Mitteleuropa revisited - Erhard Busek - E-Book

Mitteleuropa revisited E-Book

Erhard Busek

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Beschreibung

Heute existieren zwei große Ansichten zu Mitteleuropa. Für die einen ist es die größte europäische Erfolgsgeschichte der letzten Jahrzehnte, weil eine friedliche, vollständige Transformation zu Demokratie und Marktwirtschaft und die Eingliederung in die westeuropäischen Wirtschafts- und Sicherheitsstrukturen gelungen sind. Für die anderen ist Mitteleuropa zu einer fragmentierten und teilweise marginalisierten Region geworden, aus der keine Vorschläge für Europas Zukunft kommen, die sich in der Migrationskrise unsolidarisch verhält und in der politische Stabilität nur um den Preis starker nationalpopulistischer Politik zu erreichen ist. 1986 veröffentlichten Erhard Busek und Emil Brix das Buch "Projekt Mitteleuropa", das eine verbindende, grenzüberschreitende Utopie in einer Welt der feindseligen Extremismen präsentierte. Für viele Dissidenten in Ostmitteleuropa war diese Idee eine Chiffre der Hoffnung gegen das von Moskau gelenkte System, bis 1989 der Eiserne Vorhang fiel. Es scheint, dass Europa heute ein neues Nachdenken über Mitteleuropa braucht, um zu sich und zur Vernunft zu kommen.

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Emil Brix/Erhard Busek

Mitteleuropa revisited

Warum Europas Zukunftin Mitteleuropa entschieden wird

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01119-8

Copyright © 2018 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien

Unter Verwendung einer Illustration von Smart Design/Shutterstock

Typografische Gestaltung und Satz: Michael Karner, Gloggnitz

INHALT

PROLOG

Der Raum zwischen Deutschland und Russland und die Wiederentdeckung des Mittelmeers

1. KAPITEL

Wo die Niederlage des Kalten Krieges begann

Der Aufbruch und was daraus wurde

Definitionen des Begriffs Mitteleuropa

Der schwierige Umgang mit den Nachbarn

Mitteleuropas kulturelle Identität

Geschichte als Mittel zur Identitätsbildung

»Wir« und »die anderen«

Quo vadis Europa?

2. KAPITEL

Mitteleuropa: Der lange Weg zur Integration

Die Umbrüche in den kommunistischen Staaten

Keine Blueprints für Mitteleuropa

Die Macht der Geschichte

Die Bedeutung regionaler Kooperationen

Die fragile Stabilität Mitteleuropas

Zusammenarbeit in Mittel- und Südosteuropa

3. KAPITEL

Die EU auf dem Weg nach Osten

Von der Sehnsucht nach Freiheit und dem Leben in der Marktwirtschaft

Die Arroganz des Westens

Die unterschätzte Rolle der Kultur

Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten

Die Bedeutung der Visegrád-Gruppe

Die Ratlosigkeit Europas

Zehn Maßnahmen für die Gestaltung Europas

4. KAPITEL

Die Krisen an den beweglichen Grenzen

Zwischen den Blöcken und zwischen den Zeiten

Ukraine

Belarus

Moldawien

Den Balkan als Europa denken

Die Hürden auf dem Weg zur Integration des Westbalkans

5. KAPITEL

Die großen Nachbarn als Garanten und Gefahr

Die außenpolitischen Player in Europa

Die geopolitische Gemengelage

Von der Notwendigkeit einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur

6. KAPITEL

Nationalismus – und kein Ende?

Kein Ende der Grenzziehungs-Konflikte

Spielbälle der Großmächte

Der neue Nationalismus

Weniger Grenzen, mehr Gemeinsamkeit

7. KAPITEL

Wirtschaft – Motor der Entwicklung, Spiegel der Probleme

Die wirtschaftliche Integration – mehrheitlich eine Erfolgsgeschichte

Wachstumsfördernde und wachstumshemmende Faktoren

Gefahren für die politische Stabilität

Die Donau – eine versäumte Chance?

Wirtschaftliche und politische Kooperations-Initiativen

Die Chancen der Globalisierung

8. KAPITEL

Die Rolle der Religionen

Das Mittelmeer – Wiege unserer Kultur

Die Auseinandersetzung mit der Orthodoxie – ein unbewältigtes Schisma

Europa und der Islam: »Gesellschaft« vs. »Gemeinschaft«

Die Einbindung des Islam in Europa

Migration, eine Herkulesaufgabe für Europa

9. KAPITEL

Migration oder: Vom Kommen und Gehen

Die Bedeutung von Grenzen

Migration: Eine Herausforderung für die EU

Pluralität, eine grundsätzliche Stärke Europas

10. KAPITEL

Der Beitrag Mitteleuropas zur Zukunft Europas

Österreich und Tschechien – ein kompliziertes Verhältnis

Der notwendige Dialog mit der Zivilgesellschaft

Europa der Werte statt Europa der Märkte

Zivilgesellschaftliche Diskussion statt »Leitkultur«

Das ambivalente mitteleuropäische Erbe

Von der Peripherie ins Zentrum Europas

Im Warteraum der europäischen Integration

Mitteleuropa: Die Zukunft Europas

EPILOG

Die Demokratieentwicklung in Mitteleuropa

Direkte Demokratie und Populismus

Die verpassten Chancen regionaler Kooperation

Die Fehler der Politik

Die Gefahr der Spaltung Europas

Dank

Ausgewählte Literatur

PROLOG

Der Raum zwischen Deutschland und Russland und die Wiederentdeckung des Mittelmeers

Mitteleuropa! Manchmal erstaunt sogar uns, die wir vor 30 Jahren in den Zeiten eines gesellschaftspolitisch radikal geteilten Europas ein Buch mit dem Titel »Projekt Mitteleuropa« geschrieben haben, dass wir heute wieder darüber nachdenken sollten. Schließlich ist es bereits längst gelungen, den Eisernen Vorhang und die Berliner Mauer niederzureißen. Alle Staaten, die unmittelbar an dieser Teilungslinie quer durch Europa gelegen waren, sind seit Langem gemeinsam Mitglieder der Europäischen Union. Dennoch, wir haben es noch nicht geschafft, dass diese Region ihr gemeinsames Potenzial an Kreativität und historischen Erfahrungen zwischen Ost und West zur Geltung bringen kann. Heute bestehen zwei große Erzählungen über Mitteleuropa. In der einen ist Mitteleuropa die größte europäische Erfolgsgeschichte der letzten Jahrzehnte, weil eine friedliche, vollständige Transformation zu Demokratie und Marktwirtschaft und die Eingliederung in die westlichen Wirtschafts- und Sicherheitsstrukturen gelungen sind. In der anderen großen Erzählung ist Mitteleuropa zu einer fragmentierten und teilweise marginalisierten Region geworden, aus der keine Vorschläge für Europas Zukunft kommen, die sich in der Migrationskrise unsolidarisch verhält und in der politische Stabilität nur um den Preis starker nationalpopulistischer Politik zu erreichen ist.

Das ist alles andere als neu in Mitteleuropa. Die Donaumonarchie als eine Art politische Lösung für Mitteleuropa ist am Nationalismus des 19. Jahrhunderts zerbrochen, allerdings auch aus eigener Schuld, weil sie nicht in der Lage war, mit den Problemen fertig zu werden und schrecklicherweise versucht hat, durch das Auslösen des Ersten Weltkriegs dieser Situation zu entkommen, und dabei die Situation noch schwieriger gemacht hat. Die »Mittelmächte« hatten zwar Konzeptionen – zu nennen ist etwa das Mitteleuropakonzept des Deutschen Reichs –, haben aber in der Folge bis hin zum Zweiten Weltkrieg Zerstörungen ausgelöst, an denen wir heute noch würgen. Die weitere Geschichte ist bekannt: Eiserner Vorhang, Ost-West-Teilung, Kalter Krieg, die schmerzlichen Ereignisse in Budapest 1956, Prag 1968, Polen in den 1980er-Jahren, die wenigstens ein Lehrstück für die Zukunft waren, wenngleich man sich natürlich die Frage stellen kann, ob das auch in den heutigen Jahren noch wirklich verstanden wird.

Die Konsequenzen der von der Sowjetunion erzwungenen Teilung dieses Kontinentes nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigen weiterhin Wirkung. Es scheint, dass Europa ein neues Nachdenken über Mitteleuropa braucht, um zu sich und zur Vernunft zu kommen. Wer einen solchen Satz schreibt, muss ihn erklären, und darum geht es in diesem Buch. Es geht um die Perspektiven für das politische, soziale und wirtschaftliche Zusammenleben in der Mitte Europas in einer Zeit, in der Europa selbst wieder auf dem Prüfstand steht.

Dies ist auch eine Folge der geografischen Ostverschiebung Europas. Die Idee Mitteleuropa war immer abhängig von den jeweiligen Vorstellungen von West- und Osteuropa. Sie ist von diesen geopolitischen Kategorien abhängig. In dieser Hinsicht kann Mitteleuropa als Pufferzone zwischen Ost und West bezeichnet werden, dessen Lage von den realpolitischen Machtverhältnissen bestimmt wird.

Mitteleuropa ist seit dem Ende der ideologischen Ost-West-Teilung Europas nach Osten und Südosten gewandert. Die drei baltischen Staaten, aber auch Albanien und die Staaten des ehemaligen Jugoslawien, werden durch die bereits erfolgten oder noch möglichen »Osterweiterungen« der EU zu Teilen einer neuen Mitte, deren Definition wieder jene historische Dimension erhält, die sich bereits im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte: Mitteleuropa ist wieder der gesamte geografische Raum zwischen Deutschland und Russland. Alle Staaten dieses Raumes sind in unterschiedlicher Form und Weise von ihrem Verhältnis zu diesen Machtzentren bestimmt. Russland ist das alte und neue Osteuropa.

Die Geschicke Europas wurden in den letzten Jahrzehnten in und um Mitteleuropa entschieden: vom Ende des Eisernen Vorhangs über den Untergang der Sowjetunion bis zu den Balkankriegen und zur sogenannten Osterweiterung der EU und der NATO. Wir sind überzeugt, dass heute ein notwendiges, größeres europäisches Selbstbewusstsein im Umgang mit internationalen Partnern nur von einer stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen mitteleuropäischen Region ausgehen kann.

Ein zunehmend dynamisierendes Element ist nicht nur die aktuelle Migrationsfrage, sondern auch die komplette Destabilisierung bis hin zu schmerzlichen Kriegshandlungen im Bereich des Mittelmeers und des Nahen Ostens. Bei einigermaßen umfassender Geschichtsbetrachtung ist das auch nicht verwunderlich, da das Osmanische Reich an den Grenzen Mitteleuropas schon vor langer Zeit den Zusammenhang mit diesem Raum hergestellt hat. Für die Migrationsbewegungen aus dieser Region könnte man nun den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts verantwortlich machen, aber von viel entscheidenderer Bedeutung ist die geistesgeschichtliche Verbindung. Angesichts neuer »Christenverfolgungen« im Nahen Osten, die in Wirklichkeit auf die frühe Geschichte der christlichen Entwicklung verweisen, wird man daran erinnert, dass das noch vor einigen Jahren immer wieder zitierte »christliche Abendland« eigentlich aus dem Morgenland kommt. Die Brücke dazu führte über Mitteleuropa, wie nicht nur historisch und politisch, sondern auch geistesgeschichtlich leicht nachgewiesen werden kann. Die bestimmende Entwicklung der Antike kam aus Hellas, das auch von der Auseinandersetzung mit dem Osten gekennzeichnet war. Für die heutige Zeit muss man sagen: Die Stabilität Mitteleuropas entscheidet darüber, wie Europa mit diesen Problemen in der Nachbarschaft umgehen kann, wie weit es in der Lage ist, sie nicht nur zu verstehen, sondern auch im Sinne der Stabilität und eines friedlichen Auskommens zu bewältigen. Der Konflikthorizont hat sich in unserer Zeit wieder erweitert und erinnert an historische Entwicklungen. Dadurch ist der Mittelmeerraum zu einem wesentlichen Faktor auch der Mitte Europas geworden.

Wer sich heute, lange nach dem Ende der Teilung Europas in einen »freien« und einen »kommunistischen« Teil, auf die Suche nach Mitteleuropa begibt, hat es scheinbar viel schwerer, diesen Raum und seine Ideen zu beschreiben. Im ideologisch geteilten Europa war die Definition dieses Raumes leicht zu formulieren und zu begründen. Die ideologische Grenze mitten durch Europa sollte überwunden werden, um das Leben für die Menschen in den Staaten jenseits dieser Grenze zu verbessern. Der Protest gegen die von kommunistischen Regimen erzwungene Uniformität des Ostens machte liberale Intellektuelle von Bukarest bis Warschau zu Mitteleuropäern. Die liberale Euphorie bei der Transformation zu demokratischen und marktwirtschaftlichen Staaten war allerdings nicht von langer Dauer. Je länger die Transformation dauerte, desto schwächer wurden in vielen Staaten dieses Raumes liberale Positionen gegenüber links- und rechtspopulistischen politischen Ideen, die nationale Souveränität und Identität versprechen. Das personifizierte Beispiel für diese Entwicklungen ist der ungarische Premierminister Viktor Orbán, der 1989 als liberaler Studentenführer seine politische Laufbahn begann und heute von den Vorzügen der »illiberalen Demokratie« spricht. Bei einer Fernsehansprache im Juli 2017 sagte er: »Wir in Mitteleuropa sahen vor 27 Jahren Europa als unsere Zukunft. Heute fühlen wir, dass wir die Zukunft Europas sind.« Er erklärte in dieser Rede auch, wer für ihn das gemeinsame Mitteleuropa ist: »die leidenschaftlichen Polen, die immer vernünftigen Tschechen, die geradlinigen Slowaken und die romantischen Magyaren«. Die Krise der liberalen europäischen Ordnung ist keine »Erfindung« Mitteleuropas. Sie hat nach dem Ende der »Zweiten« (kommunistischen) Welt im Westen mit der Kritik begonnen, dass die liberalen Wohlfahrtsstaaten Wohlfahrtsgewinne ungleich verteilen und die globalen Finanztransaktionen nicht ausreichend regulieren können.

Die nach 1989 verständliche, aber bereits damals sehr romantische Euphorie hinsichtlich eines Endes der Geschichte und des unaufhaltsamen Sieges des Liberalismus war nur von kurzer Dauer. Aber: Wie hat die neue Geschichte Mitteleuropas begonnen, welche Weichenstellungen hat es gegeben und was sind die Chancen und Gefahren unseres heutigen Mitteleuropas für die Zukunft Europas? Mitteleuropa ist die Zukunft Europas, aber in diesem Buch wollen wir beleuchten, welche Arbeit und welche Perspektiven dafür in unserer Region, die lange Zeit als Peripherie oder Puffer gesehen wurde, noch vor uns liegen.

1. KAPITEL

Wo die Niederlage des Kalten Krieges begann

Der Aufbruch und was daraus wurde

Es gehört zum vernachlässigten europäischen Realitätssinn, Mitteilungen an die Zukunft mit einem Erinnern an die Geschichte zu beginnen. In den Zeiten des Kalten Krieges konnte man eigentlich nicht erwarten, dass die radikale politische Teilung Europas in Ost und West von einem abstrakten Begriff wie »Mitteleuropa« infrage gestellt würde. Und dennoch war es der intellektuelle Protest gegen die künstliche Teilung des mitteleuropäischen Kulturraumes, der die revolutionären Ereignisse von 1989 vorbereitet hat.

1989 ist in Europa innerhalb von wenigen Monaten eine »Zweite Welt« untergegangen. Der reale Sozialismus des Ostens war bereits Jahrzehnte davor weder als Idee noch in seiner praktischen Umsetzung konkurrenzfähig mit dem Westen. Aber erst als selbst in der Hegemonialmacht Sowjetunion mit Perestroika und Glasnost anstelle von gesellschaftlicher Repression auf Reform gesetzt wurde, waren die bürgerlichen Revolutionen im bis dahin totalitär geführten Ostblock vorprogrammiert. Die Vorstellung einer den Eisernen Vorhang überschreitenden mitteleuropäischen Lebenswelt hat dabei den Dissidenten im Osten, ihrem Freiheitswillen und dem Wunsch nach liberalen Bürgerrechten ein gemeinsames Motto gegeben.

Damals wurde ein neues Europa aus der Taufe gehoben und in Europa plötzlich wieder Weltgeschichte geschrieben. Teilnehmende Beobachter wie der britische Historiker Timothy Garton Ash sprachen vom Wehen des »Zeitgeistes« und von einem »magischen Jahr«. Es war ein Anfang voller Euphorie, der sogar manche vom Ende der Geschichte, also vom endgültigen Sieg von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft, sprechen ließ.

Als im Frühjahr 1989 an der österreichisch-ungarischen Grenze der Eiserne Vorhang durchschnitten wurde und im Herbst die Berliner Mauer fiel, schien die Weltgeschichte im Zeitraffer abzulaufen. Alles, was bis dahin im Kalten Krieg in eine westliche und eine östliche Wirklichkeit geteilt war, schien sich über Nacht aufzulösen. Diese intellektuelle Euphorie reichte für die Gründung neuer Staaten, für die rasche Etablierung liberal-demokratischer Institutionen und mit Verzögerung für die Integration weiter Teile des Ostens in europäische und transatlantische Strukturen. Tatsächlich sind aber heute, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges und der ideologischen Teilung Europas, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen von Jahrzehnten erzwungener Trennung noch lange nicht überwunden. Die aktuellen europäischen Krisen der Solidarität, von der Flüchtlingsverteilung bis zu den klassischen Fragen der Umverteilung zwischen Arm und Reich, machen die Unterschiede wieder deutlich.

Die Träume, Hoffnungen und Überraschungen von 1989 sind längst Geschichte. Wie lässt sich begreifen, dass sich vor dem friedlichen und fast lautlosen Verschwinden des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer niemand vorstellen konnte, dass die Teilung Europas jemals überwunden würde, und dass sich heute fast niemand mehr vorstellen kann, dass die Mitte Europas beinahe 50 Jahre von einer unüberwindlichen Grenze zerschnitten war?

Zumindest für die Staaten entlang dieser ehemaligen Teilungslinie Europas hängt dies wohl entscheidend damit zusammen, dass nach 1989 der Protestbegriff »Mitteleuropa« nicht in eine Strategie für langfristige Zusammenarbeit und gemeinsame Interessenvertretung innerhalb Europas verwandelt wurde. Die ehemaligen Ostblockstaaten waren mit ihrer nationalen Transformation, der Annäherung an Westeuropa und dem Aufbau eines neuen Selbstverständnisses beschäftigt. Deutschland konzentrierte sich auf die Wiedervereinigung, die nicht mitteleuropäisch, sondern mit der Idee der nationalen Einheit begründet wurde. Italien war politisch zu schwach, um mehr als eine eher symbolisch gemeinte »Zentraleuropäische Initiative« zu entwerfen. Und Finnland, Schweden und Österreich ging es in erster Linie um die Chance, nun zügig EU-Mitglied werden zu können, also um Westpolitik. 1989 ging in Europa nicht nur der Kommunismus als Alternativmodell, sondern auch die Nachkriegszeit zu Ende.

Im Westen Europas schien sich wenig geändert zu haben, außer dass neue Märkte zugänglich wurden und Migranten aus dem Osten ein zusätzliches Arbeitskräftepotenzial bedeuteten. Im Osten musste alles neu erdacht werden. Transformation und der als Rückkehr nach Europa bezeichnete Wunsch nach Teilnahme an der europäischen Integration wurden zur Motivation für die erst im Entstehen begriffenen neuen Mittelschichten.

Es wurde rasch klar, dass die großen Ideen und Namen des Jahres 1989 das Schicksal aller revolutionären Erneuerungen erfahren würden. Sie waren gut für die Revolution, aber weniger geeignet für die folgenden Mühen der Ebene. Selbst die zentralen Symbolfiguren wie Lech Wałęsa, Václav Havel und Michael Gorbatschow waren bereits zehn Jahre später nur mehr historische Personen oder erfüllten bestenfalls noch politische Repräsentationsfunktionen. Begriffe wie Perestroika, Mitteleuropa, Solidarität, Eiserner Vorhang oder Berliner Mauer wurden von konkreten Zielsetzungen wie EU-Beitritt und NATO-Mitgliedschaft abgelöst.

Die handelnden Personen und die Interessenlagen sind heute ganz andere als im Wendejahr 1989 und es sieht längst nicht mehr die ganze Welt, ja selbst nicht einmal mehr ganz Europa, auf die heroischen Erfolge der Generation von 1989. Aber für Mitteleuropa lohnt sich der Blick auf die eigene Geschichte, weil er die Voraussetzung für vernünftiges politisches Handeln nach dem Ende der europäischen Nachkriegszeit und der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts darstellt.

Definitionen des Begriffs Mitteleuropa

»Mitteleuropa« wird seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als politischer, kultureller und wirtschaftsgeografischer Begriff verwendet, der eine geografisch bestimmbare Region zwischen dem Westen und dem Osten Europas beschreibt. Seine Definition ist stets kontextbezogen und daher abhängig von den jeweils vorherrschenden kulturellen und politischen Vorstellungen über die innere Gliederung Europas. In historischer Perspektive konkurrieren dabei geopolitische Vorstellungen eines deutschen Einflussbereiches im östlichen Europa mit kulturellen Überlegungen einer historisch gewachsenen, gemeinsamen Interessenlage der kleineren Völker zwischen deutschen und russischen Hegemonialansprüchen. Von Krakau bis Temeswar und von Triest bis Lemberg wird der Begriff auch mit der kulturellen Vielfalt der Habsburgermonarchie vor dem Ersten Weltkrieg verbunden.

Das bis heute überwiegende Begriffsverständnis orientiert sich aber nicht primär an den wirtschaftlichen, geografischen und historischen Dimensionen, sondern an der Verwendung des Begriffs als Metapher für den intellektuellen Protest gegen die ideologische Ost-West-Teilung Europas vor 1989. Das Stichwort »Mitteleuropa« stand vor 1989 für ein relativ klares intellektuelles Konzept, das Dissidenten hinter dem Eisernen Vorhang als Ausdruck des kulturell-politischen Protests gegen die »Sowjetisierung« der Gesellschaften östlich der ideologischen Teilungsgrenze Europas einsetzten und das in Staaten wie Österreich und Deutschland zu Diskussionen über die Zulässigkeit und die Konsequenzen des Zulassens von verdrängten »historischen Horizonten« führte. Besonders in Oberitalien und in Österreich bedeutete Mitteleuropa, auf den Verlust eines gemeinsamen historischen Bewusstseins, auf die Marginalisierung der Mitte durch nationale Grenzziehungen hinzuweisen. Seit dem Ende der ideologischen Teilung Europas wird Mitteleuropa im öffentlichen Diskurs und in der Politik in Österreich, Slowenien, Kroatien, Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Polen zunehmend unbestritten als Merkmal des eigenen nationalen Selbstverständnisses und als außenpolitisches Prinzip verwendet.

Die Charakterisierung Mitteleuropas als gemeinsamer Geschichtsraum enthält zahlreiche definitorische Unschärfen und Untiefen. Dabei wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass diese Schwierigkeiten für sich genommen schon zu den zentralen Charakteristika dieser historischen Mittler- und Übergangsregion zählen. Mitteleuropa lässt sich weder geografisch exakt abstecken noch überzeitlich als ein Kontinuum begreifen, sondern nur in bestimmte Epochen fassen und vornehmlich in kulturellen Prägungen nachweisen. Vom Prager Frühling 1968 bis zur Samtenen Revolution 1989 diente der Begriff vor allem als Metapher für den Protest gegen eine zunehmend als brüchig erscheinende, eindeutige weltanschauliche Teilung Europas in Ost und West.

Geografisch ist Mitteleuropa der zentrale Teil Europas, dessen Abgrenzung durch die verschiedenen Ansätze – physisch-geografisch, historisch-politisch, kulturlandschaftlich – unterschiedlich und nicht immer in Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis der betroffenen Staaten erfolgt. Als Kernregion gelten Österreich, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenien und Kroatien. Weder die Abgrenzung gegen Westen (Deutschland, die Schweiz und Liechtenstein) noch gegen Osten und Südosten (Litauen, Belarus, Moldawien, Ukraine und alle südosteuropäischen Staaten) ist eindeutig festzulegen.

Neben dem Terminus Mitteleuropa finden sich in der Fachliteratur auch Begriffe wie Zentraleuropa, Zwischeneuropa, Ostmitteleuropa und Donauraum. Grund dafür mag die wiederholte Politisierung des Begriffs Mitteleuropa sein: von der Gleichsetzung mit dem mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich über Vorstellungen einer »deutschen Kulturmission« und später der deutschen »Lebensraumideologie« und dem Bild vom »Schlachtfeld der nationalen Chauvinismen« bis zum habsburgischen Vielvölkerstaat und nach dem Zweiten Weltkrieg der ideologischen Frontlinie des Kalten Krieges.

Zum negativen politischen Schlagwort hat jedenfalls der liberale Denker Friedrich Naumann Mitteleuropa gemacht. Seine 1915 im Buch Mitteleuropa vorgestellten Ideen für eine föderale Vereinigung mit Deutschland und den deutschsprachigen Gebieten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie im Zentrum waren wirtschaftspolitisch gedacht und sollten eine deutsche Dominanz in der Region sichern. Geografische Parameter nehmen in seinen Betrachtungen nur eine untergeordnete Stellung ein. Naumanns Konzept wurde nach Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie 1918 verworfen. In der Zwischenkriegszeit konkurrierten Ideen für ein »deutsches Mitteleuropa« mit Ideen einer Föderation der kleinen Staaten zwischen Deutschland und Russland.

In der europäischen Neuordnung nach 1945 wurden sowohl Ideen einer deutschen Beteiligung an Mitteleuropa-Konzepten als auch Vorstellungen einer Föderation der mitteleuropäischen Kleinstaaten von der politischen Ost-West-Teilung Europas (getrennt durch den Eisernen Vorhang) abgelöst. Erst mit dem wachsenden intellektuellen Widerstand im geografischen Osten Europas gegen eine »Veröstlichung« der Gesellschaft wurden mitteleuropäische Konzepte einer auf Geschichtsbewusstsein und kreativer kultureller Vielfalt beruhenden Region wieder attraktiv. Auch die Beschreibung der multinationalen Habsburgermonarchie als »Völkerkerker« verschwand östlich des »Eisernen Vorhangs« zunehmend aus dem Argumentationsrepertoire, ja, die Donaumonarchie wurde im Protest gegen die realsozialistischen Regime teilweise so weit idealisiert, dass sie Oppositionellen als Argument für ihre Forderungen nach liberalen Freiheitsrechten dienen konnte. Zwischen dem Prager Frühling von 1968 und dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im östlichen Teil Europas brachte der Begriff »Mitteleuropa« den intellektuellen Protest gegen die Teilung Europas in einen scheinbar eindeutigen Westen und eindeutigen Osten zum Ausdruck. Mitte der 1980er-Jahre schrieb der tschechische Schriftsteller Milan Kundera von der »Tragödie Mitteleuropas« als von den Sowjets gekidnapptem Teil des Westens, Václav Havel forderte das »Leben in der Wahrheit« und György Konrád schlug als Rezept gegen den realen Sozialismus eine liberal-bürgerliche »Antipolitik« vor, heute würden wir von einer aktiven Zivilgesellschaft sprechen.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstanden zahlreiche grenzüberschreitende Projekte, Initiativen und Organisationen, die die Öffnung der ehemals kommunistischen Staaten zum Westen und deren Orientierung an diesem förderten, aber auch die Mitteleuropa-Idee aufgriffen. Politisch relevant wurde darunter nur die »Visegrád-Kooperation« (V4) von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, aber dies auch erst nach dem EU-Beitritt dieser Staaten. Heute dient der Begriff Mitteleuropa überwiegend als Begründung für einen engen Kulturaustausch, für grenzüberschreitende wirtschaftliche Zusammenarbeit möglichst unter Einschluss der Balkanstaaten und für die Idee eines politischen Bemühens um eine gemeinsame Vertretung der nationalen Interessen der EU-Staaten der Region. Gleichzeitig wird er immer wieder als kulturelle Argumentation für die europäischen Integrationsbemühungen von Staaten wie Serbien und der Ukraine herangezogen. Mitteleuropa bleibt ein Thema, wenngleich nicht als politische Formation, aber zweifellos als Inhalt europäischer Identität.

Der schwierige Umgang mit den Nachbarn

Für Europa sind die historischen mitteleuropäischen Erfahrungen des Widerstandes gegen Totalitarismus von aktueller realpolitischer Relevanz. Wie können Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft in Zeiten der Globalisierung gesichert werden, ohne dass dies gleichzeitig in neuen und alten Demokratien zu einer Entsolidarisierung in der Gesellschaft und zu nationalstaatlichem Populismus in der Politik führt? Offene Gesellschaften brauchen eine politische Ethik, die es möglich macht, Pluralität als Wert anzuerkennen und »Vertrauenskapital« in einer Gesellschaft und besonders zwischen Nachbarstaaten aufzubauen.

Die Erinnerung an die ideologische Teilung des Kontinents und die im kommunistischen Teil Europas damit verbundene Leugnung von Traditionen einer offenen Gesellschaft ist heute nicht überholt. Für eine gute Nachbarschaft in diesem nun »postheroischen« Teil des Kontinents ist der Begriff Mitteleuropa wertvoll. Nach bereits mehreren Jahrzehnten der Transformation sehen wir, dass innenpolitischer Populismus und Nachbarschaftsprobleme kein »Privileg« der Kommunisten waren, sondern Ausdruck der komplizierten mitteleuropäischen Lage sind, die es in jeder Zeit nahelegen, in diesem Raum in grenzüberschreitendes Vertrauen zu investieren.

Als Protestbegriff scheint »Mitteleuropa« seine Funktion erfüllt zu haben und seine Untersuchung kann den Zeithistorikern und Feuilletonisten überlassen werden. Heute sind die Kernregionen Mitteleuropas und fast der gesamte Donauraum Teil der Europäischen Union. Gerade deshalb brauchen wir aber Initiativen für gemeinsame mitteleuropäische Projekte und für gemeinsame Perspektiven, weil die Chancen der einzelnen Staaten im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben von der Fähigkeit zur Zusammenarbeit in der Region und nicht von einem Rückzug auf die liberal-nationalen Politikvorstellungen der Zeit vor der ideologischen Teilung Europas 1945 abhängig sind. Die deutlichste Antwort ergibt sich aus der Sicht der anderen auf diese Region und aus den merkwürdigen Kontinuitäten der Zuordnung. Zumindest seit dem Mittelalter besteht die Tradition und Vorstellung, dass Mitteleuropa eine »Peripherie des Westens« sei. Von 1945 bis 1989 galt Mitteleuropa (mit Ausnahme Österreichs) als Teil des »Ostens«. Kommt jetzt wieder eine lange Phase, in der die Mitteleuropäer zum Rand Westeuropas werden und dabei – wie Péter Esterházy schrieb – höchstens die Rolle als »Störenfriede« zugewiesen bekommen, die am Wohlstand partizipieren wollen? Die Städte und Staaten dieser Region besitzen Traditionen, sich gleichzeitig als Zentrum und als Peripherie fühlen zu können. Schließlich besteht Mitteleuropa vor allem aus Peripherie, und immer wieder verschobene Grenzen haben jedem Ort eine Erinnerung als Peripherie gegeben. Es geht um das Akzeptieren der realpolitischen Erfahrung, dass die Identität und Position der mitteleuropäischen Staaten immer ein Ergebnis ihres Verhältnisses zu den Nachbarn ist, weil dieses einen wesentlichen Teil der »eigenen« Geschichte ausmacht. Die lange Liste der historisch bedingten Nachbarschaftsprobleme betrifft praktisch alle Staaten dieser Region und reicht vom Verhältnis zwischen Ungarn, der Slowakei und Rumänien, zwischen Rumänien und Bulgarien bis zum Verhältnis zwischen Polen und der Ukraine. Aber offenbar mental noch langfristiger wirkt die Trennung entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Wenn Politiker in Deutschland oder Österreich bei Diskussionen über innenpolitische Reformideen auf positive ausländische Modelle verweisen, sind dies weiterhin praktisch ausschließlich Verweise auf Modelle in westeuropäischen Staaten. Dies hängt wohl ganz zentral damit zusammen, dass erstens zu wenig Interesse an den strukturellen Entwicklungen im »Osten« besteht und dass zweitens diese Politiker keine positiven Beispiele aus dem ehemals kommunistischen Osten heranziehen wollen, um nicht von den Medien und den parteipolitischen Konkurrenten reflexartig sofort dafür kritisiert zu werden.

Das Aufeinanderzugehen braucht aber politische Unterstützung. Václav Havel hielt 1993 an der Universität Wien einen Vortrag über das historische und gegenwärtige Verhältnis der Tschechischen Republik und Österreich. Der Vortrag begann mit dem bemerkenswerten Satz: »Die Geschichte unseres mitteleuropäischen Raumes ist voll von Paradoxen.« Konkret meinte er die paradoxe Situation, dass Österreicher und Tschechen durch historische, kulturelle und menschliche Beziehungen eng verbunden sind und dennoch im 20. Jahrhundert kein Verhältnis entwickelt haben, das diese innere Verwandtschaft wenigstens teilweise ausdrückt.

Der slowenische Schriftsteller Drago Jančar wendet sich daher in seinen politischen Essays gegen eine ausschließlich pragmatische Politik, die sich nur als »Service für das Ordnen gemeinsamer Angelegenheiten« versteht: »Allein die Kreativität, ja, auch die künstlerische, bietet eine Zuflucht vor den absurden Ideen der Flachköpfe. Vor ihrer analytischen und pragmatischen Welt. Sie ist die Sicherung gegen die Versuchung des Vergessens, denn die Kunst an sich bewahrt die ganzheitliche menschliche Erfahrung.«

Mitteleuropas kulturelle Identität

Mitteleuropa lebt aus der Tradition, dass seine Bewohner die unterschiedlichsten kulturellen Muster kreativ verarbeiten konnten (und oft mussten) und dieser Raum eine lange Geschichte als »Laboratorium für Veränderungen« besitzt (z.B. Grenzüberschreitungen und Grenzverschiebungen, Mehrsprachigkeit, ethnischer Nationalismus). Aus der Erfahrung ständiger Veränderungen wächst eine Form der mitteleuropäischen Skepsis. Der ewige Optimismus wirkt aus dieser Perspektive irgendwie lächerlich und komisch (György Konrád). In dieser »Skepsis aus Erfahrung« liegt der Ansatz für neue mitteleuropäische Aufgaben, die auch eine vernünftige Differenzierung gegenüber allzu großen Erwartungshaltungen im Westen und im Osten über den »europäischen Traum« nahelegen.

Dabei wäre es falsch, Mitteleuropa als rituell beschworene Großfamilie kakanischer Herkunft oder slawischer Brüderschaft wachzuhalten. Nostalgie mag von Verlust künden, aber sie verweist in der Regel nicht auf Handlungsperspektiven. Es ist zwar ein Fortschritt im Bewusstsein, wenn ein Wiener in Czernowitz seine eigene Vergangenheit wiederentdeckt und ein Budapester sich in Krakau irgendwie heimisch fühlen kann. Der gemeinsame Kulturraum hat aber nur eine Zukunft, wenn es reale gemeinsame Interessen gibt. Mitteleuropäische Traditionen und Perspektiven können eine Stärke unserer Staaten in der Europäischen Union werden, wenn es ein Bewusstsein für Fragen aus der Geschichte dieses Raumes gibt, wie etwa: Was waren die Voraussetzungen für das kreative Milieu Mitteleuropas am Beginn des 20. Jahrhunderts? Dann würde rasch klar werden, dass es ein reales Problem darstellt, wenn der Zug von Krakau nach Wien im 19. Jahrhundert 5 Stunden 43 Minuten benötigte, heute aber mehr als 8 Stunden fährt. Es würde klar werden, dass die gegenseitige Kenntnis der Sprachen der Nachbarn heute geringer ist als um 1900. Es würde auch klar werden, dass die heutigen Universitäten dieser Staaten – inklusive der Universitäten auf dem Gebiet des heutigen Österreich – um 1900 weit mehr Studenten aus anderen Sprachgruppen zählten, als dies heute der Fall ist. Diese Beispiele haben wenig mit Nostalgie, aber viel mit möglichen mitteleuropäischen Perspektiven zu tun.

Auf der Landkarte scheint sich im Zuge der EU-Erweiterungen die Sehnsucht nach dem kulturellen Mitteleuropa nach Osten und Südosten zu verschieben. Heute träumen Intellektuelle in Kroatien, Serbien, Rumänien und in der Ukraine von einer mitteleuropäischen Welt, der sie angehören. Der polnische Aphoristiker Stanisław Jerzy Lec hat bereits vor mehr als 50 Jahren den Mitteleuropäern in einer praktischen Anleitung für den Sturz von Denkmälern empfohlen: »Lasst mir die Sockel stehen. Ihr werdet sie noch brauchen.« Die Ironie der Geschichte Mitteleuropas liegt darin, dass die großen, radikalen europäischen Projekte des vorigen Jahrhunderts, der Nationalismus und der Kommunismus, in diesem Raum reale Verbindungen nachhaltig zerstört haben und dennoch das Gefühl des »parallelen Lebens« in Mitteleuropa nicht ganz verloren gegangen ist.

Geschichte als Mittel zur Identitätsbildung