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Die Mundgesundheit von Senioren hält aufgrund der Heterogenität dieser Patientengruppe viele Facetten für die Zahnärzteschaft und deren Teams bereit. Die zahnärztliche Behandlung wandelt sich mit zunehmender Gebrechlichkeit in eine zahnmedizinische Betreuung – eine Herausforderung, da die Ziele und damit die Behandlungskonzepte überdacht werden sollten, aber auch eine Chance, ein auf die Patientinnen und Patienten zugehendes und aufsuchendes Praxissegment variabel zu etablieren. Seniorenzahnmedizinerinnen und -mediziner mit unterschiedlichen Versorgungskonzepten berichten immer wieder, dass es sehr zufriedenstellend ist, die älteren Menschen wertschätzend zu behandeln. Das Buch soll Mut machen sowie Wege aufzeigen, wie eine aufsuchende Betreuung am besten zu starten ist und wie diese neue Struktur, in dem Praxisalltag integriert, wachsen kann.
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Seitenzahl: 694
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Ina Nitschke · Klaus-Peter Wefers · Julia Jockusch
Mobile Zahnmedizin
Die aufsuchende Betreuung
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Lektorat: Susann Lochthofen, Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin
Layout/Herstellung/Reproduktionen: Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-86867-654-9
Die Zahnmedizin ist zu Recht stolz auf den großen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt, den sie in ihrer doch kurzen akademischen Geschichte vollziehen konnte. Im Zentrum all dessen stand bislang der mobile Mensch, der unsere Hilfe an einem festen Ort, der zahnärztlichen Praxis, sucht. Die demografische Entwicklung – ganz besonders in Deutschland – beginnt diese Beziehung nun zu drehen: Immer mehr immobile, vorwiegend alte Patientinnen und Patienten benötigen eine zahnmedizinische Betreuung, die zu ihnen kommt.
Gerade weil die Altersentwicklung einer Gesellschaft leicht vorhersagbar ist, gleichzeitig aber langsam verläuft, haben engagierte Kolleginnen und Kollegen die vergangenen 30 Jahre gut genutzt, um alle Aspekte mobiler Zahnmedizin zu durchdenken, zu erproben und in gangbare Konzepte zu kleiden.
Und dann gibt es da noch etwas, was diejenigen bestätigen werden, die Zahnmedizin heute bereits mobil praktizieren: Mobile Zahnmedizin macht Spaß! Wir helfen Menschen in besonderer Not, verlassen ausgetretene Pfade und dürfen unsere medizinische Kompetenz „jenseits des Zahns“ beweisen. Gleichzeitig ist mobile Zahnmedizin ein Projekt, bei dem es auf jede und jeden ankommt. Das ist dann Teamarbeit im besten Sinne und auf Augenhöhe.
Aber die mobile Zahnmedizin ist immer nur Teil eines neuen hybriden Ansatzes. So verschieden individuelle Alterungsprozesse ablaufen, so verschieden müssen unsere zahnmedizinischen Betreuungskonzepte sein. Einige Menschen mit Pflegebedarf erreichen die zahnärztliche Praxis selbstständig, andere werden gebracht und wieder andere lassen sich nur an ihrem Wohnort betreuen. Hausbesuche können in Pflegeeinrichtungen ebenso stattfinden wie in privaten Wohnungen. Dieses Buch möchte dem zahnärztlichen Team mit breitgefächerten Informationen und Tipps als Ratgeber für den eigenen Praxisweg dienen. Antworten auf alle wichtigen Fragen werden gegeben: Wie plane und organisiere ich eine hybride Praxis, was kann und was braucht mobile Zahnmedizin, wie hilft uns die digitale Technologie?
Unser gemeinsames Ziel ist es, die vulnerablen Menschen in unserer Gesellschaft auf dem besten wissenschaftlichen Niveau versorgen zu können. Dieses Buch ist der eindrucksvolle Beleg dafür, wie gut die Zahnmedizin für diese Zukunft heute bereits aufgestellt ist. Eine Zukunft, die mit hybridem Patientenzugang Alt und Jung, selbstständig und pflegebedürftig, mobil und immobil verbindet.
Der Vorstand der DGAZ (v. l. n. r.): Christoph Benz, Dirk Bleiel, Dominic Jäger und Ina Nitschke.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir im Buch auf die gleichzeitige Verwendung männlicher, weiblicher und weiterer Geschlechterformen verzichtet. Dies impliziert keinesfalls eine Benachteiligung der jeweils anderen Geschlechter. Personen- und Berufsbezeichnungen sind daher in der Regel als geschlechtsneutral zu verstehen.
Einige Beiträge wurden in der Zeitschrift für Seniorenzahnmedizin erstveröffentlicht und sind hier aktualisiert zu lesen.
Vorwort
Autorenverzeichnis
TEIL 1
Senioren und Mundgesundheit
••••
Ina Nitschke, Siri Nitschke, Julia Jockusch, Dominik Groß
Ein zahnärztlich-ethischer Blick auf vulnerable Senioren
Ina Nitschke, A. Rainer Jordan, Siri Nitschke, Julia Jockusch
Zur Mundgesundheit von Senioren in Deutschland
Ina Nitschke, Siri Nitschke, Cornelius Haffner, Julia Jockusch
Übergänge gestalten – Die gerostomatologische Transition
TEIL 2
Pflege im zahnmedizinischen Kontext
••••
Ina Nitschke, Julia Jockusch, Siri Nitschke
Pflegebedürftigkeit
Elmar Ludwig, Ina Nitschke
Expertenstandard zur Förderung der Mundgesundheit in der Pflege
Ramona Waterkotte, Elmar Ludwig, Ina Nitschke
Berufsbilder in der Pflege
Elmar Ludwig, Ramona Waterkotte, Ina Nitschke
Mundgesundheit in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Pflege
Ina Nitschke, Siri Nitschke, Greta Barbe
Unterstützung durch Angehörige bei der Mundpflege
Elmar Ludwig
Tipps zur Mundpflege
TEIL 3
Erkrankungen im Alter und deren Einfluss auf die zahnmedizinische Versorgung
••••
Rahel Eckardt-Felmberg
Multimorbidität
Rahel Eckardt-Felmberg
Polypharmazie – Eine (zahn)medizinische Herausforderung
Rahel Eckardt-Felmberg
„Wer rastet, der rostet“ – Muskelschwund oder die unbekannte Volkskrankheit Sarkopenie
Rahel Eckardt-Felmberg
Stürze
Julia Jockusch, Florian Riese, Ina Nitschke
Demenz – das Krankheitsbild
Rahel Eckardt-Felmberg
Augenerkrankungen
Rahel Eckardt-Felmberg, Ina Nitschke
„Wie bitte?“ – Schwerhörigkeit
Sebastian Hahnel
Mundtrockenheit
Jörg Bohlender
Dysphagie
Gonzalo Baez, Dominic Jäger, Dominik Niehues
Harninkontinenz
Catherine Kempf
Tipps im Umgang mit allgemeinmedizinischen Einschränkungen
TEIL 4
Aus dem Umfeld der zugehenden und aufsuchenden Betreuung
••••
Ina Nitschke, Cornelius Haffner, Klaus-Peter Wefers
Senioren – Eine spannende Herausforderung für das Team
Ina Nitschke, Claudia Ramm, Julia Jockusch
Menschen mit Demenz – Zugehende Betreuung bei herausforderndem Verhalten
Dominic Jäger, Dominik Niehues
Vom Hauszahnarzt zum Spezialisten für SeniorenzahnMedizin
Cornelius Haffner, Doris Weitzel-Kage
Hygienemaßnahmen bei der aufsuchenden zahnärztlichen Betreuung
Cornelius Haffner
Wirtschaftlichkeit der Seniorenzahnmedizin und berufsrechtliche Aspekte
Ina Nitschke, Alexander Rinnert, Frederick Frank, Julia Jockusch, Christoph Benz
Erleichterte Kommunikation durch Digitalisierung
TEIL 5
Konzepte zur aufsuchenden Betreuung
••••
Ina Nitschke, Dirk Bleiel, Elmar Ludwig, Klaus-Peter Wefers, Siri Nitschke, Michael Weiss
Die seniorengerechte Praxis
Cornelius Haffner
„Mobile Dentist“ – Meine neue Aufgabe
Dirk Bleiel, Elmar Ludwig, Volkmar Göbel, Ina Nitschke
Drei Konzepte zum mobilen Einsatz
Klaus-Peter Wefers
Erfahrungsberichte zur Entwicklung der aufsuchenden Betreuung
TEIL 6
Rechtliche Grundlagen
••••
Christiane Simmler
Seniorenzahnmedizin im Zivilrecht: Arzthaftung
Bernhard Brückmann
Seniorenzahnmedizin im Zivilrecht: Betreuungsrecht
Thomas Einfeldt
Was können Zahnärztekammern und Kassenzahnärztliche Vereinigungen für Pflegebedürftige und Zahnärzte tun?
TEIL 7
Weiterführende Informationen zur Seniorenzahnmedizin
••••
Klaus-Peter Wefers, Ina Nitschke
Partner in der Seniorenzahnmedizin
Ina Nitschke, Klaus-Peter Wefers, Elmar Ludwig, Julia Jockusch
Definitionen
Formularkompass
Fachgesellschaften und Institutionen
Literaturverzeichnis
Sachregister
Dr. med. dent. (Universität Chile, Santiago de Chile)Gonzalo BaezMitglied der DGAZE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Christoph BlumFachzahnarzt für OralchirurgieMitglied der DGAZE-Mail: [email protected]
Priv.-Doz. Dr. med. Dr. med. dent. Greta BarbeSpezialistin für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Prof. Dr. med. dent. Christoph BenzVizepräsident der DGAZSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Dirk BleielSchatzmeister der DGAZSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Priv.-Doz./Klin.-Doz. Dr. med. Jörg E. BohlenderFacharzt für Phoniatrie und HNOPräsident der Schweizerischen Gesellschaft für DysphagieE-Mail: [email protected]
Bernhard BrückmannVizepräsident des Amtsgerichts Berlin-CharlottenburgE-Mail: [email protected]
Linda ColettaDipl. dent. med.Spezialistin für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. Rahel Eckardt-FelmbergChefärztin für GeriatrieE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Thomas EinfeldtMitglied der DGAZSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Guido ElsäßerMitglied der DGAZE-Mail: [email protected]
Michael FechnerZahnarztSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. Kerstin Finger, M.A.DGAZ-Landesbeauftrage für BrandenburgSpezialistin für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Frederick FrankSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Volkmar GöbelMitglied der DGAZE-Mail: team@praxis-für-alterszahnmedizin.de
Prof. Dr. mult. Dominik GroßDirektor Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin RWTH AachenE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Cornelius HaffnerDGAZ-Landesbeauftragter für BayernSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Prof. Dr. med. dent.Sebastian HahnelSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dominic Jäger, M.Sc.Schriftführer der DGAZSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Julia Jockusch, M.Sc.Spezialistin für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Prof. Dr. med. dent.A. Rainer Jordan, M.Sc.Wissenschaftlicher DirektorInstitut der Deutschen Zahnärzte (IDZ)E-Mail: [email protected]
Dr. med. Catherine KempfFachärztin für AnästhesiologieE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Elmar LudwigMitglied der DGAZE-Mail: [email protected]
Dominik Niehues, M.Sc.Fachzahnarzt für OralchirurgieSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Prof. Dr. med. dent. Ina Nitschke, MPHPräsidentin der DGAZSpezialistin für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Siri Nitschke, ZTMMitglied der DGAZE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Claudia RammDGAZ-Landesbeauftragte für Schleswig-HolsteinSpezialistin für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. Florian RieseFacharzt für Pharmazeutische MedizinE-Mail: [email protected]
Alexander RinnertZahnarztE-Mail: [email protected]
Dr. jur. Christiane SimmlerVorsitzende Richterin am Kammergericht BerlinE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent.Hansmartin SpatzierSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Ramona WaterkotteZFA, Altenpflegerin,Pflegedienstleitung,B.A. Sozialpädagogik und SoziologinE-Mail:[email protected]
Dr. med. dent.Klaus-Peter Wefers, MHBAGeneralsekretär der DGAZGründungspräsident der DGAZSpezialist für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Ilse WeinfurtnerDGAZ-Landesbeauftragte für Westfalen-LippeSpezialistin für SeniorenzahnmedizinE-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Michael Weiss, ZTMMitglied der DGAZE-Mail:[email protected]
Dr. med. Doris Weitzel-KageFachärztin für Hygiene und UmweltmedizinE-Mail: [email protected]
Torben WenzZahnarztMitglied der DGAZE-Mail: [email protected]
•••• Ina Nitschke, Siri Nitschke, Julia Jockusch, Dominik Groß
Ein zahnärztlich-ethischer Blick auf vulnerable Senioren
•••• Ina Nitschke, A. Rainer Jordan, Siri Nitschke, Julia Jockusch
Zur Mundgesundheit von Senioren in Deutschland
•••• Ina Nitschke, Siri Nitschke, Cornelius Haffner, Julia Jockusch
Übergänge gestalten – Die gerostomatologische Transition
Der Anteil der Senioren an der Gesamtbevölkerung steigt. Der demografische Wandel, welcher auch im Alltag immer deutlicher wahrzunehmen ist, macht auch nicht Halt vor der zahnärztlichen Praxis. Viele im Gesundheitswesen Tätige sollten sich in ihrem Arbeitsalltag zunehmend auf die sehr heterogene Patientengruppe der Senioren einstellen. Aufgrund der guten Präventionsmaßnahmen der letzten Jahrzehnte verfügen heutige Betagte und Hochbetagte – verglichen mit früheren Generationen – oft bis ins hohe Alter über eine bessere allgemeine und orale Gesundheit. Dennoch gibt es innerhalb der Gruppe der Senioren viele vulnerable Hochbetagte, die in hohem Maße die besondere Aufmerksamkeit des Zahnarztes und seines Teams benötigen; aus der zahnärztlichen Behandlung wird eine umfassende zahnmedizinische Betreuung dieser Patientengruppe (Nitschke et al. 2017c). Mit einer verbesserten oralen Gesundheit und immer mehr eigenen Zähnen wandelten sich auch die primär vorherrschenden Versorgungskonzepte. Sinkende Zahnverluste führen zur Verringerung der Eingliederung von Totalprothesen, immer mehr partieller Zahnersatz mit oder ohne die Unterstützung von Implantaten wird angepasst. Der Anteil von Versorgungen mit festsitzendem Zahnersatz steigt. Die Wahl des Therapiemittels im hohen Alter wird jedoch oft durch die individuellen Faktoren des einzelnen Patienten erschwert. Abnehmbarer Zahnersatz wird später eingegliedert und die Adaptation an die neuen Prothesen ist dann oft verlängert. Zahnmediziner, ihre Teams und auch die Zahntechniker stehen zunehmend vor neuen Herausforderungen.
Die demografischen Veränderungen in Deutschland werden in vielen Bereichen sichtbar. So zeigt ein Blick auf den Altenquotient (siehe Kapitel Definitionen), der das Verhältnis der Personen im Rentenalter (Anzahl der derzeit 65-Jährigen und Älteren) zu 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre) abbildet, diesen Wandel. Die Ergebnisse der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung zeigen, dass der Altenquotient unabhängig vom gewählten Entwicklungsszenario bis 2038 stetig ansteigen und damit die mögliche Belastung der erwerbstätigen Bevölkerung bis Ende der 2030er Jahre zunehmen wird (Destatis 2019a).
Im Hinblick auf den Altenquotienten zeichnen sich in Deutschland regionale Unterschiede ab (Tab. 1). Anfang der 2000er Jahre lag nahezu kein Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland vor. Nun zeigt sich eine Tendenz der Überalterung der Gesellschaft vor allem in den neuen Bundesländern, in denen sich der Altenquotient zwischen 2006 und 2019 von 36 auf 46 erhöht hat (vgl. Westdeutschland von 2006 bis 2019 – Anstieg des Altenquotienten von 33 auf 35) (Destatis 2019b und 2021a).
Tab, 1 Entwicklung der Bevölkerung bis 2060 nach Bundesländern (Variante 1 entspricht folgenden Annahmen für Deutschland: Geburtenrate 1,55 Kinder je Frau, Lebenserwartung bei Geburt 2060 für Jungen 84,4/Mädchen 88,1 Jahre, durchschnittlicher Wanderungssaldo 147,000 Personen pro Jahr (Variante G2-L2-W1) – Altenquotient der 65-Jährigen und Älteren nach Bundesland und Jahr (Destatis 2019b),
* niedrigster Altenquotient, ** höchster Altenquotient
Nach aktuellen Berechnungen (Hauptvariante, moderate Entwicklung) wird die Bevölkerungszahl in Deutschland unter Berücksichtigung von Geburtenhäufigkeiten, Lebenserwartungen, Bevölkerungswanderungen und Sterberaten bis zum Jahr 2024 auf 83,7 Mio. zunehmen und zwischen 2040 bis 2060 wieder auf 74,4 Mio. (Variante 1, G2-L2-W1) zurückgehen. Einen wesentlichen Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung – also sowohl deren weiterer Anstieg als auch das Ausmaß des Rückganges – hat der angenommene Wanderungssaldo (Differenzen von 9 Mio. Menschen in der Gesamtbevölkerungszahl im Jahr 2060 je nach angenommener Variante). Damit kommt ihm eine größere Bedeutung zu als der Fertilität (Differenzen von 5 Mio. Menschen in der Gesamtbevölkerungszahl im Jahr 2060 je nach angenommener Variante) (Destatis 2019a).
Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 66 Jahren wird von 51,8 Mio. Menschen im Jahr 2018 auf 45,8 Mio. im Jahr 2035 und 40,0 Mio. im Jahr 2060 sinken (moderate Entwicklung der Geburtenhäufigkeit und Lebenserwartung bei unterschiedlich hohem Wanderungssaldo, Variante 1, G2-L2-W1) (Destatis 2019a). Im Gegenzug wird die Zahl der Menschen im Seniorenalter (ab 67 Jahre) bis 2038 auf mindestens 20,9 Mio. wachsen (vgl. 1990 – 10,4 Mio., 2018 – 15,9 Mio.). Aufgrund des Eintrittes der geburtenstarken Jahrgänge in die Gruppe der ab 80-Jährigen kommt es anschließend zu einer Reduktion der Zahl der 67- bis 79-Jährigen bis zum Jahr 2050 auf 11 Mio., gefolgt von einem leichten Anstieg auf 12 Mio. im Jahr 2060. Bis zum Jahr 2060 wird vor allem der Anteil der Hochaltrigen (80 Jahre und älter) an der Gesamtbevölkerung steigen (Abb. 1; Destatis 2019a).
Abb. 1 Bevölkerungsentwicklung (in Prozent) nach Altersgruppen (in Jahren) zwischen 2018 und 2060 (Ergebnisse der 14. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, unterschiedliche Varianten) (Destatis 2019a).
Seit 2010 kam es in Deutschland zu einem verringerten Anstieg der Lebenserwartung, wie dies auch in anderen Industrienationen zu beobachten ist. Bei einem moderaten Anstieg der Lebenserwartung (Annahme L2 zur Lebenserwartung) stieg die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer um 6,1 Jahre und für Frauen um 4,9 Jahre bis zum Jahr 2060 im Vergleich zur Sterbetafel von 2015/17 an (Lebenserwartung bei Geburt im Jahr 2060 – Männer 84,4 Jahre, Frauen 88,1 Jahre) (Abb. 2, Abb. 3; Statista 2022, Destatis 2022a). 2020 ist die Lebenserwartung in Deutschland aufgrund COVID-19 erstmals leicht gesunken (Destatis 2021b).
Abb. 2 Entwicklung der Lebenserwartung von 1950 bis 2060 bei Geburt in Deutschland nach Geschlecht (Ergebnisse der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, unterschiedliche Varianten (Statista 2022).
Abb. 3 Erreichbares Durchschnittsalter in Deutschland laut der Sterbetafel 2019/2021 nach Geschlecht und Altersgruppen (in Jahren) (Destatis 2022a).
Die Komplexität des Alterungsprozesses sowie das Auftreten von chronischen Erkrankungen und den daraus resultierenden Einschränkungen sollten bei der Darstellung der Heterogenität der Patientengruppe der Senioren Berücksichtigung finden. Latent diskriminierende oder zumindest respektlose Termini zur Beschreibung der Lebensphasen im Alter sollten dabei vermieden werden. Hierzu zählen u. a. Begriffe wie „go go“, „slow go“ oder „no go“ als verkürzte und wertende Form für Fitte, Gebrechliche und Pflegebedürftige oder aber auch Termini wie „Silver Ager“ und „Gold Ager“. Ebenso sollte einer Stigmatisierung des Alters und seiner Bedarfe durch den gezielten Verzicht auf die Verwendung von Begriffen wie Pflege- oder Altersheim entgegengewirkt werden. Diese oft auf Seiten der älteren Menschen mit Pflegebedarf mit Angst besetzten Begriffe („ins Pflegeheim abgeschoben werden“) sollten durch positive Bezeichnungen wie z. B. Seniorenhotel oder Seniorenresidenz ersetzt werden.
Unter Berücksichtigung der funktionellen Kapazität eines Menschen kann das Altern in fünf Lebensphasen (fit, gebrechlich und pflegebedürftig sowie die Übergangsphasen von fit zu gebrechlich und von gebrechlich zu pflegebedürftig) aufgeteilt werden.
Ziel aller an der (medizinischen) Versorgung von Senioren beteiligten Berufsgruppen sollte es sein, die aktuelle Lebensphase möglichst lange mit guter Lebensqualität zu erhalten. Grundlage dafür ist die Klärung der Frage, in welcher Lebensphase sich der ältere Patient befindet. Dies kann durch Gespräche sowie Beobachtungen (siehe Kapitel Demenz – herausforderndes Verhalten) und durch Rücksprache mit dem Hausarzt, der ggf. geriatrische Assessment-Befunde (z. B. „Uhren-Test“, den „Time-Up-and-Go-Test“, den „Barthel-Index“ oder die „Activity of daily living“ [ADL]) (siehe Kapitel Multimorbidität) erhoben hat, erfolgen. Im Bereich der Zahnmedizin sollte der Test zur Beurteilung der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität fester Bestandteil der zahnärztlichen Anamnese sein (Tab. 2; Nitschke et al. 2012).
Tab. 2 Zahnmedizinische funktionelle Kapazität: vierstufige Einteilung der Belastbarkeit aufgrund der Beurteilung der drei Parameter Therapiefähigkeit, Mundhygienefähigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Innerhalb der beiden Parameter Therapiefähigkeit und Mundhygienefähigkeit wird der Patient in einer vierstufigen Einteilung hinsichtlich seiner zahnmedizinischen Belastbarkeit betrachtet. Dabei ist Stufe 1 die beste (normale Belastbarkeit) und Stufe 4 die schlechteste Stufe (keine Belastbarkeit). Beim Parameter Eigenverantwortlichkeit erfolgt eine Einteilung in drei (anstatt vier) Stufen: normal, reduziert oder gar nicht eigenverantwortlich (Nitschke et al. 2012).
Belastbarkeitsstufe
Therapiefähigkeit
Mundhygienefähigkeit
Eigenverantwortlichkeit
BS 1
normal
normal
normal
BS 2
leicht reduziert
leicht reduziert
BS 3
stark reduziert
stark reduziert
reduziert
BS 4
keine
keine
keine
Memo
Der Anteil der Senioren an der Gesamtbevölkerung steigt. Das Gesundheitswesen sollte der sehr heterogenen Patientengruppe der Senioren, besonders unter Berücksichtigung der vulnerablen Patienten, mit strukturierten Versorgungspfaden begegnen.
Die zahnmedizinische funktionelle Kapazität hilft dem gerostomatologisch tätigen Zahnarzt, die Funktionen seines Patienten aus der multifaktoriellen zahnmedizinischen Perspektive zu betrachten (Nitschke et al. 2012, Jockusch et al. 2020). Andere geriatrische Assessment-Instrumente aus dem Bereich der Geriatrie, der Gerontopsychiatrie, den Ernährungswissenschaften oder der Soziologie sind für die zahnmedizinischen Überlegungen nur eingeschränkt nutzbar. Sie fragen häufig andere Funktionen bzw. Bereiche ab als jene, die im Rahmen einer zahnmedizinischen Betreuung benötigt werden.
Die zahnmedizinische funktionelle Kapazität ist ein Beurteilungsinstrument, mit dessen Hilfe die Patienten im Hinblick auf ihr Resilienzniveau, also ihre Belastbarkeit mit den drei Parametern Therapiefähigkeit, Mundhygienefähigkeit und Eigenverantwortlichkeit beurteilt werden können. Jeder Parameter wird getrennt in einer drei- bzw. vierstufigen Einteilung nach der Belastbarkeit des Patienten betrachtet. Daraus ergibt sich als Gesamtwert die zahnmedizinische Belastbarkeit älterer und alter Menschen in einer vierstufigen Einteilung. Die Stufen der Parameter Therapiefähigkeit und Mundhygienefähigkeit reichen von 1 – normal über 2 – leicht reduziert, 3 – stark reduziert bis 4 – keine. Die Eigenverantwortlichkeit wird mit den Fähigkeitsstufen normal, reduziert und keine erfasst. Der am schlechtesten bewertete Parameter führt zur Festlegung der Belastbarkeitsstufe (BS 1 bis 4), die dann Ausdruck der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität ist (Tab. 2 und 3; Nitschke et al. 2012).
Tab. 3 Beispiele für individuelle Behandlungsumstände zur Beurteilung der Einzelparameter innerhalb der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität, die die zahnmedizinische Betreuung erschweren könnten.
Therapiefähigkeit
Mundhygienefähigkeit
Eigenverantwortlichkeit
Behandlungsort
Transportfähigkeit
Umsetzbarkeit in den Behandlungsstuhl
Lagerungseinschränkungen vorhanden
Möglichkeit der Diagnostik
längere Mundöffnungsphasen
Risiko für allgemeinmedizinische Zwischenfälle
Risiko für Medikamenteninteraktion
Risiko für zahnmedizinische Eingriffe
Verständnis von Anweisungen / Sachinhalten
Nachsorgekompetenz
manuelle Geschicklichkeit
Adaptationsfähigkeit
Greiffähigkeit
Handkraft
Putzfähigkeit
Sehvermögen
Durchführung bzw. Überwachung der Mundhygiene
Lernfähigkeit / Verständnis von Anweisungen oder Sachinhalten
Umsetzung von Informationen
Nachsorgekompetenz
Hilfe durch Fremdputzer / Dritte
selbstständiger Kauf der Mundhygieneartikel
Erkennen von Problemen
Willensäußerung
Entscheidungsfähigkeit
kontrollorientiertes Besuchsverhalten
Organisationsfähigkeit / Koordination
Nachsorgekompetenz
Verantwortungsträger / Betreuer (Deutschland) / Beistand (Schweiz)
Das Hauptaugenmerk beim Parameter Therapiefähigkeit liegt darauf, die Fähigkeiten des betagten Menschen abzuschätzen, ob eine zahnärztliche Behandlung wie bei einem allgemeinmedizinisch gesunden Patienten durchgeführt werden kann oder ob und in welchem Maße bei der Therapie wegen einer verringerten Belastbarkeit Einschränkungen zu erwarten sind. Diese Einschränkungen können sich in Faktoren wie Anzahl und Länge der Behandlungstermine, der Wahl des Behandlungskonzeptes und des prothetischen Behandlungsmittels niederschlagen. Keinen Einfluss auf die Beurteilung der BS hat die finanzielle Situation des Patienten.
Während in den BS 1 und 2 eine festsitzend-abnehmbare Versorgung in Betracht kommen könnte, sollte der Behandler bei Patienten der BS 3 (stark reduzierte Therapiefähigkeit) eher eine partielle Kunststoffprothese mit gebogenem Verankerungselement in Erwägung ziehen. Ab der BS 2 ist es zudem ratsam, den Behandlungsablauf auf mehrere Sitzungen zu verteilen und eine ausreichende Nachsorge anzuschließen.
Ziel in den BS 2 und 3 sollte es sein, in wenigen, kurzen Sitzungen ohne viel Aufwand vonseiten des Patienten oder seiner Angehörigen zu einem Behandlungserfolg zu gelangen. Eine Neuanfertigung sollte in der BS 4 (Belastbarkeit sehr stark reduziert) nicht in Betracht gezogen werden. Hier können kleinere Reparaturen schrittweise am alten Zahnersatz durchgeführt werden. Auf eine weitreichende zahnärztliche Therapie sollte bei dem stark eingeschränkten Senior verzichtet werden.
Eine standardisierte Einschätzung der Therapiefähigkeit des älteren Menschen sollte unabhängig vom Mundbefund und individuellen Zahnstatus stattfinden. Grundlage dafür sollte die Frage sein, welcher Therapieweg bei einem Patienten eingeschlagen werden würde, wenn dieser im Oberkiefer zahnlos wäre und im Unterkiefer nur noch zwei Zähne zur Verfügung hätte. Diese Überlegung kann in der Totalprothetik wenig erfahrenen Zahnärzten helfen, die Schwierigkeiten bei der Versorgung von zahnlosen Patienten nicht zu unterschätzen (Tab. 3; Nitschke et al. 2012, Nitschke et al. 2017a).
Grundlage der Beurteilung der Mundhygienefähigkeit sollte die Frage sein, ob der ältere Mensch einer individualprophylaktischen zahnmedizinischen Maßnahme folgen kann und ob er die motorischen sowie kognitiven Fähigkeiten besitzt, die Instruktionen zur Mundhygiene zu verstehen und diese bei seiner täglichen Mund- und Prothesenhygiene umzusetzen. Beim Vorliegen einer Seh- und Hörbehinderung kann von einer leicht reduzierten Belastbarkeit bei der Mundhygienefähigkeit ausgegangen werden. Damit auch dieser Patient von Aufklärungs- und Motivationsgesprächen profitieren kann, sollten diese anders gestaltet werden. Ist die Mundhygienefähigkeit stark reduziert, sollte geklärt werden, mit wessen Unterstützung dieses Defizit aufgefangen werden kann. Dies kann der Zahnarzt seiner bei der Anamneseerhebung gestellten Versorgungsdiagnose (siehe Kapitel Definitionen) entnehmen. Mögliche Fremdputzer, z. B. Angehörige oder Pflegekräfte, sollten instruiert werden (siehe Kapitel Unterstützung durch Angehörige). Gleichzeitig ist es indiziert, die Terminintervalle für professionelle Zahn- und Prothesenreinigungen zu verkürzen. Können Patienten ihre Mundhygiene nicht mehr selber durchführen (keine Belastbarkeit), sollte der Zahnarzt seine Therapie und Unterstützung zur Mundhygiene anders ausrichten (Tab. 3; Nitschke et al. 2012, Nitschke et al. 2017a).
Memo
Die routinemäßige Einschätzung der drei Parameter Therapiefähigkeit, Mundhygienefähigkeit und Eigenverantwortlichkeit sollte durch den Zahnarzt nach einem Anamnesegespräch erfolgen. Dem Zahnarzt steht mit der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität ein oral-geriatrisches Assessment-Element zur Verfügung, das leicht anzuwenden ist. Wichtig ist, dass gute kognitive Fähigkeiten des Patienten den Zahnarzt nicht dazu verleiten, dessen eingeschränkte Therapie- oder Mundhygienefähigkeit zu übersehen.
Ist der Patient in der Lage, die Entscheidung zu treffen, einen Zahnarzt zur Kontrolle oder zur Therapie aufzusuchen, und diesen Besuch dann auch für sich selbst zu organisieren, so ist er eigenverantwortlich. Sollte der Patient nur den Wunsch äußern können, den Zahnarzt aufsuchen zu wollen, aber den Besuch nicht selbst organisieren können, ist er reduziert eigenverantwortlich. Denkt er gar nicht mehr an seine Mundgesundheit und an seine zahnmedizinische Versorgung, so ist er nicht eigenverantwortlich (Tab. 3; Nitschke et al. 2012, Nitschke et al. 2017a).
Eine getrennte Abschätzung der drei Parameter Therapiefähigkeit, Mundhygienefähigkeit und Eigenverantwortlichkeit sollte durch den Zahnarzt nach einem Anamnesegespräch erfolgen. Erfahrung bei der Einschätzung kann dazu führen, dass vergleichbare Situationen mit ähnlichen Konstellationen der BS wiederzufinden sind. Wichtig ist, dass gute kognitive Fähigkeiten des Patienten den Beurteiler nicht dazu verleiten, dessen eingeschränkte Therapie- oder Mundhygienefähigkeit zu übersehen. Die eruierte BS sollte der Behandler bei all seinen Entscheidungen im Hinterkopf behalten. Sie stellt die begrenzende Komponente in der weiteren Behandlungsplanung dar. Die BS ist dann Ausdruck der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität des Patienten (Tab. 2; Nitschke et al. 2012, Nitschke et al. 2017a).
Für eine erfolgreiche zahnärztliche Behandlung gelten bei der Durchführung der Therapie und in der Nachsorge fachliche und normative Voraussetzungen. Zu diesen gehören ein vertrauensvolles Patienten-Arzt-Verhältnis, fachliche und psychosoziale Kompetenzen des Zahnarztes (Fröhlich-von Grebel 2013; Hafner 2013) und seines Teams, die Berücksichtigung ethischer Aspekte und ein partizipativer Therapieentscheidungsprozess (Nitschke und Kunze 2012). Eine erfolgreiche, patientengerechte und situationsadäquate Behandlung kann zum einen zum Patientenwohl und zum anderen zur Zufriedenheit der Teammitglieder und des verantwortlichen Behandlers beitragen. Sie ist zudem als Ausdruck von Professionalität und fachlicher Expertise zu verstehen (Nitschke et al. 2017a).
In der Regel stellt sich der zahnärztliche Alltag als planbar dar. Die meisten Behandlungssituationen sind rein fachlich betrachtet gut lösbar. Patienten sind zumeist kooperativ, was in einer Zugewandtheit des Behandlersteams zum Patienten mündet. Während der Umgang mit Patienten mit einer Zahnarztphobie bereits während der universitären Ausbildung eingeübt wird und ihre Behandlung zumeist erfolgreich verläuft, stellen der heterogene Gesundheitsstatus der betagten Patienten, die bestehenden finanziellen Ungleichheiten sowie enge Richtlinien im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung den Behandler zunehmend vor Herausforderungen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele (hoch)betagte Patienten ihre Eigenständigkeit (partiell) eingebüßt haben bzw. sich in sozialer Abhängigkeit befinden (Nitschke et al. 2017a).
Bei einer bestehenden Vulnerabilität sollte der Zahnarzt größte Achtsamkeit walten lassen. Kommen funktionelle körperliche und kognitive Einschränkungen hinzu, sind Zahnärzte besonders fachlich und emotional gefordert. Häufig resultieren dilemmatische Entscheidungssituationen, die sich mit den erlernten und eingeübten Behandlungsstandards nicht mehr lösen lassen (Groß 2012). Werden zusätzlich, etwa durch Dritte (z. B. Angehörige), Behandlungen eingefordert, die vermeintlich nicht dem Patientenwunsch entsprechen oder in dessen Interesse sind oder von Personen nicht getroffen werden, die aufgrund der eigenen körperlichen, kognitiven und/oder emotionalen Situation mit der Behandlungssituation überfordert sind, steigt die Herausforderung für den Zahnarzt. Welche Rechte und Pflichten besitzt ein Zahnarzt, in solchen Entscheidungen richtungsweisend eingreifen zu können und zu müssen? Unsicherheiten zeigen sich hierbei auf verschiedenen Ebenen, sowohl bei gebrechlichen als auch pflegebedürftigen Menschen, mit denen der Zahnarzt in der aufsuchenden Betreuung in Kontakt kommt (siehe Kapitel Betreuungsrecht). Des Weiteren ist eine emotionale Belastung des Zahnarztes bei der Konfrontation mit palliativen Patientensituationen und dem Tod durchaus möglich. Bei der zahnmedizinischen Versorgung von Menschen mit Demenz scheint dies in besonderem Maße zu gelten. Eine eingehende Analyse der verschiedenen normativen Implikationen scheint aus diesem Grund geboten.
Im Bereich der Zahnmedizin entstehen dilemmatische Behandlungssituationen durch die spezifischen Konstellationen von Faktoren (z. B. stark reduzierte zahnmedizinische Therapiefähigkeit, fehlende Mundhygienefähigkeit, fehlende Eigenverantwortlichkeit des Patienten) in Kombination mit akuter Behandlungsnotwendigkeit. Gleichzeitig besteht häufig die Notwendigkeit, dritte Personen mit einzubeziehen, Hierzu erhöht sich die Komplexität und es stellen sich zusätzliche fachliche sowie normative Ansprüche an die Zahnmediziner.
In der Seniorenzahnmedizin ist es legitim, dass öfters an die Stelle einer klassischen Lege-artis-Therapie der Schulmedizin eine Kompromissbehandlung tritt. Grundlagen hierfür sind häufig auch abweichende diagnostisch-therapeutische Regeln, welche veränderte kommunikative Anforderungen stellen und spezifische klinisch-ethische Herausforderungen und Fallstricke bergen.
Der Zahnarzt sollte sich nicht nur über die orale Situation des Patienten einen guten Überblick verschaffen, sondern ebenso die grundsätzliche Frage klären, welche Personen in welcher Weise in das Behandlungsgeschehen von der Therapieentscheidung bis zur Nachsorge einzubeziehen sind. Mithilfe eines Anamnese-Anmelde-Bogens, der aufgrund der möglichen schnellen Veränderungen in kürzeren, regelmäßigen Abständen überprüft und ggf. aktualisiert werden sollte, sollte eine Versorgungsdiagnose (siehe Kapitel Definitionen) gestellt werden (Nitschke 2014a). Es sollte zudem geklärt sein, ob eine gesetzliche Betreuung für den Patienten erforderlich bzw. bereits eingerichtet ist, wer als Betreuer fungiert und inwieweit der Patient (noch) in den diagnostischen und therapeutischen Entscheidungsprozess einbezogen werden kann. Auch die Frage nach etwaigen Vorsorgebevollmächtigten ist zu klären (siehe Kapitel Betreuungsrecht).
Ein langfristiger Erfolg zahnärztlicher Maßnahmen ist nur mit Unterstützung in der Nachsorge durch Dritte zu erreichen. Daher sollte bereits vor Therapiebeginn die Nachsorgekompetenz, also die Fähigkeit des Patienten (Eigen-Nachsorge-Kompetenz) oder einer Person aus seinem Umfeld (Fremd-Nachsorge-Kompetenz), die Mundhöhle und den Zahnersatz zu reinigen und eine kontrollorientierte zahnmedizinische Dienstleistung regelmäßig, auch engmaschig, in Anspruch zu nehmen, geklärt werden (Nitschke 2014b) (siehe Kapitel Definitionen).
Mithilfe der Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress (2009) werden dem Behandler in ethisch konflikthaften Situationen normative Kriterien geboten, die Orientierung geben und auf deren Grundlage ethische Dilemmata bewertet werden können. Insgesamt sind hierbei vier Prinzipien zu beachten.
Das Prinzip legt den Fokus darauf, ob der Behandler den Willen des Patienten (bzw. seines gesetzlichen Betreuers) eruiert sowie berücksichtigt hat und somit die Selbstbestimmung des Patienten achtet. Dies bedeutet nicht, dass der Zahnarzt Maßnahmen durchführen muss, für die keine medizinische Indikation besteht. Es muss folglich nicht jedem Patientenwunsch nachgekommen werden. Anders betrachtet ist es jedoch legitim, dass der Patient eine notwendige Behandlung ablehnen kann, auch wenn daraus gesundheitliche Nachteile für ihn entstehen oder/und Dritte dies als unvernünftig oder unverständlich betrachten (Groß 2012).
Ist der Patient nicht in der Lage, sich ausreichend selbst zu artikulieren, und bestehen berechtigte Zweifel an seiner Entscheidungsfähigkeit, sodass er die Tragweite einer zu treffenden Entscheidung nicht mehr übersehen kann (siehe Kapitel Betreuungsrecht), so ist die Einrichtung einer Betreuung anzuregen. Der Einbezug von Angehörigen resp. des gesetzlichen Betreuers und/oder emotionalen Verwandten/Angehörigen ist insbesondere bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz geboten. Jegliche Entscheidungsfindung sollte durch Dritte dann auf der Grundlage des Patientenwillens (natürlicher Wille) stattfinden und frei vom persönlichen Blickwinkel (eigene Überzeugung oder persönliche Kriterien wie Betreuungsaufwand oder Zeitbedarf) sein. Soweit dies möglich ist, sollten früher gelebte Verhaltensweisen im Sinne der Patientenautonomie beibehalten werden. Das bedeutet: Wenn der Patient z. B. nie die „unbequeme“ obere Totalprothese getragen und die Restzähne im Unterkiefer nicht geputzt hat, sollte dem Patienten in einer Pflegesituation das Tragen der Prothese und das Zähneputzen nicht auferlegt werden – zumal das Risiko besteht, dass der Patient den Zahnersatz nicht toleriert (Nitschke et al. 2017a).
Bei den beiden Prinzipien Fürsorge (Benefizienz) und Schadensvermeidung (Non-Malefizienz) steht das Abwägen zwischen einem potenziellen Schaden durch das Durchführen einer fraglichen bzw. das Unterlassen einer gebotenen Maßnahme versus dem potenziellen Nutzen derselben im Fokus.
Als Beispiel aus der geriatrischen Zahnmedizin kann hier das Narkoserisiko benannt werden. Ein Mensch mit Demenz hat mehrere abgebrochene Zähne im Mund, die ihm aber keine Beschwerden bereiten. In der schulmedizinischen Betrachtung würden die Wurzeln in Lokalanästhesie entfernt und eine prothetische Versorgung angestrebt werden. Bei einem Menschen mit Demenz, der ein herausforderndes Verhalten zeigt, ist oft eine herkömmliche Behandlung nicht durchzuführen. Die Nachwirkungen einer Intubationsnarkose (allgemeines Narkoserisiko, Gefahr eines Delirs, Stresssituation, Verstärkung der Demenz, ggf. kardiale Dekompensation) wären für den Patienten und die Pflegekräfte aufwendig zu bewältigen. Eine nachfolgende prothetische Versorgung wäre nach der Entfernung der Wurzeln meist nicht möglich bzw. eine Adaptation vom Patienten an die Prothesen wäre nicht zu erwarten. Sollten Schmerzen aufgrund eines Abszesses durch das Belassen der Wurzeln auftreten, wäre jederzeit eine Therapie unter Intubationsnarkose möglich.
Bei Betrachtung des Non-Malefizienz- und des Benefizienz-Prinzips relativiert sich der Nutzen eines ansonsten lege artis anzusehenden Eingriffes. Die Aufklärung der Pflegekraft, des Betreuers oder der Angehörigen über etwaige Komplikationen und eine Vorgehensweise im Falle eines zahnärztlichen Notfalles sollte in jedem Fall erfolgen (Nitschke et al. 2017a).
Das Prinzip der Gerechtigkeit bezieht sich nicht nur auf den einzelnen Patienten, sondern auf alle Umstände, die eine Versorgung und deren Akteure beeinflussen können. Der Zugang zu medizinischer Versorgung sollte jedem Bürger freistehen. Im Bereich der aufsuchenden Betreuung bedeutet dies, dass auf der Makroebene (z. B. Gesetzgebung im Gesundheitswesen) und Mesoebene (z. B. Krankenkassen, Verbände) Voraussetzungen geschaffen werden, die dann auf der Mikroebene des Gesundheitswesens, also z. B. in der Patienten-Zahnarzt-Beziehung, die Möglichkeiten eröffnen, einen für die Pflegebedürftigen und ihren Bedürfnissen entsprechenden Leistungskatalog zur Verfügung zu haben. Eine gerechte Verteilung der Ressourcen sollte hier durch u. a. politische Interventionen gewährleistet werden (Verteilungsgerechtigkeit). Auf der Mikroebene kann jeder Zahnarzt entscheiden, in welchem Maße er sich insbesondere im Bereich der Seniorenzahnmedizin für die vulnerable Patientengruppe Senioren mit Pflegebedarf einsetzen will.
Die zielorientierte Umsetzung eines Behandlungskonzeptes im Bereich der aufsuchenden Betreuung ist nur durch ein gut geschultes Team in enger Kooperation mit der Pflege und/oder dem Betreuer möglich. Hier besteht Handlungsbedarf.
Im Hinblick auf eine gerechte Verteilung von Leistungen sollten auch Präventionsleistungen miteinbezogen werden. Oft kann der Pflegebedürftige aufgrund seiner Erkrankungen und der daraus resultierenden eingeschränkten Mundhygienefähigkeit den Präventionsgedanken nicht mehr (eigenständig) umsetzen. Pflegebedürftigen sollten daher auch Prophylaxeleistungen zustehen, welche an die Stelle einer häuslichen Mundhygiene treten müssen (Nitschke et al. 2017a).
Die vier oben beschriebenen Prinzipien mittlerer Reichweite der Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress geben keine Rangordnung vor. Bei Konflikten zwischen einzelnen Prinzipien ist eine eigenverantwortliche Abwägung durch den Zahnarzt geboten. Die Vorteile der Prinzipienethik liegen darin, dass a) alle ethischen Probleme nach diesem Schema fallbezogen bearbeitet werden können und dass b) das strukturierte Vorgehen in schwierigen Situationen eine Lösungsfindung erleichtern kann. Voraussetzung ist eine wiederholte Arbeit mit Fallanalysen (Groß 2012), welche die Lösungskompetenz des Zahnarztes rasch und nachhaltig stärken kann (Nitschke et al. 2017a).
Memo
Die Reichweite der Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress ermöglicht dem Zahnarzt bei ethischen Konflikten in der geriatrischen Zahnmedizin zwischen einzelnen Prinzipien eine eigenverantwortliche Abwägung. Ein strukturiertes Vorgehen in schwierigen Situationen setzt eine wiederholte Arbeit mit Fallanalysen aus der geriatrischen Zahnmedizin voraus (Groß 2012).
Die geriatrische Zahnmedizin ist ein Teilgebiet der Seniorenzahnmedizin (siehe Kapitel Definitionen), das besondere Aufmerksamkeit verdient. Viele Jahre wurde das Fach in Deutschland in der Grundausbildung nur sehr eingeschränkt gelehrt. Der Zahnarzt sieht sich mit einem Versorgungsauftrag im Bereich der Seniorenzahnmedizin konfrontiert, der ihm wenig vertraut ist. Zahnärzte und ihre Teams sind jedoch aufgefordert, sich diesen Situationen zu stellen und sie als fachliche sowie ethische Herausforderung zu begreifen. Assessment-Elemente und ethische Werkzeuge zur Bearbeitung erschwerter Patientenumstände sind hierbei wertvolle Hilfen. Die Möglichkeit, den Pflegebedürftigen in der aufsuchenden Betreuung fachkompetent versorgen zu können und so seinen Alltag maßgeblich zu erleichtern, ist nicht nur ein Ausweis von professionellem Handeln, sondern bringt oft auch eine große Befriedigung für das zahnmedizinische Team mit sich (Nitschke et al. 2017a).
Die Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) bezog bei der Gruppe der älteren Senioren (75–100 Jahre) entsprechend auch Menschen mit Pflegebedarf ein. Die Daten basieren auf 1.133 älteren Senioren, wovon 256 Menschen mit Pflegebedarf waren (Nitschke und Micheelis 2016).
Das Inanspruchnahmeverhalten im Zusammenhang mit dem Vorhandensein einer Pflegestufe – während der Erhebungszeit (2014) im Rahmen der DMS V gab es noch die Pflegestufen, die später von den Pflegegraden abgelöst wurden – zeigte große Unterschiede: Mehr als zwei Drittel (68,2 %) der nichtpflegebedürftigen älteren Senioren gaben an, den Zahnarzt kontrollorientiert und regelmäßig in Anspruch zu nehmen. Bei Vorliegen einer Pflegestufe kehrte sich dieses Verhalten um: 61,2 % suchten den Zahnarzt nur beschwerdeorientiert auf; regelmäßige und kontrollorientierte Zahnarzttermine wurden nur noch von 38,8 % aller älteren Senioren mit Pflegebedarf wahrgenommen (Tab. 1). 90,2 % der älteren Probanden waren ohne eine Pflegestufe normal oder leicht reduziert therapiefähig (bei der Gruppe der Menschen mit Pflegebedarf: 47,8 %). Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass fast die Hälfte der Menschen mit Pflegebedarf gut zu therapieren ist. Dieser Fakt ist wesentlich, um auch die Heterogenität der Menschen mit Pflegebedarf unter zahnmedizinischen Aspekten wahrzunehmen.
Tab. 1 Inanspruchnahmeverhalten des Zahnarztes und Sozialstatus der älteren Senioren (75- bis 100-Jährige), laut Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V), aufgefächert nach Pflegebedarf (Nitschke und Micheelis 2016).
Bei den Menschen mit Pflegebedarf ist nur etwa jeder Fünfte (22,5 %) in der Lage, eine normale Mundhygiene durchzuführen (ältere Senioren ohne Pflegestufe: 63,1 %). 17,4 % der älteren Senioren waren nicht mehr in der Lage, eigenverantwortlich Therapieentscheidungen zu treffen oder eigenständig einen Zahnarzttermin zu organisieren bzw. wahrzunehmen (ältere Senioren ohne Pflegestufe: 0 %; Tab. 2). In dieser Gruppe sind mehr als die Hälfte (53,7 %) in beiden Kiefern zahnlos (nichtpflegebedürftige ältere Senioren: 26,7 %). Bei Betrachtung der einzelnen Kiefer zeigt sich, dass auch hier die Prävalenz der völligen Zahnlosigkeit in der Gruppe der Menschen mit Pflegebedarf deutlich größer ist (Tab. 3). Pflegebedürftige ältere Senioren wiesen durchschnittlich noch 5,7 eigene Zähne auf (nichtpflegebedürftige ältere Senioren: 11,8 Zähne). Pflegebedürftigen älteren Senioren fehlen unter Berücksichtigung der Weisheitszähne durchschnittlich 26,3 Zähne (ohne Weisheitszähne: 22,4 Zähne) und damit 6,1 (ohne Weisheitszähne: 5,9 Zähne) mehr Zähne im Vergleich zu den Senioren ohne Pflegestufe (Tab. 4; Nitschke und Micheelis 2016).
Tab. 3 Zahnlosigkeit bei den älteren Senioren (75- bis 100-Jährige), laut Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V), aufgefächert nach Pflegebedarf (Nitschke und Micheelis 2016).
Tab. 4 Anzahl fehlender Zähne bei den älteren Senioren (75- bis 100-Jährige), laut Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V), aufgefächert nach Pflegebedarf (Nitschke und Micheelis 2016).
Pflegebedürftige Senioren ohne bzw. mit milder Parodontitis (18,3 %) sind mehr als doppelt so häufig in der Bevölkerung vertreten als ältere Senioren (75- bis 100-Jährige) ohne Pflegestufe (8,5 %). Dieses Ergebnis sollte vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass pflegebedürftige ältere Senioren weniger eigene Zähne aufweisen als nichtpflegebedürftige. Der gingivale Entzündungszustand war bei den Probanden mit einer Pflegestufe deutlich höher als bei denjenigen ohne Pflegestufe. Trotz verringerter Zahnzahl bei den Pflegebedürftigen trat an 64,3 % der untersuchten Stellen eine Blutung auf. Hingegen wurde bei den Probanden ohne Pflegestufe nur an 43,2 % der Stellen eine Entzündung der Gingiva registriert (Tab. 5; Nitschke und Micheelis 2016).
Tab. 5 Angaben zu Bluten auf Sondieren (BOP), Sondierungstiefe (ST), mittlerem Attachmentverlust (AV), „Community periodontal index“ (CPI) und die CDC/AAP-Fallklassifikation bei älteren Senioren (75- bis 100-Jährige), laut Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V), aufgefächert nach Pflegebedarf (Nitschke und Micheelis 2016), basierend auf dem „Full mouth“-Protokoll (Page und Eke 2007).
Mehr als drei Viertel der pflegebedürftigen älteren Senioren sind abnehmbar prothetisch versorgt (ohne Pflegebedarf: 51,7 %; Tab. 6). Prothesenbedingte Mundschleimhautveränderungen (z. B. Druckstellen, Ulzerationen, Reizfibrome) sind bei pflegebedürftigen älteren Senioren im Vergleich zu nichtpflegebedürftigen fast doppelt so häufig. Siebenmal häufiger wurde bei ihnen ein oraler Lichen planus diagnostiziert, wobei hier die insgesamt geringen Fallzahlen berücksichtigt werden müssen (Tab. 7; Nitschke und Micheelis 2016). Die Mundinspektion bei gutem Licht während der aufsuchenden Betreuung ist daher nicht nur dentalorientiert, sondern betrifft die gesamte Mundhöhle und sollte unbedingt umfassend gewährleistet sein. Grundlage dabei ist immer die Eingangsuntersuchung, egal welches Konzept von der Praxis im Rahmen der aufsuchenden Betreuung verfolgt wird (Bleiel et al. 2018, Nitschke et al. 2018a) (siehe Kapitel Konzepte mobiler Einsatz / Erfahrungsberichte).
Tab. 6 Art der prothetischen Versorgung bei älteren Senioren (75- bis 100-Jährige), laut Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V), aufgefächert nach Pflegebedarf (Nitschke und Micheelis 2016).
Tab. 7 Anzahl der Mundschleimhautveränderungen bei älteren Senioren (75- bis 100-Jährige), laut Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V), aufgefächert nach Pflegebedarf (Nitschke und Micheelis 2016).
Memo
Menschen mit Pflegebedarf haben eine schlechtere Mundgesundheit und sind häufiger von Zahnlosigkeit betroffen.
Der durchschnittliche DMF-T-Wert („decayed, missing, filled teeth“, kariöse, fehlende, gefüllte Zähne) lag bei den Hundertjährigen mit 25,2 ± 3,9 am höchsten, verglichen mit allen untersuchten Gruppen älterer Erwachsener in der DMS V (DMS V: DMF-T 75- bis 84-Jährige 20,8; 85- bis 100-Jährige 23,8). Durchschnittlich fehlten 22 ± 7,2 Zähne. Der Anteil der Zahnlosen lag mit 36,4 % nur leicht über dem Wert der DMS V 75- bis 100-Jährigen von 32,8 %. Verglichen mit den älteren Erwachsenen der DMS V, die eine Pflegestufe aufwiesen, ist der Unterschied jedoch nur gering (DMS V: DMF-T 24,5). Hundertjährige wiesen bei Sekundo et al. (2020a und b) mehr kariöse und gefüllte Zähne auf als die pflegebedürftige Vergleichsgruppe der DMS V. Sekundo et al. (2020a und b) konnten zudem einen Anstieg der Wurzelkariesprävalenz von 26 % bei den 75- bis 100-Jährigen der DMS V auf 32,7 % aufzeigen. Der Wurzelkariesindex („Root caries index“, RCI) der Hundertjährigen jedoch war mit 11,8 % niedriger als bei den DMS V-Gruppen der 75- bis 100-Jährigen (26,4 %), 85- bis 100-Jährigen (19,2 %), der 75- bis 84-Jährigen (15,6 %) und der 65- bis 74-Jährigen (13,6 %). Des Weiteren zeigte sich beim Restaurationsindex (RI) ein Aufwärtstrend bei den Behandlungsdefiziten bei den Hundertjährigen (RI 54 %) gegenüber den 75- bis 100-Jährigen der DMS V (RI 83 %) (Sekundo et al. 2020a).
Nach der CDC/AAP-Klassifizierung hatten 2,8 % der Hundertjährigen keine oder eine leichte Parodontitis, 54,8 % der Hundertjährigen hatten eine moderate Parodontitis und nur 19,4 % waren schwer betroffen (Sekundo et al. 2020b).
Die Evaluation der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität der Hundertjährigen zeigte, dass 63,7 % im Sinne der Einstufung der Therapiefähigkeit nicht behandelbar oder in ihren Behandlungsmöglichkeiten stark reduziert waren. Die Mundhygienefähigkeit war bei 43,6 % stark reduziert oder nicht vorhanden. Während nahezu alle Hundertjährigen (94,5 %) den Wunsch nach einem Zahnarztbesuch äußern konnten, waren nur zwei Drittel in der Lage, diesen selbstständig zu organisieren, und zeigten eine reduzierte Eigenverantwortlichkeit. 65,5 % aller Hundertjährigen wurden der Belastbarkeitsstufe (BS) 3 oder 4 (siehe Kapitel Ethischer Blick / Definitionen) zugeordnet.
Aufgrund der regionalen Einschränkung (Erhebungen: Sekundo et al. Süddeutschland, DMS V ganz Deutschland) und des „Non-response bias“ der Hundertjährigen-Gruppe (nicht alle wollten an der Studie teilnehmen) sind jedoch alle Vergleiche zwischen den beiden Altersgruppen mit Vorsicht zu interpretieren (Sekundo et al. 2020a).
Abschließend ist festzustellen, dass pflegebedürftige Ältere eine schlechtere Mundgesundheit als ältere Menschen ohne Pflegebedarf aufweisen. Die Weiterentwicklung der zahnmedizinischen Betreuung für ambulant und stationär pflegebedürftige Menschen ist wünschenswert, damit auch im Alter eine kontrollorientiere Inanspruchnahme gewährleistet sein kann.
Transition (lateinisch: transitio – Übergang) bezeichnet Übergänge, die für die Betroffenen Ereignisse darstellen, die tiefgreifende und daher auch bedeutsame Veränderungen für die Person und ihre Umgebung sowie für die Gesellschaft mit sich bringen. In der Politik wird damit ein Systemwechsel oder Austausch eines politischen Systems, z. B. von einer Diktatur zu einer Demokratie, bezeichnet. Als Transitionen werden auch der Übergang vom Kindes- in das Jugendlichenalter, vom Jugendlichenalter in die Volljährigkeit, von der Partnerschaft zur Elternschaft, der Eintritt ins Erwerbsleben, das Verlassen des Haushalts durch das jüngste Kind, der Eintritt ins Rentenalter sowie das Ende einer Ehe durch Scheidung oder Tod betrachtet und wissenschaftlich begleitet. Der Prozess der Transition umfasst im Besonderen: eine Restrukturierung, eine Sanierung, eine teilweise Abkehr von Gewohntem und manchmal auch eine temporäre Übernahme von neuen Verantwortlichkeiten, um veränderte Lebenssituationen zu kompensieren (Nitschke et al. 2022).
Die Bewältigung des Transitionsprozesses ist keine Kompetenz eines einzelnen Menschen. Daher wird auch von einem Transitionsmodell gesprochen, welches sich mit dem Zusammenwirken aller am Transitionsprozess Beteiligten auseinandersetzt. Dies wird auch als Kompetenz des sozialen Systems bezeichnet. Die Transitionskompetenz umfasst die Fähigkeiten, die zur Bewältigung eines krisenhaften Umbruchs mit Lücken jeglicher Art notwendig sind und oft interdisziplinäre Erfahrungen voraussetzt (Virtuelle Unternehmen 2022; Nitschke et al. 2022).
Die Transitionsbetroffenen oder ihre Vertretungen müssen Umbrüche emotional verkraften, ihre soziale Zugehörigkeit immer wieder neu klären, ihre Identität in der Transition den Kontexten anpassen und durch Networking ihre Existenz als fluides Organisationsmitglied innerhalb des Transitionsprozesses sichern.
Der Transitionsmanager nimmt eine verantwortliche Position im Geschehen des Übergangs ein. Er kann – meist auf Zeit – von außer- oder innerhalb des Systems kommen. Bei größeren Transitionen, z. B. Umstrukturierung eines großen von Insolvenz betroffenen Unternehmens, sollte kein direkt Betroffener der Tansitionsmanager sein. Bei kleineren Transitionen, wie z. B. eine Überleitung eines Patienten, kann der Transitionsmanager aus dem ärztlichen Team stammen. Ein Transitionsmanager leitet die gewünschten bzw. notwendigen Veränderungen konzeptionell ein und setzt diese um, bis die vorab vereinbarten Ziele erreicht sind (Schneidewind 2010; Nitschke et al. 2022).
Die Transitionsarena stellt eine Plattform dar, in welcher bisherige Erfahrungen, Meinungen sowie Fachwissen ausgetauscht und Probleme analysiert werden können. Die Arena dient ebenso der Koordination von Aktivitäten, der Ausbildung einer gemeinsamen Sprache und der Problemdefinition sowie der Findung eines gemeinsamen Weges, das Problem anzugehen. Typischerweise finden sich 15 bis 20 Vorreiter zusammen (Hafkesbrink et al. 2015), jedoch kann die Gruppengröße in Abhängigkeit vom Thema der Transition sehr unterschiedlich zu gestalten sein. Wichtige Akteure auf ihren Gebieten sollten sich dabei zusammenfinden, wobei gleichzeitig eine gewisse Unabhängigkeit von Regimeinteressen gewahrt bleiben sollte (Hafkesbrink et al. 2015; Nitschke et al. 2022).
Memo
Ein strukturiertes Transitionsmanagement regelt Übergänge von einer Ausgangssituation in eine neue Situation. Diese Übergänge oder auch Überleitungen (Transitionen) werden in der Regel vom zeitlich eingesetzten Transitionsmanager angestoßen und mit dem Betroffenen und seiner Umgebung konzeptionell entwickelt, Ziele werden definiert und die Transition wird begleitet. Die Transition wird oft in verschiedene Phasen unterteilt und individuell an die Situationen mit dem Wissen sowie der Erfahrung aus den sehr unterschiedlichen Fachgebieten angepasst (Transitionskompetenz). Transitionen werden in den politischen Wissenschaften genauso beschrieben wie im Bankenwesen, in der Psychologie, der Soziologie oder in der Medizin. Die Transitionsarena hilft, Erfahrungen und Wissen auszutauschen und eine gemeinsame Sprache als Grundlage für die Definition von gemeinsamen Zielen zu entwickeln.
Die Transition ist abgeschlossen, wenn sich alle Beteiligten des Transitionsprozesses wohlfühlen, der Nutzen der Transition für alle Beteiligten erkennbar und das Ziel der Transition erreicht ist.
In der Medizin hat sich der Begriff Transitionsmedizin etabliert, welche sich z. B. mit den Übergängen vom kindzentrierten zum erwachsenenorientierten Gesundheitssystem für Jugendliche mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen beschäftigt (Mennito und Clark 2010, Berens et al. 2020). Hierfür wurde die Gesellschaft für Transitionsmedizin e. V. gegründet, die durch Schulungen und strukturierte Fortbildungsangebote Übergänge durch Standardisierung in der Kinder- und Jugendmedizin für Menschen mit Behinderungen vereinfachen möchte (Gesellschaft für Transitionsmedizin e. V. 2022). Weiterhin werden die Gesundheitssysteme transitorische Umstellungen erfahren, z. B. in der Anwendung von digitaler anstelle von analoger Datenverarbeitung (Berrouiguet et al. 2018; Nitschke et al. 2022) (siehe Kapitel Digitalisierung).
Senioren haben sich aufgrund eigener täglicher Mundhygieneleistungen und damit auch oft gekoppelter Inanspruchnahme von zahnärztlichen Leistungen (mindestens einer jährlichen Kontrolluntersuchung und der oft jährlich erfolgenden professionellen Zahnreinigung) sehr erfolgreiche Präventionsleistungen erworben. Es stehen ihnen heute beim Eintritt in das Rentenalter mehr Zähne und dadurch auch eine bessere Mundgesundheit zur Verfügung als in früheren Jahren (Lenz 1999, Kerschbaum 2006, Nitschke und Stark 2016; Nitschke et al. 2022) (siehe Kapitel Mundgesundheit in Deutschland).
Nach dem Eintritt ins Rentenalter definiert die Seniorenzahnmedizin verschiedene, nicht ans Alter gekoppelte Lebensphasen. Die Seniorenzahnmedizin hat die Aufgabe, den älteren Menschen nach dem Abschluss der zweiten Lebensphase in seiner dritten (fitte Senioren), vierten (gebrechliche Senioren) und fünften (pflegebedürftige Senioren) Lebensphase zahnmedizinisch zu begleiten. Dabei sollte zu jedem Zeitpunkt die möglichst beste zahnärztliche Behandlung bzw. zahnmedizinische Betreuung mit einer hohen mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität realisiert werden. Die Seniorenzahnmedizin betreut somit nicht das Alter zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern begleitet einen kontinuierlich fortschreitenden Prozess – das Altern bzw. das Älterwerden der Menschen. Insofern beschäftigt sich die Seniorenzahnmedizin mit Vertretern der Gesundheits-, Ernährungs- und Pflegewissenschaften, Geriatrie sowie der Medizinethik in multi- und interdisziplinärer Zusammenarbeit gemeinsam mit wissenschaftlichen Fragestellungen zur oralen sowie allgemeinen Gesundheit und damit auch zur Lebensqualität der Betagten und Hochbetagten (Wefers und Nitschke 2017) (siehe Kapitel Definitionen). Die Seniorenzahnmediziner beobachten, begleiten die Übergänge ihrer Patienten und könnten intensiv nachhaltig mit dazu beitragen, dass das Wechseln von einer zur nächsten Phase möglichst herausgezögert werden kann (Nitschke et al. 2022).
Zurzeit ist es jedoch eher der Zufälligkeit und der Aufmerksamkeit der Betroffenen überlassen, die Überleitung von einer selbstständig organisierten zahnärztlichen Behandlung in der zahnärztlichen Praxis zu einer zahnmedizinischen Betreuung an unterschiedlichen Orten strukturiert zu organisieren und sicherzustellen. Die Gruppe der Betroffenen definiert sich entsprechend der Lebensphase immer unterschiedlich, der Patient sowie der Zahnarzt und sein Team gehören immer in die Gruppe der gerostomatologischen Transitionsbetroffenen. Bereits zu Beginn der Verschlechterung der Mundgesundheit könnte die gerostomatologische Transition mit dem Fokus auf die kontrollorientierte Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen und auf die Stärkung einer lebenslangen bedarfsadaptierten Begleitung mit präventiven und therapeutischen Ansätzen beginnen. Hierbei spielt die Sicherung der häuslichen Mundhygiene eine ausschlaggebende Rolle (Nitschke et al. 2022).
Vor der notwendigen, nachhaltig zu strukturierenden Überleitung sind die Senioren den Bedingungen der gesetzlichen sowie privaten Krankenversicherungen unterworfen und den anderen Erwachsenen gleichgestellt. Nachdem sich jemand darum gekümmert hat und dem Patienten ein Pflegegrad zugeordnet wurde, sind andere Leistungen für den ambulant oder stationär Pflegebedürftigen etabliert. Das einzige Element, was es bei der heutigen Überleitung eines betagten Menschen in der zahnmedizinischen Gesundheitsversorgung zwischen den Pflegeeinrichtungen und den Zahnärzten gibt, ist der Kooperationsvertrag. Dieser greift aber erst, wenn der Patient schon in der Pflegeeinrichtung wohnt. Dem Kooperationszahnarzt stehen Informationen aus der vorherliegenden Zeit nicht zur Verfügung; sie sind oft verloren. Das Instrument „Kooperationsvertrag“ sichert keine Transition von der Häuslichkeit in eine stationäre Versorgung. Der Zahnarzt sollte daher die vorher aufgetretene Versorgungslücke bereinigen. Der Komplexität dieser schwierigen Übergänge zwischen den verschiedenen Lebensabschnitten, die nicht immer vom Alter oder Wohnort abhängig sind, wird heute in der zahnmedizinischen Gesundheitsversorgung nicht Rechnung getragen, sodass den Betroffenen der Transition nicht die notwendige Unterstützung gerecht werden kann. Folgende Aspekte sind aktuell nicht oder nur rudimentär abgebildet: Änderungen bei den Krankenversicherungen, medizinrechtliche Überlegungen und Möglichkeiten der unterstützten Entscheidungsfindung, Diskussionen über und mit den beteiligten Berufsgruppen, ehrliches Aufzeigen der verbundenen Hindernisse und Ressourcen sowie Klärung wichtiger psychosozialer und finanzieller Fragen, mit denen viele ältere Menschen konfrontiert sind. Evidenzbasierte Verfahren, die dazu beitragen könnten, die Planung des Übergangs in die allgemeinmedizinische und zahnmedizinische Betreuungs- und Gesundheitsversorgung zu erleichtern sowie die Ergebnisse zu verbessern, sind für das deutsche zahnmedizinische Gesundheitssystem für die älterwerdende Bevölkerung wenig beschrieben (Nitschke et al. 2022).
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Abb. 1 Sicherung des Übergangs (Transition) von einer zur anderen Straßenseite. Transitionen finden in vielen Lebensbereichen (z. B. Jugendlicher-Erwachsener, Ehe-Scheidung, Diktatur-Demokratie) mit unterschiedlichem Aufwand und teilweise nachhaltigen Risiken statt.
Memo
Die sich ständig ändernden Bedarfe der immer fragiler und damit vulnerabler werdenden Gruppe der Senioren werden nicht nachhaltig genug flächendeckend und mehr oder weniger automatisiert gedeckt. Es sind zahnmedizinische Versorgungslücken vorhanden, die vereinzelt durch engagierte Zahnärzte, Angehörige und aufmerksame sowie geschulte Pflegekräfte aufgefangen werden.
Wünschenswert wäre es, wenn nicht eine zufällige, sondern eine strukturierte Überleitung des geriatrischen Patienten zu seiner individuell angepassten zahnmedizinischen Betreuung mit Einbindung aller Betroffenen und aller möglichen Versorgungselemente stattfinden würde. Somit könnten zahnmedizinische Versorgungslücken reduziert bzw. bestenfalls ausgeschlossen werden.
Dass diese zahnmedizinische Versorgungslücke vorhanden ist, ist nachhaltig in der Literatur beschrieben, wobei sich diese Studien oft auf Menschen mit Pflegebedarf, die Bewohner von Pflegeeinrichtungen und deren spezielle Erkrankungen, z. B. Demenz, begrenzen (Lauritano et al. 2019, Rapp et al. 2017). In Deutschland existiert die bevölkerungsrepräsentative Studie (Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie, DMS V) (Jordan et al. 2014), die bei den 85- bis 100-Jährigen auch Menschen mit Pflegebedarf unabhängig von ihrem Wohnort berücksichtigt hat (Nitschke und Micheelis 2016) und eine 100-Jährigen-Studie (Sekundo et al. 2020a und b) (siehe Kapitel Mundgesundheit in Deutschland).
Der Begriff gerostomatologische Transition beschreibt in der Zahnmedizin die nachhaltig strukturierte Begleitung von einer zahnärztlichen Behandlung in eine zahnmedizinische Betreuung für Menschen mit Hilfe- bzw. Pflegebedarf. Die Überleitung des älteren Menschen innerhalb der zahnmedizinischen und allgemeinmedizinischen Strukturen hat das Ziel, bei sinkender eigener Mundgesundheitskompetenz eine gute Mundgesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen. Sie dient einer guten zahnmedizinischen Versorgung der Senioren, egal in welcher Lebensphase diese sich im Alter befinden. Zahnmedizinische sowie medizinische und psychosoziale Teilhabeaspekte sind im interdisziplinären Austausch zusammenwirkend zu berücksichtigen. In der Medizin wird ein „Disease-management-programm“ (DMP) eingesetzt. Damit wird es ermöglicht, die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen des Patienten durch zielgerichtete, strukturierte und in regelmäßigen Intervallen stattfindende Routineuntersuchungen zu erhöhen und gleichzeitig eine langfristige Therapie, Prävention und ein Monitoring zu ermöglichen (Gemeinsamer Bundesausschuss 2022a). Eine Adaptation in der Zahnmedizin wäre wünschenswert.
Transition ist also mehr als nur die Ablieferung eines Seniors in administrativer Hinsicht von einem in ein anderes Behandlungs- bzw. Betreuungssystem bzw. eine andere Betreuungsumgebung (ambulant vs. stationär, Häuslichkeit vs. Pflegeeinrichtung). Sie sollte gerade in der vulnerablen Lebensphase – wie beim älteren Menschen zutreffend – sensibel, patientenorientiert und strukturell geregelt ablaufen. Sie sollte individuell unter Berücksichtigung der mundbezogenen Diagnose, der funktionellen Ressourcen bzw. Einschränkungen, der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität sowie am familiären und sozialen Kontext ausgerichtet und für alle Betroffenen (z. B. Ärzte, Pflege, Angehörige) auch durchführbar sein.
Das gerostomatologische Transitionsmodell sieht die Bewältigung des Übergangs einer zahnärztlichen Behandlung in eine zahnmedizinische Betreuung nicht nur als Kompetenz des Zahnarztes oder des alternden Patienten, sondern als das Zusammenwirken aller am Unterstützungsprozess Beteiligten (unterstützendes Umfeld). Im gerostomatologischen Transitionsmodell wird die Kompetenz des versorgenden Systems eingefordert, um die Versorgungslücke vor und später innerhalb einer zahnmedizinischen Betreuung nicht aufkommen zu lassen bzw. die vorhandenen Versorgungslücken zu schließen.
Ohne eine aufmerksame, strukturierte, nachhaltige und patientenzentrierte Begleitung entstehen hohe Risiken, die langfristig ohne gezielte Aufmerksamkeit die Mundgesundheit und damit auch die allgemeine Gesundheit zumeist negativ beeinträchtigen. Diese sofortige Begleitung eines Übergangs kann in jeder Lebensphase (Prä-Transition) erfolgen, in der die zahnmedizinische Versorgungslücke beim Patienten erkannt wurde. Die besondere Bedeutung und Notwendigkeit einer strukturierten Transition zeigt der hohe Anteil von zahnlosen Menschen bei hochbetagten Menschen mit und ohne Pflegebedarf (Nitschke und Micheelis 2016) (siehe Kapitel Mundgesundheit in Deutschland).
Funktionell eingeschränkte Senioren fordern oft sowohl sich selbst als Betroffene als auch das unterstützende Umfeld (z. B. Angehörige, gesetzlich eingesetzte Betreuer, Pflege) sowie das medizinische Versorgungssystem zur Gesunderhaltung bzw. zur Bewältigung der Krankheitsereignisse der Mundhöhle heraus. Die resultierenden Gesundheitsschäden für das stomatognathe System wirken sich auf die anderen Systeme, wie z. B. Sprechen und Nahrungsaufnahme aus. Verlorengegangenes ist oft im Alter nicht wiederherzustellen. Der Zustand ist häufig nicht mehr umkehrbar, z. B. eine verpasste Chance auf die früher hätte stattfindende Adaptation an neuen Zahnersatz. Bei einem geriatrischen Patienten mit stark reduzierter zahnmedizinischer funktioneller Kapazität ist eine Adaptation an neuen Zahnersatz wesentlich schwieriger, oft auch nicht mehr möglich. Zahnmedizinische Versorgungslücken im Alter sind daher möglichst zu vermeiden bzw. es ist ihnen entgegenzuwirken.
Abb. 2 Entwicklung der zahnmedizinischen Versorgungslücke und der Mundgesundheit ohne und mit strukturiertem Transitionsprozess in der Transitionsarena sowie mit einer risikoabhängigen einjährigen Qualitätskontrolle mit 2 bis 4 Terminen durch den Transitionsmanager.
Es besteht ein besonderer zahnmedizinischer patientenorientierter Versorgungsbedarf aufgrund der ansonsten auftretenden Folgen einer vernachlässigten Mund- und Prothesenhygiene sowie einer versäumten kontrollorientierten zahnärztlichen Inanspruchnahme. Überlegungen und Fragen, die die Grundlage für einen Rahmen für die Seniorenzahnmedizin bilden, versucht das Säulenbild mit den vier großen Bereichen der Seniorenzahnmedizin (interdisziplinäre Teamarbeit, minimal invasive Zahnmedizin, orale Funktionalität und patientenzentrierte Pflege in der Zahnmedizin) darzustellen (León und Giacaman 2022). Jeder Betagte oder Hochbetagte ist einzigartig und bringt ein breites Spektrum an genetischen Hintergründen und Umweltfaktoren mit, einschließlich sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und kohortenspezifischer Lebenserfahrungen, die Gesundheitsvorstellungen und Verhaltensweisen beeinflusst haben (Ettinger und Marchini 2020). Daher sind maßgeschneiderte Konzepte erforderlich, wenn zahnmedizinische Versorgungslücken geschlossen werden sollen. Die Bedeutung und die Notwendigkeit einer systematischen Transition gerade bei multimorbiden Menschen mit chronischen Erkrankungen wurde längst inner- und außerhalb der Zahnmedizin erkannt (Nitschke et al. 2021a), jedoch sind die aktuellen Strukturen im deutschen Gesundheitswesen hierauf noch nicht ausreichend ausgerichtet (Nitschke und Hahnel 2021). Beispielhaft sei hier angeführt, dass der niedergelassene und damit ambulant tätige Zahnarzt seine Leistungen bei einem Patienten im Setting eines Krankenhauses für Akutgeriatrie aufgrund des Status eines stationären Aufenthalts nicht wie üblich mit der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnen kann.
Die gerostomatologische Transition ist auf zwei Ebenen anzusetzen, damit viele Differenzierungen einfließen können: die übergeordnete Ebene mit einer Transition aus einem bevölkerungsrepräsentativen, gerostomatalogischen Blickwinkel und die nachgeordnete Ebene mit einer adaptierten Transition für einen geriatrischen Patienten, die sich speziell an den individuellen Risiken und persönlichen Bedarfen des Patienten orientiert (Abb. 3). Dies bedeutet auch, dass der generalisierte Transitionsablauf nicht immer passend für die Individualsituation des geriatrischen Patienten und seines unterstützenden Umfelds sein kann. Gerade im Alter ist die Heterogenität, die auch durch die sehr unterschiedlichen und oft auch sehr langen Lebensverläufe geprägt ist, eine der größten Herausforderungen des Transitionsprozesses.
Abb. 3 Überblick über die Transitionsarenen und Transitionsbetroffenen getrennt nach der bevölkerungsrelevanten (Makro- und Mesoebene) und der patientenzentrierten (Mikroebene) Transitionsebene (Bevölkerung vs. Patient-Zahnarzt).
Zum besseren Verständnis und zur Vermeidung sprachlicher Missverständnisse sollten die beim gerostomatologischen Transitionsmodell verwendeten Begriffe der Transitionszahnmedizin erläutert sein (Tab. 1; Nitschke et al. 2022).
Tab. 1 Überblick über die grundlegenden Begriffe und Beteiligungen der Transitionszahnmedizin; adaptiert nach Nitschke et al. 2022.
Transitionszahnmedizin
Die Transitionszahnmedizin begleitet die Übergänge der Patienten (Überleitungen) und ist in der Zahnmedizin noch nicht etabliert, obwohl es auch in der Zahnmedizin verschiedene Übergänge gibt, die von einer systematischen Strukturierung profitieren würden.
Die Sicherung der zahnmedizinischen Versorgung von Kindern im Übergang zu Jugendlichen oder später zum Erwachsenenalter, wo dann z. B. einige Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse auslaufen und neue Anbindungen zu schaffen sind, sollten in der Transitionszahnmedizin bearbeitet werden. Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Pflegebedarf benötigen andere zahnmedizinische Versorgungsstrecken als gesunde Erwachsene. Die zahnmedizinischen Leistungen sollten auch immer dem allgemeinen Krankheitsbild angepasst werden. Unterschiedliches Wissen, Erfahrungen und Aufmerksamkeit auf das Geschehen des Übergangs bzw. der Überleitung helfen, eine gute zahnmedizinische Versorgung auf Grundlage der Transitionszahnmedizin zu sichern.
zahnmedizinische Transitionsmodelle
Zur Bewältigung zahnmedizinisch relevanter Transitionen ist nicht nur die Kompetenz des Einzelnen, also z. B. des Zahnarztes gefordert, sondern das Zusammenwirken aller Transitionsbetroffenen. Im Transitionsmodell werden die Aufgaben der Betroffenen sowie die Ziele und der gemeinsame Weg zur optimalen zahnmedizinischen Transition beschrieben. Das Transitionsmodell ist theoretisch ausgerichtet und im Hintergrund wirkend. Es ist dann in der konkreten praktischen Umsetzung einer Überleitung auf die individuelle Situation des einzelnen Patienten und seines Unterstützungsumfeldes anzupassen. Neben der fachlichen dentalen Expertise wird auch die Kompetenz des sozialen Gesundheitssystems und anderer Disziplinen zum Wohl der Mundgesundheit der betroffenen Patientengruppe benötigt und einbezogen.
gerostomatologische Transition
Strukturierte Überleitung von einer zahnärztlichen Behandlung in eine zahnmedizinische Betreuung für Menschen mit Hilfe- bzw. Pflegebedarf bei sinkender eigener Mundgesundheitskompetenz mit dem Ziel eine gute individuelle Mundgesundheit durch Einbeziehung fremder Mundgesundheitskompetenz zu erhalten oder wiederherzustellen. Die gerostomatologische Transition sichert eine zahnmedizinische Versorgung des Seniors, egal in welcher Lebensphase sich dieser befindet.
inklusive Transition
Strukturierte Überleitung von Menschen mit Behinderungen bei reduzierter eigener Mundgesundheitskompetenz mit dem Ziel, eine gute Mundgesundheit durch Einbeziehung fremder Mundgesundheitskompetenz zu erhalten oder wiederherzustellen. Sie dient bei einer Veränderung im Leben des Menschen mit Behinderungen, z. B. Umzug aus dem Elternhaus in eine betreute Wohnsituation, einer zahnmedizinischen Versorgung des Menschen mit Behinderungen, egal in welcher Lebensphase eine Überleitung notwendig wird.
adoleszente Transition
Strukturierte Überleitung von jungen Erwachsenen zum Zeitpunkt zwischen der späten Kindheit und dem Erwachsenenalter. Ohne die elterliche Fürsorge kommt es u. U. zu einer reduzierten oder fehlenden Inanspruchnahme des Zahnarztes, woraus Mundgesundheitsdefizite resultieren können. Eine möglicherweise reduzierte Mundgesundheitskompetenz kann durch eine gezielte Transition gestärkt werden.
Transitionskompetenz