einkaufen, kochen, Leute treffen? Oder an deinem Buch weiterschreiben, will ich fragen. Ich sage nur »Schreiben«. Es klingt wie »Schrleivn«. Mama schaut mich überraschend fröhlich an. Sie wirkt erleichtert. »Mein Buch kann warten.« Sie gibt mir einen Kuss.

Lesen

Von meinem Bett aus kann ich die Wolken sehen. Manchmal nur ein paar an einem blauen Winterhimmel, manchmal viele, wenn alles grau ist. Ich will das meinem Vater erzählen, aber es gelingt mir nicht. Er schaut mich an, als ich es versuche, sagt dann aber: »Still, Mädchen, still.« Ich will fragen, warum ich still sein soll. Warum er so schlecht aussieht. Warum er geweint hat. Aber ich sage nichts.

»Still«, sagt mein Vater wieder. Das ist komisch, denn ich habe gar nichts gesagt. Er deutet auf die Zimmertür und sagt: »Da liegen noch andere Leute.« Ich begreife, dass ich in einem Nebenzimmer liege. Ich begreife, dass es hier wenig Platz gibt. Ich begreife, dass ich nicht so bald entlassen werden soll.

Ich will meinen Vater fragen, was ich hier mache, ihm sagen, dass es mir ganz gut geht, dass er sich nicht solche Sorgen machen soll, und ihn fragen, wie es ihm geht. Aber ich sage nichts, oder besser, ich sage nichts Verständliches. Ich murmele etwas.

Im Zimmer nebenan fängt wieder jemand an zu röcheln. Jemand anders hustet ständig. Zwischendurch hört man sie atmen, als würden sie ganz tief schlafen.

»Mädchen«, sagt mein Vater. Ich schaue ihn wieder an. »Mädchen.« Ich möchte etwas zu ihm sagen, aber es ist zu mühsam. Was war es noch mal, was ich sagen wollte?

Er lächelt ein wenig. »Schau mal«, sagt er, »ich hab dir etwas mitgebracht.« Er faltet eine Zeitung auf und deutet auf die Schlagzeile. Unter der Linde. Er lächelt wieder, und zwar so, dass es mir Mut macht, als er sagt: »Lies mal.«

Er schlägt die Zeitung aus seinem Geburtsort auf und zeigt auf ein Foto. Und auf das, was darunter steht. Ich soll es lesen; er sagt: »Lies mal.« Ich schaue ihn an. Ich kann nicht. Ich weiß nicht, was dort steht. Ich sehe Buchstaben, das schon. Ich sehe Buchstaben in vielen verschiedenen Größen, viele oder wenige, in Gruppen.

Ich weiß nicht, dass da etwas stehen soll. Ich weiß nicht, was Lesen ist.

Der Geruch im Zimmer lenkt mich ab. Es riecht komisch hier. Es riecht gut, wie im Frühling, und gleichzeitig ein bisschen faulig. Warum gibt es hier so viele Blumensträuße? Warum stehen sie hier im Zimmer? Ich will fragen, aber ich sage nur: »Blumen.« Mein Vater gibt keine Antwort. Er faltet die Zeitung zusammen. Er schüttelt den Kopf und sagt: »Still.«

Platz

Es ist nicht viel Platz hier. Das weiß ich, weil ich die Wand anfassen kann. Und weil meine älteste Schwester etwas zur Krankenschwester gesagt hat, wegen der Blumen. Ob sie die so hinstellen können, dass ich sie sehen kann und trotzdem noch Leute in mein Zimmer passen. Ich musste lächeln, als ich das hörte. Meine große Schwester, die immer alles regelt.

Jetzt sitzt sie bei mir. Schweigt. Ich möchte ihr gern sagen, dass ich es lieb von ihr finde, dass sie versucht, mein Zimmer so aufgeräumt wie möglich zu halten. Aber ich verheddere mich in den Wörtern, denn ich denke »mein« Zimmer, aber seit wann ist das hier »mein« Zimmer? Und warum bin ich hier? Ich schaue sie an. Sie schaut zurück.

»Ich weiß es nicht«, sage ich und versuche, auf das Bett und auf das Zimmer zu deuten. Sie setzt sich anders hin. Und sie erzählt mir, dass ich im Krankenhaus bin. Vor vier Tagen bin ich hergekommen. Ich war bewusstlos. Ich kann die rechte Seite meines Körpers fast nicht bewegen. Ich habe Mühe mit dem Sprechen. Ich habe eine Hirnblutung gehabt. Mehr wissen sie nicht. Sie können nicht alle Tests machen, weil ich schwanger bin. Aber mein Kind – das Mädchen – ist gesund, und ihm fehlt nichts. Meine Schwester lächelt. Aber ihre Augen lächeln nicht.

Foto

Sie sieht schlecht aus. Ich weiß nicht, warum sie sich ständig mit der Hand über die Stirn reibt. Ich will sie fragen, aber ich tue es nicht. Sie streicht die Decke auf meinem Bett glatt. Sie steht auf und stellt eine Vase mit blauen Blumen anders hin – keine Ahnung, wie die heißen. Sie tut dasselbe mit einer anderen Vase – sind das Tulpen? Sie schaut sich um, ob es noch mehr zu tun gibt, aber da ist nichts. Sie setzt sich wieder hin.

Ich schaue zu dem Foto neben mir. Meine älteste Schwester, meine mittlere Schwester und ich. Etwa zehn Jahre ist das her. Die mittlere Schwester in der Mitte, so muss das sein. Wir sehen ziemlich glücklich aus.

Jetzt sitzt sie hier. Ich will etwas über das Foto zu ihr sagen, kann aber nur darauf deuten. Trotzdem lächelt sie, weil sie ganz offensichtlich wahrnimmt, was ich versuche. Sie gießt mir Wasser ein. Sie sagt, dass ich etwas trinken soll. Sie schaut mich an. Und meinen Bauch. Ich lege mir eine Hand auf den Bauch. Sie legt ihre Hände auf meine Hand. Ich lächle zurück. Das versuche ich zumindest.

»Hallo«

Peters Töchter stehen an meinem Fußende. Komisch ist das, sie stehen da einfach so. Nervös, müde. Die Jüngere, Lynn, ist zehn und schaut mich an. Die Ältere, Bobby, ist dreizehn und streicht mit einer Hand über meine Decke. Meine mittlere Schwester hat Platz gemacht, indem sie von der Bettkante, wo sie gesessen hat, aufgestanden ist. Sie brauchen gar nicht den ganzen Platz. Meine älteste Schwester und Peter stehen hinter ihnen. Ich will etwas zu ihnen sagen, ich will sie fragen, wie es ihnen geht, ich will sie zum Lachen bringen. Aber es geht nicht. Ich tue es nicht. Ich mache kurz die Augen zu. Dann sage ich nach langem Nachdenken doch noch etwas. »Hallo.«

Neues Zimmer

Ja. Nein. Vielleicht. Ich versuche einfach zu erraten, was sie wohl hören will. Die Krankenschwester fragt mich nach allerlei Dingen, und ich habe keine Ahnung, was sie eigentlich wissen will. Ich liege in einem anderen Zimmer, am Fenster. Es ist ein Zweibettzimmer, aber ich bin allein. Hier gibt es mehr Platz als im ersten Zimmer, die gelbliche Tapete, die an einigen Stellen grau geworden ist, lässt das Zimmer trist wirken.

Ich fühle mich bedrückt und will allein sein. Aber die Schwester fragt immer weiter. Möchte ich etwas trinken? Möchte ich auch etwas essen? Weiß ich überhaupt schon, dass ein Logopäde zu mir kommen wird? Und dass die Ärzte heute noch hereinschauen? Und der Physiotherapeut kommt morgen, hat man mir das gesagt?

Sie ist mit meinem Gemurmel als Antwort zufrieden und fährt fort, mir die Apparate zu erklären. Ich merke mir nur, mit welchem ich nach einer Schwester klingeln kann. Das ist genug. Dann setzt sie sich auf mein Bett. Sie wird sich von jetzt an um mich kümmern, sagt sie. Zusammen mit einer Kollegin. Ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen. Ich fasse mir an den Bauch. Ich spüre Julie. Ich schlafe ein.

Pfahl auf Rollen

Sie ziehen mich langsam hoch. Ich sehe meine Zehen und frage mich, ob sie überhaupt wissen, was sie da tun. Warum ist das hier nötig? Muss das sein? Ich will fragen, konzentriere mich aber so sehr darauf, aus dem Bett zu kommen, dass ich nichts sage.

Als es losgehen soll, hänge ich an einem Pfahl auf Rollen. Meine Beine stecken in einer Art großer, schwarzer Unterhose, die Rückseite ist an dem Pfahl befestigt. Ich finde es seltsam, meine Windel zu sehen. Einen erwachsenen, schwangeren Körper in einer großen Babywindel. Darüber müsste man einen Witz machen, aber mir fällt keiner ein.

»Jetzt geht’s los.« Die Schwester sagt es zum zweiten Mal, obwohl ihre Kollegin schon beim ersten Mal »Okay« gesagt hat.

Mit viel Schubsen und Ziehen kommen wir raus auf den Flur, und von dort aus gehen wir weiter zum WC. Dort werde ich losgemacht, die Windel wird mir abgenommen, und ich werde auf die Brille gesetzt. »Da ist ein Knopf, damit können Sie nach uns klingeln.« Ich nicke. Ich schaue mich um, frage mich, was ich hier soll, mache die Augen zu, lehne mich nach vorne.

»He, los jetzt.« Die Krankenschwester klingt böse. Ich schaue sie an. Sie schaut mich an. Es sieht aus, als würde ich sie aufhalten. Als ob sie so viel zu tun hätte, dass sie es nicht erträgt, dass ich auch noch da bin. Ich denke nach. Man hat mich hier hingesetzt, und dann ist sie wieder gegangen. Ich weiß nicht, was dann passiert ist. Ich muss eingeschlafen sein. Als sie sieht, dass ich sie wirklich nicht verstehe, wird sie milder. »Stuhlgang. Sie müssen groß machen.«

Essen

Die Schwester hat mich aufgesetzt und mir ein Kissen in den Rücken geschoben. Sie hat den Ausziehtisch herangeholt und die Spitze einer Serviette oben in meinen Pyjama gesteckt. »Falls etwas danebengeht.« Ich bekomme Pudding. Der Pudding ist in einem Glasschälchen. Er ist gelb, gelber Pudding. Ich werde ihn ganz allein aufessen. So soll das zumindest laufen, denn die Schwester ist weggegangen.

Neben dem Schälchen liegt ein Löffel. Und diesen Löffel muss ich benutzen, um den Pudding zu essen. Ich habe nämlich Hunger.

Aber ich weiß nicht, wie ich dieses Glasschälchen in der einen Hand und mit der anderen den Löffel festhalten soll. Ich versuche, meine rechte Hand zum Löffel hin zu bewegen. Zwei Mal. Ich schaffe es nicht.

Ich nehme den Löffel fest in die linke Hand. Ich versuche, ein bisschen aus der Schüssel zu holen, aber ich brauche meine rechte Hand, um das Schälchen festzuhalten. Ich versuche, meine rechte Hand zu benutzen. Ich versuche es zwei Mal. Wieder schaffe ich es nicht.

Da, wo der Löffel lag, liegt auch ein Strohhalm. Ich hatte ihn gesehen, aber nicht verstanden, was er mit dem Essen zu tun hat. Jetzt wird mir klar, dass er dazu da ist, den Pudding aufzusaugen. Wieder versuche ich, mit der rechten Hand zuzufassen. Wieder schaffe ich es nicht. Ich nehme den Halm in die linke Hand und stecke ihn in den Pudding. Wenn ich mich vorbeuge, kann ich jetzt an dem Strohhalm saugen. Aber da kommt nichts. Der Pudding ist zu dickflüssig, oder ich sauge nicht stark genug.

Meine mittlere Schwester kommt herein. Ich schaue auf und lasse den Strohhalm aus dem Mund fallen. Sie sagt, dass sie mir helfen wird, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Sie streichelt mir über die Haare. Sie nimmt den Löffel in die Hand. Sie gibt mir löffelweise den Pudding. Bis alles aufgegessen ist.

»Danke schön«, will ich sagen. Aber ich murmele nur etwas.

Klopf-klopf, klopf-klopf

Der Gynäkologe kommt mit einem Monitor auf einem fahrbaren Tisch ins Zimmer. Er stellt ihn neben mir ab. Er begrüßt mich, er ist freundlich und geduldig. Er ist ungefähr so alt wie ich. Er erklärt, was er gleich tun wird. Ich will ihm sagen, dass ich das alles weiß, dass er schon einmal hier war, dass er sich beeilen soll, weil ich das Baby sehen will. Aber ich sage nichts.

Der Gynäkologe spricht mit Peter, zu Peter. Er sagt, dass er in der kommenden Woche unbedingt jeden Tag einen Ultraschall machen will. Und dass wir sofort einer Pflegekraft Bescheid geben müssen, wenn wir vermuten, dass mit meiner Schwangerschaft irgendetwas nicht in Ordnung ist. Die wird dann einen Gynäkologen rufen. »Sofort«, wiederholt er und schaut Peter dabei an. Es ist, als wäre er sich nicht sicher, dass ich auch begreife, was er sagt.

Ich lege mich hin, so gut es geht. Peter nimmt die Kissen weg. Ich ziehe mein T-Shirt hoch. Mein Bauch ist groß. Mein Nabel wird richtig nach außen gedrückt. Ich lächle.

Der Gynäkologe schmiert mir Gel auf den Bauch. Mit einem Apparat fährt er darüber. Er zieht sich den Monitor heran. Auf dem Bildschirm kann ich meine kleine Tochter sehen. Ihr Gesichtchen, die Wangen, den Mund, die Nase, die Augen. Ich glaube, sie schläft. Aber dann bewegt sie sich. Sie dreht den Kopf. Zwei Mal. Peter lacht erleichtert. Der Gynäkologe lächelt.

Ich sehe ihre Arme, ihre Finger, ihre Beine, ihre Zehen. Die sind nicht gut zu erkennen, aber trotzdem sind sie da. Dann sehe ich ihren kleinen Körper. Ihren Brustkorb. Die Stelle, wo ihr Herz sitzt. Ganz leise, fast aus der Ferne, höre ich: klopf-klopf, klopf-klopf, klopf-klopf. Mädchen, denke ich, wachs nur weiter. Ruh dich schön aus. Alles wird gut. Wirklich.

Der Gynäkologe dreht an den Knöpfen des Monitors. Er stellt den Herzschlag lauter. Klopf-klopf, klopf-klopf, klopf-klopf, klopf-klopf. Ich wiederhole es. Ein schneller Herzschlag, aber er klingt so, wie es sein soll. Schnell, aber regelmäßig. Ich weine. Innerlich.

Ein Sänger in einem Krankenhaus

Ein Sänger in einem Krankenhaus. Der nicht als Patient hier ist, sondern um aufzutreten. Offensichtlich etwas Besonderes. Die Schwester setzt sich auf meine Bettkante und sagt: »Amerika, das ist ganz schön weit weg.« Anscheinend wird erwartet, dass ich reagiere, denn sie sagt noch etwas. Aber bevor ich mir eine Antwort ausdenken kann, füllt sich das Zimmer mit aufgewühlten und ein wenig nervösen Leuten. Die Schwester steht auf, und Peters ältere Tochter setzt sich auf ihren Platz. Die jüngere Tochter setzt sich neben meine mittlere Schwester. Sie bekommt meinen Neffen auf den Schoß. Die Mädchen sind blass. Warum sage ich nichts zu den beiden? In meinem Kopf gibt es Wörter, aber ich spreche sie nicht aus. Ich lächle ein bisschen. Die ältere der beiden streichelt mir übers Haar. Meine Freundin Maartje steht hinter uns. Peter steht auf der anderen Seite des Bettes. Niemand erwidert mein Lächeln.

John Gorka, der Sänger aus dem fernen Amerika, kommt herein. Er ist klein, wirkt bescheiden, verlegen vielleicht. Er trägt schwarze Jeans, schwarze Kampfstiefel und ein schwarzes T-Shirt. Zwei Dinge fallen mir auf. Dass er mich kurz berührt, als er »Hey« sagt. Und sein Bart, sein angegrauter Bart. Die Haare auf seinem Kinn, auf seinen Wangen sind ein klein wenig schmutzig. Aber auch angenehm und weich.

Er ist für das Fest von Peter und seinem Freund in die Niederlande gekommen. Daraus wird jetzt nichts. Aber er hat noch andere Auftritte, »und«, sagt Peter, »jetzt tritt er für dich auf«.

Gorka setzt sich auf den Stuhl am Fußende meines Bettes. Er nimmt seine Gitarre in die Hand und fängt an zu singen. Das Zimmer ist voll. Die Leute sind still. Peters Freund sitzt neben Gorka auf dem Boden und fotografiert mich. Und die Leute um mich herum. Als das Lied zu Ende geht, nimmt er die Kamera herunter. Sein Gesicht ist rot, Tränen laufen darüber. Seine Schultern bewegen sich hoch und runter. Er hat einen leichten Schluckauf.

Ich suche den Blick meiner Schwester, weil ich das nicht verstehe. Aber auch in ihren Augen sehe ich Tränen. Sie schaut mich voller Zärtlichkeit an, hilft mir aber nicht. Beim zweiten Lied suche ich Hilfe bei Peter, bei Maartje, bei den Mädchen. Aber alle schauen mich so an wie meine Schwester.

Als Gorka »I didn’t know where to look for you last night, I didn’t know where to find you – Ich wusste nicht, wo ich dich letzte Nacht suchen sollte, wo dich finden« singt, weint Peter. Er schluchzt heftig. Er hält meine Hand. Gorka singt den Refrain. »I am here, you are there, love is our cross to bear – Ich bin hier, du bist dort, das Kreuz der Liebe haben wir zu tragen.« Ich weine. Endlich. Ein bisschen. Weil sich das ganz offensichtlich so gehört. Und weil ich es schrecklich finde, dass hier Leute traurig sind. Wegen mir. Und ich weine, weil etwas Schlimmes mit mir passiert ist. Etwas sehr Schlimmes.

Naschmädchen

Es ist still im Zimmer. Niemand ist da. Es ist, als wäre nichts passiert, als hätte ich geträumt, als würde ich nicht im Krankenhaus liegen, sondern wäre ganz einfach zu Hause. Peter kommt herein. Er schaut besorgt. Er sagt, dass er sich nicht sicher ist, ob er zu einem Auftritt von John Gorka gehen soll. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, wenn ich weg bin. Und ich weiß nicht, ob es sich ohne dich überhaupt lohnt.«

Er sagt das mehr zu sich selbst als zu mir. »Gerade war ich weg, nur ganz kurz, und du hast wieder geschlafen. Und es ist wieder, als würdest du gar nicht begreifen, was hier vor sich geht.«

Ich schaue mich um. Die Decke, das Laken, die Wände, die Pinnwand. Ich bin nicht zu Hause, es war kein Albtraum. Ich bin in einem Krankenhaus.

Peter setzt sich zu mir. Er seufzt und schaut nach draußen. Er sagt noch einmal, dass er es nicht weiß. »Eigentlich weiß ich gar nichts.«

Meiner Ansicht nach ist Peter nur noch hier. Das finde ich schlimm. Er sieht schlecht aus. Weggehen wird ihm guttun. Ich sage zu Peter, dass er gehen soll und dass so ein Konzert sicher schön ist. »Aber keine Naschmädchen.«

Peter schaut mich verwirrt an. Ich nicke, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Und sage noch einmal: »Keine Naschmädchen.«

Laufen

Ich laufe. Wenigstens soll das passieren. Im Flur auf meinem Stockwerk des Krankenhauses stehe ich an einer Wand. Rechts und links sind Aufzüge. Mir gegenüber – etwa zehn Schritte weg – ist noch eine Wand. Und ein Fenster, vielleicht sogar eines mit Aussicht. Es ist noch hell draußen. Gerade noch.

Ich habe mir selbst versprochen, irgendwie zu dieser Wand zu kommen, egal, wie lange es dauert. Ich halte mich an einem Rollator fest, außerdem steht noch ein Rollstuhl für mich bereit. Aber ich werde die andere Seite ohne diese Hilfen erreichen. Das sage ich zu meinem Vater, der mit mir mitgeht. Papa wirkt traurig. Oder nein, nicht wirklich traurig, sondern völlig erschöpft, gebrochen, zehn Jahre älter, als er tatsächlich ist.

»Komm«, sage ich zu ihm. Ich lasse den Rollator los und mache einen Schritt nach vorne. Ich falle gegen meinen Vater. Ich bin schwer, das weiß ich. Das kommt, weil ich ein Mädchen im Bauch habe. Ich deute auf meinen Bauch und versuche zu lachen. Er hält mich fest. Er möchte, dass ich aufhöre, dass ich es morgen oder übermorgen noch einmal versuche, aber ich will laufen.

Jetzt. Ich packe ihn am Arm und mache einen Schritt. Und noch einen und noch einen. Es ist nicht angenehm, aber es geht. So machen wir einen Schritt nach dem anderen, hin und wieder eine kleine Pause zum Ausruhen, und dann sind wir auf der anderen Seite. Ich stehe am Fenster. Wie lange hat das gedauert? Es ist dunkel. Ich sehe Laternen, die die Stadt erleuchten. Ich sehe Autos und Fahrräder vorbeifahren, Fußgänger vorbeigehen. Ich sehe sie wie aus sehr weiter Ferne, als wäre es nicht meine Welt, in der sie vorbeifahren und vorbeilaufen. Sie bewegen sich schnell, ohne Schwierigkeiten, mit fließenden Bewegungen.

Ich schaue meinen Vater an. Ich will wissen, wie lange ich schon hier bin, wie lange ich hierbleiben werde, und vor allem, wie es ihm geht. »Wie lange …?«, setze ich an. Dann bin ich still.

»Setz dich«, sagt er. »Erst mal hinsetzen.« Er holt den Rollstuhl, ich lehne mich so lange ans Fenster. Er hilft mir beim Hinsetzen und fährt mich in mein Zimmer zurück. Während er mich durch den Flur schiebt, sagt er: »Elf Tage, du bist seit elf Tagen hier.« Ich wundere mich. Ich frage meinen Vater, ob die Ärzte etwas wissen, ob sie schon etwas sagen können. »Wir müssen bis morgen warten«, sagt er. »Morgen.« Dann frage ich ihn, wie es ihm geht. Er schaut mich an und schüttelt den Kopf. Ich sehe es und begreife es nur halb. Ich will weinen, aber ich kann nicht. Ich frage ihn deshalb einfach, ob er es gut findet, dass ich zu laufen versucht habe. Er nickt. »Schlaf. Schlaf jetzt.«

Arzt

Ich bin jetzt dreizehn Tage hier. Das habe ich gerade von den zwei Männern gehört, den Ärzten, die bei mir sind. Dreizehn Tage, und ich kann mich nur an Augenblicke davon erinnern. Ich weiß, dass ich in einem Krankenhaus bin, und ich weiß, dass ich mit Kissen im Rücken aufrecht sitzen kann; ich habe Übungen mit dem Logopäden gemacht, ich habe mit Unterstützung des Physiotherapeuten das Bein bewegt und den Arm geschwenkt. Und jetzt frage ich die Ärzte, wann ich nach Hause darf. Weil ich finde, dreizehn Tage sind genug.

Der Ältere der beiden lacht freundlich. Aber er antwortet mir nicht, und er schaut ernst. »Wir können noch nichts sagen. Vielleicht sind Sie bald wieder zu fünfundneunzig Prozent die Alte, empfinden aber die fünf Prozent Verlust als sehr viel, weil sie etwas betreffen, was für Sie wichtig ist.«

Die Ärzte, ein Neurologe und ein Arzt im Praktikum, stehen beide auf der einen Seite des Bettes. Die Krankenschwester hatte angekündigt, dass sie kommen würden. Es wirkt wie hoher Besuch. Sie steht dabei wie ein Dienstmädchen, ein paar Schritte hinter den beiden. Der Ältere, der Neurologe, ist nur wenige Jahre älter als ich. Er hat ein nettes, fröhliches Gesicht, aber sein Blick ist ernst. »In der nächsten Zeit werden wir Sie genau beobachten.«

Er nimmt meine rechte Hand in seine und fordert mich auf, die Finger zu schließen. Das ist schwierig. »Kneifen Sie mich mal ordentlich in die Hand.« Er schreibt sich etwas auf. Dann holt er ein Lämpchen aus der Brusttasche und leuchtet mir damit ins Auge. Er ruft seinen Kollegen hinzu. Der darf das auch tun. Ich schaue den Arzt an. Ich habe keine Ahnung, was die beiden da machen. Ihm scheint das bewusst zu sein, denn er steckt das Lämpchen weg und sagt: »Wir haben noch ein paar Fragen. Mein Kollege wird sie Ihnen stellen.«

Der Arzt im Praktikum setzt sich hin. Er schaut konzentriert. Er fragt mich nach meinem Namen, meinem Alter und ob ich weiß, wie ich hierhergekommen bin. Er schaut zu Peter hinüber. »Manchmal erkundige ich mich nach Dingen, die wir schon wissen. Das tun wir, um das Gedächtnis zu testen.«

Die Fragen danach, wann ich hierhergekommen oder wie lange ich schon hier bin, kann ich nicht beantworten. Auch, ob das am Morgen, am Mittag oder am Abend war, weiß ich nicht mehr. Aber als er mich fragt, was ich beruflich mache, weiß ich das. Fast froh sage ich: »Journalistin«, und schaue ihn stolz an. Aber als er wissen möchte, wo ich arbeite und was genau ich tue, weiß ich es nicht mehr.

Peter greift ein, er erzählt vom Haagsche Courant, von der digitalen Wandzeitung für das Den Haager Viertel Schilderswijk, von den Kolumnen, die ich für den Den Haager Teil des Algemeen Dagblad geschrieben habe, von dem Magazin Sprout und vom GPD-Pressedienst, für den ich tätig war, als ich hier gelandet bin.

Das erstaunt mich. Nicht so sehr das, was er erzählt, sondern vielmehr die Energie, die er dabei an den Tag legt. Und dass ich das alles getan habe. Kurz sehe ich mich selbst als Reporterin, als Redakteurin und als Kolumnistin. Es fühlt sich an wie etwas, was ich vor langer Zeit getan habe, vor sehr langer Zeit. Ich will das sagen, aber es gelingt mir nicht. Wie sagt man so etwas, und was genau wollte ich eigentlich sagen? Peter redet weiter. Er legt seine Hand auf meine. Seine Stimme ist unangestrengt, er spricht mühelos, es ist, als wüssten die Wörter, wo sie hingehören. Er kann das aussprechen, was ich sagen müsste. Der Neurologe lacht ihm zu. Peter lacht freundlich zurück und meint: »Ich will damit nur sagen, dass sie gut mit Sprache umgehen konnte. Und schnell war sie. Sehr schnell.«

Fahrt im Krankenwagen

Zwischen zehn und zwölf Uhr, haben sie gesagt. Dann werde ich abgeholt und ins Rehabilitationszentrum gebracht. Um Viertel vor zehn bin ich bereit. Ich sitze auf dem Bettrand. Ich bin nervös. Woher wissen wir denn, wann die Leute mit dem Krankenwagen hier sein werden? Woher wissen sie, dass ich diejenige bin, die sie mitnehmen müssen? Woher wissen sie, dass ich hier liege? Das Krankenhaus ist groß. Ich will diese Fragen stellen, aber ich sage nur: »Wie?«, und deute um mich herum. Die Schwester lächelt, und das macht mich wütend. Hör doch endlich auf zu lachen, will ich sagen, antworte mir einfach. Aber ich sage nichts, denn ich weiß nicht, wie ich all diese Wörter nacheinander aussprechen soll. »Die finden Sie schon«, meint sie.