Modelle und Theorien in der Pflege - Silvia Neumann-Ponesch - E-Book

Modelle und Theorien in der Pflege E-Book

Silvia Neumann-Ponesch

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Beschreibung

Ziel der Pflegewissenschaft ist die Erarbeitung ursprünglich pflegespezifischer Modelle und Herangehensweisen. Die Beschäftigung mit theoretischen Ansätzen ist dabei Grundlage und Bestandteil jeder Ausbildung. Das vorliegende Buch führt in einem ersten Teil in die Terminologie und theoretische Denkweise der Pflegewissenschaft ein und gibt einen Überblick über Geschichte, zentrale Vorstellungen sowie über die wichtigsten Pflegemodelle und ihre Klassifikation. In einem zweiten Teil wird auf Basis ausgewählter Beispiele die Umsetzung des theoretischen Denkens in der Pflege illustriert und in unterschiedlichen Kontexten dargestellt. Ein klar strukturiertes und übersichtliches Studienbuch und ein wertvoller Begleiter in der Praxis.

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Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Silvia Neumann-PoneschModelle und Theorien in der Pflege

© Pflegenetz

Silvia Neumann-Ponesch

Mag.a PhDr.inMAS DGKP, Studium der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Die gebürtige Bregenzerin, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Soziologin, Gesundheits- und Pflegemanagerin sowie Pflegepädagogin ist seit 2003 nach ihrer Tätigkeit als Pflegedienstleiterin und Leiterin der Gesundheits- und Krankenpflegeschule am Rudolfinerhaus in Wien als hauptberuflich Lehrende an der Fachhochschule Oberösterreich tätig. Dort leitet sie verschiedene Lehrgänge und engagiert sich insbesondere in der Entwicklung von Advanced Nursing Practice in Österreich.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Autorin oder des Verlages ist ausgeschlossen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

5. Auflage 2021

Copyright © 2004 UTB Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Verlag, 1050 Wien, Österreich

Umschlagbild: © tolgart, istockphoto.com

Satz: Wandl Multimedia-Agentur

Druck: finidr

Printed in the E.U.

ISBN 978-3-7089-2134-1

e-ISBN 978-3-99111-341-6

Vorwort

„Theorie in der Pflege ist kein Luxus mehr“ (Meleis 1999, S. 31).

Zu dieser Aussage stehe ich auch 17 Jahre nach der Erstausgabe dieses Buches. Theoriearbeit im Berufsfeld der Pflege ist kein Selbstzweck: Sie ist Arbeit am Menschen und an der Gesellschaft, um für uns Individuen in einer Community einen Platz zu finden, der uns mit Sinn und Identität ausfüllen möge. Damit wir uns diesem Ziel als Menschen immer wieder annähern können, ist sorgsam an unserer Lebensqualität zu arbeiten. Dies gelingt durch äußere Umstände nicht immer aus eigener Kraft. Unwissenheit, Krisen oder Krankheit vereiteln diese hohen Ziele. Fachkräfte aus dem Gesundheits- und Sozialbereich helfen, uns den Weg zu weisen und uns konkrete Unterstützung anzubieten. Das Was und das Wie des Dienstleistungsangebots resultieren häufig aus der Theorie, auch wenn das Wort Theorie in der täglichen Pflegepraxis nicht allgegenwärtig ist.

Ich zolle allen Theoretikerinnen und jenen Pflegenden, die Theorie praktizieren und die auf unterschiedlichste Weise versucht haben und versuchen werden, Pflege zu erklären und ihr einen Rahmen zu geben, meinen größten Respekt. Alle haben zu einer wichtigen und kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Pflege als Profession beigetragen.

Wichtig ist mir in diesem Buch auch, auf die Bedeutung von Pflegearbeit als Theoriearbeit und insbesondere als politische Arbeit hinzuweisen, um im Sinne der uns Anvertrauten ihnen und uns gesellschaftliches Gehör zu verschaffen.

Im Text wird für die Pflegenden in der Praxis, in der Wissenschaft, im Management und in der Lehre die weibliche Form gewählt, auch wenn beide Geschlechter gemeint sind.

Josi Bühlmann hat es in der zweiten Auflage selbst übernommen, den Text ihres Projekts niederzuschreiben; dies gilt auch für Cora van der Kooij in der dritten Auflage. Ihnen ein herzliches Danke!

Für ihre Geduld gilt mein besonderer Dank meinen beiden Söhnen Leopold und Jonas, meiner Tochter Greta sowie meinem Mann Heinz.

Ihre/EureSilvia Neumann-Ponesch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1Einleitung: Der Status quo der Theoriediskussion in Österreich und im angrenzenden deutschsprachigen Raum

2Kritik an den Theorien

2.1Uneinheitliche Verwendung von Begriffen

2.2Mangelnde wissenschaftlich-empirische Fundierung

2.3Erkenntnistheoretische Unverträglichkeiten

2.4Mangelnde Praxistauglichkeit

2.5Nicht vorhandene Rahmenbedingungen des Praxis- und Ausbildungsumfelds

2.6Mangel an theoriegeleiteter Forschung

2.7Unrealistische Zielsetzungen, was Theorien alles leisten können

2.8Mangelnde multiprofessionelle Ausrichtung

3Die Bedeutung theoretischen Denkens für die Pflege

3.1Einführung: Herausforderungen und Auftrag von Pflege als Wissenschaft

3.2Theorieentwicklung und -anwendung – warum?

3.2.1Entwicklung eines „Body of Knowledge“

3.2.2Schlüsselkonzepte identifizieren und formulieren

3.2.3Pflegeleistung transparent darstellen

3.2.4Vorantreiben der Professionalisierung der Pflege

3.2.5Die Erfüllung eines gesetzlichen Auftrages

3.2.6Beeinflussung des Selbstverständnisses von Pflege

3.3Entwicklung von Theorien und Professionalisierung

3.4Der Prozess der Professionalisierung

4Begriffsdefinitionen

4.1Allgemeiner, kurzer geschichtlicher Überblick

4.2Der Konzeptbegriff

4.3Der Modellbegriff

4.4Der Theoriebegriff

4.4.1Definitionsversuche von Theorien

4.4.2Theorie als Diskurs

4.4.3Definition von Pflegetheorie

4.5Klassifikationen von Theorien

4.5.1Ordnung nach dem Abstraktionsgrad

4.5.2Klassifikationen nach verwendeten Denkschulen/Paradigmen

5Pflegetheorien – ein Überblick

5.1Entwicklung von Theorien und Modellen in der Pflege

5.2Wichtige Theoretikerinnen und ihre Theorien – eine alphabetische Kurzdarstellung

5.2.1Faye Glenn Abdellah

5.2.2Patricia Benner

5.2.3Mieke Grypdonck

5.2.4Virginia Henderson

5.2.5Dorothy Johnson

5.2.6Silvia Käppeli

5.2.7Imogene King

5.2.8Monika Krohwinkel

5.2.9Madeleine Leininger

5.2.10Myra Estrin Levine

5.2.11Kari Martinsen

5.2.12Dorothea Orem

5.2.13Ida Jean Orlando

5.2.14Rosemarie Rizzo Parse

5.2.15Paterson und Zderad

5.2.16Callista Roy

5.2.17Joyce Travelbee

5.2.18Margret Jean Harman Watson

5.2.19Ernestine Wiedenbach

6Theoretisches Denken anhand ausgewählter Beispiele

6.1Das Systemmodell von Betty Neuman

6.1.1Definition von Pflege

6.1.2Definition von Gesundheit und Krankheit

6.1.3Aufgabe der Pflege und ihre Methoden

6.1.4Einordnung des Modells von Betty Neuman

6.1.5Exemplarische Umsetzung eines Praxisbeispiels

6.1.6Analyse des Modells anhand der Kriterien von Cormack und Reynolds

6.2Das Modell von Martha Rogers

6.2.1Grundlagen

6.2.2Definition von Pflege

6.2.3Definition von Gesundheit und Krankheit

6.2.4Aufgabe der Pflege und ihre Methoden

6.2.5Einordnung des Modells von Martha Rogers

6.2.6Exemplarische Umsetzung eines Praxisbeispiels

6.2.7Analyse des Modells anhand der Kriterien von Cormack und Reynolds

6.3Die Theorie von Hildegard Peplau

6.3.1Definition von Pflege

6.3.2Definition von Gesundheit und Krankheit

6.3.3Aufgabe der Pflege und ihre Methoden

6.3.4Einordnung der Theorie von Hildegard Peplau

6.3.5Exemplarische Umsetzung eines Praxisbeispiels

6.3.6Analyse der Theorie anhand der Kriterien von Cormack und Reynolds

6.4Psychobiografisches Pflegemodell nach Erwin Böhm

6.4.1Definition von Pflege

6.4.2Definition von Gesundheit und Krankheit

6.4.3Aufgabe der Pflege und ihre Methoden

6.4.4Erreichbarkeitsstufen – Interaktionsstufen

6.4.5Einordnung der Theorie

6.4.6Exemplarische Umsetzung eines Praxisbeispiels

6.4.7Analyse des Modells anhand der Kriterien von Cormack und Reynolds

6.5Das Konzept der Gefühlsarbeit nach Silvia Neumann-Ponesch und Alfred Höller

6.5.1Theoretischer Ansatz (in Auszügen)

6.5.2Aufgabe der Pflege

6.5.3Ergebnisse

6.5.4Analyse des Konzepts anhand der Kriterien von Cormack und Reynold

6.6Das Konzept „Bewältigung“ für Unfallverletzte am Universitätsspital in Zürich nach Josi Bühlmann

6.6.1Theoretischer Ansatz

6.6.2Pflegerische Unterstützung in der Unfallbewältigung – ein Praxiskonzept aus dem Universitätsspital Zürich

6.7Modellvorhaben „Entlastungsprogramm Demenz (EDe)“

6.7.1Ziel des Modellvorhabens

6.7.2Theoretischer Hintergrund des Modell-vorhabens

6.7.3Die Methodik des Modellvorhabens

6.7.4Ausgewählte Ergebnisse und Empfehlungen (Auszüge)

6.8Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell

7Theorieentwicklung und Theorieanalyse

7.1Gemeinsamkeiten von Theoriesynthese und Theorieanalyse

7.2Merkmale der Theorieentwicklung

7.2.1Begriffe

7.2.2Thesen oder Annahmen

7.2.3Zusammenfügen einzelner Elemente zu einer Theorie, einem Konzept oder Modell

7.2.4Beispiel von Theoriebildung anhand des Konzepts der Gefühlsarbeit

7.2.5Auszüge aus der Analyse von Theorien

7.2.6Allgemeines zur Theorieentwicklung

8Perspektiven der Zukunft – Patchworktheorien

9Theorie- und Wissensanwendung in der Pflegepraxis

9.1Rahmenbedingungen für gelebte Theorie- und Wissensanwendung in der Praxis

9.1.1Organisatorische und gesellschaftliche Voraussetzungen

9.1.2Persönliche Voraussetzungen der Pflegenden

9.2Modelle der Wissensanwendung

9.2.1WICHEN-Modell

9.2.2NCAST-Modell

9.2.3CURN-Modell

9.3Die Bedeutung von Wissensmanagement für die Implementierung theoretisch-wissen-schaftlicher Erkenntnisse

9.4Die Bedeutung von EBN (Evidence based Nursing) im Theorietransfer

9.5Die Rolle der Advanced Practice Nurse (APN)

Literaturverzeichnis

Anhang 1: Erstgespräch im Rahmen der Pflegeanamnese

Anhang 2: Das Konzept der Immobilität

Anhang 3: Soziale Isolation und Einsamkeit

Anhang 4: Fallbeispiel

1 Einleitung: Der Status quo der Theoriediskussion in Österreich und im angrenzenden deutschsprachigen Raum

Dieses Kapitel stellt in Kürze den aktuellen Stand der Theoriediskussion dar. Es wird dabei nicht vertieft auf die Arbeiten in der Pflegewissenschaft eingegangen; dazu liegen andere Standardwerke vor.

Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts assoziieren viele Pflegende zu den Begriffen Pflegekonzept, -theorien und -modelle die Denkgebäude der klassischen Pflegetheoretikerinnen wie Orem, Peplau, Roper u. v. m. Seit den 1990er-Jahren ist es international ruhig um diese Art von Pflegetheorien geworden. Das große Interesse an ihnen im deutschsprachigen Raum bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich mit dem „Nachholeffekt“ (vgl. Moers/Schaeffer 2006) erklären. Verantwortlich für die große Bekanntheit der theoretischen Ansätze der Pionierinnen sind nicht zuletzt die Bemühungen vieler Pflegelehrerinnen der letzten zwei Jahrzehnte, die auf die Relevanz der Theorien für eine Entwicklung in der Pflege hingewiesen haben. Theorien gelten als Bestandteil des pflegewissenschaftlichen Body of Knowledge und finden sich in vielen Ausbildungscurricula wieder.

Diese sogenannten großen Theorien und Modelle trachteten danach, die Pflege als eigenständige wissenschaftliche Disziplin in der Gesellschaft zu verorten.

Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre hat die deutschsprachige Pflegegemeinschaft viele dieser Theorien unreflektiert in den hiesigen Kulturkreis übernommen. Zu groß war und ist die Wertschätzung gegenüber den Pionierinnen, die uns solch komplexe Werke zum Denken und zur Umsetzung aufgaben, zu wenig ausgeformt war der wissenschaftliche Korpus, um die mit der Übernahme verbundenen Fragen systematisch zu bearbeiten. Wenn wir die breite Pflegeöffentlichkeit betrachten: Was ist heute aus dem scheinbar enthusiastischen Aufbruch zur Eroberung der Pflegetheorien übrig geblieben? Ist es mehr als ein Pflegen nach Theorie oder Modell XY, die die Leitbilder von Gesundheitsorganisationen zieren?

Was ist aus den Pflegetheorien geworden?

„Können Sie mir eine Organisation, eine Abteilung, eine Station nennen, wo Pflege nach einer Pflegetheorie definiert ist und wo nach ihr gearbeitet wird?“, lautete meine Frage am Beginn meiner Lehre zu „Konzepten, Modellen und Rollen“ an Studierende verschiedener Studien- und Lehrgänge, eine Frage, die ich vor über 15 Jahren auch mir bekannten Pflegepraktikerinnen, Pflegemanagerinnen und Pflegewissenschaftlerinnen im deutschsprachigen Europa stellte. Die meisten antworteten mit einem klaren „Nein“; manche wussten von Modellprojekten, die allerdings schon eine Zeitlang zurücklagen und von denen man nicht wusste, was aus ihnen geworden war.

„Innerhalb der Berufsgruppe wuchs die Einsicht, dass die Praxisdisziplin Pflege einen abstrakten, wissenschaftlich orientierten Rahmen aufweisen sollte“ (vgl. Kühne-Ponesch 2004), so schrieb ich in der Erstauflage dieses Buches. Sowohl Menge als auch Qualität systematisch entwickelter Pflegetheorie und ihr Einsatz haben zugenommen. „Die heutige Situation der Pflegepraxis legt nahe, dass Pflegende über viel Theorie verfügen und mit praxisrelevanten Forschungsergebnissen vertraut sind“ (Käppeli 2003, S. 26). Doch ob sich diese Bemühungen auch auf eine verbesserte Pflegequalität auswirken, kann bis heute nicht beurteilt werden; ebenso wenig ist eine Aussage zu treffen, ob sich dadurch das Verständnis verändert hat.

Paradigmenwechsel

Inzwischen vollzieht sich ein deutlicher Paradigmenwechsel: weg von den globalen, abstrakteren Theorien hin zu Theorien mittlerer und geringerer Reichweite und zu Praxiskonzepten.

Dennoch konnte Pflege bis heute mithilfe von Pflegetheorien nicht darlegen, was die USP (Unique Selling Proposition) der Pflege ist. Dieser Ausdruck aus der Wirtschaft ist absichtlich gewählt und meint einen der Konkurrenz überlegenen Wettbewerbsvorteil v. a. bei der Qualität. Wie im Vorwort schon zu lesen, waren auch die Bemühungen meinerseits für die dritte Auflage des Buches, Evaluierungen theoriegeleiteter Pflege in Österreich darzustellen, nicht erfolgreich. Somit ist es nach wie vor nicht möglich, wichtigen Financiers für Pflegeprojekte darzustellen, welche Geldmittel für welche Art von Qualitätsarbeit für das österreichische Gesundheits- und Sozialwesen bereitzustellen sind. Dies heißt auch, dass für externe Partner (und mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Pflegenden selbst) eine Differenzierung zwischen Pflegearbeiten, die von weniger qualifizierten Personen durchgeführt werden, und solchen, die von gut bis hoch qualifizierten Personen durchgeführt werden, nicht möglich ist. Bis dato (2021) gibt es in Österreich noch keine Pflegeberichterstattung.

Die im Kapitel „Kritik“ an den Pflegetheorien und -modellen (v. a. der Pionierinnen aus dem angloamerikanischen Raum) angeführten Punkte führten u. a. zu einer Paradigmenverschiebung1 innerhalb der Pflegewissenschaft (was nicht heißt, dass es heute eine eindeutige paradigmatische Orientierung gibt).

Paradigmenverschiebung

Sicher ist eine Wende von der naturwissenschaftlichen zu einer vermehrt sozialwissenschaftlichen Orientierung – ein paradigmatischer Entwicklungsschritt in Richtung Reifen einer Wissenschaft im Sinne Kuhns (1976, S. 27). Ein weiterer Paradigmenwechsel hat mit der Fokussierung auf eine evidenzbasierte Praxis Einzug gehalten. So sehen Fawcett und ihre Kolleginnen Watson, Neumann, Walker und Fitzpatrick (2001) die Praxisentwicklung von einer theoriegeleiteten hin zu einer sich am Beginn befindlichen empirischen Entwicklung. Theorie ist heute in weiten Teilen mit dem Nachweis von Evidenz gleichgesetzt. Spannend ist die Frage, was zu diesem raschen Paradigmenwechsel geführt hat? Mit EBN (Evidence Based Nursing) beschäftigt sich Pflege in Österreich erst seit den 1990er-Jahren. Dass auch diese Entwicklung für die Pflege nicht unproblematisch sein muss, ist im nächsten Kapitel zu lesen. Kuhn (1976) glaubt, über seine Beobachtungen in der Forschungslandschaft behaupten zu können, dass es immer dann zu einem Paradigmenwechsel kommt, wenn ein Problem nicht gelöst werden kann oder wenn es eine Krise gibt. So kann man jetzt nach den ungelösten Problemen bzw. Krisen der Pflege fragen: Ist es die Krise des mangelnden Empowerments von Pflege in der Gesellschaft, ist es die Krise der nicht vorhandenen Transparenz, die dazu führt, dass die Ergebnisse der Pflege nicht benannt werden können, oder ist es die wirtschaftliche Krise, die den Kampf um die Ressourcen einer Pflegeentwicklung hemmt?

Reifen einer Wissenschaft im Sinne Kuhns

Bereitschaft zum Kulturwandel?

Die als Einstieg geäußerte Frage nach einer in der Praxis gelebten Theorie oder einem Modell in den Pflegeeinrichtungen und Organisationseinheiten der Pflege gibt es heute wohl mehr auf dem Papier, als dass sie als internalisiertes Wissen Anwendung finden würde. Nach wie vor ist Handeln ritualisiert und wenig von einem Denkprozess begleitet. Die Bereitschaft zum Kulturwandel ist eingeschränkt. Dies ist bedingt durch die Prägung der Pflege durch ein religiöses Wertesystem, durch die Motivation von Aufopferung und Berufung sowie durch die Fremdbestimmung der Medizin. Die Medizin ist vielfach auch unbewusst als Vorzeigemodell für das zu Erreichende im Gesundheitswesen verinnerlicht.

Käppeli (1999, S. 155) betont das heterogene Bild der theoriegeleiteten Pflege: „Den heutigen Pflegenden fehlen die pflegetheoretische Begründungskompetenz ihres Handelns und die Voraussetzungen zur Gesundheitsförderung weitgehend, was zur gesellschaftlichen Tendenz, die Pflege als Hilfsdienst einzuschätzen, beiträgt.“ Wäre das Bild von Pflege in der breiten Öffentlichkeit und in den Bezugswissenschaften ein anderes, so müsste heute kaum so intensiv um die Beteiligung an politischen Ämtern und um die Akademisierung gerungen werden. Die Akademisierung etwa setzt viele positive Akzente: Pflegende werden motiviert, Fragen aus der Praxis zu formulieren und einer Antwort zuzuführen, die Argumentationsbasis für das Handeln gewinnt an Stärke, und es wächst der Selbstwert, sich solidarisch für Kranke und Schwache einzusetzen. Dennoch ist die Entwicklung der Pflegewissenschaft nicht Garant für einen gelungenen Praxis-Theorie-Transfer, d. h. ein linearer Denk- und Pflegeprozess garantiert nicht immer die Lösung eines komplexen Problems; diese Erfahrung mussten ebenfalls viele Vorreiterinnen machen. Die aktuellen Bemühungen, Advanced Nursing Practice, die erweiterte und vertiefte Pflegepraxis (vgl. Neumann-Ponesch et al. 2013, 2014) in Österreich bekannt zu machen und zu etablieren (in Ansätzen gibt es sie schon), hat einen intensiveren und nachhaltigeren Theorie-Praxis-Transfer zum Ziel.

Fragen zur Vertiefung

• Was ist ein Paradigmenwechsel?

•Zu welchem Paradigmenwechsel kam es in der Pflege und wodurch wurde er ausgelöst?

• Beantworten Sie die von mir gestellte Frage: „Können Sie mir eine Organisation, eine Abteilung, eine Station nennen, in der Pflege durch eine Pflegetheorie definiert ist, nach der gearbeitet wird?“

• Warum ist die Antwort auf die vorhergehende Frage so ausgefallen, wie sie ausgefallen ist?

Weiterführende Literatur

Fawcett, J. et al.: On nursing theories and evidence. Journal of Nursing Scholarship 2/2001, S. 115–119.

Käppeli, S.: Theorie ins Erfahrungswissen integrieren. Managed Care 2003, S. 25–26.

Käppeli, S.: Transfer der Theorie in die Praxis oder Bereicherung der Theorie durch die Praxis? Tagung der Hochschule für Gesundheit Fribourg, 12. 4. 2005.

Kuhn, T.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976.

Moers, M./Schaeffer, D.: Pflegetheorien heute: Wie könnten sie die Praxisentwicklung fördern? Die Schwester/Der Pfleger 46/12, 2006, S. 1050–1053.

Moers, M./Schaeffer, D.: Pflegetheorien heute: Wie könnten Sie die Praxisentwicklung fördern? Die Schwester/Der Pfleger 46/1, 2007, S. 70–73.

Neumann-Ponesch, S. et al.: Advanced Nursing Practice in Österreich. Positionspapier. Wien: facultas.wuv, 2. Auflage 2014.

1 „Paradigmen in diesem Verständnis sind theoretische und pragmatische Leitvorstellungen, die sowohl wissenschaftliche wie praktische Aktivitäten in einem bestimmten Handlungsfeld in ihrer grundlegenden Orientierung bündeln und richtunggebend zusammenfassen.“ (Wolters 1998, S. 60)

2Kritik an den Theorien

In diesem Kapitel werden die häufigsten Kritikpunkte an Pflegetheorien und -modellen besprochen. Die Kritik betrifft sowohl die Arbeiten der Pionierinnen als auch die neueren Theorien. Es handelt sich aber nicht ausschließlich um Kritik an der Theorie selbst, sondern es ist auch der Umgang mit theoretischer Arbeit in und durch die Berufsgruppe der Pflegenden durch alle theoretischen Phasen hindurch abgebildet.

Nach der anfänglichen Euphorie über die in erster Linie aus den USA stammenden Pflegetheorien folgte eine Phase der Ernüchterung. Bei kritischer Betrachtung der Schlüsselbegriffe stellten sich einige – im Speziellen von der Pflege als wertvoll erachtete – Ansätze als Seifenblasen heraus.

Ganz generell werden an den klassischen Theorien und Modellen der Pflegewissenschaft aus den unterschiedlichsten Gründen mangelnde Vergleichbarkeit, mangelnde wissenschaftliche Fundierung und mangelnde Praxistauglichkeit kritisiert.

Es gibt kaum eine einheitliche Definition oder ein einheitliches Verständnis von Begriffen!

2.1Uneinheitliche Verwendung von Begriffen

Ein Kritikpunkt liegt darin, dass die einzelnen Theorien und Modelle die Begriffe Person, Umwelt, Gesundheit und Krankheit unterschiedlich definieren. Das kann jedoch auch den Vorteil mit sich bringen, dass die Pflegenden leichter ein ihrer Situation angemessenes Modell finden, das die speziellen Bedürfnisse der jeweiligen Arbeitsumgebung berücksichtigt (vgl. Cormack/Reynolds 1992).

Der hohe Abstraktionsgrad vieler Begriffe und der ihnen zugrunde liegenden Paradigmen stiftet weitere Verwirrung. Metatheorien versuchen, umfassende Erklärungen zu liefern – häufig mit dem Resultat, dass sie nichts erklären. Sie seien zu abstrakt und zu wenig kontextbezogen, lautet die Kritik. Grundsätzlich sind alle Theorien und Modelle mit hohem Abstraktionsgrad (wie z. B. jene, die sich an die Systemtheorie anlehnen) großer Kritik vonseiten der Pflegewissenschaft ausgesetzt. Ihnen ist gemein, dass sie eher den Soll- als den Istzustand der Wirklichkeit beschreiben; im Vordergrund steht „[…] mehr Ideologie als Analyse und auch mehr Handlungsmodell als Handlungsanalyse“ (Dassen/Buist 1994, S. 92). Dies wird auch von June Clark (1982) unterstrichen. Es besteht ein Bedarf an Theorien und Modellen, die Pflegende in der Praxis unmittelbar unterstützen. Es müssen Konzepte entwickelt werden, die Pflege in operationalisierter (messbarer) Form beschreiben und vorhersagen. Diesem Trend wird heute – um die Praxis besser zu bedienen – vermehrt nachgegangen. Wir wissen heute jedoch noch zu wenig, ob und wie die Begriffe der Theorien geringerer Abstraktion in der Praxis angenommen und umgesetzt werden; zu jung ist deren Entwicklung im deutschsprachigen Raum.

Bedarf an praxistauglichen Theorien

Auch die Verwendung tautologischer Begriffe führt zu einem Mangel an Deutlichkeit: Man versucht häufig, das Konzept „Nursing“ mit „Nursing“ zu erklären. Dem entgegnet Fawcett (1996a), es handle sich dabei keinesfalls um Tautologien; vielmehr sei „Nursing“ ein Sammelbegriff. Dies ist allerdings nicht wirklich überzeugend und kann auch nicht kritiklos akzeptiert werden. Begriffe sollten, wenn möglich, klar definiert und eindeutig sein. Denn das Betreiben von Wissenschaft und die Durchführung von Pflege basieren auf einer gemeinsamen Sprache im jeweiligen Schaffenskontext. Ist dem nicht so, ist das Erreichen eines definierten Ziels eher ein Zufallsprodukt als durch systematisches und logisches Vorgehen gekennzeichnet.

Klarheit von Begriffen oder Tautologien?

Ein weiterer Mangel besteht darin, dass sich in vielen Theorien und Modellen Definitionen von Pflege finden, die die Pflege omnipotent erscheinen lassen: Pflege kann alles und ist für alles zuständig. Dies ist ein unrealistischer Ansatz.

Das nachfolgend angeführte Beispiel des Begriffs „Aggression“ als Pflegephänomen stellt die Problematik der Begriffsdefinitionen in den verschiedenen existierenden Klassifikationssystemen dar. Je nach Klassifikationssystem wurde der Begriff in unterschiedlichen Kontexten definiert und festgeschrieben. Das Ergebnis ist, dass Aggression je nach Ordnungssystem unterschiedliche Bedeutungen haben kann.

Tabelle 1: Darstellung des Begriffsunterschieds „Aggression“ in Abhängigkeit von den Klassifikationssystemen ICNP und NANDA (vgl. Manier 1999)

ICNP

NANDA

Darstellungsform

Beschreibung des Phänomens

Risikodiagnose

Ausgang

vom Aggressionsbegriff

vom Gewaltbegriff

Definitionsbreite

eher eng; nur körperliche Verletzung

eher breit; körperliche Verletzung und emotionale Verletzung

Orientierung

interaktionistische und biologische Faktoren

am Verhalten des Aggressors

Unterschiedliche Definitionen ein und desselben Begriffs

Die unterschiedlichen Definitionen „ein und desselben“ Begriffs in den beiden Ordnungssystemen würde – sofern eine exakte Ausrichtung auf die Begriffe vorgenommen wird – zu verschiedenen Betrachtungsperspektiven mit unterschiedlichen abgeleiteten Maßnahmen für die Klientinnen führen.

In engem Zusammenhang mit der uneinheitlichen Verwendung von Begriffen steht das Problem der mangelnden wissenschaftlich-empirischen Fundierung von Modellen und Theorien.

2.2Mangelnde wissenschaftlich-empirische Fundierung

Der Beginn jeder Ausformulierung eines Modells oder einer Theorie beruht auf den persönlichen, umfassenden Erfahrungen der Theoretikerinnen. So war in den Anfängen kaum nachzuvollziehen, worauf sich ihre Erklärungszusammenhänge bezogen, für welche Klientengruppe ihre Aussagen zutrafen und/oder in welcher Pflegesituation das Modell oder die Theorie anwendbar war. Mangelnde wissenschaftlich-empirische Fundierung führt zu dem Vorwurf, Pflege basiere auf pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen. Dadurch kann die Anerkennung durch die Scientific Community infrage gestellt werden.

Es wird auch immer wieder gefordert, Theorien (im Speziellen normative Theorien, die auf philosophisch-konzeptionellen Überlegungen beruhen) zu testen. Dies geschieht bis heute zu wenig.

Die neue Strömung – nach Ingersoll (2000) eine Modeströmung –, weniger abstrakte Theorien durch Evidenzbasierung (in erster Linie aus positivistischer Sicht) zu generieren, scheint verlockend und besser geeignet, Ursache und Wirkung systematisch zu verbinden. Keine Frage – Forschungen, die evidenzbasierte Ergebnisse hervorbringen, sind heute nicht mehr wegzudenken und leisten eine wichtige Professionsaufgabe. Der große Kritikpunkt vieler Wissenschaftlerinnen – und auch meiner – ist, dass Evidene Based Nursing (EBN) aus der Medizin übernommen wurde, ohne dessen konkreten Nutzen zu hinterfragen.

Evidenzbasierung statt abstrakter Theorien?

Während Evidenzbasierung in der Medizin das naturwissenschaftliche Paradigma bedient und auf randomisierte, kontrollierte Studien als akzeptable Wissensfundamente setzt, bildet der naturwissenschaftliche Wissenschaftsfokus die Pflege nur bedingt ab.

Verschiedene Autorinnen sehen diese Vorgaben für Evidenz als vorgeschobene Rechtfertigung für antitheoretische Haltungen an, die wichtige Wissensgebiete der Pflege, beispielsweise das ethische oder das ästhetische Wissen (vgl. Chinn/Kramer 1999; Fawcett et al. 2001), beschneiden, ja, gar nicht berücksichtigen. Die Folgen seien eine Vergrößerung der bereits weit klaffenden Theorie-Praxis-Lücke und die Gefahr, das medizinisch-naturwissenschaftliche Paradigma überzubetonen (vgl. Walker/Redmond 1999; Upton 1999). Grypdonck (2004) weist darauf hin, dass Evidence-based Practice auf Theorie beruhen kann, aber nicht muss, und sagt weiter: „Ich muss sagen, dass ich zwar erklären kann, jedoch nicht verstehe oder vielleicht nicht verstehen will, wie die Pflege mit solch einer langen Geschichte des Insistierens auf dem Wert der Theorie – Pflege hat in dieser Beziehung mehr geleistet als die Medizin – dies in weniger als drei Jahren fast vollständig vergessen konnte, als sie EBP (Evidence- Based Practice) annahm.“ (a.a.O., S. 37) Diese blinde, unreflektierte Übernahme ohne gleichzeitige und gleichwertige Berücksichtigung anderer Paradigmen wie beispielsweise das der Phänomenologie, der Hermeneutik, der Ethnologie oder der Grounded Theory könnte eine weitere Professionalisierung hemmen (siehe die Kapitel über Professionalisierung, S. 41–51). Nebenbei sei bemerkt, dass auch in der Medizin nur ein Teil des zur Anwendung kommenden Wissens auf hoher verfügbarer Evidenz beruht. Claudia Wild, die ehemalige Geschäftsführerin des Instituts für Health Technology Assessments, spricht hier von maximal 10 %. Was soll uns das sagen?

Evidenz als „Rechtfertigung“ für antitheoretische Haltungen?

Es gibt viele Schulen der Erkenntnisgewinnung und viele Methoden, je nach der eingenommenen Perspektive. Ich schließe mich hier Mayer (2002) an, die den Vorschlag unterbreitet, nicht von „evidence-based“, sondern von „research-based“ zu sprechen, was der Pflege die Chance gibt, ihren Handlungs- und Begründungszusammenhang breit aufzusetzen.

Unterschiedliche Theorietypen gehen unterschiedliche Fragestellungen unterschiedlich an.

Der Streit um die Qualität der verschiedenen Theorien muss (bis auf wenige Ausnahmen) unfruchtbar bleiben, da verschiedene „Theorietypen unterschiedliche Fragestellungen und Phänomene mit unterschiedlichen Begriffen und Grundannahmen, Erklärungsstrategien und Methoden angehen“ (Haller 1999, S. 41 f.). Dies trifft auch auf die Pflegetheorien und -modelle zu. Aufgrund der grundlegenden wissenschaftstheoretischen Differenzen zwischen den verschiedenen Typen von Theorien und Modellen und ihrer vernachlässigten Anwendung und Evaluation in der Praxis ist es nicht ohne Weiteres möglich – etwa durch systematische empirische Ansätze –, zu entscheiden, welche Theorietypen besser, schlechter bzw. gar „richtig“ oder „falsch“ sind. Selbst darüber, ob Modelle und Theorien sich in der Praxis „bewähren“, kann nichts ausgesagt werden – es gibt sie kaum. Eine löbliche Ausnahme scheint mir dabei das Modell von Erwin Böhm, obwohl es nicht konsequent wissenschaftlich fundiert ist.

Wer bestimmt heute, was wirklich ist?

Der Objektivitätsanspruch von Theorie hat heute an Absolutheit verloren. Dies hängt damit zusammen, dass sich im Verlauf der Theoriediskussion eine veränderte Auffassung von Wirklichkeit durchgesetzt hat (vgl. Kirkevold 2002). Wer bestimmt heute über das, was wirklich ist? Es wird diskutiert, ob in der Pflege und für ein besseres Verständnis derselben die objektive Wirklichkeit, die durch die Wissenschaft erzeugt wird, der subjektiven nicht nachgereiht werden müsste.

2.3Erkenntnistheoretische Unverträglichkeiten

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass Begriffe aus unterschiedlichen Kulturkreisen, häufig aus dem angloamerikanischen Bereich, unserer Kultur ohne Diskussion und Anpassung übergestülpt werden, wodurch sich Probleme „[…] aus der Unangemessenheit einer fremden Perspektive ergeben und in letzter Konsequenz zu einem beträchtlichen Maß an Fremdbestimmung führen“ (Müller 2001, S. 48). Ein Beispiel: Viele Theoretikerinnen fokussieren stark auf den Beziehungsprozess und die Interaktion zwischen Patientin und Pflegeperson. Die eine solche Interaktion bestimmenden gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen werden kaum diskutiert und häufig vernachlässigt. In einigen Theorien werden wünschenswerte Qualifikationen von Pflegenden aufgelistet; wie und in welchem Kontext ein Team Pflegearbeit erbringen sollte, wird hingegen kaum beschrieben. Es wird kritisiert, dass die Theoretikerinnen, „nicht im Blick [haben], dass die Probleme der Pflegenden gleichrangig sind mit denen der Gepflegten, dass Patientenorientierung ohne Personalorientierung eine Fiktion ist“ (Botschafter/Steppe 1994, S. 75). Aus der Erfahrung wissen wir: Theoriegeleitetes Handeln kann nur in einem theoriefreundlichen Umfeld stattfinden.

Theoriegeleitetes Handeln bedarf eines theoriefreundlichen Umfelds

2.4Mangelnde Praxistauglichkeit

Alle Pflegetheorien bündelten das Wissen über die Pflege ihrer Zeit und ihres Kulturraums. Alle ohne Ausnahme formulier(t)en Idealziele der Pflege: Wie soll Pflege sein? Sie geben aber wenig Anhaltspunkte, wie man dorthin kommt.

Die Entwicklung von Theorie in Bezug auf Praxisverhältnisse ist entscheidend!

Die Auseinandersetzung mit Theorien brachte der frühen Pflegewissenschaft Reputation und Fortschritte bei der Professionalisierung. Ihren Anspruch, Orientierung für Praxis und Ausbildung zu bieten, konnte sie jedoch aufgrund der großen Komplexität nicht erfüllen. Schwer zu „greifen“ war der Anspruch, große, allgemeine und somit zu abstrakte Modelle für das gesamte Pflegehandeln zu entwickeln. Erschwerend wirkte das „Herunterbrechen“ dieser Modelle auf die verschiedenen differenzierten Praxissituationen. Durch allgemeine, alle Pflegebereiche übergreifende Ansätze wird die Entwicklung von Konzepten erschwert, die an spezifische Situationen angepasst sind. Der Komplexität und Mannigfaltigkeit von Pflegehandlungen werden die meisten Theorien und Modelle, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft gerecht. So stoßen häufig verbreitete Modelle, die den Organisationen durch Geldgeber, den politischen Willen oder das Management aufgezwungen werden (wie beispielsweise die von Orem oder Roper), an ihre Grenzen. Probleme und deren Lösungen müssen heute erst im Lichte von Forschungsergebnissen und der sich daraus neu formenden theoretischen Erkenntnisse in Bezug auf bestehende Praxisverhältnisse analysiert und entwickelt werden. Beispielsweise kann theoretisch zusammengetragenes Wissen erklären, wie eine Kranke ihren Zustand erlebt und wie sie damit umgeht; dieses Wissen gibt den Pflegenden allerdings keine Handlungsanweisungen, welche Maßnahme in welcher Situation die richtige ist.

Wie und in welchem Ausmaß der theoretische Diskurs Einfluss auf die Praxis nimmt, kann schwer gemessen werden. In der klassischen Wissenschaftstheorie wird die Beschreibung von Phänomenen und ihren Beziehungen als Aufgabe angesehen. Die immer schon vorhandene und für eine Entwicklung notwendige Kluft zwischen Theorie und Praxis scheint sich aber durch die Theoriearbeit nicht verkleinert zu haben. Der Großteil der theoretischen Arbeiten ist weder induktiv entwickelt noch in der Praxis getestet worden. Das heißt, wir haben wenig Gewähr dafür, dass die Pflegetheorien die Praxis in gewünschter Weise verändern. Praktikerinnen sollten aber in der Umsetzung von Theorie nichts unversucht lassen (siehe auch das Kapitel „Bedeutung theoretischen Denkens“, S. 28). Um zu entscheiden, ob eine Theorie, ein Modell zu adaptieren ist oder aber die Praxis angepasst werden soll, müssen die Schritte der Umsetzung und ihre Auswirkung dokumentiert und evaluiert werden (vgl. Käppeli 1988).

Eine zunehmende Bedeutung erfährt die Darstellung des Ergebnisses von Pflege in erster Linie in Bezug zu den Klientinnen. Rückschlüsse auf das Klientenergebnis (Outcome) können nicht getroffen werden, da zwar per definitionem ein Bezug zwischen Diagnose und Ergebnis im Pflegeprozess hergestellt werden sollte, dies im Pflegealltag aber nicht geschieht. Pflegequalität und -leistung bleiben größtenteils völlig unsichtbar und scheinbar unbedeutend. Die Sichtbarkeit von Pflege wird untergraben und behindert den Diskurs zukünftiger Ausrichtungen – ein Teufelskreis.

2.5Nicht vorhandene Rahmenbedingungen des Praxis- und Ausbildungsumfelds

Man muss die Anwendung theoretischen Wissens in der Praxis üben. So wird Theorie selbstverständlicher Bestandteil der Praxis. Die bestehenden Rahmenbedingungen sind für den kontinuierlichen „Übungs- und Anwendungseinsatz“ von Theorie nicht geeignet. Der Einsatz qualifizierter, wissenschaftlich fundiert geschulter Mitarbeiterinnen im Praxisumfeld der Gesundheitsorganisationen, die den Theorie-Praxis-Transfer im Auftrag der Organisationen verantworten, lässt auf sich warten. Zu unklar ist das Verständnis von deren Nutzen und zu unklar sind Konzepte der Praxisentwicklung an sich formuliert. Die Einführung neuer Konzepte, eine Veränderung des Pflegeverständnisses oder die Einführung neuer Interventionsmethoden müssen von fach- und sozialkompetenten Personen geplant, begleitet und evaluiert werden. Die Erkenntnisse der Wissenschaft sind in eine für die Mitarbeiterinnen verständliche Sprache und Handlungsanweisung zu übersetzen. Es müssen systematische Möglichkeiten geschaffen werden, bei Unklarheiten und Problemen Fragen zu stellen, die situationsgerecht beantwortet werden. Die Rahmenbedingungen dafür sind seitens des Unternehmens zu schaffen. Organisationsentwicklung ist kein Zufallsprodukt, das auf die Verantwortlichkeit jeder einzelnen Mitarbeiterin, unabhängig von Rolle und Qualifikationsniveau, aufgeteilt werden kann. Modellberechnungen, was beispielsweise gut ausgebildete Pflegeexpertinnen oder Pflegeberaterinnen in Hinblick auf Effektivität und Effizienz eines Gesundheitsunternehmens leisten, wären hilfreich, um die Frage nach dem adäquaten Rahmen zu beantworten.

Modellberechnungen, was Expertinnen und Beraterinnen bringen, sind notwendig!

Ebenso mangelt es an strukturierten Lösungen für die Implementierung neuen Wissens in die Praxis und die Bearbeitung von Problemen aus der Praxis. Die Frage, wie sich Wissenschaft und Praxis gegenseitig beeinflussen, ist weitestgehend unbeantwortet. Die Pflegewissenschaft, die auf sich konzentriert ist, um ihre Existenz zu begründen, vernachlässigt die Antwort darauf, was Pflege von morgen sein muss. „Die meisten Pflegetheorien dienen primär der Existenzberechtigung der Pflegewissenschaft und weniger der Praxis der Pflege“, so bereits Ruth Schröck (1997, S. 170).

Die kaum vorhandenen brauchbaren politischen Vorschläge für das Berufsfeld und dessen Aufgaben forcieren den Trend, vermehrt auf schlecht ausgebildetes und meist junges Personal zur Bewältigung der quantitativ anwachsenden Aufgaben in der Praxis zurückzugreifen. Theoriegeleitetes Handeln kann aber nur fruchten, wenn Theorie im weitesten Sinne in der Aus- und Weiterbildung vermittelt wird und eine Hilfestellung zur Umsetzung vorhanden ist. Dazu benötigt jeder Einzelne einen gewissen Reifegrad und die Fähigkeit zu analytischem Denken. Ebenso benötigen die Organisationen eine klare Zielformulierung, was denn ihre Aufgabe ist.

Auszubildende der Gesundheits- und Krankenpflege orientieren sich in erster Linie an dem in der Praxis Vorhandenen. Finden sie keine definierte Theoriearbeit und -anwendung im Sinne einer offenen, lernenden Organisation vor, so kann der Keim neuen Wissens, der durch sie eingebracht wird, nicht aufgehen. Das Wissen verpufft. Die Lehrerinnen der Ausbildungsstätten haben eine Vorbildfunktion, die sie in der Praxis auzuüben haben; ebenso tragen sie Verantwortung bei der Auswahl der Praktikumsstellen. Mehr dazu lesen Sie im Kapitel „Rahmenbedingungen“ (siehe S. 263).

2.6 Mangel an theoriegeleiteter Forschung

Forschung sollte theoriegeleitet sein, wird vielfach gefordert. Häufig aber ist der Theoriebestand ungenügend und muss erst von einer abstrakten auf die praxisrelevante Ebene transferiert werden. Die Folge ist ein geringer Einfluss von Pflegetheorien auf die Forschung. Mehrere Untersuchungen zeigen dies eindrücklich: Dassen und Buist (1994) erwähnen eine Studie, in der über 400 Artikel bezüglich der Verwendung einer Theorie untersucht wurden. In 28 % der Fälle wurden Theorien verwendet, jedoch nur bei einem Sechstel handelte es sich um Pflegetheorien. Dominierend war dabei das Modell von Orem.

Trotz unterschiedlichster Betrachtungsweisen von Pflege besteht in einigen Punkten ein Konsens in der Pflegetheorie:

• Pflege ist patientenorientiert, auf den ganzen Menschen ausgerichtet.

•Die Pflegeempfängerin soll aus ihren gesundheitsbedingten Abhängigkeiten befreit und im Umgang mit ihren Ressourcen und Defiziten gestärkt werden.

• Häufig werden die Klientinnen in den Prozess der Pflege miteinbezogen. Partizipation ist ein wichtiges Element im Sinne der Selbstbestimmung.

• Pflege wird neben anderen Berufen im Gesundheitswesen als eigenständige Profession betrachtet, die ihre eigenen Paradigmen zur Lösung gesundheitspolitischer Fragen einbringt. Pflege verfügt über konkret ausformulierte Ziele, die bei der Alltagsbewältigung der Partnerinnen im Pflegeprozess behilflich sind.

• Pflege wird im Sinne des Pflegeprozesses mithilfe der Elemente Assessment, Diagnostik, Setzen und Ausführen von Pflegemaßnahmen sowie Evaluation ausgeführt.

• Pflege ist Praxis- und Wissenschaftsdisziplin, aber auch Kunst! Die in der Pflege tätigen Personen müssen hohe Qualifikationsansprüche erfüllen.

• Die Theoretikerinnen stellen nicht die Krankheit einer Patientin in den Mittelpunkt. Sie betrachten den Menschen als Ganzes. Das Wiederherstellen und Erhalten des physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens ist vorrangiges Anliegen.

• Pflege soll der Individualität der Pflegeempfängerinnen gerecht werden. Die Methoden der Pflege sind dementsprechend individuell zu entwickeln und anzuwenden.

• Struktur und Inhalte von Theorien und Modellen sind ähnlich. Die Begriffe Pflege, Gesundheit, Krankheit, Patientin bzw. Klientin und Umwelt werden am häufigsten behandelt und miteinander in Beziehung gesetzt.

2.7Unrealistische Zielsetzungen, was Theorien alles leisten können

Anhand des Anspruchs, Klientinnen ganzheitlich zu betrachten, soll eine von mehreren exemplarisch unrealistischen Forderungen dargestellt werden:

Kann ein Mensch ganzheitlich erfasst werden?

Ganze Generationen von Krankenpflegeschülerinnen wurden in ritualisierter Art und Weise auf die Achtung der Ganzheitlichkeit mit und bei Patientinnen oder Klientinnen geschult. Ziel dabei sollte sein, eine reduktionistische Sichtweise auf den Menschen so weit als möglich zu vermeiden. Die meist naturwissenschaftliche Sicht der Medizin genügt diesem Anspruch, der von der Pflege zu durchbrechen versucht wurde, nicht. Der Pflegeprozess ist theoretisch auf eine Vermeidung von atomistischen oder mechanistischen Sichtweisen ausgerichtet. Logischerweise besteht große Nähe zwischen dem Ansatz der Ganzheitlichkeit und den Systemtheorien, den Grand Theories, die den Menschen häufig als bio-psycho-soziales Wesen charakterisieren. Diese Zuordnung ist unumstritten und wurde in jüngster Vergangenheit um die Systembestandteile Umwelt und Spiritualität ergänzt. Allein, es stellt sich die Frage, ob ein Mensch „ganz“ erfasst werden kann? So können zwar über Komponenten des Ganzen zutreffende Aussagen gemacht werden, die aber für das Ganze keine Gültigkeit haben müssen und somit nicht widerspruchsfrei sind (vgl. Stemmer 1999, S. 88).

Das Konzept der Ganzheitlichkeit, das sich hartnäckig ritualisiert in den Ausbildungsstätten fortpflanzt, ist ein Beispiel für solche unrealistischen Zielsetzungen, das sich in der Praxis nicht bewähren kann, weil Ganzheitlichkeit diffus definiert ist und immer von der Definition der jeweiligen Anwenderin abhängt. Zieht man Rogers Ansicht ihrer Systemtheorie heran, wäre Ganzheitlichkeit erst dann verwirklicht, wenn sowohl die Gepflegten als auch die Pflegenden im Rahmen der Organisation als (ganze) Einheit betrachtet würden: eine unrealistische Forderung per se, die einer konsequenten Betrachtung und Anwendung systemtheoretischer Ansätze von vornherein einen Riegel vorschiebt. Und wie Stemmer (1999, S. 90) richtig bemerkt: Dieses Ziel wurde bis heute nicht erreicht allein deswegen, weil es einfach nicht zu erreichen ist. Und notwendige laufende Differenzierungen von Theorien halten kaum Einzug in die praktische Arbeit von Wissenschaft und Praxisumfeld (vgl. Kleve 2005).

2.8Mangelnde multiprofessionelle Ausrichtung

Klienten- und Patientenversorgung ist keine monodisziplinäre Aufgabe, auch wenn die Klientin aus der Profession heraus nach wie vor monodisziplinär betrachtet wird. Theorien vernachlässigen häufig die Notwendigkeit, die Schnittstellen zu verschiedenen Fachdisziplinen darzulegen. Am häufigsten wird die Schnittstelle zur Klientin und Patientin selbst ausgeblendet. Dies mag durchaus noch an der falsch verstandenen Professionsorientierung liegen. Die Folge davon ist, dass eine Orientierung an der Patientin und Klientin einseitig stattfindet und eben nicht patienten- oder klientenorientiert.

Es scheint die Entwicklung „monoprofessioneller“ Theorien und Konzepte in jenen Bereichen notwendig, in denen ausschließlich Pflegeparadigmen adäquate Lösungen anbieten, und die Entwicklung multiprofessioneller Theorien dort, wo Partnerschaft zu einem guten und transparenten Ergebnis für die Gesellschaft führt. Bartholomeyczik (2003, S. 10) mahnt dennoch zur Behutsamkeit; ein zu breites Spektrum an pflegerischen Aufgaben kann allzu leicht dazu führen, dass „[…] die Breite oft auf Kosten der Tiefe geht und gehen muss“.

Fragen zur Vertiefung

• Es gibt viele Gründe, die Kritik an Theorien und Modellen hervorrufen. Nennen Sie die häufigsten und diskutieren Sie diese!

• Moderne Ausbildungsansätze haben zum Ziel, Theorie und Handlung/Praxis einander vermehrt näher zu bringen. Nennen Sie potenzielle Ziele eines modernen Bildungskonzeptes!

3Die Bedeutung theoretischen Denkens für die Pflege

Das folgende Kapitel gibt eine Einführung in gesellschaftliche Entwicklungen im Gesundheits- und Sozialbereich und in die sich daraus entwickelnden Herausforderungen. Es wird die Frage gestellt, was Pflege sein kann. Welchen Zweck dabei Theoriearbeit erfüllt, wird anhand definierter Themenschwerpunkte dargelegt.

Die Professionalisierung einer Berufsgruppe ist für ein Konzept der gelebten Theorie von außerordentlicher Bedeutung. Der Professionsstatus wird sowohl von den Pionierinnen der Pflegetheorie als auch von den „jüngeren“ Theoretikerinnen für die Erfüllung gesellschaftspolitischer Ziele der Pflege als besonders wichtig angesehen. Er ist u. a. für das Empowerment einer Berufsgruppe in einer Gesellschaft verantwortlich: Denn nicht jeder/jede Gruppe – auch bei besten Kompetenzen – darf seine/ ihre Fähigkeiten zum Wohle der Gesellschaft einbringen. Es gibt soziale Regelungen, die ein To Do oder ein Don’t bestimmen. Deshalb ist der Professionalisierung hier ein besonderer Schwerpunkt gewidmet.

3.1Einführung: Herausforderungen und Auftrag von Pflege als Wissenschaft

Ein theoretisches Fundament bedeutet Selbstbestimmung über den Verständnis- und Handlungskorpus.

„Theorie“ kommt aus dem Griechischen (griech.: theoría) und bedeutet Wahrnehmung, Anschauung oder Überlegung. Nach diesem Ursprungsverständnis dienen Theorien dem besseren Verständnis und der Bewertung all unserer Wahrnehmungen, die kulturell, ideologisch oder theoretisch (berufs-)sozialisiert bedingt sind. „Denn wir wachsen in sozialen Situationen auf, die von ideologischen und theoretischen Sprachen beherrscht werden, die unser Denken und unsere Wahrnehmung, d. h. unsere Subjektivität, mitbestimmen. Wenn wir versuchen wollen, selbst zu denken statt uns denken zu lassen und halb geblendet nach der Wirklichkeit zu tasten, werden wir auch erfahren wollen, was Theorie ist […]“ (Zima 2004, S. 4). Ein theoretisches Fundament für das Handeln einer Profession bedeutet Selbstbestimmung über den Verständnis- und Handlungskorpus. Jede Theorie stellt einem Handlungsfeld Orientierungswissen zur Seite, aus dem sich Verantwortungsbereiche und Fragen für die Forschung ableiten lassen. Der Frage nach den Verantwortungsbereichen muss die Frage, was Pflege überhaupt ist oder sein kann, vorangestellt werden.

Pflege ist eine Praxisdisziplin und hat die Aufgabe, einzelne Menschen und Gruppen von Menschen verschiedenen Geschlechts, Alters und kultureller Prägung in ihrer Gesundheit zu fördern und zu beraten, sie während einer Krankheit im Genesungsprozess zu unterstützen oder – in chronischen, nicht heilbaren Stadien – Wohlbefinden zu ermöglichen und Schmerzen zu lindern. Pflege befasst sich sowohl mit psychischen, sozialen und geistigen Bedürfnissen als auch mit den körperlichen Befindlichkeiten.

Pflegetheorie baut auf der Pflegepraxis auf. Daher muss der Konzeption und Implementierung von Pflegetheorien die Reflexion über Struktur und Funktion der Pflege vorausgehen.

Die Konzeption von Pflege geht auf Florence Nightingale zurück. Sie war die Erste, die im Krimkrieg ihre Beobachtungen als Pflegende einer Analyse unterzog, wobei sie auf ihrer guten allgemeinen Ausbildung und ihren besonderen mathematischen Fähigkeiten aufbaute. Sie setzte Variablen wie Mortalität und Hygienemaßnahmen in Beziehung und konnte anhand konkreter Daten einen Zusammenhang nachweisen. Dies war die Geburtsstunde einer „Theorie der empirischen Daten“, die auf Erfahrung und Intuition beruhende Erklärungsmodelle ergänzte und zusehends Eingang in die moderne Pflegepraxis fand. Die Pflegepraxis selbst ist durch hohe Komplexität gekennzeichnet: Ein Pflegephänomen tritt meist nicht isoliert auf, sondern in Kombination mit vielen anderen Phänomenen sowie mit medizinischen Diagnosen. Mehrfachinterpretationen der Pflegesituation, die Mehrfachtherapien provozieren können, sind möglich, auch wenn die Prozesse der Pflege theoretisch logisch ineinander greifen. Um theoriegeleitet entscheiden zu können, sind ausgeprägtes Fachwissen und hohe intellektuelle und soziale Kompetenz erforderlich.

Karl Pearson bezeichnete Florence Nightingale als „Prophetin“ in der Entwicklung der angewandten Statistik

Pflege ist eine Disziplin, bestehend aus Elementen der Forschung, der Philosophie, der Praxis und der Theorie. Diese Elemente stehen in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander und definieren das Aufgabenfeld der Pflege.

Die Komponenten der Pflege sind vielfältig. In der täglichen Arbeit spielen Fragen zur Struktur und Funktion des menschlichen Körpers, zur Bedeutung von Gesundheit und Krankheit, zur Beziehung zwischen den im Pflegeprozess beteiligten Personen sowie die Auseinandersetzung mit Wertesystemen eine Rolle (vgl. Käppeli 1988). Wie die Aufgaben der Pflege von heute und morgen genau zu strukturieren sind, wie und in welchem Ausmaß sie durchgeführt werden sollen, darüber gibt es in der Praxis nur vage Vorstellungen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die im mitteleuropäischen Raum immer wieder diskutiert und adaptiert werden, können die notwendige Diskussion um die Rolle der Pflege im Gesundheitswesen nicht ersetzen.

Meleis (1999, S. 300) schreibt: „Die von den Pflegekräften ausgefüllten Rollen sind in hohem Maß von der theoretischen Perspektive bestimmt, die ihre praktische Arbeit leitet.“ Schenken wir dem Glauben, müssen wir uns fragen, welche theoretischen Ausrichtungen am zweckdienlichsten für die Erfüllung des zukünftigen gesellschaftlichen Auftrags sind. Pflege muss sich daher folgenden Fragen stellen:

• Welchen gesellschaftlichen Auftrag hat das Gesundheitswesen?

• Gibt es formulierte ökonomische, qualitative und ethische Ziele der Leistungserbringung?

• Welchen gesellschaftlichen Part übernimmt dabei die Pflege?

• Welche Qualifikationen (welcher Berufsgruppen) sind zur Erfüllung des gesellschaftlichen Auftrages vonnöten?

• Welche quantitativen und qualitativen Richtlinien müssen die zu erbringenden Leistungen aufweisen?

• Welche Strukturen wirken sich günstig auf die Erreichung des Zieles aus?

Pflege kann sich selbst einen gesellschaftlichen Auftrag erteilen!

Die große Komplexität der potenziellen Tätigkeitsbereiche sowie der nicht klar umrissene oder häufig fehlende Auftrag der Gesellschaft, eine einheitliche, den Bedürfnissen des Einzelnen entsprechende Auffassung von Pflege zu entwickeln, erschweren die Herangehensweise. Die Angehörigen der Pflegeberufe können berufs- und gesellschaftspolitische Entscheidungen nur dann mittragen, wenn die angeführten Fragen sinnvoll in ein Konzept zusammengeführt werden und das Aufgabenfeld der Pflege für alle Berufsangehörigen in gleichem Maße verständlich und transparent wird. Die Meinungen der Pflegenden, ihr Verständnis von Pflege und ihre Interessen sind so indifferent, dass ein solches Konzept erforderlich ist, um zu klären, was unter Pflege verstanden werden kann und verstanden werden soll (vgl. Käppeli 1988).

Die Diskussion über die Ziele und die Aufgabe der Pflege ist voll im Gange. Die ökonomische Lage und die demografische Entwicklung zwingen zur Steigerung der Effizienz. Doch viel zu selten werden „junge“ Pflegeakademikerinnen in politische Entscheidungsprozesse eingebunden. Es stellt sich die Frage, wer Interesse an der Entwicklung der dringend notwendigen Konzepte hat und wer sie bezahlen soll? Daran wiederum knüpft sich die Frage, was oder wer einen Gesundheitsberuf legitimiert?

Die Beantwortung der Fragen, was Gesundheit ist und wie sie individuell und gesellschaftlich hergestellt werden kann, legitimiert einen Gesundheitsberuf. Wie lässt sich Gesundheit messen und bewerten? Was darf sie kosten? „Der Versuch, Gesundheit objektiv zu definieren, ist in die Kategorie ‚Illusion‘ einzureihen, denn sie bedeutet für jeden etwas anderes“, so Dezsy (2003, S. 17). Dieses Spannungsfeld zu benennen, zu beschreiben und gesellschaftlich und somit politisch akzeptierte Lösungen abzuleiten, unterscheidet einen Professional von einem Laien und wird eine der großen Herausforderungen der Zukunft sein. Fehl-, Unter- und Überversorgung sind im Sinne eines optimierten Ressourceneinsatzes einer Gesellschaft zu vermeiden. Dezsy (2002) bietet über den „Produktionsprozess Gesundheit“ eine mögliche Versorgungskonzeption an.

Legitimierung eines Gesundheitsberufs

Durch das Zusammenführen aller Inputs wie z. B. Patientenstatus, Wirken der Professionals, technische Hilfsmittel, aber vor allem eben auch aktive Mitwirkung der Patientin kann der Gesundheitszustand effektiv verändert werden. Alles das, was die Patientin davon nicht annehmen kann, ist ineffizient, ist sozusagen „Überproduktion“. Dezsy wie auch andere Gesundheitsökonomen sehen daher die Patientin als wichtige Koproduzentin von Gesundheit an, denn eins kann als sicher angesehen werden: Ineffizienzen können und sollen in Zukunft nicht mehr finanziert werden. Die Klientin und Patientin bestimmt, was als Wohlbefinden und/oder Gesundheit definiert werden darf. Und nur sie selbst kann durch aktive Beteiligung ihrer selbst das gewünschte Ergebnis herstellen. Deshalb lautet eine meiner aufgestellten Thesen (Neumann-Ponesch 2009, S. 26):

Abbildung 1: Der „Produktionsprozess Gesundheit“

(aus: Dezsy 2002, S. 77)

Die Patientin/Klientin/der Mensch ist in vielen Betreuungsund Kontextsituationen Produzentin ihrer eigenen Gesundheit. Die Gesundheitsprofessionals sind die Koproduzentinnen.

Diese Haltung würde einen Paradigmenwechsel im Denken der Gesundheitsprofessionals bedeuten und lenkt das Handeln deutlich in Richtung Interesse der Klientinnen und Patientinnen. Diese Herausforderung ist eine von vielen. Mathias Horx (2003, 2004) und Miriam Hirschfeld (1998) nennen weitere:

• neuartige (heute noch nicht bekannte) gesundheitliche Beeinträchtigungen;

• soziodemografische Veränderungen der Gesellschaft;

• zunehmende Mündigkeit der Patientinnen und Klientinnen;

• Fortschritt durch neuartige Behandlungsmethoden in Pflege, Medizin und Medizintechnik;

• ein Wandel der Gesundheitssysteme in Richtung High Tech (anstatt High Touch);

• die Steigerung von Kosten im Gesundheitswesen;

•generelle Ressourcenknappheit in der Versorgung der Bevölkerung;

• gesellschaftlicher Wertewandel (z. B. zunehmende Individualisierung, größeres Gesundheitsbewusstsein, neue Geschlechterrollen);

• zunehmende Migration und Mobilität von Menschen verschiedener Kulturen;

• zunehmende Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich;

• Verschiedenartigkeit von Patientengruppen (Flüchtlinge, Opfer von Gewalttaten, Obdachlose);

• neue, vielfältige Gesundheitsangebote;

• neue Gesundheitsprofessionen und deren unterstützende Hilfen;

• neuartige Kooperationsformen in Betreuung und Therapie;

• Ökonomisierung, Rationalisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen.

Diese Trends sind schon seit Jahren bekannt und haben immer wieder zu Teilreformen im Gesundheitssystem geführt. Als Beispiele sind zu nennen: die Einführung der leistungsorientierten Finanzierung, der Ausbau des Qualitätsmanagements, die beginnende Umsetzung des multidisziplinären Care- und Casemanagements, die beginnenden Verlagerungen vom intra- zum extramuralen Bereich und die Entwicklung und Implementierung von Guidelines für die Gesundheitsversorgung. Der Versuch, Menschen integrativ-patientenorientiert über alle Fachbereiche des Gesundheits- und Sozialbereichs und über alle Lebensphasen hinweg bedürfnisorientiert zu betreuen und zu therapieren, steht am Beginn einer Entwicklung, die noch viele Hürden überwinden muss (vgl. Kongress Integrierte Versorgung 2010).

Doch wie ist diesen Herausforderungen weiter oder auch anders zu begegnen? Wie vermag die Ausbildungs- und Bildungsschiene von Gesundheitsprofessionals so zu qualifizieren, dass sowohl der mündige Mensch befähigt wird, sich selbst „zu pflegen“, als auch der Gesundheitsprofessional in die Lage versetzt wird, Berufsentwicklung unter den Kautelen von Effektivität und Effizienz kontinuierlich voranzutreiben?

Die Lehrinhalte vermitteln traditionellerweise idealtypische Bilder von Gesundheit und Krankheit. Wie beispielsweise mit dem Wesen eines Menschen, der sich nicht in diesen Stereotypen finden lässt, umgegangen werden kann, ist kaum Gegenstand von Lehrplänen und noch weniger Inhalt didaktischer Vermittlungsmöglichkeiten. In der Berufsgruppe der Pflegenden sowie in anderen Gesundheitsberufen sollten folgende Fähigkeiten optimiert und ausgebaut werden, um im Gesundheitswesen von morgen bestehen zu können:

Wichtige Maßnahme: Kompetenz und Persönlichkeitsentwicklung durch Bildung

• Flexibilität hinsichtlich der Anforderungen einer sich verändernden Gesellschaft;

• die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit einer komplexen Welt;

• die Fähigkeit zur Umsetzung von theoretischem Wissen in die Praxis;

• die Reflexion und kritische Auseinandersetzung mit Praxis und Theorie;

• die Fähigkeit zu Interdisziplinarität und Multiprofessionalität;

• die Fähigkeit zur Beeinflussung der Politik;

• die Fähigkeit zur Schaffung von sozialem und menschlichem Kapital.

„Praxis ohne Theorie ist vergleichbar mit einer Seefahrt ohne Seekarte und Ruder.“ (Leonardo da Vinci)

Die Pflege ist aufgefordert, gemeinsam mit anderen Partnerinnen aus dem Gesundheitswesen Erklärungen und Konzepte für die Aufgaben von heute und morgen zu gestalten. Der Einsatz von Theorien und Modellen der Pflege kann die Entwicklung dabei positiv unterstützen. Sie sind förderlich, um „der Bevölkerung eine qualitativ hohe, theoretisch fundierte pflegerische Versorgung bieten zu können“ (Meleis 1999, S. 36). Pflege bedarf der Pflegetheorie „as a tool which she can use to help her to look critically at her own practice to improve the effectiveness of the care she gives“ (Clark 1982, S. 129).

Bei vielen Pflegenden besteht immer noch Unbehagen im Umgang mit und in der Diskussion über Theorien. Es herrscht Unklarheit darüber, welchen Beitrag Theorien in der Entwicklung von Pflegewissen und in der Entwicklung des Berufes leisten können. Dabei haben theoretische Arbeiten in den letzten Jahren nicht nur mengenmäßig zugenommen, es ist auch zu beobachten, dass sich die Qualität der wissenschaftlichen Diskurse enorm gesteigert hat. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Bedeutung der Theorie in der Pflege immer mehr anerkannt wird. Theorie ist inzwischen integrativer Bestandteil in unterschiedlichsten Bereichen: Sie beeinflusst die Rolle der Praktikerinnen, die Tätigkeit der Pflegexpertinnen und -beraterinnen, die Didaktik und den Fokus der Lehre und leitet und gestaltet die Forschung. Wünschenswert ist der Ausbau dieser positiven Entwicklungen. Hilfreich könnte es dabei sein, das „Wort des Unbehagens“ – Theorie – durch das Wort Fachwissen zu ersetzen.

In Anlehnung an die Arbeit der Theoretikerinnen, die sich alle die Frage nach dem Warum, dem Was und dem Wie der Pflege stellten, haben sich umfassende Diskurse entwickelt. Eine Konzeption der Pflege im mitteleuropäischen Raum kann auf dieser theoretischen Grundlage aufbauen. Das Rad muss nicht zur Gänze neu erfunden werden.

Sehr umfassend sind die Aufgaben der Pflege umrissen:

Abbildung 2: Aufgaben von Pflege

Die Disziplin Pflege ist zu jedem Zeitpunkt sowohl praxis- als auch theoriegeleitet, auch wenn der theoretische Rahmen nicht sofort benannt werden kann. Theorie und Praxis bedingen einander gegenseitig! Es gibt keine Praxis ohne Theorie. Auch wenn die Praxis oft gedankenlos erscheint – es ist nicht möglich, zu praktizieren, ohne zu denken. „Die Trennung von Theorie und Praxis ist künstlich“ (Käppeli 1988, S. 5). Es sollte daher auch keine Kluft zwischen Theorie und Praxis bestehen.

Praxis (von griech. prattein, handeln) bedeutet, erlernte Handlungen zu setzen

3.2Theorieentwicklung und -anwendung – warum?

„Ein Beruf ohne definierbaren, spezifischen Wissens- und Tätigkeitsbereich hat keinen Anspruch auf Autonomie.“ (Käppeli 1988)

„Eine Praxis, die sich nicht entwickelt, indem sie ihre Möglichkeiten verwirklicht, [ist] tot“ (Bishop/Scuder, zit. nach Kirkevold 2002, S. 18). Aus der Vielfalt der Gründe für die Notwendigkeit der Beschäftigung mit Theorie möchte ich einige bedeutende darstellen.

3.2.1Entwicklung eines „Body of Knowledge“

„Das Ziel wissenschaftlicher Theoriebildung besteht darin, Ereignisse, Objekte, Personen zu beschreiben, zu erklären, vorauszusagen und abhängig von der wissenschaftstheoretischen Orientierung auch vorzuschreiben und zu kontrollieren“ (Schnepp 1997a, S. 97). Erst durch Theoriebildung werden die Wissensbestände einer Disziplin gesichert und ein „Body of Knowledge“ kann sich herausbilden. Indem verschiedene Wissensarten und analytische Reflexionsprozesse bei Professionals und Klientinnen zusammengetragen und überdacht werden, entsteht ein eigenes wissenschaftliches Fach der Pflege.

In der Pflege besteht heute eindeutig der Wunsch, Pflegewissen eigenständig zu entwickeln und die Professionalisierung des Berufes voranzutreiben. Das bedeutet aber auch, dass Theorie integraler Bestandteil in der Aus- und Weiterbildung und in der täglichen Praxis – stärker als heute – werden muss. Nicht zuletzt davon ist die Existenz und Durchsetzung einer wissenschaftlichen Disziplin der Pflege abhängig. Dem wirkt die Beobachtung aus der Praxis entgegen, dass man sich verstärkt blindlings neuen Trends hingibt, ohne zu hinterfragen, warum man diese Anstrengung auf sich nimmt.

Theoriearbeit ist erforderlich!

Theoriearbeit ist für eine Berufsgruppe erforderlich, um den vielfältigen Anforderungen analytisch-strukturiert gegenüberzutreten: „If nursing is indeed an emerging profession, nurses must be able to identify clearly and develop continually the theoretical body of knowledge upon which practice must rest“ (vgl. Johnson 1974, S. 372). Dorothy Johnson lässt keinen Zweifel an einer notwendigen kontinuierlichen Korpusentwicklung der Pflege offen, sofern sich die Pflege an der Gesellschaftsentwicklung beteiligen möchte. Sie betont, dass bedeutende Fragen wie „Welchen Zweck verfolgt ein definierter ‚Body of