Mit Yoga Lebensängste bewältigen - Regina Weiser - E-Book

Mit Yoga Lebensängste bewältigen E-Book

Regina Weiser

4,8

Beschreibung

Finanzkrise, Lebensmittelskandale, Atomkatastrophe - in unserer krisengeschüttelten Zeit sind viele Menschen tief verunsichert oder leiden gar an existenziellen Ängsten. Mit den Herausforderungen des Alltags und des Lebens umzugehen, erscheint ihnen fast unmöglich. Yoga kann dabei unterstützen, ein Gegengewicht zu diesen Ängsten zu schaffen und wieder Vertrauen ins Leben zu gewinnen. Die Psychotherapeutin und Yoga-Lehrerin Regina Weiser hat dazu besonders geeignete Asanas ausgewählt. Mittels vieler Fotos und anschaulicher Beschreibungen leitet sie Yoga-Übungen an, die stabilisierend wirken, innere Ressourcen aktivieren und helfen, aktiv das Leben zu gestalten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 327

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



NAVIGATION

Buch lesen

Cover

Haupttitel

Inhalt

Anhang

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Regina Weiser

Mit Yoga Lebensängste bewältigen

Patmos Verlag

INHALT

Einleitung

1. Was ist Angst?

Angst in Abhängigkeit von Alter, Zeitgeist und Kultur

Angst verstehen mit Hilfe von Ansätzen der Hirnforschung

Der dynamische Aspekt der Angst – gesunde versus krankhafte Angst

Angstentwicklung als Persönlichkeitsstil

Die Vertreibung aus dem Paradies – eine »Fall«-Geschichte

Der Angsthase als Teilpersönlichkeit

Lerngesetze

2. Was ist Yoga?

Ein ganzheitliches, systemisches Bewusstsein

Asana – die richtige Sitzhaltung

Wodurch Leid entsteht – die Kleshas

Der achtstufige Pfad nach Patanjali

Bewegungsübungen (Asanas)

Atemübungen

Bewusstseinsübungen

Affirmationen

3. L ö s u n g e n  sind Lösungen

Lösung durch Ablenkung

Lösung durch Bewegung

Lösung durch Vertiefung der Ausatmung

Lösung durch öffnende Liebe

Lösung durch Verbindung mit Weisheit und Würde

Lösung durch Klärung und Bewusstsein

Lösung durch Yoga Nidra – den »Schlaf« der Yogis

4. Den Gegenpol stärken

Den Gegenpol von Angst finden

Selbstakzeptanz üben

Die Lähmung überwinden und Angst ignorieren

Stabilität entwickeln

Die eigene Kraft spüren und ausdrücken

Entspannung und Wohlgefühl zulassen

Leichtigkeit üben und Glücksmomente sammeln

5. Dem Leben Sinn geben – Authentizität entwickeln

Das Konzept der Salutogenese

Yoga ist Selbstbegegnung

Die Sinnfrage in der Psychologie

Von der Angst zur Sinnerfahrung – eine persönliche Geschichte

Die Sinne als Verbindungsbrücke zur Welt

Wann ist ein Leben sinnvoll?

»Fürchtet euch nicht – ich verkündige euch Freude!«

Schluss

Dank

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Verzeichnis der Übungen

Bildnachweis

Zitatnachweis

Einleitung

Bei Gesprächen mit meinen psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen haben wir in letzter Zeit immer häufiger festgestellt, dass Menschen in unseren Praxen auftauchen, die nicht unter inneren, sondern vor allem unter äußeren Bedingungen leiden. Zunehmend kommen auch jüngere Leute und immer mehr männliche Patienten in die Praxen, die sich allesamt dem harten Leben »draußen in der feindlichen Welt« nicht mehr gewachsen fühlen. Die »neuen« Themen sind Zeitdruck, Überlastung, Arbeitsplatzunsicherheit, Mobbing durch Vorgesetzte, Versagensängste usw. Die Zahl der Angsterkrankungen hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. 40 % der Frühverrentungen finden aufgrund psychischer Probleme statt. Ich bin mit vielen Kolleginnen und Kollegen der Überzeugung, dass die jährliche Zunahme von Ängsten und Depressionen nicht nur individuell zu verantworten ist, sondern dass viele krank machende Faktoren auch in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung liegen. Vom Chefarzt einer psychosomatischen Klinik wurde eine Initiative ins Leben gerufen (www.psychosoziale-lage.de), die zu einem Umdenken aufruft und der sich viele Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten angeschlossen haben. Vielfältige gesellschaftliche Umbrüche machen das Leben heute immer unsicherer und unüberschaubarer. Angst liegt sozusagen »in der Luft«. Die Menschen merken, dass sich zurzeit sehr viel ändert und auch ändern muss, und das löst Angst, Panik oder irrationales Verhalten aus. Aus fachlicher Sicht ist es mir daher ein Anliegen, eine gesellschaftliche Stellungnahme abzugeben und ein Umdenken von Gewohnheiten anzuregen.

Da die Gründe für die Zunahme von Ängsten unter anderem auch im Zeitgeist und in krisenhaft zugespitzten gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen werden können, möchte ich mit diesem Buch zunächst zu einer inneren Entlastung beitragen: »Es geht heute vielen Menschen so. Meine Sorgen und Ängste liegen nicht nur daran, dass ich zu schwach oder zu ängstlich bin!« Es stellen sich dann natürlich die weiteren Fragen: »Was kann ich als Einzelner tun? Wo lasse ich mich zu sehr vom Zeitgeist bestimmen oder präge ihn gar mit, was kann ich ändern? Wo gilt es, mehr Abstand und Gelassenheit zu entwickeln, ohne in Fatalismus oder Resignation zu verfallen, weil ich es nicht ändern kann?« Yoga ist ein Sanskritwort, das am besten übersetzt wird mit: »Verbinden von polaren Kräften«. Völlige Zufriedenheit macht träge, ein mittleres Maß an Angst und/oder Stress führt dazu, aktiv zu werden und das Leben zu gestalten, zu viel Angst dagegen lähmt und löst Ohnmachtsgefühle aus. Mir sind in diesem Buch die existentiellen Ängste ein besonderes Anliegen, die sich heute atmosphärisch breitmachen und die vor allem von feinfühligen Menschen wahrgenommen werden. Für die Bewältigung von sehr spezifischer Angst – wie Platzangst oder Angst vor Spinnen – gibt es gute verhaltenstherapeutisch orientierte Bücher.

Die Menschen haben heute mehr Entscheidungsfreiheiten als in früheren Zeiten. Das ist gleichzeitig eine Chance wie auch eine Last. Meist bieten weder Staat noch Kirche oder Familie ein hilfreiches Netz. Die Notwendigkeit, sich auf eine Option festlegen zu müssen, kann zur Belastung werden, die Angst auslöst. Wenn es nur zehn mögliche Berufe gibt, findet der Einzelne leichter heraus, was er will. Gibt es dagegen mehrere hundert berufliche Wege und herrscht gleichzeitig die Devise, dass jeder seines Glückes Schmied ist, kann die Berufswahl zu einer schweren Aufgabe werden, die einen ängstigt. Deshalb geht es zunächst darum, die eigene Angst als berechtigt anzuerkennen. Wenn der Einzelne sich in seiner individuellen Not mit anderen verbunden weiß, kann er den Mut finden, gemeinsam mit ihnen den krank machenden Faktoren etwas entgegenzusetzen. Dies Buch will ermutigen, die Kraft, die in jeder starken Emotion liegt, zu nutzen, um die eigene Umwelt und das Leben lebenswerter zu gestalten.

Ob in der Schule, der Universität oder am Arbeitsplatz, überall lässt sich eine Zunahme von äußerem Druck beobachten, der bewirkt, dass Menschen die Beziehung zu ihrer inneren Mitte verlieren. Von innen kommende Signale wie Müdigkeit oder andere körperliche Botschaften des Bauchgefühls werden beiseitegeschoben, um den äußeren Anforderungen gerecht zu werden. Ein Autopilot schaltet auf Funktionieren. Das ist eine Zeitlang möglich, nach einer Weile tauchen jedoch zunehmend Unzufriedenheit und ein Gefühl von innerer Leere auf. Eine Frage wird immer drängender: Ist das noch das Leben, das ich führen will, ist das mein Leben? Irgendetwas fehlt. Wenn heute ein Drittel der deutschen Bevölkerung sich ausgebrannt und leer fühlt, interpretiere ich dies als Selbstverlust.

Yoga ist ein Weg der Selbstbegegnung, der die Spürfähigkeit für ein gesundes Gleichgewicht fördert und so die eigene Authentizität entwickeln hilft. Ein Innehalten und Sich-Besinnen – im Yoga wird es Nachspüren genannt – führen zu einer gesunden Balance zwischen den Anforderungen der Außenwelt und der eigenen Seele. Immer wieder wird der Ausgleich zwischen Polaritäten gesucht: zwischen Anspannung und Entspannung genauso wie zwischen Leichtigkeit und Stabilität. Ängste und Krankheiten deuten auf einen Verlust der Beziehung zur inneren Mitte hin.

Yoga arbeitet mit und an den drei Energiequellen: Bewegung, Atem und Bewusstsein. Indem diese miteinander koordiniert werden, verstärken sie sich gegenseitig in ihrer positiven Wirkung. Wenn eine Bewegung – und jede Handlung besteht aus einer inneren und äußeren Bewegung – mit dem eigenen (Atem-)Rhythmus verbunden wird, kann die Seele mit dabei sein. Die drei Energieträger zusammenzuführen, steht damit in deutlichem Gegensatz zu dem heute oft gepriesenen Multitasking. Einige Yoga-Übungen sind in diesem Buch ausführlicher beschrieben, andere nur angedeutet. Dieses Buch kann keinen Yoga-Kurs ersetzen, und ich empfehle auf jeden Fall, die Feinheiten einer Übung unter genauer Anleitung einer erfahrenen Yogalehrerin oder eines -lehrers zu erlernen.

Yoga bietet viele Techniken, die sowohl Energie, kraftvollen Ausdruck als auch lösende Entspannung im Wechsel miteinander fördern. Durch achtsame Körperübungen wird der Körper immer mehr zu einem unterstützenden Freund. Wenn 80 % der Anmeldungen zu einem Yoga-Kurs aufgrund eines ärztlichen Rats oder wegen Rückenschmerzen stattfinden, deutet das darauf hin, dass viele Menschen den Bezug zu ihrem Körper verloren haben. Die Atemübungen wirken vor allem ausgleichend auf Stimmung und Gemüt. Die meditativen Übungen helfen, dem eigenem Leben eine Richtung zu geben. Klarheit und Orientierung bilden sich heraus und lassen deutlich werden, wo und wie eine Änderung möglich ist und wie Fakten, die sich nicht ändern lassen, durch eine andere Perspektive akzeptiert werden können. So möchte ich Menschen, die Unsicherheiten und Entscheidungsnotwendigkeiten spüren und denen die Beobachtung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisen Angst macht, einladen, sich wieder aktiv an der Gestaltung der Welt, der kleinen wie der großen, zu beteiligen.

Es gibt heute viele Menschen, die nach der Erziehung durch Familie und Schule ihre Persönlichkeitsentwicklung selber gestalten wollen. Angst ist nicht nur ein unangenehmes Gefühl, sie hat mit ihren körperlichen Begleiterscheinungen auch negative Auswirkungen auf die eigene Gesundheit. Die Verantwortung für die eigene körperliche und seelische Gesundheit zu übernehmen, ist ein wichtiger Reifungsschritt. In diesem Lernprozess wird es möglich, die Erfahrung der Angst zu verwandeln, wie es sich in folgendem Satz ausdrückt: »Ich habe Angst, aber die Angst hat nicht (mehr) mich!« Yoga ist ein wunderbarer Weg, die im Körper, in der Seele und in den eigenen Bewusstseinskräften schlummernden Fähigkeiten für die persönliche Lebensgestaltung zu nutzen. So hoffe ich, mit diesem Buch Menschen zu ermutigen, in schwierigen Zeiten den eigenen Möglichkeiten mehr zu vertrauen.

Als Psychotherapeutin bin ich es gewohnt, eine Krise immer auch als Herausforderung und Chance zu sehen. Die Zeit, in der wir leben, stellt vielfältige Wachstumsaufgaben an uns. Es liegt mir fern, mit diesem Gedanken noch eine weitere Leistungsaufforderung zu stellen – sind es doch gerade die vielen gefühlten und von der Umwelt suggerierten Notwendigkeiten, die zu Überforderungsgefühlen und damit Ängsten führen. Eher möchte ich dazu ermutigen, eine gesunde Balance zu finden zwischen Gefordertsein und der Fähigkeit, sich von Forderungen ohne schlechtes Gewissen abgrenzen und distanzieren zu können. Und vielleicht gelingt es mir auch, etwas Hoffnung auf eine Welt zu machen, in der das Leben noch lebenswerter ist. Dazu müssen manche Dinge sich erst auflösen. Viele heute übliche Einstellungen und Gewohnheiten sind reif für einen Wechsel, sie dürfen neuen Prioritäten und Werten Platz machen.

Im Folgenden gebe ich einen Überblick über den Aufbau des Buches: Das erste Kapitel stellt das Phänomen Angst in einen größeren Zusammenhang. Informationen über das Gefühl Angst, seine Entstehung und seine Inhalte schaffen Abstand und helfen zu erkennen, dass auch andere Menschen Ängste haben. Angst ist ein allgemein menschliches und für die Entwicklung des Einzelnen notwendiges Gefühl. Jeder neue Entwicklungsschritt wird von Aufregung und Angst begleitet, mal dominiert mehr das eine, mal mehr das andere Gefühl. Jede neue Lebensphase bedeutet, einen Schritt ins Unbekannte zu wagen. Aufgeregtheit belebt, während Angst lähmt. Es gibt Menschen, die sich ganz in den Klauen ihrer Angst fühlen, als gäbe es gar keinen Unterschied zwischen ihnen und der Angst. Sie sind mit (nur) einem Teil ihrer Persönlichkeit identifiziert. Für sie ist es wichtig zu erkennen, dass sie in einem anderen Kontext auch ganz andere Aspekte ihrer Persönlichkeit mobilisieren können. Meine Übungen und Überlegungen wollen diejenigen ermutigen, einen notwendigen neuen Schritt zu wagen, die sich oft nicht einmischen, weil Angst sie sprachlos macht. Denn die Welt soll nicht nur denen überlassen werden, die am anderen Ende der Skala zu viel Waghalsigkeit besitzen.

Das zweite Kapitel widmet sich dem Weltbild des Yoga. Yoga wird oft als Körperübungsprogramm gesehen und verstanden. Dies ist jedoch nur ein kleiner Ausschnitt. Denkgewohnheiten zu überprüfen und innere Haltungen bewusst zu pflegen, ist ein ebenso wichtiger Teil des yogischen Systems. Angst spielt sich wesentlich auch im Kopf ab. Sie ist eine Vorstellung, die großen Einfluss auf bestimmte Zentren im Gehirn hat, die die Hormonproduktion beeinflussen und dadurch die körperlichen Begleiterscheinungen wie Schweißbildung, Atemnot, Magen- und Darmprobleme usw. auslösen. Gerade diese so offensichtlichen psychosomatischen und somatopsychischen Zusammenhänge lassen Yoga hilfreich und geeignet für die Bewältigung von Lebensängsten erscheinen. Die Yogis sehen die körperlichen, seelischen und geistigen Vorgänge als einen einheitlichen Prozess an, bei dem die Aufmerksamkeit mal mehr auf diesem und dann auf jenem Aspekt ruht. Die mögliche Frage, ob die Seele auf den Körper oder der Körper auf die Seele wirkt, ob also zuerst die Angstvorstellung da ist, die dann die körperlichen Symptome auslöst, oder ob umgekehrt die körperlichen Syptome die Angstgedanken auslösen, diese Frage würden die Yogis so beantworten: Es gibt kein Vorher und Nachher, weil Körper, Seele und Geist immer eine Einheit sind.

In dem Kapitel über Yoga werden philosophische Betrachtungen dargestellt, die für das Thema Angst interessante Denkanstöße geben können. Dazwischen gibt es immer wieder Übungen, die auf die Angst von körperlicher Seite aus eine Antwort geben.

Da Angst sich ethymologisch von »Enge« ableitet, geht es im dritten Kapitel um Weite und Lösungen, sowohl körperliche wie emotionale und gedankliche. Von dem Atomphysiker Hans-Peter Dürr stammt der Satz: »Wenn ein System zu starr und unflexibel ist, muss mehr Freiraum gegeben werden und mehr Luft zugelassen werden.«1 Das trifft sowohl auf materielle als auch auf geistige Systeme zu. In diesem Teil geht es also um Loslassen und Lösungen, damit Platz geschaffen werden kann für Neues: für etwas, das wünschenswerter ist als Angst. Dies leitet über zur Frage des vierten Kapitels: Was fehlt dem Ängstlichen als Ausgleich? Angst wird verstanden als Einseitigkeit, für die der Gegenpol fehlt. Braucht es, um zu einer gesunden Mitte finden zu können, mehr Mut und Power, mehr Selbstbewusstsein oder mehr Vertrauen in andere Menschen oder gar Vertrauen in eine übergeordnete Macht, nennen wir sie Schicksal oder Gott?

Last but not least wird im letzten Kapitel die Frage untersucht, ob Angst – wie jedes Symptom – auch einen Sinn hat. Der Sinn einer Angst vor Glatteis ist offensichtlich: Sie verweist auf einen Handlungsbedarf: ein zukünftiges Gehen oder Autofahren gefahrenfreier zu machen. Möglicherweise trifft dies auch auf andere Ängste zu: Sie rufen dazu auf, die Zukunft in die eigene Hand zu nehmen. In der Psychotherapie spricht man von »Reframing«, wenn eine zunächst störende Eigenschaft durch einen anderen Blickwinkel, durch einen anderen Rahmen, in einem neuen Licht erscheint. Die östliche Philosophie ist sich mit der westlichen darin einig, dass der Inhalt unseres Bewusstseins sich zur einen Hälfte aus der objektiven Realität und zur anderen Hälfte aus unserer Interpretation dieser Realität zusammensetzt. Die zutiefst menschliche Fähigkeit, Ereignissen eine Bedeutung und einen Wert zu geben, wird hier gewürdigt. Oft höre ich Menschen klagen, dass sie keinen Sinn mehr in ihrer Arbeit oder, schlimmer noch, in ihrem Leben sehen. Ereignisse können nicht mehr in das vorhandene Sinnkonzept integriert werden. Der Filmemacher und Autor Alexander Kluge hat in einem Interview anlässlich seines 80. Geburtstags treffend formuliert: »Wir leben heute in einer gesellschaftlichen Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Programme entwerfen können.« Ich bin Optimistin: Während ich dies schreibe, ist es Frühling, und ich kann mal wieder beobachten, wie plötzlich innerhalb einer Woche die bunte Vielfalt aus allen Knospen hervorbricht. Gleichzeitig weiß ich, dass die dunkle Jahreszeit als Vorbereitung notwendig war, um all die Schönheit in Ruhe reifen zu lassen.

Ich habe in diesem Buch ganz bewusst Übungsanleitungen mit theoretischen Ausführungen abgewechselt. Das hat sich aus meinem Bedürfnis entwickelt, die rechte und linke Hirnhälfte der Leserin, des Lesers gleichermaßen anzusprechen. Es werden sich auch Gedanken der Yoga-Philosophie mit wissenschaftlichen Ergebnissen aus dem westlichen Kulturkreis abwechseln. Als Yogalehrerin ist mir das Verbinden der verschiedenen Ebenen ein Anliegen.

Das Buch kann von vorne bis hinten gelesen werden, oder die Leserin, der Leser sucht sich das Kapitel raus, das sie bzw. ihn im Moment besonders anspricht. Die Motivation und Aufmerksamkeit wird im zweiten Fall vermutlich stärker sein. Ich lade herzlich dazu ein, das Buch immer wieder für einen Moment beiseite zu legen, um der Übungsanleitung zu folgen. Es ist jedoch auch völlig in Ordnung, eine Übung »nur« zu lesen und innerlich in der Vorstellung mitzuvollziehen. Es gehört zu den Grundüberzeugungen dieses Buchs, dass innere Bilder und Vorstellungen eine ähnliche Wirkung erzielen wie tatsächliche Handlungen. Gedanken haben immer auch eine Wirkung auf den Körper und den Atem. Hier bestätigen die Ergebnisse der modernen Hirnforschung das alte Erfahrungswissen der Yogis.

Als mich Dr. Christiane Neuen vom Patmos Verlag fragte, ob ich Lust hätte, meine 25-jährige Erfahrung in der psychotherapeutischen Praxis zu einem Buch zu verarbeiten, war ich sofort begeistert. Ich habe meinen Beruf stets geliebt. Was gibt es Schöneres auf der Welt, als Menschen in ihrem inneren Wachstum zu begleiten? Die meisten meiner Patientinnen und Patienten kamen in einer Krisensituation zu mir, die viele Ängste auslöste: Das Alte löste sich auf und das Neue war noch nicht gefunden. Die therapeutische Begleitung endete dann oft mit der Erkenntnis, dass das Leben jetzt nach dieser Krise viel lebenswerter war als zuvor. Ein lästiges Symptom, eine Krankheit oder eine Trennung hatte eine ungünstige Entwicklung zu einem Höhepunkt getrieben, der sich als Wendepunkt zu einem besseren Leben nutzen ließ. In all den Jahren habe ich mindestens genauso viel von meinen Patientinnen und Patienten gelernt wie diese von mir, was ich mit diesem Buch gerne weitergeben möchte.

1. Was ist Angst?

Angst ist ein allgemein menschliches Gefühl, das durch eine bedrohliche Vorstellung oder durch eine plötzlich auftretende reale Gefahr ausgelöst wird und sich in spezifischen körperlichen, emotionalen und gedanklichen Phänomenen Ausdruck verschafft. In dem Interview, das die beiden Psychotherapeutinnen Christa Diegelmann und Margarete Isermann mit Gerald Hüther führen, wird Angst folgendermaßen definiert: »Angst ist ein innerseelischer Vorgang, der vergangene unangenehme Erfahrungen in die Zukunft projiziert und dabei verallgemeinert und wenig Raum für neue Erfahrungen zulässt.«2 Dabei kann es sich um eine länger andauernde Stimmung oder um ein plötzlich auftauchendes Gefühl handeln. Das Wort »Angst« leitet sich von dem Wort »Enge« ab. Der Blickwinkel wird eingeengt, verliert Flexibilität, Weite und damit die Möglichkeit, verschiedene Perspektiven wahrnehmen zu können, so dass auch von einem »Tunnelblick« gesprochen wird. Dem von Angst überfallenen Menschen fällt es schwer, an etwas anderes zu denken, er ist wenig offen für andere Denk- oder Sichtweisen.

Es gibt wohl kaum einen Menschen, der dieses Gefühl des Sich-zusammen-Ziehens, des Zurückschreckens und Zurückweichens nicht kennt. In einem frühen, noch undifferenzierten Entwicklungszustand lassen sich gefühlsmotivierte Bewegungen in zwei Hauptrichtungen unterscheiden: Entweder wir gehen auf etwas zu oder wir weichen vor etwas zurück. Dabei drücken Freude, Neugier, Liebe, Staunen eine positive Beziehung zu einem Objekt aus, während Angst, Ekel oder Hass eine negative Beziehung zu einem Gegenüber bekunden. Beide Richtungen (Anziehung und Abstoßung) sind wichtig, gesund und zu gegebener Zeit angebracht, und dennoch wird die eine Bewegung – die sich abwendende – häufig als ungesund und damit in die Nähe des Krankhaften gebracht.

Der Unterschied zwischen einer Angst und einer Phobie soll hier etwas vereinfachend so beschrieben werden, dass bei einer Phobie das Angstobjekt klar abgegrenzt ist, es ist eine Angst vor Spinnen und nicht vor Marienkäfern oder eine Angst vor dem Fliegen mit dem Flugzeug und nicht vor dem Autofahren. Lebensangst, von der dieses Buch hauptsächlich handeln wird, wird dagegen oft als diffuses Gefühl erfahren und neigt zur Ausbreitung auf andere Gebiete. Bei einer Panik steht zumeist ein körperliches Empfinden im Vordergrund, das nicht recht eingeordnet werden kann. Eine Erklärung wirkt dann oft hilfreich und angstmindernd. Wird jedoch keine Erklärung gefunden, kann es – bei grüblerischer Veranlagung – zu weiteren Angstvorstellungen führen, z. B. in Bezug auf eine bedrohliche Erkrankung oder existenzgefährdende weitere Entwicklungen. Es gibt viele Mischformen, und die Übergänge sind fließend. So kann die Ursache einer Phobie auch in einer konfliktscheuen Veranlagung liegen.

Die folgenden beiden Beispiele (alle Namen und personenbezogenen Details wurden – wie in allen weiteren Fallbeispielen auch – zwecks Anonymisierung verändert) sollen verdeutlichen, was die Ursache für eine Phobie sein kann:

Herr Müller kam in meine Praxis, weil er Angst vor dem Fahrstuhlfahren hatte. Die Bedrängnis, die Enge und die Freiheitsbeschränkung ohne Fluchtmöglichkeit im Fahrstuhl – das sei alles so furchtbar und nicht aushaltbar. In den Gesprächen fanden wir bald heraus, dass die Fahrstuhlsituation ein Symbol für seine Lebenssituation war: Als einziger Sohn seiner alleinstehenden Mutter, die viele Erwartungen an ihn hatte, fühlte er sich zwischen Ehefrau und Mutter »eingeklemmt«, er wollte beide nicht enttäuschen und sah keinen Ausweg aus dieser Situation. Nachdem ihm das klar war und er lernte, liebevolle Zuneigung mit Abgrenzung zu verbinden, war die Angst vor dem Fahrstuhlfahren bald verschwunden.

Frau Meier hatte Angst vor Wasser, Baden und Schwimmen. In Gesprächen wurde ein Wunsch nach Leichtigkeit, Getragenwerden bis hin zu der Vorstellung, sich im Wasser ganz aufzulösen, deutlich. Sie hatte ein Bild von der ozeanisch-paradiesischen Verschmelzung als ahnungsvolle Erinnerung an die embryonale Erfahrung im Mutterleib, das sie auf den Aufenthalt im Wasser projizierte. Gleichzeitig gab es jedoch – zum Glück, kann man sagen – auch eine warnende Stimme, die dumpf spürte, dass es gefährlich sein könnte, dieser Sehnsucht nachzugeben. Für sie war es wichtig, unterscheiden zu lernen, in welchen Zusammenhängen Platz für dieses Bedürfnis war. So konnte sie langsam das Wasser auch als das sehen, was es ohne Projektionen ist.

Diese beiden Beispiele mögen genügen, um deutlich zu machen, dass auch Phobien oft einen komplexen Hintergrund haben.

Angst in Abhängigkeit von Alter, Zeitgeist und Kultur

Angst hängt von vielen Faktoren ab: Im Mittelalter mussten die Menschen Angst vor Pest und Cholera haben, in der jüngsten Vergangenheit hatten die Deutschen Angst vor der Schweinegrippe oder vor dem EHEC-Erreger. Die Holländer haben Angst vor einem Dammbruch, während die Menschen der Alpenländer Angst vor Lawinengefahr haben. Aktienbesitzer haben Angst vor dem DAX und einem Kursverlust. Die globale Weltgemeinschaft hat heute Angst vor dem Euro-Verfall, vor dem Klimawandel, vor Krieg in der Welt oder davor, dass unseren Industriegesellschaften das bezahlbare Öl ausgeht. Und Angst ist genauso wie andere Gefühle ansteckend. Da in Journalistenkreisen das Motto gilt »Bad news are good news«, wird eine ohnehin vorhandene Angst durch die Medien noch verstärkt.

Kleine Kinder haben Angst, wenn die Mutter oder Bezugsperson den Raum verlässt. Kindergartenkinder haben Angst, dass ihnen der Spielkamerad das Spielzeug wegnimmt oder sie schlägt. Das Schulkind hat Angst vor einer Klassenarbeit oder einer schlechten Note. Pubertierende Jugendliche haben Angst vor der Ablehnung durch das andere Geschlecht oder vor dem ersten Sex. Zeitgenossen im mittleren Alter haben Angst vor einer Kündigung, und ältere Menschen haben Angst vor dem Verlust ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten bzw. dem Verlust ihrer Selbstständigkeit. Die Angstinhalte sind typisch für die verschiedenen Lebensabschnitte. Die je eigene psychische Disposition gibt den Ängsten die persönliche Intensität und Ausdrucksform. Damit soll nicht ihre Bedrohlichkeit und Dramatik bagatellisiert werden. Vielmehr ist es eine Einladung zu der Perspektive: Die Angst, die ich habe, ist ganz normal. Ich bin nicht allein mit meiner Angst.

Angst ist also – so kann man aus dieser Perspektive sagen – zeitlos, und der Angstinhalt sagt oft mehr über die Zeit, Kultur und Umwelt eines Menschen aus als über seine Psyche. Natürlich hat die Angst auch immer einen sehr persönlichen Aspekt. Sabine Bode hat ein Buch über die »vergessene Generation«3 geschrieben, es ist die Generation, die während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit ihre Kindheit und Jugend erlebt hat. In den Interviews, die sie mit diesen Menschen führte, taucht häufig der Satz auf: »Ich habe keine Angst vor XY (z. B. Verarmung oder Hunger, ich habe erfahren, dass ich das überleben kann) wie die meisten Menschen, aber ich habe Angst vor YX (z. B. Sirenen, Flugzeuglärm oder Menschenmengen).« Die vergangene Erfahrung ist mit allen gleichzeitigen Sinneseindrücken zu einem Erlebnisnetzwerk verbunden und abgespeichert. Leider wird manchmal zu wenig – sowohl von den Betroffenen selbst wie auch von der Umwelt – gewürdigt und anerkannt, was diese Menschen fast »Übermenschliches« in dieser Zeit geleistet haben. Heilsam ist es, wenn der Aspekt »keine Angst vor XY« stärker wird als der Aspekt »Angst vor YX«. Diese Menschen haben uns vorgelebt, dass man Krisen und Umbrüche überleben kann. Ihre Erfahrung kann eine wichtige Botschaft für die heutige Zeit sein.

Es gibt Gründe dafür, den Inhalt der Angst zu vernachlässigen und Angst mehr unter dem energetisch-dynamischen Aspekt zu betrachten. In einem Experiment bekamen Versuchspersonen ein Mittel verabreicht, das den Adrenalinspiegel erhöht. Dadurch wurde eine Aktivierung des sympathischen Nervensystems ausgelöst, die subjektiv mit dem Gefühl der Aufregung und Spannung, wie es bei einem Krimi entsteht, verbunden ist. Anschließend wurden den Versuchspersonen Filme unterschiedlichen Inhalts vorgeführt und sie wurden danach über ihre Gefühle befragt. Die Gruppe, die einen bedrohlichen Film vorgeführt bekam, äußerte Angst. Die andere Gruppe, die einen abenteuerlichen Liebesfilm gesehen hatte, äußerte freudige Aufregung. Obwohl beiden Gruppen das gleiche Hormon gespritzt wurde, löste es sehr verschiedene Gefühle aus. Die durch den Film erzeugten Bilder färbten die innere Erregung mal in positive und mal in negative Richtung.

Der Adrenalinspiegel wird durch das Verliebtheitsgefühl genauso erhöht wie durch das der Angst. Adrenalin ist ein Hormon, das uns zum Handeln aktivieren will, wobei es möglich ist, dieses Handeln in sehr verschiedene Richtungen zu lenken. So wäre es im Zustand der Angst theoretisch möglich zu sagen: »Aha, ich befinde mich jetzt in einem erhöhten Erregungszustand, mal sehen, was ich mit dieser Übererregung machen kann.« Allerdings ist dieser Abstand in den seltensten Fällen möglich.

Übung: Angst und ihre Bewältigung

Wählen Sie einen ruhigen Ort, an dem Sie weder Handy, Telefon noch Nachbar- oder Kinderbitten stören. Diese Zeit darf ganz Ihnen gehören. Die Aufmerksamkeit geht nach innen.

Erinnern Sie sich nun an eine Angst, die Sie bereits hinter sich gelassen haben. Vielleicht haben Sie einmal im Bus oder in der Bahn einem Gespräch von jüngeren Zeitgenossen zuhören können, die sich über ihre Probleme ausgetauscht haben. Und das zufällig aufgeschnappte Gespräch hat Sie schmunzeln lassen, weil Sie dachten: »Ja, diese Sorgen hatte ich früher auch mal.«

Mit dieser Übung möchte ich Sie einladen, eine eher forschende Einstellung zu Ihrer Angst einzunehmen.

Versuchen Sie, sich an eine Situation zu erinnern, in der Sie Angst hatten. Sie sollte möglichst weit zurück in Ihrer Kindheit liegen. Vielleicht haben Sie sich irgendwo verlaufen und Papa oder Mama waren nicht mehr in Sicht. Oder Sie hatten in der Schulzeit die Befürchtung, das Lesen und Schreiben nie zu lernen. Oder Sie haben in Ihrer Pubertät eine so unreine Haut gehabt, dass Sie Angst hatten, deshalb nie einen Partner oder eine Partnerin zu finden. Es kann auch eine Situation sein, die nicht so weit zurückliegt, aber es sollte eine sein, die bei Ihnen heute keine Angst mehr auslöst.

Können Sie sich noch an das Gefühl der Angst von damals erinnern? Können Sie – heute im Rückblick – die oben beschriebene Enge wahrnehmen? Haben Sie heute, wenn Sie das angsterfüllte Kind sehen, Mitgefühl, gibt es da noch etwas an Trost nachzuholen? Äußerte die Angst sich eher körperlich oder eher gedanklich? Oft ist Angst mit Bewegungshemmung oder gar Lähmung verbunden. Oder war es bei Ihnen eher so, dass Sie, wenn Sie ängstlich waren, eher dazu neigten, hektisch von einem Ort zum anderen laufen zu wollen, um der inneren Unruhe Ausdruck zu geben? Wie sind Sie mit der Angst umgegangen? Haben Sie sie eher versteckt, sich deshalb geschämt oder waren Sie mitteilungsbedürftig? Wie hat Ihre Umgebung darauf reagiert? Vielleicht gelingt es Ihnen, neugierig zu erkunden, wie Sie und Ihr Körper früher reagiert haben, wenn Sie Angst hatten, und wie Sie heute damit umgehen.

Und nun bitte ich Sie zu erforschen, wie Sie es geschafft haben, diese Angst heute nicht mehr zu haben.

Offensichtlich haben Sie gelernt, sich auch ohne Eltern in einer unbekannten Gegend zu orientieren. Sie haben Lesen und Schreiben gelernt und vielleicht auch erkannt, dass Äußerlichkeiten nicht der einzige Faktor sind, der zu einer Partnerschaft führt. Damals war diese Angst für Sie ganz schlimm, aber sie ist es heute nicht mehr. Glauben Sie, dass es einfach die vorübergehende Zeit war? Nach dem Motto: »Zeit heilt alle Wunden – Zeit lässt auch Ängste unwichtig werden«? Welche eigenen Fähigkeiten haben Ihnen geholfen, haben bewirkt, dass Sie sich etwas zutrauten? Gab es jemanden, der Sie ermutigt hat? Wer war das und wie sah diese Ermutigung aus? Hatte die Angst vielleicht im Nachhinein auch was Gutes?

Wenn Ihnen diese Beobachtungsübung ein wenig geholfen hat, auf den Fluss des Lebens zu vertrauen, der Sie mal mit Angst konfrontiert und dann auch wieder in eine Zeit der Angstfreiheit entlässt, dann würde ich Ihnen empfehlen, diese Erkenntnis in Worte zu fassen und in ein Büchlein zu schreiben, das Sie eigens für positive Berichte über sich selber reservieren – ein kleines Schatzkästchen sozusagen. Ich werde viele Übungen vorstellen, manche passen zu Ihnen, andere weniger. Was für Sie richtig ist, wissen Sie am besten. Sie können die Erkenntnis »Angst hört auch auf, sie ist nicht immer da, mal nimmt sie Besitz von mir, mal nicht« auch fest in Ihrer Seele verankern; das Büchlein haben Sie vielleicht gerade nicht dabei, wenn Sie es brauchen würden. Wählen Sie Ihre eigenen Worte. Indem Sie etwas in Worte fassen und davon auch wirklich angerührt werden, können Sie es sich als wichtige Erfahrung zu eigen machen und es kann in zukünftigen ähnlichen Situationen positiv wirksam werden.

Der bekannte Hirnforscher Gerald Hüther nennt Vertrauen das beste Gegenmittel gegen Angst. Es gibt drei Säulen, auf denen Vertrauen ruht: 1. Das Vertrauen in die eigene Kompetenz, 2. das Vertrauen darauf, dass es Menschen gibt, die hilfreich zur Seite stehen, und dass zur richtigen Zeit, nämlich dann, wenn Sie es dringend brauchen, jemand da ist, der Ihnen helfen kann, und 3. das Vertrauen darauf, dass es das Leben gut mit Ihnen meint und Ihnen nicht Aufgaben schickt, die unlösbar sind, das Vertrauen darin, dass alles einen Sinn hat und es wieder gut wird, manche nennen es auch Gottvertrauen.4

Eine Angst soll zum Schluss dieses Kapitels noch erwähnt werden, die zwar selten so benannt wird, aber im Verlauf von Therapien häufig sichtbar wird: die Angst vor der Stille und der Selbstbegegnung. Die in Ruhe und Stille erfahrbare Entspannung bedeutet Kontrollverlust und dies kann sowohl Glücksgefühle als auch Angst auslösen. Verdrängte Themen, abgespaltene Erlebniskomplexe oder Traumata, die auf eine Verarbeitung warten, können an die Oberfläche kommen. Der Hirnforscher Joachim Bauer spricht von einem Gedächtnis des Körpers und bringt eindrucksvolle Beispiele, wie Erfahrungen sich in körperlichen und seelischen Erkrankungen niederschlagen.5 Lebenserfahrungen sind – oft aus Schutzgründen – unbewusst in den unteren Hirnzentren abgespeichert, weil sich der Mensch zum Zeitpunkt des Erlebnisses nicht in der Lage gefühlt hat, sie angemessen zu verarbeiten. Ist er heute dazu bereit und fähig? Manchmal wollen Trauer und Schmerz noch nachgeholt und anerkannt werden. Hier ist eine kompetente therapeutische Unterstützung sehr zu empfehlen. Trauma-Opfer waren in einer existentiell gefährlichen Situation völlig überfordert und neigen auch heute noch oft dazu, sich immer weiter selbst zu überfordern. Die Erfahrung, Hilfe zu bekommen und nicht alleine zu sein auf dieser Welt, stellt einen entscheidenden Heilungsimpuls dar.

Der ungarisch-amerikanische Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi hat in einer groß angelegten internationalen Studie feststellen können, dass Menschen in Ruhezeiten eher unglücklich sind, da hier Freiraum entsteht für unangenehme, unverarbeitete Erlebnisse aus dem Unbewussten.6 Obwohl die meisten Menschen sich mehr Freizeit wünschen, waren sie am glücklichsten, wenn sie von einer selbst gewählten Aufgabe gefesselt waren, die weder zu leicht noch zu schwer war. Stille konfrontiert mit wesentlichen Fragen, mit Fragen der Lebensführung und der Prioritätensetzung. Vielleicht steht eine Aussöhnung, ein ehrliches, klärendes Gespräch mit dem Partner, der Partnerin, eine berufliche oder private Neuorientierung an, die Überwindung und Mut kostet. Die Fähigkeit und Bereitschaft, sich darauf einzulassen, sind von Mensch zu Mensch und von Lebensphase zu Lebensphase verschieden. Dies sollte in jedem Fall von der Umwelt respektiert werden. Die Freizeitindustrie bietet heute so viele Möglichkeiten an, dass für Fragen wie die folgenden wenig Raum bleibt: »Lebe ich eigentlich noch das Leben, das ich mir mal vorgenommen hatte? Ist das wirklich noch mein eigenes Leben?« Manchmal kommt ein Schicksalsschlag oder eine Krise, die diese Fragen dann in den Vordergrund drängt.

Entwicklung vollzieht sich zwischen den Polen von Anpassung und Abgrenzung. Bereits das Kleinkind wechselt zwischen Bindungsverhalten, mit dem es sich ganz nah bei der Bezugsperson aufhält, und Neugier ab, durch die die Welt und all die spannenden Dinge jenseits der Bezugsperson erforscht werden. Auch im Erwachsenenalter ist ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einerseits Anpassung an den Chef, die Marktlage, den Partner usw. und andererseits den Notwendigkeiten der eigenen Seele wichtig. Sich Auszeiten für die Selbstbegegnung zu nehmen, lässt einen Menschen authentischer werden, und eine von innen kommende Kraft kann sich entwickeln. Diese hat in der Regel mehr Stoßkraft und Power als die Kraft, die aus einem Anpassungsdruck an das Außen erwächst.

Angst verstehen mit Hilfe von Ansätzen der Hirnforschung

Eine wichtige Funktion von Angst ist ihre Signalwirkung: Sie macht auf Gefahren aufmerksam. Taucht eine bedrohliche Situation auf, meldet die Amygdala – ein wichtiges Nervenkerngebiet im emotionalen Zentrum unseres Gehirns, das für die subjektive Bewertung einer Situation zuständig ist – an die Schaltzentrale im Hypothalamus: Alarm!7 Dieser wiederum sorgt dafür, dass Vorbereitungen für Kampf oder Flucht getroffen werden. Der Sympathikus, der aktivierende Teil unseres autonomen Nervensystems, wird hochgefahren. Über die Hypophyse werden Stresshormone ausgeschüttet, die die Nebennieren zur Ausschüttung von Cortison, Adrenalin und Noradrenalin veranlassen und dafür sorgen, dass Puls und Herzschlag beschleunigt werden, die Atemfrequenz steigt, die Hände feucht werden, die Pupillen und Bronchien sich erweitern und der Blutdruck in die Höhe getrieben wird usw. Der Parasympathikus, der beruhigende Teil unseres autonomen Nervensystems, der für Verdauung, Zellaufbau und Regeneration sorgt, wird gebremst. Dieser rasch vonstattengehende Automatismus ist ein wichtiger Überlebensschutz, er verbindet uns mit unseren Vorfahren: Die Schnelligkeit dieser körperlichen Reaktion bewahrte sie davor, von einem Tiger oder sonstigem Raubtier verschlungen zu werden. Zwar sind die Gefahren in der heutigen Welt andere, aber die physiologischen Vorgänge haben sich nicht verändert.

Während der Sympathikus zu einer schnellen Reaktion fähig ist, ist sein Gegenspieler, der Parasympathikus, etwas langsamer. So kann die Angst blitzschnell auftauchen, und es dauert deutlich länger, bis die Angst (von alleine) wieder abschwillt. In einem gesunden Organismus gibt es ein fein abgestimmtes Zusammenspiel dieser beiden Stränge unseres unwillkürlichen, d. h. unbewussten Nervensystems: Hat der aktivierende Teil seinen Höhepunkt überschritten, tritt langsam der beruhigende Teil wieder seine Arbeit an. Beide Mechanismen unterliegen nicht unserer bewussten Steuerung. Sie sind jedoch sehr sinnvoll und dienen unserem Schutz: Bei Gefahr ist ein schnelles Reagieren möglicherweise lebensrettend. Und auch das automatische Abklingen nach einiger Zeit ist sinnvoll, um das innere System nicht zu überlasten.

Unser Gehirn wird üblicherweise in drei Abschnitte unterteilt, die sich entwicklungsgeschichtlich herausgebildet haben: 1. das Stammhirn mit den wichtigen Lebens- und Überlebensinstinkten, auch Reptiliengehirn genannt, 2. das Säugetiergehirn mit den emotionalen Zentren, und 3. die Großhirnrinde, die uns die Fähigkeit zu Bewusstsein und Selbstreflexion schenkt. Besonders im vorderen Bereich des Großhirns, im präfrontalen Kortex, befindet sich ein Zentrum, das uns hilft, etwas Abstand zu gewinnen, die Situation zu bewerten und die Gefahr realistisch einzuschätzen. Bei akut auftretender Angst ist die Verbindung zu diesem Bereich allerdings blockiert.

Gerald Hüther nennt die Angst einen Ausnahmezustand im Gehirn, in dem das übererregte Gehirn nicht mehr in der Lage ist, normal, d. h. in diesem Fall logisch und sinnvoll, zu reagieren. Wenn eine Sicherheit, die gestern noch selbstverständlich war, heute plötzlich nicht mehr besteht, werden vor allem die komplexeren Fähigkeiten im Frontalhirn außer Kraft gesetzt. Es hängt nicht vom Bildungsgrad der Person ab, auch ein Universitätsprofessor kann »kopflos« reagieren, wenn z. B. sein geliebtes Kind in Gefahr ist.8

Der sogenannte Tunnelblick ist zunächst nichts Schlechtes, er hilft, alle verfügbaren Reserven zu mobilisieren, Unwichtiges auszublenden und kann daher als lebensrettende Notfallreaktion interpretiert werden: Durch Nachdenken würde nur unnötig Zeit verschwendet, es ist jetzt rasches Handeln gefordert. So kann man z. B. öfters Berichte hören, wie in einer Gefahrensituation spontan und ohne zu überlegen genau das Richtige getan wurde und die betreffende Person sich im Nachhinein fragt, wie sie das nur geschafft hat. In einer drohenden Unfallsituation wurde das Steuer des Autos genau in die richtige Richtung gelenkt, während eines Falls bei einer Kletterpartei wurde genau die richtige Bewegung gemacht, die Schlimmes verhindert hat, usw.

Problematisch wird es, wenn der Tunnelblick sich verselbstständigt und nach der Gefahrensituation weiter aufrechterhalten bleibt, da er die Flexibilität und das Wahrnehmen von möglichen kreativen Lösungen einschränkt. Durch Yoga, Meditation und andere Achtsamkeitsübungen wird dieser Teil unseres Neokortex, der für überlegtes, sinnvolles Handeln und Bewerten zuständig ist, trainiert. Neuere Forschungen um Ulrich Ott und Britta Hölzel konnten feststellen, dass Achtsamkeit und Meditation nicht nur die Vernetzungen und Verschaltungen im Gehirn ausbauen, sondern auch die messbare Anzahl der Nervenzellen in diesem so wichtigen Bereich des präfrontalen Kortex um fünf bis zehn Prozent wachsen lassen.9

Wie können die Ergebnisse der Hirnforschung für den Umgang mit Angst genutzt werden? Wenn wir wissen, dass es sich bei starker Angst um eine Übererregung des Sympathikus handelt, dann kann die Anregung seines Gegenspielers, des Parasympathikus, eine hilfreiche Möglichkeit bieten. Konkret heißt das, etwas zu tun, das zur Entspannung und Regeneration beiträgt: Das kann eine Tasse Tee oder eine kleine Mahlzeit sein – das Verdauungssystem unterliegt dem Einfluss des Parasympathikus –, ein schönes warmes Bad mit Lavendelduft, eine Fußmassage, eine Umarmung, sich liebevoll über die Wange streicheln, duschen, Mantren singen oder beruhigende Musik hören. Und natürlich – last but not least – sind meditative Techniken aus dem Yoga oder andere Achtsamkeitsübungen ein gutes Mittel, um den präfrontalen Kortex als Gegenspieler zur Übererregung zu stärken. Alles ist hilfreich, was den Kopf wieder einschaltet und Abstand gewinnen lässt, z. B. auch eine Tätigkeit auszuüben, bei der das logische Denken in aller Regel noch funktioniert (z. B. Zeitung lesen oder Kreuzworträtsel lösen).

Jeder hat eine emotionale Spannbreite, innerhalb der er in der Lage ist, von seiner Intelligenz auch Gebrauch zu machen. Das sogenannte Toleranzfenster beschreibt den Bereich, in dem der Einzelne gut ansprechbar, lernfähig und offen ist. Bei zu wenig Erregung besteht Müdigkeit, Desinteresse und keine Motivation. Bei zu viel Erregung ist das Gehirn in dem oben beschriebenen Ausnahmezustand, und der Betroffene ist für keine logische Ansprache mehr erreichbar. Es gibt jedoch die Möglichkeit, durch Achtsamkeitsübungen und Yoga dieses Fenster, innerhalb dessen ein vernunftgesteuertes Verhalten möglich ist, zu vergrößern. Natürlich kommt es dabei auf ein wiederholendes Üben an. Untersuchungen belegen, dass regelmäßig Meditierende auch in Stresssituationen überlegter und zielsicherer handeln können.

Die oben genannten kurzen Beispiele aus dem Straßenverkehr oder dem Extremsport betrafen eine momentane Gefahrensituation, die sich auflöste, so dass danach wieder der Normalzustand eintreten konnte. Eine völlig andere Situation ergibt sich jedoch, wenn plötzlich eine zukünftig zu erwartende Gefahr droht: Ein Arbeitnehmer erfährt von anstehenden Massenentlassungen in seiner Firma; das Haus, in dem die Familie lebt, soll abgerissen werden; eine Mutter wird mit der Diagnose Krebs konfrontiert usw. Hier ist der Tunnelblick zwar als erste Reaktion verständlich, auf Dauer aber nicht hilfreich. Die Botschaft lautet zunächst: »Das Leben geht nicht mehr so weiter wie bisher.« Aufgrund der Arbeitslosigkeit drohen massive Einschnitte im bisherigen Lebensstandard, die vertraute Umgebung muss wegen des erzwungenen Umzugs aufgegeben werden, das Leben ist durch die schwere Erkrankung existentiell bedroht. Die bisherige Art zu leben muss sich ändern, und das löst verständlicherweise Angst aus. Es dauert in der Regel einige Zeit, um sich von einem solchen Schock zu erholen. Erst danach kann sich die Fähigkeit entwickeln, mit Ruhe nach Alternativen zum bisherigen Lebensentwurf Ausschau zu halten.

Die Geschichte vom Bauern, seinem Sohn und dem Pferd

Ein Bauer hatte nur einen Sohn und ein Pferd. Eines Morgens, als er erwachte, war das Pferd verschwunden. Die Nachbarn kamen und bedauerten ihn. Der Bauer antwortete: »Wer weiß, ob das gut oder schlecht ist?« Eine Woche später kam das Pferd mit zehn Wildpferden zurück. Die Nachbarn kamen und gratulierten ihm: »Du Glücklicher, jetzt hast du elf Pferde.« Der Bauer antwortete wieder: »Wer weiß, ob das gut oder schlecht ist?« Der Sohn ritt die Wildpferde ein, und eines der Pferde warf ihn zu Boden, so dass er sich das Bein brach. Wieder kamen die Nachbarn und bedauerten ihn, wieder antwortete der Bauer mit der gleichen Antwort. Einen Monat später kam das Militär und nahm alle jungen Männer des Dorfes mit, außer dem Sohn, der wurde wegen des gebrochenen Beines nicht mitgenommen. Diesmal kamen die Nachbar und sagten: »Wie gut, dass du den Sohn behalten konntest.« Usw.