Mitternachtsspitzen - Susan Elizabeth Phillips - E-Book

Mitternachtsspitzen E-Book

Susan Elizabeth Phillips

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Beschreibung

Ein fesselnder historischer Roman aus der Feder von Bestsellerautorin Susan Elizabeth Phillips!

Wutentbrannt reist die junge Kit Weston nach New York. Ihr Ziel: Der neue Besitzer ihrer Plantage muss weg! Aber obwohl sie sich als Junge verkleidet und sogar bei ihrem Widersacher als Stallbursche eingestellt wird, erweist sich Baron Cain als äußerst harter Brocken.Und der durchschaut schnell, dass sein neuer Mitarbeiter in Wahrheit eine Lady mit teuflischem Temperament und viel Courage ist. Kurzerhand verfrachtet er die junge Dame in ein vornehmes Pensionat. Drei Jahre später begegnen sich Kit und Cain erneut – und die Funken fliegen wieder! Doch diesmal ist es nicht Zorn, der ihre Herzen entflammt, sondern Liebe. Das aber würden sich die beiden hitzigen Dickköpfe niemals eingestehen …

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Seitenzahl: 509

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Buch

»Ich lasse mir doch meine Plantage nicht stehlen! Eher bringe ich den Kerl um!« Wutentbrannt reist nach Ende des Bürgerkriegs die junge Kit Weston nach New York, um ihren neu ernannten Vormund Baron Cain aus dem Weg zu räumen und auf Risen Glory, ihrer Plantage in South Carolina, wieder ungehindert schalten und walten zu können. Aber obwohl sie sich als Junge verkleidet und sogar bei ihrem Widersacher als Stallbursche eingestellt wird, erweist sich Baron Cain als äußerst harter Brocken. Als er entdeckt, dass sich hinter dem vermeintlichen Jungen eine kratzbürstige, eigensinnige Schönheit mit dunkelblauen Augen verbirgt, steckt er Kit kurz entschlossen in das feinste New Yorker Damenpensionat.

Drei Jahre später kehrt Kit nach Risen Glory zurück und stellt erstaunt fest, dass Baron der Plantage wieder zu ihrem früheren Glanz verholfen hat. Und auch er erkennt in der eleganten Einundzwanzigjährigen die Wildkatze von früher kaum wieder. Die Leidenschaft, die sofort zwischen ihnen aufflammt, verunsichert und irritiert sie beide. Stur, wie sie beide nun einmal sind, bringen sie sich gegenseitig in die unmöglichsten Situationen. Werden sie in der Lage sein, ihren Stolz und ihr Misstrauen zu überwinden? Denn manchmal kann der Krieg der Herzen nur gewonnen werden, wenn einer sich ergibt…

Autorin

Susan Elizabeth Phillips ist eine der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Romane erobern jedes Mal auf Anhieb die Bestsellerlisten in Deutschland, England und den USA. »Mitternachtsspitzen« ist ihr erster eigenständig verfasster Roman. 1984 erschienen, hat Susan Elizabeth Phillips 2001 diese frühe historische Liebesgeschichte völlig neu überarbeitet.

 

Susan Elizabeth Phillips

Mitternachtsspitzen

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Beate Darius

blanvalet

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Just Imagine« bei Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers Inc., New York.

»Just Imagine« ist in anderer Form bereits 1984 unter dem Titel »Risen Glory« bei Dell Publishers erschienen. Die hier vorliegende, erstmalige Übersetzung ins Deutsche bezieht sich auf »Just Imagine«.

Deutsche Erstveröffentlichung November 2006 bei Blanvalet, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHCovergestaltung: bürosüdTKL/MD · Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-10751-2V005

www.blanvalet-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorinLiebe Leser und Leserinnen,WidmungErster Teil - Ein reizender Stallbursche
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4
Zweiter Teil - Ein Templeton-Mädchen
Kapitel 5Kapitel 6
Dritter Teil - Eine Südstaaten-Lady
Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14
Vierter Teil - Katharine Louise
Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21
Copyright

Liebe Leser und Leserinnen,

in den letzten Jahren habe ich unzählige Briefe erhalten, die sich nach meinem historischen Liebesroman Risen Glory erkundigten. Dieser 1984 erstmals veröffentlichte Roman war mein erstes Soloprojekt und ist seit langem nicht mehr lieferbar. Ihr, liebe Leser im In- und Ausland habt Euch darüber immer wieder beklagt und nach diesem Leseerlebnis gejammert – doch, doch, ich habe eindeutig Jammern gehört. Jetzt gibt es endlich gute Nachrichten: Risen Glory ist wieder da, vollständig überarbeitet und mit einem neuen englischen Titel, Just Imagine. Und er ist endlich auf Deutsch zu lesen unter dem schönen Titel Mitternachtsspitzen.

Wie viele von euch Lesern begegnete ich der faszinierenden Welt der romantischen Literatur erstmals durch die abenteuerlichen historischen Liebesromane aus den späten 70ern und frühen 80ern. Diese leidenschaftlichen, sexy, bezaubernd altmodischen und politisch völlig unkorrekten Geschichten über düstere starke Helden und freche Heldinnen fesselten mich. Sie zeigten eine Welt, in der den Männer alle Türen offen standen, und die einzigen Rechte, die eine Frau hatte, musste sie sich hart erkämpfen. Aber dennoch siegten die Frauen – immer! Wenn das nur im wahren Leben auch so wäre.

Dieses Buch zu überarbeiten war eine nostalgische Reise für mich. Als ich es schrieb, war ich eine junge Mutter, die mühsam versuchte, ein paar Stunden an ihrer tragbaren Schreibmaschine unter ihre vielen Kinderpflichten zu schmuggeln. Das hat sich seitdem geändert, und auch meine Geschichten sind ganz andere geworden. Dennoch fand ich viele Gemeinsamkeiten. Denn von Anfang an liebte ich starke Figuren, echte Emotionen, viel Humor und natürlich sinnliche Leidenschaft!

Kommen Sie doch einfach mit mir in eine frühere Zeit… als Männer noch echte Männer waren und Frauen dazu da, sie zu reizen!

 

Viel Spaß beim Lesen

Für meinen Mann Bill, in Liebe und Dankbarkeit

Erster Teil

Ein reizender Stallbursche

Wenn das Gewissen leise ruft: Du musst,Beteuert die Jugend: Ich kann.

Ralph Waldo Emerson

1

Dem alten Straßenverkäufer fiel der Junge spontan auf, denn er passte so gar nicht in Manhattans elegantes Bankenviertel. Kurz geschnittenes, leicht gewelltes schwarzes Haar stach schmutzstarrend unter dem verbeulten Hutrand hervor. Schmale Schultern steckten in einem flickenübersäten Hemd mit – vermutlich wegen der heißen Julitemperaturen  – aufgeknöpftem Kragen. Ein Lederriemen hielt speckige, schlotternde Reithosen in der Taille zusammen. Der Junge trug schwarze Stiefel, die viel zu lang schienen für den schmächtigen Kerl, und unter dem Arm ein sperriges Bündel.

Der Straßenhändler lehnte sich über den mit Leckereien gefüllten Karren und beobachtete die zerlumpte Gestalt, die sich wild entschlossen durch die gut gekleideten Börsenmakler und Bankangestellten schob. Der alte Mann war ein aufmerksamer Zeitgenosse, und der Junge interessierte ihn.

»He, du da, ragazzo. Komm, ich hab ein Pastetchen für dich. Zart wie der Kuss eines Engels. Na, komm schon.«

Der Bursche riss den Kopf hoch und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Tabletts mit den frisch gebackenen Köstlichkeiten. Der Händler konnte sich lebhaft vorstellen, dass er im Geiste durchrechnete, ob er sich dergleichen leisten könnte. »Komm, ragazzo. Ich geb dir eins aus.« Er hielt ihm ein großes Apfeltörtchen hin. »Betrachte es als Geschenk eines alten Mannes an einen Neuankömmling in dieser Weltmetropole.«

Herausfordernd die Daumen in den Hosenbund gesteckt, schlenderte der Junge zu dem Karren. »Wie kommen Sie darauf, dass ich neu hier bin?«

Sein Akzent war so weich wie der Duft des Jasmins, der auf den Baumwollfeldern in Carolina blühte. Der Alte verkniff sich ein Grinsen. »Na ja, war nur so ’ne blöde Idee von mir.«

Schulterzuckend trat der Junge irgendwelchen Unrat in die Straßenrinne. »Ich hab’s weder abgestritten noch zugegeben.« Er deutete mit einem schmutzigen Finger auf den Kuchen. »Was soll’s denn kosten?«

»Hab ich nicht eben gesagt, dass es ein Geschenk von mir ist?«

Nach kurzem Überlegen nickte der Junge und streckte die Hand aus. »Na, dann vielen Dank.«

Als er das Törtchen nahm, traten zwei Geschäftsleute in Gehröcken und Zylindern an den Karren. Der Blick des Jungen glitt verächtlich über die teuren goldenen Taschenuhren, zusammengerollten Schirme und auf Hochglanz polierten Schuhe. »Verdammte Yankees«, murrte er.

Die Männer waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie es nicht mitbekamen, doch der Alte runzelte die Stirn. »Wie es scheint, gefällt dir meine Stadt nicht besonders, hm? Bis vor drei Monaten hatten wir Krieg. Unser Präsident ist tot. Die Menschen sind immer noch tief betroffen.«

Der Junge hockte sich auf den Karrengriff, um den Kuchen zu verspeisen. »Hab nie viel von diesem Mr. Lincoln gehalten. Er war mir zu infantil.«

»Infantil? Madre di Dio! Was bedeutet denn das?«

»Kindisch.«

»Und woher kennt ein Junge wie du solche Begriffe?«

Der Junge legte zum Schutz vor der Nachmittagssonne eine Hand über die Augen und blinzelte den Alten an: »Ich lese viel. Und diesen speziellen Begriff hab ich von Mr. Ralph Waldo Emerson, den ich sehr bewundere.« Genüsslich knabberte er den Rand des Törtchens ab. »Als ich anfing, seine Essays zu lesen, wusste ich freilich nicht, dass er ein Yankee ist. War mordswütend, als ich es herausfand. Aber was soll’s. Da war ich bereits ein glühender Anhänger von ihm.«

»Dieser Mr. Emerson. Was meint er denn so?«

Der Junge schleckte mit seiner rosafarbenen Zunge ein Stück Apfel von dem schmutzstarrenden Zeigefinger. »Er redet von Charakter und Selbstvertrauen. Ich denke, Selbstvertrauen ist das Wichtigste für einen Menschen, was meinen Sie?«

»Ich für meinen Teil finde Gottvertrauen am allerwichtigsten.«

»Ich halt nicht mehr viel von Gott oder von Jesus. Früher mal ja, aber ich denke, ich hab in diesen letzten Jahren zu viel Schreckliches miterlebt. Musste tatenlos zuschauen, wie die Yankees unser Vieh abschlachteten und unsere Scheunen abfackelten. Und wie sie meinen Hund Fergis erschossen. Sah, wie Mrs. Lewis Godfrey Forsythe an einem Tag ihren Mann und ihren Sohn Henry verlor. Manchmal komme ich mir steinalt vor.«

Der Straßenhändler sah sich den Jungen genauer an. Das kleine, herzförmige Gesicht. Mit der vorwitzigen Stupsnase. Ein Jammer, dass das Leben diese hübschen, unschuldigen Züge alsbald verhärten würde. »Und wie alt bist du, ragazzo? Elf? Zwölf?«

Unvermittelt spiegelte sich Misstrauen in den dunklen, faszinierend lavendelblauen Augen. »Alt genug, schätz ich.«

»Wo sind denn deine Eltern?«

»Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Mein Dad ist vor drei Jahren in der Schlacht von Shiloh gefallen.«

»Und du, ragazzo? Was treibt dich nach New York?«

Der Junge schob sich den letzten Bissen Apfelkuchen in den Mund, stopfte sich das Bündel wieder unter den Arm und sprang auf. »Ich muss weiter, Sir. Vielen Dank für den Kuchen. War echt nett, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er lief los, drehte sich aber nach ein, zwei Schritten noch einmal um. »Und damit Sie’s wissen… Ich bin gar kein Junge. Und ich heiße Kit.«

 

Während Kit stadteinwärts zum Washington Square strebte  – die Wegbeschreibung hatte sie von einer Dame auf der Fähre bekommen –, rückte sie sich insgeheim den Kopf zurecht. Was musste sie dem Alten auch ihren Namen auf die Nase binden? Als angehende Mörderin durfte sie damit unter gar keinen Umständen hausieren gehen. Na ja, im Grunde genommen war es gar kein Mord. Sondern höhere Gerechtigkeit, auch wenn die Yankee-Gerichte es bestimmt anders sehen würden, sofern man sie jemals aufgriff. Am besten hielt sie künftig die Klappe, dann kam vielleicht nie heraus, dass Katharine Louise Weston von der Plantage Risen Glory aus dem jämmerlich zerstörten Rutherford, South Carolina, jemals einen Fuß in dieses unsägliche New York gesetzt hatte.

Sie umklammerte das Bündel fester. Darin befanden sich der Armeerevolver ihres Vaters, die Rückfahrkarte nach Charleston, eine Erstausgabe von Emersons Essays, Wechselgarderobe und ein bisschen Geld für den Aufenthalt. Kit hätte die Sache am liebsten so schnell wie möglich hinter sich gebracht und schnurstracks die Heimreise angetreten, allerdings war ihr klar, dass sie diesen miesen Yankee zunächst genauer unter die Lupe nehmen musste. Ihn umzubringen war eine Sache. Nicht geschnappt zu werden eine andere.

Mit Charleston, der einzigen größeren Stadt, die sie bislang kannte, war New York nicht annähernd vergleichbar. Als sie durch die geschäftig lauten Straßen lief, gestand sie sich selbst ein, dass es hier einiges Sehenswerte gab. Wunderschöne Kirchen, elegante Hotels, Warenhäuser mit spiegelblanken Marmorböden. Der Krieg, der im Süden gewütet hatte, schien an dieser Stadt spurlos vorübergegangen zu sein. Gleichwohl war sie viel zu verbittert, um ihre Umgebung zu genießen. Wenn es einen Gott gibt, überlegte sie zähneknirschend, dann möge Er bitte schön dafür sorgen, dass William T. Shermans Seele in der Hölle schmort!

Tief in Gedanken, stieß sie mit einem Angestellten zusammen, der es eilig hatte, nach Hause zu kommen. »He, pass doch auf, Junge!«

»Passen Sie doch selber auf«, schnaubte sie. »Und außerdem bin ich kein Junge!« Aber der Mann war schon um die nächste Ecke verschwunden.

Waren denn alle blind? Seit sie Charleston verlassen hatte, hielten die Leute sie für einen Jungen. Sie fand das zwar dämlich, aber es hatte auch seine Vorteile. Ein allein reisender Junge erregte nämlich viel weniger Aufsehen als ein Mädchen. Zu Hause passierten ihr solche Verwechslungen allerdings nie. Dort kannte man Kit von Geburt an und wusste inzwischen, dass sie mädchenhaftes Gehabe nicht ausstehen konnte.

Aber alles änderte sich rasend schnell. South Carolina. Rutherford. Risen Glory. Ja, sogar sie selbst. Der alte Mann hatte sie für ein Kind gehalten, wenn der wüsste! Sie war achtzehn, mithin eine junge Frau. Ihr Körper selbst erinnerte sie dummerweise ständig daran, was sie mental nicht wahrhaben wollte. Sie empfand ihr Alter und ihr Geschlecht eher als lästiges Übel, und genau wie ein Pferd vor einem zu hohen Hindernis scheute Kit vor der Akzeptanz ihrer eigenen Person.

Sie erspähte einen Polizisten und klemmte sich vorsichtshalber hinter eine Gruppe von Arbeitern. Kuchen hin oder her, sie war immer noch hungrig. Und müde. Sie sehnte sich nach Risen Glory zurück. Dort könnte sie jetzt auf den Obstbäumen herumklettern oder fischen gehen oder mit Sophronia in der Küche plaudern. Sie schob die Finger in die Hosentasche und umschloss ein Stück Papier. Gottlob war es noch da, obschon die darauf notierte Adresse auch in ihrem Gedächtnis eingebrannt war.

Bevor sie sich einen Schlafplatz suchte, wollte sie dort unbedingt noch vorbeigehen. Vielleicht erhaschte sie einen Blick auf den Mann, der all das in Gefahr brachte, was sie liebte. Und dann würde sie das tun, was kein Soldat im gesamten Heer der Konföderierten Staaten von Amerika geschafft hatte. Nämlich ihren Revolver ziehen und Major Baron Nathaniel Cain kurzerhand erschießen.

 

Baron Cain war ein ungeheuer anziehender Mann, aschblond, mit markanten Zügen und stahlgrauen Augen, was seinem Gesicht den verwegenen Anstrich eines Lebemannes verlieh. Und er langweilte sich. Zugegeben, Dora Van Ness war schön und begehrenswert, trotzdem bereute er seine Einladung zum Dinner. Er war nicht in der Stimmung für ihr oberflächliches Geplapper. Zweifellos war sie zum Äußersten bereit, was ihn aber nicht davon abhielt, genießerisch seinen Brandy zu schlürfen. Frauen hatten sich seinen Wünschen zu fügen und nicht umgekehrt, und einen alten Brandy kippte man nicht einfach so hinunter.

Der frühere Besitzer des Hauses hatte einen gepflegten Weinkeller besessen, alle Achtung. Inzwischen waren dessen Inhalt sowie das Anwesen an Cain übergegangen, seinen eisernen Nerven und einem Royal Flash sei Dank! Er nahm einen Zigarillo aus dem hölzernen Humidor, den die Haushälterin auf den Tisch gestellt hatte, schnitt das Ende ab und zündete ihn an. Ein paar Stunden später wurde er in einem der exklusiven New Yorker Clubs zu einem hochkarätigen Pokerspiel erwartet. Aber vorher wollte er noch Doras erotische Reize auskosten.

Als er sich im Sessel zurücklehnte, bemerkte er, wie sie seinen rechten Handrücken mit der entstellenden Narbe fixierte. Es war eine von vielen, die er sich im Krieg zugezogen hatte, aber dergleichen fand sie wohl erregend.

»Ich glaube, du hast mir den ganzen Abend nicht zugehört, Baron.« Sie befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen und lächelte lasziv.

Er hatte Erfolg bei Frauen, obwohl ihm sein Aussehen herzlich egal war. Cain sah es eher so, dass er sein Gesicht von einem willensschwachen Vater geerbt hatte und von einer Mutter, die für jeden Mann, der ihr gefiel, die Beine breit gemacht hatte.

Mit vierzehn hatte er zum ersten Mal gemerkt, dass das andere Geschlecht ihn anhimmelte. Damals hatte ihm das geschmeichelt. Inzwischen, gut zwölf Jahre später, fand er es nur noch lästig. »Natürlich habe ich dir zugehört. Du hast mir sämtliche Gründe aufgezählt, warum ich für deinen Vater arbeiten sollte.«

»Er ist sehr einflussreich.«

»Ich habe bereits eine Beschäftigung.«

»Also wirklich, Baron, das kann man wohl kaum als ernsthafte Beschäftigung bezeichnen. Eher als angenehmen Zeitvertreib.«

Er sah sie fest an. »Was heißt hier angenehm? Mit dem Glücksspiel verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt.«

»Aber…«

»Magst du mit mir nach oben gehen, oder soll ich dich lieber nach Hause bringen? Ich möchte dich nicht zu lange aufhalten.«

Unvermittelt war sie auf den Beinen und Minuten später in seinem Bett. Ihre vollen Brüste waren sinnlich-üppig, und er konnte gar nicht verstehen, wieso er nicht richtig in Stimmung kam.

»Tu mir weh«, flüsterte sie. »Nur ein bisschen.«

Er hatte es satt, jemandem wehzutun, zumal er im Krieg genug Schmerz und Leid mit angesehen hatte. Seine Mundwinkel zuckten zynisch. »Was immer die Dame wünscht.«

Später, als er allein war und sich für den nächtlichen Ausflug umgekleidet hatte, schlenderte er gedankenvoll durch die Zimmerfluchten des herrschaftlichen Anwesens, das er beim Kartenspiel gewonnen hatte. Ganz entfernt erinnerte es ihn an das Haus, in dem er aufgewachsen war.

Er war zehn gewesen, als seine Mutter weggelaufen war und ihn mit dem hochverschuldeten Vater in einem heruntergekommenen Herrenhaus in Philadelphia zurückgelassen hatte. Drei Jahre später war sein Vater gestorben. Man hatte ihn in ein Waisenhaus gebracht, von wo er gleich in der ersten Nacht getürmt war. Er kannte nur ein Ziel: Richtung Westen.

Zehn lange Jahre war Cain von einer Stadt in die nächste gezogen, hatte Vieh gehütet, Eisenbahnschienen verlegt und nach Gold gegraben, bis er zufällig feststellte, dass er ein Händchen fürs Kartenspiel hatte. Der Westen war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und brauchte gebildete Männer, allerdings hielt er die Fähigkeit des Lesens und Schreibens vor der Öffentlichkeit verborgen.

Die Frauen verliebten sich scharenweise in den gut aussehenden Jungen mit dem kantigen Profil und den rätselhaft kühlen Augen. Keine schaffte es jedoch, ihn aus der Reserve zu locken. Ihm fehlten die tiefen Gefühle, mit denen ein liebevoll behütetes Kind heranwuchs. Ob sie für immer erloschen oder nur verdrängt waren, interessierte Cain nicht weiter.

Bei Kriegsbeginn überquerte er nach zwölf Jahren zum ersten Mal wieder den Mississippi River und trat der Armee bei, aber nicht etwa um die Union zu stützen, sondern weil er ein freiheitsliebender Mensch war und ihn die Sklaverei zutiefst abstieß. Er schloss sich Grants durchgreifenden Truppen an und fiel dem General auf, als sie Fort Henry einnahmen. In Shiloh gehörte er bereits Grants Militärstab an. Zweimal entging er knapp dem Tod, bei Vicksburg und vier Monate später bei Chattanooga, als er den Missionary Ridge in einer Schlacht einnahm, die Shermans »Marsch zum Meer« überhaupt erst ermöglichte.

Ab da berichteten die Zeitungen von Baron Cain als dem »Helden vom Missionary Ridge«. Er wurde mit glühenden Worten für seinen patriotischen Einsatz gewürdigt. Nach mehreren erfolgreichen Vorstößen durch die gegnerischen Truppenlinien wurde General Grant mit den Worten zitiert: »Ich würde lieber meinen rechten Arm verlieren als Baron Cain.«

Was Grant und die Zeitungen nicht wahrnahmen, war, dass Cain für das Risiko lebte. Gefahren brachten ihm, genau wie der Sex, erst den nötigen Nervenkitzel. Vielleicht verdiente er sich den Lebensunterhalt deshalb mit dem Pokerspiel, wo er auf sein Kartenglück vertrauen musste.

Aber auch dieser Reiz ließ nach. Das Glücksspiel, die exklusiven Clubs, die Frauen – all das bedeutete ihm immer weniger. Irgendetwas fehlte in seinem Leben, aber er hatte keine Ahnung, was es war.

 

Als Kit die ihr unbekannte Stimme vernahm, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Frisches Stroh piekste ihr in die Wange, und einen kurzen Moment lang hatte sie das Gefühl, zu Hause in der Scheune von Risen Glory zu sein. Dann fiel ihr siedendheiß ein, dass diese ja abgefackelt worden war.

»Wieso gehst du nicht rein, Magnus? Du hattest einen harten Tag.« Die Stimme kam von der anderen Seite des Stalls. Tief und schroff, hatte sie absolut nicht den weichen, gedehnten Akzent ihrer Heimat.

Kit blinzelte, bemüht, in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen. Schlagartig dämmerte es ihr. Grundgütiger! Sie war in Baron Cains Scheune eingedöst.

Sie stützte sich auf einen Ellbogen auf und reckte vorsichtig den Kopf. Die Frau auf der Fähre hatte ihr den Weg nicht richtig beschrieben, und es war dunkel gewesen, als Kit das Haus endlich gefunden hatte. Sie hatte sich im Gebüsch versteckt, bis sie sich sicher wähnte. Dann war sie heimlich über die Außenmauer geklettert, um sich das Anwesen genauer anzusehen. Als sie das geöffnete Stallfenster entdeckte, war sie kurzerhand hindurchgeschlüpft. Müde und erschöpft, hatten der vertraute Geruch nach Pferden und frischem Stroh sie dummerweise dazu bewogen, in einer versteckten Ecke ein Nickerchen zu machen.

»Wollen Sie morgen auf Saratoga ausreiten?« Da war wieder diese andere Stimme, weicher und vertrauter – wie die der früheren Plantagensklaven.

»Kann sein. Wieso?«

»Die Flankenverletzung verheilt schlecht. Besser, Sie schonen die Stute noch ein paar Tage.«

»In Ordnung. Ich schau sie mir morgen an. Gute Nacht, Magnus.«

»Gute Nacht, Major.«

Major? Kits Herzschlag beschleunigte sich. Der Mann mit der tiefen Stimme war also Baron Cain! Sie kroch zum Scheunenfenster, spähte über den Sims und bekam gerade noch mit, wie er in dem hell erleuchteten Haus verschwand. Zu spät. Damit hatte sie die Chance verpasst, einen Blick auf sein Gesicht zu werfen. Ein ganzer Tag umsonst!

Sie war den Tränen nahe. Schlimmer hätte es kaum noch kommen können. Es war weit nach Mitternacht, und sie befand sich in einer ihr völlig fremden Yankee-Stadt, in der sie sich nicht auskannte. Sie schluckte trocken und versuchte sich zu konzentrieren, indem sie den verbeulten Hut tiefer in die Stirn zog. Zwecklos, sich deswegen graue Haare wachsen zu lassen. Als Erstes musste sie jedenfalls schleunigst verschwinden und sich einen anderen Schlafplatz suchen. Morgen wollte sie ihre Beobachtungen aus sicherer Entfernung wieder aufnehmen.

Ihr Bündel unter den Arm geklemmt, schlich sie sich zur Stalltür und horchte. Cain war im Haus verschwunden, aber wo war der andere, dieser Magnus? Behutsam drückte sie das Tor auf und spähte nach draußen.

Durch die Vorhänge vor den Fenstern fiel ein schwacher Lichtschein auf den Hof zwischen Stall und Kutschenverschlag. Sie glitt ins Freie und lauschte. Alles blieb still. Das Eisentor in der hohen Ziegelmauer war zweifellos verschlossen, folglich blieb Kit nichts anderes übrig, als die Mauer ein weiteres Mal zu überklettern.

Aber zunächst musste sie den ausgedehnten Hof überqueren. Nach einem skeptischen Blick zum Haus atmete Kit tief durch und rannte los.

Kaum hatte sie den schützenden Stall hinter sich gelassen, da ahnte sie auch schon, dass irgendetwas faul war. Die Nachtluft verströmte nicht mehr den würzigen Stallgeruch, stattdessen schnupperte sie eindeutig Zigarrenrauch.

Ihr Verstand raste. Sie hechtete zu der Mauer, aber die Ranke, an der sie sich hatte hochziehen wollen, entglitt ihr. Hektisch griff sie nach einer anderen, ließ das Bündel fallen und hangelte sich hoch. Dummerweise traf irgendetwas empfindlich ihren Hosenboden. Sie zappelte hilflos in der Luft herum und plumpste dann bäuchlings in den Schmutz. Spürte unsanft einen Stiefel im Kreuz.

»Na, was haben wir denn hier?«, meinte der Stiefelträger über ihr gedehnt.

Leicht benommen von dem Sturz, erkannte sie die tiefe Stimme wieder. Der Mann, der sie da eben in Schach hielt, war ihr Todfeind: Major Baron Nathaniel Cain.

Kit sah rot. Energisch stützte sie die Hände in den weichen Erdboden und wollte aufstehen, aber sein Stiefel blieb, wo er war.

»Nehmen Sie Ihren verdammten Fuß von mir runter, Sie dreckiger Sohn einer Hündin!«

»Besser nicht«, sagte er mit einer Ruhe, die sie rasend machte.

»Lassen Sie mich los! Sie lassen mich sofort los.«

»Für einen Dieb bist du ganz schön dreist.«

»Dieb!« Wütend trommelte sie mit den Fäusten in den Schmutz. »Ich hab noch nie was gestohlen. Wer was anderes behauptet, ist ein verdammter Lügner.«

»Was hast du dann in meinem Stall gemacht?«

Augenblicklich verstummte sie. Sann fieberhaft auf eine glaubwürdige Ausrede. »Ich… ich bin hergekommen, weil ich … ich gern in Ihrem Stall arbeiten würde. Weil keiner da war, hab ich ein bisschen gewartet. Darüber muss ich wohl eingeschlafen sein.«

Sein Fuß rührte sich nicht.

»A… als ich aufwachte, war es dunkel. Dann hörte ich Stimmen und hatte Angst, dass mich jemand entdecken und denken könnte, ich wollte die Pferde vergiften.«

»Wer einen Job sucht, sollte meiner Meinung nach so viel Grips haben und es an der Dienstbotentür versuchen.«

Der Meinung war Kit eigentlich auch.

»Ich bin sehr schüchtern«, versetzte sie.

Schmunzelnd nahm er den Fuß von ihrem Rückgrat. »Ich lass dich jetzt los. Aber wenn du wegläufst, passiert was, Junge.«

»Ich bin kein …« Sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. »Ich laufe nicht weg«, sagte sie stattdessen und rappelte sich auf. »Hab mir nämlich nichts vorzuwerfen.«

»Das bleibt abzuwarten, nicht wahr?«

In diesem Augenblick glitt der Mond hinter einer Wolke hervor, und Cain war plötzlich nicht mehr ein drohend aufragender Schatten, sondern ein Mensch wie sie. Kit zog scharf den Atem ein.

Er war groß, breitschultrig und schlank. Auch wenn sie dergleichen für gewöhnlich kalt ließ, musste sie einräumen, dass er ein ungemein attraktiver Mann war. Die Enden seines Binders baumelten von dem geöffneten Kragen eines weißen Frackhemds, dessen Ärmel mit kleinen Onyxmanschettenknöpfen zusammengehalten wurden. Er trug eine schwarze Hose und stand leicht breitbeinig, eine Hand lässig an die Hüfte gelegt, ein Zigarillo zwischen die Zähne geklemmt.

»Und was haben wir hier?« Er deutete mit einer Kopfbewegung zu dem Bündel, das am Fuß der Mauer lag.

»Das geht Sie einen feuchten Kehricht an!«

»Von wegen, zeig mir, was du da drin hast.«

Widerwillig zog Kit das Bündel aus dem Gesträuch und öffnete es. »Wechselgarderobe, eine Ausgabe von Mr. Emersons Essays und Daddys Pistole.« Die Rückfahrkarte nach Charleston, die sie in dem Buch versteckt hatte, ließ sie geflissentlich unerwähnt. »Nichts von Bedeutung.«

»Was macht ein Junge wie du mit Emersons Essays?«

»Ich bin ein glühender Anhänger von Ralph Waldo Emerson.«

Um seine Mundwinkel zuckte es kaum merklich. »Hast du überhaupt Geld?«

Mit gesenktem Kopf knotete sie das Bündel zu. »Klar hab ich Geld bei mir. Ich bin doch nicht blöd und fahr völlig blank in eine fremde Stadt.«

»Wie viel?«

»Zehn Dollar«, knirschte sie.

»Damit kommt man in New York nicht weit.«

Hätte er gewusst, dass sie nur drei Dollar und achtundzwanzig Cent bei sich trug, wäre er bestimmt stutzig geworden. »Ich hab doch gesagt, ich suche einen Job.«

»Ach ja, richtig.«

Der Typ wirkte verdammt furchteinflößend. Automatisch wich sie einen Schritt zurück. »Also, dann gehe ich jetzt besser.«

»Unbefugtes Eindringen ist gesetzwidrig. Vielleicht sollte ich dich besser der Polizei überstellen.«

Empört schob Kit ihr Kinn vor. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich hab nichts verbrochen.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Woher kommst du, Kleiner?«

»Aus Michigan.«

Wieso er darauf in schallendes Gelächter ausbrach, begriff Kit erst nach kurzem Überlegen. »Also gut, ertappt. Ich komme aus Alabama, aber wegen des Krieges wollte ich damit nicht unbedingt herausrücken.«

»Dann hältst du künftig besser den Mund.« Er schmunzelte. »Bist du nicht ein bisschen jung für eine Waffe?«

»Wieso? Ich kann damit umgehen.«

»Ich hab auch nichts anderes behauptet.« Er fixierte sie intensiv. »Wieso bist du von zu Hause weg?«

»Bei uns gibt’s keine Arbeit.«

»Was ist mit deinen Eltern?«

Kit wiederholte die Geschichte, die sie auch dem Straßenverkäufer erzählt hatte. Als sie fertig war, schwieg er nachdenklich. Sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben.

»Mein Stallbursche hat letzte Woche aufgehört. Hast du Lust, für mich zu arbeiten?«

»Für Sie?«, murmelte sie matt.

»Ganz recht. Du befolgst die Anweisungen meines Aufsehers Magnus Owen. Ach, übrigens, er hat nicht deine lilienweiße Haut. Sollte das deinen Südstaatenstolz kränken, sagst du es besser gleich, dann hat sich die Sache nämlich erledigt.« Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort: »Du kannst über den Stallungen schlafen und in der Küche essen. Dein Lohn beträgt drei Dollar die Woche.«

Sie trat mit ihrer abgewetzten Stiefelspitze nach einem Steinchen. Überlegte krampfhaft. Eins stand jedenfalls fest: Dieser Baron Cain ließ sich nicht so ohne weiteres umpusten. Erschwerend kam hinzu, dass er seine Mörderin jetzt kannte. Wenn sie für ihn arbeitete, war sie dicht in seiner Nähe, andererseits machte es ihre Mission umso gefährlicher.

Seit wann schreckten Gefahren sie ab?

Sie stopfte die Daumen in den Hosenbund. »Legen Sie noch zwei Dollar drauf, Yankee, und Sie haben einen neuen Stallburschen.«

 

Ihr Verschlag über dem Stall roch angenehm nach Pferden, Leder und Heu. Er war gemütlich möbliert mit einem weichen Bett, einem Schaukelstuhl aus Eichenholz und einem zerschlissenen Teppich. Die Waschschüssel auf dem Eisengestell würdigte Kit keines Blickes. Gottlob gab es auch ein Fenster, das die Rückseite des Hauses überblickte. Ungemein praktisch für ihre weiteren Beobachtungen.

Sie wartete, bis Cain im Haus verschwunden war, dann zog sie rasch die Stiefel aus und schlüpfte ins Bett. Trotz der kleinen Siesta im Stall war sie rechtschaffen müde. Dennoch konnte sie nicht sofort einschlafen. Stattdessen sinnierte sie, wie ihr weiteres Leben wohl ausgesehen hätte, wenn ihr Daddy damals, als sie acht Jahre alt war, nicht nach Charleston gefahren wäre. Ihr Vater war nicht davon abzubringen gewesen, wieder zu heiraten.

Für Garrett Weston war es Liebe auf den ersten Blick, als er Rosemary kennen lernte, obschon sie älter war als er und schon einiges von ihrer blonden Schönheit eingebüßt hatte. Sie machte auch kein Hehl daraus, dass sie Kinder nicht ausstehen konnte. Als er Rosemary nach der Trauung auf die Plantage Risen Glory brachte, hatte sie die kleine Kit kurzerhand in einen Verschlag neben den Sklavenquartieren verbannt. Wo sie dann auch blieb.

Mit schallenden Ohrfeigen und schmerzhaften Knuffen hatte Rosemary die Kleine aus dem Haus gescheucht, bis sie sich nur noch heimlich in die Küche stahl. Selbst der sporadische Unterricht, den sie von einem Lehrer aus der Nachbarschaft erhielt, fand in dem Verschlag statt.

Garrett Weston war nicht unbedingt das, was man einen liebevollen Vater nennt. Er schien gar nicht zu merken, dass sein einziges Kind schlechter behandelt wurde als die Kinder der Sklaven. Er hatte nur Augen für seine begehrenswert sinnliche Frau.

Die Nachbarn empörten sich. Dieses Kind verwahrlost! Schlimm genug, dass dieser infame Garrett Weston sich so wenig um die Kleine kümmert, aber er kann dieses Mädchen doch nicht wie einen zerlumpten Jungen herumlaufen lassen.

Rosemary Weston interessierten weder die Nachbarn noch die guten Ratschläge, dass Kit eine Gouvernante bräuchte oder wenigstens angemessene Kleidung. Schließlich nahmen sich einige Dorfbewohnerinnen persönlich Kits an, indem sie das Mädchen mit den abgelegten Kleidern ihrer Töchter ausstaffierten und ihr damenhaft schickliches Benehmen einimpften. Darauf konnte Kit gut verzichten. Kurz entschlossen nähte sie aus den Kleidern Hosen und Jungenhemden. Mit zehn konnte sie schießen, fluchen, im Herrensitz reiten, und sie hatte schon heimlich geraucht.

Nachts, wenn sie sich grässlich einsam und allein gelassen fühlte, baute sie sich mental damit auf, dass dieses neue Leben für ein abenteuerlustiges, junges Mädchen auch Vorzüge bot. Sie konnte auf Bäume klettern, wann immer sie Lust dazu hatte, und sich an den Seilen in der Scheune hin und her schwingen. Die Dorfburschen brachten ihr Reiten und Fischen bei. Bevor ihre Stiefmutter morgens aufwachte, schlich sie sich heimlich in die Bibliothek und holte sich dort die heiß geliebten Bücher. Und wenn sie sich das Knie aufschlug oder sich einen Splitter in den Fuß trat, rannte sie Trost suchend zu Sophronia in die Küche.

Der Krieg änderte alles. Die ersten Schüsse fielen einen Monat vor ihrem vierzehnten Geburtstag in Fort Sumter. Wenig später überließ Garrett Weston seiner Frau Rosemary die Verwaltung der Plantage und schloss sich der Konföderiertenarmee an. Da Kits Stiefmutter nie vor elf Uhr morgens aufstand und das Landleben zudem verabscheute, verfiel Risen Glory zusehends. Kit versuchte nach Kräften, den Platz ihres Vaters einzunehmen, aber mit dem Krieg wurde der Markt für Baumwolle unrentabel. Und sie war zu jung, um sich um alles kümmern zu können.

Die Sklaven liefen ihnen davon. Garrett Weston fiel in der Schlacht von Shiloh. Tief bestürzt erfuhr Kit, dass er die Plantage seiner Frau vermacht hatte. Kit hatte ein paar Jahre zuvor einen Treuhandfonds von ihrer Großmutter geerbt, aber Geld bedeutete ihr nichts.

Nicht lange darauf marschierten Yankee-Soldaten durch Rutherford und brannten alles nieder. Rosemary bandelte mit einem attraktiven, jungen Leutnant aus Ohio an. Der Umstand, dass sie ihn häufiger in ihr Schlafzimmer einlud, vermochte zwar das Wohnhaus von Risen Glory vor den Flammen zu retten, nicht aber die Wirtschaftsgebäude. Bald nach Lees Kapitulation in Appomatox starb ihre Stiefmutter im Gefolge einer Grippeepidemie.

Kit hatte alles verloren. Den Vater, die Kindheit, ihre Lebensperspektive. Nur der Grundbesitz existierte noch. Risen Glory. Und das war das Wichtigste überhaupt, sagte sie sich, als sie sich auf der dünnen Matratze über dem Stall von Baron Cain zusammenkuschelte. Koste es, was es wolle – sie würde die Plantage zurückbekommen.

In glühenden Farben malte sie sich aus, wie es wäre, wenn Risen Glory endlich ihr gehörte. Darüber schlief sie schließlich ein.

 

Im Stall standen zwei Kutsch- und zwei Reitpferde, wie Kit am nächsten Morgen feststellte. Als sie an den Boxen vorbeischlenderte, reckte ein prachtvoller Hengst seinen langen, schlanken Hals und stupste sie zutraulich an der Schulter. Ihre Anspannung ließ ein wenig nach. Es würde alles gut werden. Sie musste nur die Augen offen halten und Zeit gewinnen. Baron Cain war zwar gefährlich, aber sie hatte einen Vorteil: Sie kannte ihren Gegner.

»Er heißt Apollo.«

»Was?« Als sie herumwirbelte, bemerkte sie hinter der halb geöffneten Stalltüre einen jungen Mann mit schokoladenbrauner Haut und großen, ausdrucksvollen Augen. Er war Anfang bis Mitte zwanzig, groß, mit schmalen Schultern und leicht untersetzt. Ein schwarzweiß gefleckter Mischlingshund wartete geduldig darauf, ausgeführt zu werden.

»Der Hengst da. Er heißt Apollo und ist das Lieblingspferd vom Major.«

»Was Sie nicht sagen.« Kit öffnete die untere Torhälfte und trat zu ihm ins Freie.

Der junge Mann musterte sie kritisch, während sie von der Promenadenmischung beschnüffelt wurde. »Ich bin Magnus Owen. Der Major sagt, er hat dich gestern Abend eingestellt, nachdem du hier im Stall herumspioniert hast.«

»Ich hab nicht spioniert. Nein, also wirklich nicht. Ihr Major ist verdammt misstrauisch, das ist alles.« Sie deutete auf den Mischling. »Ist das Ihr Hund?«

»Ja. Ich nenn ihn Merlin.«

»Ist bestimmt kein guter Wachhund.«

Magnus runzelte verärgert die Augenbrauen. »Wie kommst du denn darauf, Junge? Du kennst meinen Hund doch gar nicht!«

»Ich hab gestern Nachmittag da oben auf dem Heuboden geschlafen. Wenn Merlin ein guter Wachhund wäre, hätte er bestimmt angeschlagen.« Kit bückte sich und kraulte den Hund abwesend hinter den Ohren.

»Merlin war gestern Nachmittag gar nicht hier«, erwiderte Magnus. »Er war bei mir.«

»Na gut, dann war ich eben vorschnell mit meinem Urteil. Die Yankees haben meinen Hund erschossen. Fergis war der beste Hund, den man sich vorstellen kann. Ich trauere ihm immer noch nach.«

Magnus’ Miene wurde etwas milder. »Wie heißt du?«

Nach kurzem Überlegen beschloss sie, bei ihrem richtigen Vornamen zu bleiben. Hinter Magnus erspähte sie eine Dose mit Finney’s Lederfett. »Kit. Kit Finney.«

»Ziemlich lustiger Name für einen Jungen.«

»Meine Eltern waren große Bewunderer von Kit Carson, dem Indianerkämpfer.«

Magnus, der sich mit ihrer Erklärung zufriedenzugeben schien, begann ihr sämtliche Aufgaben zu erklären. Nachher gingen sie zum Frühstück in die Küche, wo er ihr die Haushälterin Mrs. Simmons vorstellte.

Edith Simmons war eine resolute Frau mit dünnem, grau meliertem Haar und unverrückbaren Standpunkten. Für den Vorbesitzer hatte sie als Köchin und Haushälterin gearbeitet. Bei Baron Cain war sie nur geblieben, weil er Junggeselle war und sie sich von keiner Ehefrau etwas sagen lassen musste. Edith legte Wert auf Sparsamkeit, gutes Essen und Sauberkeit. Sie und Kit waren natürliche Feinde.

»Der Junge ist ja völlig verdreckt. So kann er nicht mit zivilisierten Menschen an einem Tisch sitzen!«

»Da kann ich Ihnen nicht widersprechen«, erwiderte Magnus.

Kit war zu ausgehungert, um lange zu protestieren. Also stapfte sie an den Küchenspülstein und spritzte sich Wasser ins Gesicht und über die Hände, verzichtete allerdings auf die Seife. Die roch mädchenhaft, und alles Weibliche war Kit verpönt.

Während sie das reichhaltige Frühstück verspeiste, beobachtete sie Magnus Owen. So zuvorkommend, wie Mrs. Simmons ihn bediente, tippte Kit darauf, dass er eine wichtige Person im Haushalt war. Das war ungewöhnlich für einen Schwarzen, noch dazu für einen so jungen Mann. Er hatte irgendetwas an sich, aber erst nach dem Frühstück fiel es ihr ein. Er erinnerte sie an Sophronia, die Köchin auf Risen Glory und den einzigen Menschen auf Erden, den Kit liebte. Beide handelten mit einer ungeheuren Selbstsicherheit.

Unvermittelt musste sie einen Anflug von Heimweh verscheuchen. Bald war sie ja wieder auf Risen Glory, um die Plantage auf Vordermann zu bringen.

Am Nachmittag, als sie mit ihrer Arbeit fertig war, setzte sie sich neben das Scheunentor in den Schatten, eine Hand auf Merlins Fell. Der Hund hatte den Kopf auf ihren Schoß gelegt und war eingeschlafen. Er rührte sich auch nicht, als Magnus kam.

»Als Wachhund ist er eine ziemliche Niete«, flüsterte sie. »Wenn Sie ein Axtmörder wären, wäre ich jetzt tot.«

Schmunzelnd hockte Magnus sich neben sie. »Zugegeben, von einem Wachhund hat er nicht viel. Aber er ist ja auch noch jung. Er war noch ein Welpe, als der Major ihn hinter dem Haus entdeckte, wo er in den Abfällen rumschnupperte.«

Kit hatte Cain an diesem Tag nur einmal zu Gesicht bekommen, als er sie schroff angewiesen hatte, Apollo für ihn zu satteln. Keine Begrüßung, kein persönliches Wort. Nicht dass sie mit seinesgleichen plaudern wollte, ihr ging es dabei mehr ums Prinzip.

Die Yankee-Zeitungen nannten ihn den Helden vom Missionary Ridge. Sie wusste, dass er in Vicksburg und in Shiloh gekämpft hatte. Womöglich hatte er sogar ihren Dad auf dem Gewissen. Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass er noch lebte, während viele tapfere konföderierte Soldaten tot waren! Zumal er ausgerechnet das bedrohte, was ihr als Einziges auf der Welt geblieben war.

»Wie lange kennen Sie den Major schon?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

Magnus zupfte einen Grashalm ab und begann darauf herumzukauen. »Seit Chattanooga. Da hat er mir das Leben gerettet und wäre beinahe selber umgekommen. Seitdem sind wir zusammen.«

Ein grässlicher Verdacht keimte in Kit auf. »Sie haben für die Yankees gekämpft, stimmt’s, Magnus?«

»Klar hab ich für die Yankees gekämpft!«

Keine Ahnung, wieso sie plötzlich so bestürzt war, vielleicht, weil sie Magnus mochte. »Sie haben mir aber doch erzählt, dass Sie aus Georgia sind. Wieso haben Sie nicht für Ihre Heimat gekämpft?«

Magnus nahm den Grashalm aus dem Mund. »Du hast vielleicht Nerven, Junge. Sitzt hier neben einem Schwarzen und fragst ihn unverblümt, wieso er nicht für die Leute kämpft, die ihn in Ketten gelegt haben. Ich war zwölf, als ich aus der Sklaverei befreit wurde. Ich ging in den Norden. Ich hatte einen Job und ging zur Schule. Aber ich war nicht wirklich frei, verstehst du das? Kein Neger in diesem Land konnte wirklich frei sein, solange seine Brüder und Schwestern Sklaven waren.«

»In erster Linie ging es in diesem Krieg gar nicht um die Sklaverei«, erklärte sie ihm nachdrücklich. »Sondern um die Frage, ob ein Staat das Recht auf Autonomie besitzt. Die Sklavenproblematik war eher nebensächlich.«

»Für dich vielleicht, weißer Junge, für mich nicht.«

Die Schwarzen reagierten immer so empfindlich, sinnierte sie. Sie stand auf und ging weg. Später, als sie die Pferde das zweite Mal fütterte, tat ihr das Gesagte leid. Immerhin hatte sie etliche hitzige Diskussionen zu diesem Thema mit Sophronia geführt.

 

Cain schwang sich mit einer geschmeidigen Eleganz, die Kit einem solchen Hünen gar nicht zugetraut hätte, von Apollos Rücken. »Rubbel ihn anständig trocken, Junge. Das Pferd darf sich auf gar keinen Fall erkälten.«Er warf Kit die Zügel zu und steuerte in Richtung Haus.

»Ich weiß selber, was ich zu tun hab«, rief sie ihm nach. »Ich brauch keinen Yankee, der mir erklärt, wie man mit einem verschwitzten Pferd umgeht.«

Sie wünschte, sie hätte das zurücknehmen können. Es war erst Mittwoch, und sie durfte nicht riskieren, gleich wieder gefeuert zu werden.

Sie hatte bereits mitbekommen, dass Mrs. Simmons und Magnus sonntags ihren freien Tag hatten. Mrs. Simmons übernachtete dann bei ihrer Schwester, und Magnus verbrachte die Nacht in irgendeinem Etablissement, das Mrs. Simmons im Beisein von Kit nicht näher umschreiben mochte. Demnach musste sie sich noch vier weitere Tage lang in Geduld fassen. Aber am Sonntagabend würde sie diesen Yankee-Bastard umbringen, der sie eben aus schiefergrauen Augen eisig musterte.

»Wenn du lieber für jemand anderen arbeiten willst, nur zu, ich finde immer einen neuen Stallburschen.«

»Hab nicht gesagt, dass ich für wen anders arbeiten will«, murrte sie.

»Dann hütest du besser deine Zunge.«

Trotzig schob sie ihr Kinn vor.

»Und noch etwas, Kit.«

»Ja?«

»Nimm gefälligst ein Bad. Die Leute beschweren sich schon darüber, wie du riechst.«

»Ein Bad!« Kit verschlug es fast die Sprache vor Wut.

Cain schien ihre Entrüstung diebisch zu freuen. »Wolltest du mir noch etwas sagen?«

Sie biss die Zähne zusammen, dachte an das hübsche, große Einschussloch, das sie ihm in den Kopf pusten würde. »Nein, Sir«, murmelte sie.

»Sorg dafür, dass die Kutsche in anderthalb Stunden vor dem Eingangsportal steht.«

Ununterbrochen fluchend führte sie Apollo über den Hof. Es würde ihr einen Mordsspaß machen, diesen Yankee abzuknallen. Was hatte es ihn zu kümmern, ob sie ein Bad nahm oder nicht? Sie hielt nichts vom Baden. Alle Welt wusste, dass einen das nur anfälliger für eine Influenza machte. Zudem müsste sie sich dann ausziehen, und sie verabscheute ihren Körper, seit sie einen Busen hatte. Das passte überhaupt nicht zu dem, was sie sein wollte.

Ein Mann.

Mädchen waren weich und schwächlich, sie dagegen stark und mutig wie ein Mann. Das durfte sie nie vergessen.

Immer noch übellaunig, hielt sie die beiden grauen Kutschpferde am Zaumzeug fest und wartete darauf, dass Cain aus dem Haus käme. Sie hatte sich ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht gespritzt und ihre Wechselgarderobe angezogen, die nicht viel sauberer war als ihre schmutzigen Sachen. Aber das war ihr völlig egal.

Als Cain die Stufen herunterkam, gewahrte er als Erstes Kits geflickte Hosen und das verwaschene blaue Hemd. Das Kind sah ja noch schlimmer aus als vorher! Nach dem, was er unter dem tief heruntergezogenen Hutrand erkennen konnte, wirkte sein Gesicht allerdings ein bisschen frischer. Er hätte ihn besser nicht eingestellt, aber offen gestanden brachte ihn der Junge seit langem wieder zum Lachen.

Leider würde der Nachmittag weniger amüsant werden. Er wünschte, er hätte Dora diese Kutschfahrt durch den Central Park rigoros ausgeredet. Bislang hatten sie eine lockere Affäre miteinander, allmählich beschlich ihn jedoch das ungute Gefühl, dass ihr eine dauerhafte Beziehung vorschwebte. Und ein Ausflug zu zweit war die Gelegenheit, ihn unter Druck zu setzen. Es sei denn, sie hätten Gesellschaft…

»Spring auf, Junge. Wird Zeit, dass du ein bisschen was von New York zu sehen bekommst.«

»Meinen Sie mich?«

Er grinste über das verblüffte Gesicht des Jungen. »Siehst du hier noch andere? Ich brauch jemanden, der sich um die Pferde kümmert.« Und der eine Einladung von Dora vereitelte, dauerhaft in den Schoß der Familie Van Ness aufgenommen zu werden.

Kit blickte in die eisgrauen Yankee-Augen, versagte sich jeden Kommentar und schwang sich auf den ledergepolsterten Sitz. Verfluchter Mist. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, aber seinen Anweisungen durfte sie sich nicht widersetzen.

Während er den Landauer sicher durch die Stadt lenkte, erklärte Cain ihr die Sehenswürdigkeiten. Kit war begeistert und vergaß ihre anfängliche Skepsis. Sie fuhren an dem berühmten Delmonico’s Restaurant vorbei und am Wallach’s Theatre, wo Charlotte Cushman in Oliver Twist spielte. Kit bestaunte die bombastischen Geschäfte und Hotels am Madison Square und weiter nördlich die eleganten Villen der Reichen.

Cain hielt vor einem dieser imposanten Prachtbauten an. »Halt die Pferde fest. Ich bin gleich zurück.«

Zunächst machte Kit das Warten nichts aus. Sie betrachtete die Häuser ringsum und die schwarz glänzenden Landauer mit den fein gekleideten Insassen. Sobald sie jedoch an das verfallene Charleston dachte, stellte sich die altvertraute Bitterkeit wieder ein.

»Ein herrlicher Tag für eine Spazierfahrt. Und ich muss dir eine höchst amüsante Geschichte erzählen.«

Kit hob den Kopf. Sie sah eine vornehme Dame mit schimmernden, blonden Locken und einem hübschen Schmollmund an Cains Arm die Treppe hinunterschweben. Ganz in erdbeerfarbene Seide gehüllt, hatte sie zum Schutz vor der Nachmittagssonne einen Schirm aus weißer Spitze aufgespannt. Ein winziges Rüschenhäubchen wippte auf ihrem Kopf. Kit verabscheute sie auf Anhieb.

Cain geleitete die Frau in die Kutsche und arrangierte ihr höflich die weit ausladenden Röcke. Kit, die ohnehin keine besonders hohe Meinung von ihm hatte, verzog spöttisch die Mundwinkel. Wenn das sein Typ war, dann war ihm wirklich nicht mehr zu helfen.

Sie setzte ihren abgewetzten Stiefel auf die Eisenstufe und schwang sich auf den Rücksitz. Die Frau riss verwundert den Kopf herum. »Baron, wer ist denn dieser Schmutzfink?«

»Wer ist hier ein Schmutzfink?« Kit sprang auf und ballte die Fäuste.

»Setz dich«, blaffte Cain.

Sie spähte zu ihm, gewahrte seine mordlustige Miene. Seufzend sank sie auf den Sitz zurück und bohrte ihre Augen in das kecke, erdbeerrot und weiß gerüschte Hütchen.

Cain steuerte die Kutsche in den geschäftigen Verkehr. »Das ist Kit, mein neuer Stalljunge, Dora. Er kümmert sich um die Pferde für den Fall, dass du durch den Park spazieren möchtest.«

Die Bänder an Doras Hut wippten aufmüpfig. »Für einen Spaziergang ist es viel zu heiß.«

Cain zuckte mit den Schultern. Dora rückte ihren Sonnenschirm zurecht und schwieg ungnädig. Im Stillen freute sich Kit, dass der Major davon keine Notiz zu nehmen schien.

Anders als die schmollende Dora plauderte Kit, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Sie strahlte mit dem herrlichen Sommernachmittag um die Wette. Wann bekäme sie je wieder Gelegenheit, sich die Schönheiten New Yorks anzusehen? Auch wenn sie dafür mit ihrem Erzfeind in einer Kutsche sitzen musste, wollte sie dieses Vergnügen in vollen Zügen auskosten.

»Das ist der Central Park.«

»Wieso zentral? Jeder Idiot sieht doch, dass er sich am Nordrand der Stadt befindet.«

»New York wächst sehr schnell«, gab Cain zurück. »Derzeit ist rings um den Park größtenteils noch unbebaute Fläche. Bis auf ein paar Hütten und Höfe. Aber nicht mehr lange, und die Stadt wird sich weiter ausdehnen.«

Als Kit sich skeptisch dazu äußern wollte, schnellte Dora auf ihrem Sitz herum und musterte sie mit einem vernichtenden Blick. Die Botschaft war eindeutig: Kit hatte bis auf Weiteres gefälligst den Mund zu halten.

Mit einem gekünstelten Lächeln wandte Dora sich erneut Cain zu und legte ihm ihre in erdbeerrote Seide gehüllte Hand auf den Arm. »Baron, ich muss dir eine ungemein witzige Geschichte von Sugar Plum erzählen.«

»Sugar… was?«

»Du weißt doch. Mein süßer, kleiner Mops.«

Kit zog eine Grimasse und lehnte sich auf dem Sitz zurück. Fasziniert beobachtete sie das Spiel von Licht und Schatten, als die Kutsche über die baumgesäumte Promenade in den Park glitt. Sie ertappte sich dabei, dass sie Doras Hütchen betrachtete. Wie in Himmelherrgottsnamen konnte jemand etwas so Albernes tragen? Und wieso klebte Kits Blick trotzdem magisch an diesem modischen Firlefanz?

Zwei elegant ausstaffierte Damen in einem schwarzen Landauer passierten ihre Kutsche. Kit bemerkte, dass sie unverhohlen zu Cain herüberstarrten. Sie schienen auf ihn zu fliegen, einfach lächerlich! Zugegeben, er wusste mit Pferden umzugehen. Aber das war für die meisten Frauen nebensächlich, sie interessierten sich mehr für das Aussehen eines Mannes.

Sie bemühte sich, ihn objektiv zu sehen. Er war verteufelt attraktiv, keine Frage. Seine Haare hatten die Farbe reifer Weizenähren und fielen ihm leicht gewellt über den Hemdkragen. Als er sich zu Dora umdrehte, hob sich sein scharf geschnittenes Profil vor dem blauen Himmel ab. Wie das eines heidnischen Kriegers – hohe Stirn, gerade Nase und energische Wangenpartie.

»… dann schob Sugar Plum das Himbeerbonbon mit der Nase weg und nahm sich stattdessen eins mit Zitronengeschmack. Ist das nicht drollig?«

Möpse und Himbeerbonbons. Die Frau war eine echte Zumutung. Kit seufzte vernehmlich.

Cain warf ihr einen schiefen Seitenblick zu. »Ist irgendwas?«

Kit wollte gewiss nicht unhöflich sein. »Ich halt nicht viel von Möpsen.«

Um Cains Mundwinkel zuckte es verräterisch. »Wie meinst du das?«

»Wollen Sie meine ehrliche Meinung hören?«

»Ich bitte darum.«

Kit warf einen verächtlichen Blick auf Doras Rücken. »Möpse sind affige Schoßhündchen.«

Cain schmunzelte.

»Dieser Junge ist einfach impertinent!«

Cain ignorierte Dora. »Du hast es mehr mit Promenadenmischungen, was, Kit? Mir ist aufgefallen, dass du oft mit Merlin zusammen bist.«

»Merlin ist mit mir zusammen und nicht umgekehrt. Ist mir auch egal, was Magnus sagt. Dieser Hund ist so nutzlos wie ein Korsett im Freudenhaus.«

»Baron!«

Cain entwich ein gedämpftes Krächzen, bevor er sich wieder fasste. »Ich darf dich daran erinnern, dass wir in Begleitung einer Dame sind.«

»Jaaa Sssir«, zischte Kit nicht unbedingt einsichtig. Die Dame konnte ja weghören, wenn ihr das Gespräch nicht passte.

»Der Junge kennt seine Grenzen nicht«, tadelte Dora. »Ich würde einen Diener rigoros vor die Tür setzen, wenn er sich derart skandalös benähme.«

»Schätze, dann hat er Glück, dass er für mich arbeitet.«

Er hatte leise gesprochen, gleichwohl verstand Dora den Seitenhieb und errötete.

Sie näherten sich dem See, und Cain straffte die Zügel. »Mein Stalljunge ist kein gewöhnlicher Diener«, fuhr er in beiläufigem Ton fort. »Er ist ein Anhänger von Ralph Waldo Emerson.«

Kit blickte von einem Schwanenpaar, das zwischen den Booten glitt, zu ihm. Ob er sich nur lustig über sie machte? Anscheinend nicht. Stattdessen legte er einen Arm über die lederne Sitzbank und drehte den Kopf zu ihr nach hinten. »Ach, übrigens, liest du auch noch andere Schriftsteller außer Mr. Emerson, Kit?«

Doras ärgerliches Aufseufzen brachte Kit so richtig in Fahrt. »Oh, ich lese alles, was ich in die Finger kriege. Ben Franklin, natürlich, aber den lesen ja auch fast alle. Thoreau, Jonathan Swift. Edgar Allan Poe, wenn ich in der entsprechenden Stimmung bin. Ich hab’s nicht so mit den Dichtern, aber sonst les ich eigentlich alles.«

»Verstehe. Vielleicht hast du die wahren Dichter nur noch nicht gelesen. Wie Walt Whitman beispielsweise.«

»Nie von dem gehört.«

»Er stammt aus New York. Hat während des Krieges im Lazarett gearbeitet.«

»Schätze, von einem Yankee-Dichter wird mir schlecht.«

Cains Augenbrauen zuckten belustigt. »Du enttäuschst mich, Kit. Ein Intellektueller wie du darf doch keine Vorurteile haben, wenn es um große Literatur geht.«

Er zog sie gnadenlos auf, und Kit sträubten sich sämtliche Nackenhaare. »Erstaunlich, dass Sie überhaupt einen Autorennamen kennen, Major. Sie sehen mir nämlich nicht so aus, als würden Sie viel lesen. Schätze, das ist bei Männern wie Ihnen so. Da steckt mehr in den Muskeln als im Hirn.«

»Eine bodenlose Frechheit!« Dora warf Cain einen »Hab ich dir ja gleich gesagt«-Blick zu.

Cain ging schweigend darüber hinweg und fixierte Kit. Der Junge hatte Nerven, das musste man ihm lassen. Er war höchstens dreizehn, also in demselben Alter, in dem Cain getürmt war. Aber aufgrund seiner Größe hatte er zu dem Zeitpunkt bereits ziemlich erwachsen gewirkt, Kit dagegen war klein, vielleicht einen knappen Meter sechzig.

Unter dem Schmutz gewahrte der Major die fein geschnittenen Züge des Jungen: das herzförmige Gesichtsoval, die kleine Nase mit dem leichten Aufwärtsschwung und die dicht bewimperten, tiefblauen Augen mit dem faszinierend violetten Schimmer. Augen, die eine Frau zu einer Schönheit machten, die aber bei einem Jungen befremdlich anmuteten – und erst recht bei einem erwachsenen Mann.

Kit hielt seinem kritischen Blick stand, wie Cain mit einer gewissen Bewunderung feststellte. Vielleicht war er wegen seines mädchenhaften Aussehens so aufsässig vorlaut. Ein auffällig hübscher Junge wie er musste sich bestimmt dauernd zur Wehr setzen.

Jedenfalls war er noch zu jung, um sich allein durchs Leben zu schlagen. Cain war klar, dass er ihn eigentlich der öffentlichen Fürsorge übergeben müsste. Allerdings war ihm der Gedanke zuwider, zumal Kit ihn an seine eigene Jugend erinnerte. Er war genauso resolut gewesen und den Leuten über den Mund gefahren, sobald er sich angegriffen gefühlt hatte. Er würde dem Jungen nichts Gutes damit tun, wenn er ihn in ein Waisenhaus steckte. Außerdem konnte der Stromer ausgezeichnet mit Pferden umgehen.

Doras Bedürfnis nach Zweisamkeit überstieg schließlich ihre Bewegungsunlust, und sie bat den Major, mit ihr zum See zu spazieren. Dort spielte sich exakt die Szene ab, die er unbedingt hatte vermeiden wollen. Persönliches Pech. Wenn er so weitermachte, würde ihm sein ungezügeltes sexuelles Verlangen irgendwann einmal das Genick brechen.

Er war froh, als sie zur Kutsche zurückkehrten, wo Kit sich mit dem Bootsverleiher und zwei grell geschminkten Liebesdienerinnen unterhielt, die vor der Arbeit noch einen kleinen Spaziergang gemacht hatten.

Der Junge war wahrlich nicht auf den Mund gefallen.

 

Am Abend, nach dem Nachtessen, fläzte Kit sich auf ihrem Lieblingsplatz vor der Scheune und tätschelte Merlins warmes Fell. Ihr geisterte immer noch durch den Kopf, was Magnus ihr vorhin über den rassigen Apollo erzählt hatte.

»Der Major wird ihn nicht mehr lange behalten wollen.«

»Und wieso nicht?«, hatte sie wissen wollen. »Apollo ist ein wunderschönes Pferd.«

»Das ganz sicher. Aber der Major hängt sich nicht an Dinge, die er mag.«

»Wie meinen Sie das?«

»Er trennt sich von seinen Pferden und seinen Büchern, bevor sie ihm zu sehr ans Herz wachsen. So ist er eben.«

Für Kit war das unvorstellbar. Genau diese lieb gewordenen Dinge gaben ihr Halt im Leben. Mag sein, dass der Major dergleichen nicht brauchte.

Sie kratzte sich unter der schäbigen Kopfbedeckung. Unwillkürlich hatte sie das rosaweiße Häubchen von Dora Van Ness wieder vor Augen. Jenes groteske Gebilde aus Schleifchen, Spitzen und Rüschen. Trotzdem verfolgte es sie. Wie sie wohl mit einem solchen Ding aussehen mochte?

War sie noch ganz bei Trost? Sie riss sich den speckigen Hut vom Kopf und schleuderte ihn zu Boden. Merlin blinzelte sie verblüfft an.

»Schau mich nicht so an, Merlin. Diese Yankees machen mich noch ganz irre. Als wenn ich nicht schon genug im Kopf hätte, schlag ich mich auch noch mit irgendwelchen bescheuerten Kappen rum!«

Merlin starrte sie aus treuen, braunen Hundeaugen an. Sie gab es nicht gern zu, aber er würde ihr fehlen, wenn sie wieder zu Hause war. Sie dachte an Risen Glory und die Arbeit, die dort vor ihr lag. Im nächsten Jahr um diese Zeit sollte die alte Plantage wieder in ihrem früheren Glanz erstrahlen.

Als sie schwieg, legte Merlin seinen Kopf wieder auf ihre Knie. Abwesend kraulte Kit seine langen, seidigen Ohren. Sie hasste diese Stadt. Hatte genug von den Yankees und den lärmenden Straßen. Sie verabscheute ihren abgewetzten Hut und vor allem, dass die Leute sie ständig für einen Jungen hielten.

Es war wie eine Ironie des Schicksals. Ihr ganzes Leben lang hatte sie alles abgelehnt, was irgendwie weiblich war, aber dass sie inzwischen überall als Junge durchging, fand sie genauso abscheulich. Oh Schreck, womöglich war sie zu einer Art Zwitterwesen mutiert.

2

Hamilton Woodward erhob sich, als Cain durch die Mahagonitüren in das private Anwaltsbüro strebte. Das also war der Held vom Missionary Ridge, der Mann, der den reichsten New Yorker Bankern das Geld aus der Tasche zog. Und erlesen gekleidet, das musste man ihm neidlos zugestehen. Die feine Nadelstreifenweste über der dunkel gemusterten Krawatte war konservativ-gediegen, der perlgraue Überzieher bestimmt Maßarbeit. Trotzdem hatte er etwas von einem Lebemann an sich. Sein Ruf war nicht der beste, und sobald er den Raum betrat, gewann man das Gefühl, von seiner Präsenz erdrückt zu werden.

Der Jurist umrundete den Schreibtisch und reichte ihm die Hand. »Angenehm, Sie kennen zu lernen, Mr. Cain. Ich bin Hamilton Woodward.«

»Mr. Woodward.« Während sie sich die Hände schüttelten, machte Cain seine eigene Bestandsaufnahme. Sein Gegenüber war mittleren Alters und korpulent. Ein kompetenter Wichtigtuer. Und vermutlich ein lausiger Pokerspieler.

Woodward deutete auf einen Ledersessel vor seinem Schreibtisch. »Verzeihen Sie, dass ich Sie so kurzfristig herbitten musste, aber die Sache geriet bedauerlicherweise etwas in Verzug und duldet keinen Aufschub mehr. Wohlgemerkt nicht durch ein Versehen meinerseits, darf ich hinzufügen. Ich erfuhr selber erst gestern davon. Ich versichere Ihnen, unsere Firma arbeitet für gewöhnlich überaus effizient. Und bei einem Mann wie Ihnen, dem wir so viel zu verdanken haben…

»In Ihrem Brief stand lediglich, dass Sie etwas äußerst Wichtiges mit mir besprechen möchten«, warf Cain ein. Er hatte eine natürliche Antipathie gegen Menschen, die seine Kriegsverdienste unbedingt an die große Glocke hängen mussten.

Woodward schob sich umständlich die Bügel einer Nickelbrille über die Ohren. »Sie sind also der Sohn von Rosemary Simpson Cain – der späteren Rosemary Weston?«

Cain hatte keinerlei Probleme, beim Pokern eine unbewegte Miene aufzusetzen, doch konnte er die widerwärtigen Emotionen kaum verbergen, die bei diesem Namen spontan in ihm aufwallten. »Ich wusste nicht, dass sie wieder geheiratet hat, aber ja, das ist der Name meiner Mutter.«

»War ihr Name, meinen Sie?« Woodward blickte von dem Dokument auf.

»Ist sie tot?«, meinte Cain ohne jede Regung.

Die feisten Wangen des Notars wackelten bedenklich. »Verzeihen Sie vielmals, ich ging davon aus, Sie seien informiert. Sie starb vor etwa vier Monaten. Meine herzliche Anteilnahme. Tut mir leid, dass ich Ihnen die Nachricht nicht schonender beigebracht habe.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich habe meine Mutter seit meinem elften Lebensjahr nicht mehr gesehen. Ihr Tod trifft mich nicht sonderlich.«

Woodward wühlte in den vor ihm liegenden Papieren. Es irritierte ihn, dass sein Mandant dermaßen unterkühlt auf den Tod der eigenen Mutter reagierte. »Ich, ähm, habe einen Brief für Sie von einem Notar aus Charleston, einem W. D. Ritter. Er verwaltet das Vermögen Ihrer Mutter.« Er räusperte sich. »Mr. Ritter bat mich, den Kontakt mit Ihnen aufzunehmen und Sie über das Testament der Verstorbenen in Kenntnis zu setzen.«

»Kein Interesse.«

»Nun ja, das bleibt abzuwarten. Vor zehn Jahren heiratete Ihre Mutter einen gewissen Garrett Weston. Er war der Besitzer von Risen Glory, einer Baumwollplantage in der Nähe von Charleston. Als er in Shiloh fiel, vermachte er die Plantage Ihrer Mutter. Vor vier Monaten starb sie an den Folgen einer Influenza. Nach meinen Informationen hat sie die Plantage Ihnen vererbt.«

Cain machte keinen Hehl aus seiner Verblüffung. »Ich hatte meine Mutter sechzehn lange Jahre nicht gesehen. Wieso sollte sie mir etwas vererben?«

»Wie gesagt, Mr. Ritter übergab mir einen Brief an Sie, den Ihre Mutter kurz vor ihrem Tod abfasste. Vielleicht erklärt das ihre Motive.« Woodward zog ein versiegeltes Kuvert aus der Mappe vor sich und schob es über den Schreibtisch.

Cain steckte den Brief ungelesen in die Jacketttasche. »Was wissen Sie über die Plantage?«

»Vor dem Krieg war sie offenbar sehr einträglich. Man müsste wohl etwas Arbeit investieren, um die Geschäfte wieder in Schwung zu bringen. Allerdings umfasst das Vermächtnis keinerlei Geldvermögen. Und dann wäre da noch die Sache mit Westons Tochter Katharine Louise.«

Diesmal machte Cain kein Hehl aus seiner Verblüffung. »Wollen Sie damit sagen, dass ich eine Halbschwester habe?«

»Nein, nein. Eine Stiefschwester. Sie sind nicht blutsverwandt. Das Mädchen ist Westons Tochter aus erster Ehe. Trotzdem kommen da gewisse Verpflichtungen auf Sie zu.«

»Inwiefern?«

»Ihre Großmutter hat ihr eine nicht unerhebliche Geldsumme vermacht, die auf einer der Banken hier im Norden hinterlegt ist. Fünfzehntausend Dollar, um genau zu sein, über die Katharine Louise mit ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag frei verfügen kann. Wenn sie vorher heiratet, natürlich schon früher. Tja, man hat Sie testamentarisch zum Treuhandverwalter bestimmt, und auch zum Vormund des Mädchens.«

»Vormund!« Cain schnellte ungehalten aus dem Ledersessel hoch.

Woodward zuckte irritiert zurück. »Was sollte Ihre Mutter sonst tun? Das Mädchen ist gerade mal achtzehn Jahre alt. Es handelt sich um ein beträchtliches Geldvermögen, und meines Wissens gibt es keine weiteren Angehörigen.«

Cain beugte sich über die Schreibtischplatte aus blank poliertem Mahagoniholz. »Ich übernehme weder die Verantwortung für ein achtzehnjähriges Mädchen noch die Verwaltung einer heruntergewirtschafteten Baumwollplantage.«

Woodwards Stimme wurde um eine Nuance schriller. »Das ist selbstverständlich Ihre Sache. Ich räume auch gern ein, dass ein Mann mit Ihrem – ähm – Unternehmungsgeist schwerlich die Vormundschaft für eine so junge Frau übernehmen kann. Wie gesagt, die Entscheidung liegt bei Ihnen. Wenn Sie nach Charleston fahren und sich dort die Plantage ansehen, können Sie Mr. Ritter Ihre endgültige Entscheidung mitteilen.«

»Ich habe mich bereits entschieden«, versicherte Cain tonlos. »Ich habe dieses Erbe nicht gewollt und nehme es auch nicht an. Schreiben Sie das bitte Mr. Ritter. Soll er sich doch einen anderen Dummen suchen.«

 

Übellaunig kehrte Cain nach Hause zurück. Dass sein Stalljunge nicht kam, um die Kutsche in Empfang zu nehmen, machte es auch nicht besser.

»He? Wo zum Teufel steckst du?« Er rief zweimal, ehe Kit angelaufen kam. »Verflucht! Wenn du für mich arbeiten willst, hast du gefälligst da zu sein, wenn ich dich brauche. Lass mich nicht noch einmal warten!«

»Erst einmal guten Tag, Sir«, grummelte Kit stattdessen.

Er ignorierte die spitze Bemerkung, sprang aus der Kutsche und lief über den Hof ins Haus. Er steuerte direkt in die Bibliothek und goss sich einen doppelten Whiskey ein. Nachdem er ihn in einem Zug geleert hatte, zog er Woodwards Brief aus der Jackentasche und brach das rote Wachssiegel.