Mölltaler Geschichten Festival: Sieben -  - E-Book

Mölltaler Geschichten Festival: Sieben E-Book

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Beschreibung

Sieben – Anfang vieler Geschichten: Als verflixtes siebtes Jahr kann man es sehen. Oder auch als unergründliche Quelle begnadeter Variationen und Eventualitäten und Entfaltungen … Reset oder nicht … So zumindest nahmen es die Autor*innen aus Deutschland und Österreich wahr, die zu Ehren des 7. Jahres des Mölltaler Geschichten Festivals die "Sieben" als Inspiration nahmen, ins mythologische oder psychologische oder melodramatische oder kriminelle oder – im Gestern, Heute und in der Zukunft – schaurige Reich der Sinne einzutauchen, und aus all dem literarische Perlen zu formen. Das Mölltaler Geschichten Festival, ein internationales Literaturfestival, das immer im Herbst in Oberkärnten stattfindet, widmet sich deutschsprachigen Kurzgeschichten – und zwar solchen, die sich durch Erfindungsreichtum und Wortgewandtheit auszeichnen. Die besten Geschichten werden jedes Jahr im Rahmen von Lesungen präsentiert und in einer Anthologie zusammengefasst. www.moelltaler-geschichten-festival.at

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SIEBENDAS LANGE TAL DER KURZGESCHICHTEN

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Herausgeber: ProMÖLLTAL

Lektorat: Martina Schneider

Grafik und Produktion: Nadine Kaschnig-Löbel

Coverfoto: „Gletscher Trekking“ von Peter Maier (www.instagram.com/piet_flosse) mit freundlicher Genehmigung von Hohe Tauern – die Nationalpark-Region in Kärnten Tourismus GmbH.

„Das lange Tal der Kurzgeschichten“ mit freundlicher Genehmigung von Sabine Seidler

eISBN 978-3-7025-8105-3

ISBN 978-3-7025-1086-2

www.pustet.at

Ausflüge in die Natur, Interessantes aus Kunst, Kultur und Geschichte, Inspiration und Genuss für Ihr Zuhause – entdecken Sie die Vielfalt unseres Programms auf www.pustet.at

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Wir bemühen uns bei jedem unserer Bücher um eine ressourcenschonende Produktion. Alle unsere Titel werden in Österreich und seinen Nachbarländern gedruckt. Um umweltschädliche Verpackungen zu vermeiden, werden unsere Bücher nicht mehr einzeln in Folie eingeschweißt. Es ist uns ein Anliegen, einen nachhaltigen Beitrag zum Klima- und Umweltschutz zu leisten.

SIEBEN

DAS LANGE TAL DER KURZGESCHICHTEN

VERLAG ANTON PUSTET

INHALT

VORWORT

DIE PERFEKTE KOMBINATION SVEN WEISS

DIE ADOPTION KARIN LEROCH

IN KABINE 7 HERR WURSCHT WOLFGANG MACHREICH

DAS ERDÄPFELGEISSLEIN ELISABETH KOFLER-WEICHSELBRAUN

MEIN SUPERVISOR MARKUS GRUNDTNER

IN JEDEM SIEBTEN EI? EVA MAYER

DAS SALZ FREMDER TRÄNEN ANNA FERCHER

HOUSE RULES ELSA SOLARIS

MOKOŠ ANA GRILC

DIE ZEIT VERGEHT, DIE ZAHLEN BLEIBEN ELENA MARKO

JOSEF ERIK ISELBORN

SOHLE 7 MARCEL IFLAND

VATER VON SIEBEN MARGARITA KINSTNER

SUNDAY SONJA ROSENZWEIG

DAS ZWETSCHKENKNÖDELESSEN ANITA HETZENAUER

ODESSA – ODER SIEBEN JAHRE HOFFNUNG KATRINA MOGLER

AUF GEGENSEITIGKEIT JULIA ALINA KESSEL

WIEDERSEHEN ASTRID MIGLAR

IM DUNKELN MARTINA BERSCHEID

DER SUPERGAU BARBARA STEINER

DER SIEBTE TAG ANITA CYPROWSKI

DAS FAHRRAD ANDREA SÜSSENBACHER

SIEBEN SONNEN EMILY ADAMS

EIN ZIMMER WEITER HARALD VOGL

DIE SIEBEN SCHNEEWITTWEN RANDOLF EILENBERGER

DURCH BRÜCHE LEONIE LUISA MEYER

DIE LEBEN DER YLVA SARAH KESSLER

IM HAUPTBAHNHOF SYLVIA TITTEL

DIE VERGESSENE SIEBTE STUNDE RUDOLF KERSCHBAUM

HENDLBAUCH, DER* MARIA-CHRISTINA SCHINKO

ALLE SIEBEN ELISABETH PRANTER

SIEBEN MINUTEN IRIS FEUCHTER

ICH HASSE KÜNSTLER NORA BEITEKE

NACHWORT

VORWORT

DAS VERFLIXTE SIEBTE JAHR …

So kann man es sehen.

Oder auch als unergründliche Quelle begnadeter Variationen und Eventualitäten und Entfaltungen … Reset oder nicht …

Zu Ehren des 7. Jahres des Mölltaler Geschichten Festivals nahmen Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Österreich die „Sieben“ zur Inspiration, ins Mythologische oder Psychologische oder Melodramatische oder Kriminelle oder – im Gestern, Heute und in der Zukunft – ins schaurige Reich der Sinne einzutauchen und aus all dem literarische Perlen für Sie zu formen.

Viel Vergnügen (immer!) mit der Sieben!

DIE PERFEKTE KOMBINATION

SVEN WEISS

3584 – ich halte inne und lasse die Schönheit dieser Kombination auf mich wirken. Die innere Symmetrie, die erst beim zweiten Hinschauen offenbar wird. Addiert man die erste und die zweite Ziffer, ergibt sich die dritte. Teilt man diese dritte Ziffer in genau zwei Teile, ergibt sich die vierte. Reine Perfektion!

Bis heute weiß ich nicht, welche Zauberkraft vier schnöde Ziffern in ein Gebilde voller Anmut verwandelt. Aber ich spüre es, wenn ich diese Anmut vor mir habe. Eine 1369 etwa mag auf den ersten Blick störrisch, ja man könnte sagen unsympathisch wirken. Aber ihr konsequentes Aufwärtsstreben ist so entschlossen, dass man dafür nur Respekt empfinden kann.

Seit über 15 Jahren schreibe ich PINs – persönliche Identifikationsnummern. Das klingt sehr bürokratisch. Ich mag den altmodischen Begriff „Geheimzahl“ lieber. Das hat etwas Dunkles, Rätselhaftes. Wie aus einem alten Märchen entsprungen.

Ich sehe einen Mann vor mir, der durch nächtliche Gassen eilt, irgendwann in einem vergangenen Jahrhundert. Sein Hut sitzt ihm tief im Gesicht, der Umhang weht im kalten Wind, die Schuhe klackern auf den nassen Pflastersteinen. In einer engen Seitengasse bleibt er stehen. Es stinkt nach Unrat und Exkrementen. Eine Ratte verschwindet hinter einer Mauer.

Plötzlich schält sich aus dem Dunkel eine zwergenhafte Gestalt. Die beiden stehen sich einen Moment gegenüber, dann wirft der Mann mit dem Umhang einen Beutel auf den Boden. Ein paar Goldmünzen rollen heraus, der Zwerg reagiert blitzschnell, schnappt sich die Münzen und greift nach dem Beutel.

„Du hattest mir etwas versprochen“, sagt der Mann mit dem Umhang und trippelt von einem Fuß auf den anderen. Der Zwerg lacht hämisch auf: „Nur Geduld. Du sollst nicht umsonst gekommen sein.“ Sein kehliges Lachen hallt von den Häuserwänden wider. Dann umfasst er den Beutel mit beiden Armen, kneift die Augen zusammen und verkündet: „Deine Geheimzahl lautet …“ Plötzlich reißt ein schrecklicher, alles übertönender Donner die Luft in Stücke.

Genug. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Mein Arbeitgeber will PINs, und die bekommt er von mir. In allerbester Qualität. Ich feile an jeder Zahlenkombination, erprobe den Auftakt, bis er geschmeidig in die Reihe führt. Dann suche ich nach einem Mittelteil, der den vier Ziffern Stabilität verleiht. Und schließlich kröne ich das Werk mit einem Abschluss, der sowohl der Logik und Ebenmäßigkeit Rechnung trägt als auch eine gewisse Eleganz ausstrahlt.

Wie bei der 6298. Eine scheinbar beliebige Anordnung. Die aber beweist, dass Zahlen Geschichten erzählen. Mich beschäftigt die 6298 schon lange. Ich mache mir dabei vor allem Gedanken um die Rolle der Zwei. Sie scheint eingeschlossen zwischen mächtigen Vertretern aus der oberen Hälfte der Dezimalziffern.

Die Sechs und ihr verkehrtes Spiegelbild, die Neun, umrahmen sie mit ihren dicken Bäuchen. Beinah hat man den Eindruck, sie wollten die Zwei ersticken. Doch die bleibt völlig unbeeindruckt, steht da selbstbewusst und ungerührt. Ich empfinde eine starke Verbindung zu der Zwei. Denn in Wahrheit ist sie das starke Element in der Kombination. Sie hält die Zahlenreihe zusammen und gibt ihr Stabilität.

Mir ist klar, dass die Energie, die ich für meine Arbeit aufbringe, auf viele übertrieben wirken mag. Aber ich sehe mich auf einer Mission. Meine Aufgabe ist es, Frieden in die Welt zu bringen. Ich bin davon überzeugt, dass Zahlen dies bewirken können. Dass eine 5588 Harmonie transportiert und sich damit unmittelbar auf das Seelenleben ihres Benutzers auswirkt. Dass sich Menschen mit einer 4826 einfach wohler fühlen als mit grässlichen Auswüchsen wie etwa einer 1235 (Mir tut es weh, diese Zahlenreihe aufzuschreiben, wenn auch nur als schlechtes Beispiel).

Und auch wenn meine Wohltaten von den Menschen völlig unbemerkt bleiben, so gehe ich abends doch mit dem guten Gefühl nach Hause, die Welt ein klein wenig besser gemacht zu haben. Denn ich trage dazu bei, dass die Menschen ausgeglichener sind und positiver in den Tag schauen. Ja, ich bin überzeugt, dass meine Arbeit hilft, den Frieden aufrechtzuerhalten.

Über kurz oder lang wird die Technik mich ersetzen. Ich bin nicht naiv. Viele benutzen bereits Computer. Trotzdem: Ich glaube nicht, dass irgendeine Technik die Erhabenheit einer 6864 spüren kann. Und niemals werden Stromkreise das Gefühl erzeugen können, das in jede meiner Geheimzahlen fließt. Die Wärme, die bei denjenigen ankommt, die sie irgendwann eintippen. Wenn die Computer übernehmen, wird die Welt schlechter werden.

Manchmal frage ich mich, wo meine Zahlen landen, nachdem ich sie auf die Reise schicke. Wer hat das Glück, die 4554 zu bekommen? Ist es ein vielbeschäftigter Manager, der im Stress seines Alltags völlig achtlos Ziffer um Ziffer eintippt? Oder eine Mutter, die nebenbei auf ihre Kinder achtet, dann aber kurz innehält, weil ein kleiner Strahl des Glücks sie getroffen hat. Sie weiß nicht, woher er kam, und hat das kleine bisschen Glück auch gleich wieder vergessen, weil ihr Jüngster schreit, den der Bruder an den Haaren zieht. Aber, wer weiß – vielleicht kommt das Gefühl nochmal zurück, für einen kurzen Augenblick nur, am Abend, wenn sie im Bett liegt und endlich etwas zur Ruhe kommt.

Ich weiß, es ist falsch, zwischen den Empfängern meiner PINs zu unterscheiden. Ich darf nicht richten. Meine Aufgabe ist es lediglich, Schönheit zu produzieren. Ich helfe den Menschen, ohne dass sie es merken. Ich verpacke das Glück in eine maximal unauffällige Hülle und gebe es in die Hände des Schicksals. Alles andere kann ich nicht mehr beeinflussen.

Als ich Maria traf, glaubte ich, sie könne mir geben, was ich selbst in meinen Zahlen nicht finden kann. Welch Hochmut! Was wir hatten, verlor in Windeseile all seine Reinheit. Ach, Maria! Schönste aller Geheimen, erhabenste aller Kombinationen. Ich wollte dich lieben, so wie meine Zahlen. Wollte deine Reinheit anbeten. Doch du hast mich hinabgezogen in eine Welt voller Schmutz, voller Schweiß und Ekel. Es konnte nicht gutgehen. Du warst nicht mehr Maria, nicht mehr rein, nicht mehr mein.

Als Maria weg war, erschuf ich einige meiner besten Zahlenreihen. Die großartige 2258. Die 8946 – so edel, so würdevoll. Und dann gibt es ja noch das kleine Geheimnis, das ich seit vielen Jahren für mich bewahre. Die Sieben. In all der Zeit habe ich keine einzige PIN geschrieben, die eine Sieben beinhaltet. Zumindest habe ich keine solche Zahlenreihe je nach außen gegeben. Nur mein kleines, schwarzes Notizbuch kennt sie, die zarten Versuche, dieser magischen Zahl gerecht zu werden.

Denn die Aura der Sieben lässt sich nicht greifen. Sieben fette Jahre, ein Buch mit sieben Siegeln, die sieben Todsünden – die Sieben ist überall dort, wo das Unsagbare gesagt werden soll. Die Sieben ist die stolzeste aller Zahlen. Man kann sie nicht teilen, ihre Macht lässt sich nicht beschneiden. Es wäre unmöglich, eine Sieben einfach in eine beliebige Zahlenreihe einzubauen, nein, so wird man ihr nicht gerecht werden. Die Sieben bringt eine Verantwortung mit sich, die ich bisher noch gescheut habe.

Doch nun ist der Tag gekommen. Bevor ich abtrete und die seelenlosen Computer übernehmen, will ich mein Lebenswerk vollenden. Heute werde ich eine PIN mit einer Sieben schreiben. Ich sitze nun schon seit Stunden und feile. Niemand weiß, was passieren wird, wenn die PIN in der Welt ist – auch ich nicht. Vielleicht wird die Sieben eine bisher undenkbare Form des Glücks hervorrufen, vielleicht schafft sie es, Frieden auf der Welt zu stiften. Doch genauso gut könnte ein Unglück passieren. Einmal losgelassen, wird niemand die Kraft dieser Zahl bändigen können. Möglicherweise bringt sie Schrecken und Vernichtung in nie gekanntem Ausmaße.

Ich ziehe es vor, mir eine positive Zukunft vorzustellen. Vielleicht wird Maria zurückkommen. Ich werde es bald erfahren. Denn nun habe ich die perfekte Kombination gefunden. Ein wunderschönes Stück mit vier Ziffern, davon eine Sieben. Unerschrocken setze ich den Stift an.

Sven Weiss

wuchs in Baden-Württemberg auf. Nach Stationen in Berlin und Düsseldorf lebt er inzwischen in Hamburg. Dort arbeitet er als Werbetexter und schreibt Broschüren oder TV-Spots. Das Schreiben beschäftigt ihn auch in seiner Freizeit. Dann feilt er an den Texten für seine Akustik-Songs oder am Eröffnungssatz für eine neue Kurzgeschichte.

DIE ADOPTION

KARIN LEROCH

Bella liegt auf dem Sofa und ringelt ihre Haarlocke. Ihr Mann Bob wandert unruhig auf und ab. Die Kulisse stellt ein Wohnzimmer dar.

„Bitte nochmal!“ Anton sitzt in der zweiten Reihe des Zuschauerraums, mit dem Text in der Hand. „Bella! Du hast Sehnsucht nach einem Kind!“

Das Theaterstück ist ein „Experiment in sieben Szenen“. Er hat dieses Stück inszenieren wollen, weil das Thema Adoption ihn auch privat beschäftigt. Jetzt ist er nicht sicher, ob ihm das Ganze nicht zu nahe geht.

Bellas Stimme klingt gepresst vor Emotionen: „Ich sehe unser Kind vor mir! Es ist, als ob ein Engel mich ruft, weil er mich braucht!“

Bob stoppt seine nervösen Schritte. „Das Kind wird vielleicht etwas völlig anderes sein als ein Engel!“

Zuhause findet Anton seine Frau Anna im Garten vor dem Rosenstrauch, die Schere in der Hand: „Glaubst du, dass ihm das Zimmer gefallen wird?“

Er fasst sie an den Schultern. „Es ist perfekt. Er ist acht Jahre alt! Die Möbel werden ihm egal sein. Irgendwann wird er seine eigenen Poster an die Wand hängen. Sei nicht nervös, er freut sich, eine Familie zu bekommen!“

„Ich bin unendlich nervös. Was wird er über mich denken?“

Anton merkt, wie er sich zum dritten Mal über die Stirn fährt. „Er wird sich dasselbe fragen: Was wir über ihn denken!“

Mit einem Ruck wendet Anna sich zu ihm um: „Wer wird er sein?“

Die zweite Szene proben sie erst drei Wochen später, weil der Hauptdarsteller, das Adoptivkind Benjamin, an einem anderen Theater engagiert war, aber nun ist er da.

„Benjamin, du triffst zum ersten Mal deine neuen Eltern! Lass dir Zeit! Bella, gib ihm Raum!“

Die drei Schauspieler stehen einander gegenüber, Bella und Bob auf der einen Seite, ihre Augen an Benjamins kleiner Gestalt festgesogen.

Der Darsteller des Benjamin ist fünfzehn, sieht aber wie ein Elfjähriger aus. Kurze Hose, T-Shirt. Er steht aufrecht und ruhig da. Seine Augenlider halb geschlossen. „Hallo Mama und Papa!“ Es klingt wie eine Parodie auf eine fröhliche Kinderstimme.

In Antons wirklichem Leben sind er und Anna zum ersten Mal mit ihrem neuen Sohn Alexander allein. Seine großen dunklen Augen wandern über die Gesichter der Adoptiveltern. Er betrachtet sein neues Heim, wirkt abwartend, auf der Hut.

Sie führen ihn in das frisch tapezierte, liebevoll eingerichtete Kinderzimmer im oberen Stock, er setzt sich auf den weichen Hocker in der Mitte.

„Wir freuen uns, dass du hier bist“, Anna lächelt unsicher, und sie lassen die Tür angelehnt.

In der Küche strahlt Anna ihn an. „Ich bin so glücklich, dass ich schreien könnte!“

Aus dem Kinderzimmer ist nichts zu hören.

Anna hat sich eine Auszeit von ihrem Bürojob genommen und ist jeden Tag mit Alexander unterwegs. Zum Kleiderkaufen, auf den Spielplatz, zu seiner neuen Schule. Wenn Anton vom Theater nach Hause kommt, findet er Frau und Adoptivsohn in konzentrierter Zweisamkeit vor. Es wird gelacht, gewitzelt und gespielt, alles mit einer systematischen Ernsthaftigkeit, die ihn irritiert. Sofort verurteilt er sich selbst. Anna hat sich lange auf ihr Muttersein vorbereitet, natürlich will sie, dass alles perfekt läuft.

Abends setzt sich Anton mit einem Kinderbuch für Acht- bis Zehnjährige an Alexanders Bett und liest ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vor.

„Das Raumschiff startete seine Reise zum Jupiter …“

Alexander blickt ihn an. Das ganze Kinderzimmer spiegelt sich in seinen aufgerissenen Augen.

Er ändert seinen Gesichtsausdruck niemals, wenn er mich ansieht, denkt Anton. Nach einiger Zeit hält er im Lesen inne. „Wirst du nicht müde?“ Er zieht die Bettdecke über Alexanders Schultern. „Schlaf gut!“

„Gute Nacht!“, sagt Alexander höflich.

Anton schließt die Zimmertür von außen und atmet auf.

Es ist normal, wenn er sich besser mit Anna versteht. Wenn er älter wird, wird sich das ändern. Er fährt sich über die Stirn.

Sie nehmen das Auto, um in die Berge zu fahren. Der Rucksack prall gefüllt mit Leckereien. Bei der ersten Rast ziehen dunkle Wolken auf.

„Wir müssen umdrehen!“ Anna zippt Alexanders Jacke zu. „Er hat in der Nacht gehustet!“

„Da kommt kein Regen!“ Anton will weiter. „Wir wollten doch zur Hütte aufsteigen!“

„Wir drehen um.“ Anna spricht mit der Gewissheit, dass passieren wird, was sie sagt. Sie ist die Mutter, und Alexander daher mit ihrem Herzen verwachsen.

Anton fragt den Jungen: „Was möchtest du?“

Alexander drückt sich an Anna, seine Augen wortlos und groß auf Anton gerichtet.

Sie drehen um.

Anton überlegt, wie oft Alexander zu ihm gesprochen hat. Mehr als drei Worte. Er grübelt noch, als sie längst im Auto sitzen.

Die Theaterprobe schreitet voran. In der dritten Szene tanzt Bella mit dem Kind Benjamin und singt ihr Mutterlied, das nur aus dem Wort „Liebe“ besteht. Benjamin springt in ihrem Rhythmus mit, dann hält die Mutter erschöpft inne und er tanzt allein weiter. Sein Hüpfen gleicht immer mehr einem Toben, er stampft mit den Füßen, schwenkt die Fäuste, rollt auf dem Boden, zieht eine Fratze und lacht ein lautes ziegenhaftes Gemecker. Haarbüschel stehen wie Hörner von seinem Kopf ab.

In der vierten Szene gibt es Streit zwischen Bella und Bob. Er wirft seiner Frau vor, sich von ihm mit dem Sohn abzukapseln. Sie schickt Mann und Sohn daraufhin alleine an den Fluss zum Angeln.

Anton steht auf der Bühne und gibt den Schauspielern Regieanweisungen: „Benjamin, du fängst den Fisch mit beiden Händen und quetscht ihn, sodass das Blut herausrinnt. Du beißt hinein und drehst dich zum Publikum! Bob, zeig deutlicheres Entsetzen, dir wird richtig schlecht! Bitte nochmal.“

Anton hasst das Stück. Er fühlt sich nicht wohl bei den Proben. Warum hat er die Regie übernommen? Hätte er doch einem der jungen Theaterregisseure den Vortritt gelassen. Gefühlte hundert Mal in der Minute fährt er mit der Hand über seine Stirn. Sein Assistent fragt ihn besorgt, was los sei.

„Alles gut! Alles okay!“, versichert er. „Fünfte Szene! Auftritt Bob und Bella. Sie wirft ihm Eifersucht vor. Mehr Mimik!“

Der Streit zwischen Bella und Bob eskaliert.

„Du gönnst mir kein Glück!“, klagt sie.

„Ihr zieht einen Hexenkreis um euch, den ich nicht durchbrechen kann.“

„Als Hexen werden immer die bezeichnet, deren Gefühle man nicht versteht!“

Am Ende der Szene rennt Bella von der Bühne, während Bob auf dem Boden kauert. Benjamin schleicht zu ihm und singt mit meckernder Stimme das Mutterlied „Liebe“. Bob rührt sich nicht.

„Am ersten Tag durfte ich ihn zur Schule bringen.“ Anna sieht Alexander aus dem Küchenfenster nach. „Seit dem zweiten Tag geht er alleine hin, aber ich weiß nicht recht!“

„Wir können ihn nicht ständig überwachen“, Anton trinkt seinen Frühstückskaffee und fährt sich über die Stirn.

„Er kommt nicht gleich nach der Schule nach Hause“, sagt sie zögernd. „Es wird jeden Tag später!“ Jetzt sieht sie Anton an. „Er sagt, er spielt noch ein bisschen mit seinen Freunden!“

„Bemerkenswert“, meint Anton. „So schnell hat er Freunde gefunden?“

„Das ist doch gut, oder?“ Anna verschränkt die Arme und blickt wieder aus dem Fenster.

Anton verlässt mittags das Haus. Als er am frühen Abend im Theater probt, erhält er einen Anruf von Anna. „Alexander ist nicht nach Hause gekommen!“

„Ruf in der Schule an!“ Er fährt sich über die Stirn. „Geh selbst hin!“

„Was glaubst du, wo ich gerade bin?“

„Ich kann nicht so schnell weg hier!“

Sie proben die sechste Szene, mit Musik und pyrotechnischen Effekten. Der Adoptivsohn Benjamin hat sich seit Stunden auf dem Dachboden verschanzt, die Tür verbarrikadiert. Er hat eine Spur Terpentin durch den Flur gezogen. Von seinem Versteck aus wirft er ein brennendes Streichholz hinaus und entzündet ein Feuer im Haus.

Die Bühne flackert hell im Feuerschein, ein kleines kontrolliertes Feuer brennt. Für das Donnern der Flammen sorgt die Tontechnik, Bella rennt schreiend über die Bühne, Bob kommt von der anderen Seite, sie tanzen einen kopflosen hektischen Tanz.

Anton rast im Wagen nach Hause.

Alexander ist noch nicht gefunden worden. Anna hat den Schulweg abgesucht und dann die Polizei verständigt.

„Der Revierinspektor glaubt, dass Alexander zu einer Bande gehört, die Autos beschädigt und sich am Stadtrand trifft.“

„Ein Achtjähriger?“

„Alles Unsinn! Ich bin überzeugt, dass ihm etwas passiert ist!“

Anton rennt hektisch auf und ab. „Ich habe es gewusst. Es war eine Scheißidee.“ Er fährt sich über die Stirn.

Anna braucht eine Sekunde: „Wovon sprichst du?“

„Darüber, einen Achtjährigen zu adoptieren! Er kommt offensichtlich aus einer Familie, in der er gelernt hat, sich herumzutreiben!“

„Anton!“ Ihr Ton ist messerscharf.

„Ich hab ihm von Anfang an misstraut. Wie er mich immer ansieht! Ich weiß jetzt, warum ich mit ihm nicht warm werde.“

Seine Frau starrt ihn an, als es an der Tür läutet.

Der Polizist hat einen unwahrscheinlich dreckigen Alexander im Schlepptau. „Er hat sich unter der Brücke versteckt!“

Anna stürzt mit einem Schrei auf Alexander zu und schließt fest die Arme um ihn.

Der Polizist nimmt Anton beiseite. „Er wollte nicht nach Hause. Er sagte, sein Vater könne ihn nicht leiden.“ Er misst Anton mit einem prüfenden Blick. „Gab es Schwierigkeiten?“

Anton sieht zu den beiden hin, die einander umklammert halten.

„Reden Sie mit dem Jungen“, sagt der Polizist. Es klingt wie ein Befehl, dessen Nichtbefolgung Konsequenzen haben wird.

Als sie wieder alleine sind, bekommt Alexander seine Lieblingsspeise zu essen. Er darf fernsehen, so lange er will, und es wird spät, bis er ins Bett geht.

Anton setzt sich zu ihm. „Du hast also nicht nach der Schule noch mit Freunden gespielt?“

Alexander beißt sich auf die Lippen und schüttelt den Kopf.

Anton nickt. „Ich verstehe.“ Er tappt im Dunkeln, trotzdem fügt er die Worte aneinander: „Ich dachte, wir beide könnten einmal etwas zusammen unternehmen. Warst du schon mal angeln?“

Alexander lächelt schüchtern. „Ich möchte dir im Theater zusehen.“

„Was, bei den Proben? Ich weiß nicht, ob …“

„Bitte!“

Es ist die Generalprobe. Anton sitzt in der zweiten Reihe und blickt aus dem Augenwinkel neben sich. Alexander hat das Stück bisher gebannt verfolgt.

Siebte Szene.

Bella und Bob auf dem Sofa.

Bella: „Du hast geträumt, wie er das Haus anzündet?“

Bob: „Ja, absurd, was?“

Bella: „Völlig absurd.“

Benjamin kommt, setzt sich zwischen sie, beiden umarmen ihn, sie sitzen innig zusammengedrückt zu dritt da.

Bob löst sich aus der Umarmung, wendet den Kopf zum Publikum. Ein Scheinwerfer färbt sein Gesicht rot. Das rote Licht wandert über das Gesicht von Bella, dann das von Benjamin, dann verschwindet es. Vorhang.

Anton nimmt Alexander an der Hand. „Hat es dir gefallen?“

„Das Feuer war das Beste!“

Anton lässt seine Hand los und starrt ihn an. „Es war nur ein künstliches Feuer.“ Sein Haaransatz kribbelt, er fährt sich über die Stirn.

„Schade!“, murrt Alexander.

Im Wagen beobachtet Anton den Jungen im Rückspiegel. Alexander, auf dem Rücksitz, erwidert seinen Blick mit einem Grinsen, das seine Zähne zeigt.

Karin Leroch

Geboren und aufgewachsen in Mödling, lebt und arbeitet die Autorin in Wien. Bereits in ihrer Schulzeit hat sie Geschichten geschrieben. Sie verbrachte ein Jahr in England, studierte drei Jahre Übersetzen für Englisch und Italienisch, malte, schnitzte, spielte Theater und widmet sich erst seit einigen Jahren wieder dem Schreiben. „Ich möchte Spannung und auch Überraschung hervorrufen, unterhalten und den Leser dazu kriegen, immer weiter lesen zu wollen,“ sagt die Autorin. Ihre Kurzgeschichte wurde von der Fachjury auf den 3. Platz gewählt.

IN KABINE 7 HERR WURSCHT

WOLFGANG MACHREICH

Mir ist dem Putin sein Krieg lieber als der Virus. Corona hat mein Leben abgedreht, trotz dem Krieg sperrt jetzt alles wieder auf. Ich brauche nicht viel. Was brauch ich schon? Mein Wirtshaus, meinen Gastgarten und das Tröpferlbad, mehr brauch ich nicht.

Kommen S’ doch rüber, nehmen S’ Ihnen die 6er-Kabin. Vergessen S’ den Badewaschl, die schauen nur drauf, dass sie weniger Arbeit beim Kärchern haben. Glauben S’ mir, ich kenn mich da aus, ich bin da quasi daheim.

Meine Kabine ist die 7er, immer schon, wegen der Fliesen. Nehmen S’ die 6er, da haben Sie auch noch ein paar, nicht die ganze Rückwand, die ist nur bei der 7er gefliest, aber eine Idee von Fliese bekommen Sie auch in der 6er. Ist doch gleich ganz was anderes. Der Nirosta hat seine Berechtigung, Hygiene und Pipapo, eh schon wissen, stimmt schon, aber Blech bleibt Blech, doch die Fliese. Ich sag es Ihnen: Die Fliese hat Stil!

Recht haben Sie, dass Sie die 6er nehmen, die 8er wäre notfalls auch noch gegangen, aber glauben S’ mir, mit der 6er haben Sie eine gute Wahl getroffen.

Sie sind zum ersten Mal da. Hab ich’s erraten? So was sehe ich gleich, dafür habe ich ein Auge. Ich bin ja quasi daheim da. Die Badewaschl könnten ja alle meine Kinder sein, was sage ich, meine Enkerl könnten die sein. Vom Alter her, meine ich, ich habe keine Kinder. Wer weiß, für was es gut gewesen wäre.

Man sieht ja, was geworden ist aus unserer Zeit: Zuerst das Corona, dann der Krieg, jetzt die Inflation, das Klima spinnt sowieso schon lange, wenn es so weiter geht, dann kommt das Atom auch noch. Ich sag’s Ihnen, das dreht uns noch alle heim. Mir kann es ja wurscht sein. In meinem Alter, da wird das Dasein zum Wurschtsein. Beim Wirten bin ich der „Wurscht Karl“. Nicht bös gemeint, alles Haberer, wir häkeln uns nur. Und ich steh dazu: Bei dem Durcheinander ist Wurscht noch eine Position, an der du dich festhalten kannst. Die Wurschtigkeit wird immer so runtergemacht, so schlecht geredet. Da tut man ihr unrecht. Die gibt mir eine Sicherheit, eine Gelassenheit, eine Ruhe, ich sag’s Ihnen ganz ehrlich: Wenn mir das alles nicht wurscht wäre, ich würde noch ganz deppert werden.

Ihre Gastherme hat einen Schaden. Hab ich recht? Oder der Boiler ist kaputt. Stimmt’s? Oder Sie lassen Ihnen gleich ganz ein neues Bad einbauen. Erraten. Wusste ich es doch. Das habe ich gesehen, wie Sie bei der Tür rein sind. Dass Sie keiner ohne eigenes Bad daheim sind. Und ein Baraber, ein Polak oder ein Rumäne, der den feinen Leuten ihre Wohnung renoviert und selber in einem Dreckloch schlafen muss, sind Sie auch nicht. Dafür habe ich ein Auge, das kenne ich sofort.

Gescheit, dass Sie da herkommen. Ich bin ja jeden Tag da. Ich mag es sauber. Bei Sauberkeit kenn ich mich aus. Ich war beim Müll. 32 Jahre lang, bis zur Pensionierung. Was Dreck betrifft, glauben S’ mir, da macht mir niemand was vor. Ich schaue hin, ich kenn mich aus. Bei unseren Runden war ich in jedem Innenhof in diesem Hieb. Ich sag Ihnen was, da lernst du die Menschen kennen. Zeig mir deine Mülltonne, und ich sage dir, was für ein Mensch du bist! Außen hui, innen pfui!

Was sagen S’ jetzt zur 6er-Kabin? Was so ein paar Fliesen gleich für einen Unterschied machen. Stellen S’ Ihnen vor, Sie stehen jetzt in der 5er- oder der 9er, von den Kabinen bei der Kassa ganz vorn oder ganz hinten red ich gar nicht. Nur Nirosta, nur Blech, also ich würde mich da nicht wohlfühlen. Man duscht auch mit dem Auge, sage ich immer. Man will ja was haben um sein Geld.

Zwei Euro siebzig! Billig ist der Spaß schon lange nicht mehr. 40 Schilling, das sagt Ihnen nichts, da sind Sie zu jung dafür, aber für meine Generation waren 40 Schü einmal viel Geld. Wie das Krügerl beim Wirten einen Zwanziger gekostet hat, hab ich gewusst: Das war’s! Und recht habe ich gehabt. Leider.

Früher, da gab es noch eine Zukunft, immer besser, immer schöner, immer mehr. Und jetzt. Ich habe ja keine Kinder. Drum kann mir das wurscht sein, aber man denkt halt doch daran, wenn man die Gschrappen im Gastgarten herumwuseln sieht, wie das mit der Welt so weitergehen wird. Eh lauter Gfraster, sag ich mir dann. Und Karl, sag ich, lass dich nicht aus deiner Fasson bringen, dir darf auch einmal alles wurscht sein, lass dich nicht auch noch ganz deppert machen.

Das wissen Sie aber schon, dass Sie um die Zweisiebzig eine Stunde lang duschen dürfen. Ich sag’s Ihnen nur, weil Sie das Wasser abgedreht haben. Aso, Sie seifen Ihnen noch einmal ein. Gscheit. Nutzen Sie das heiße Wasser aus, solange wir eins haben. Wegen dem Putin seinem Gas, mein ich. Scherz. Der Putin, der soll seine Pipeline zustoppeln, wir duschen hier weiter. Fernwärme. Wir brauchen dem Putin sein Gas nicht, wir heizen mit unserem Müll. Und Müll haben wir ohne Ende, da kenn ich mich aus, das war mein Geschäft. Da wird er blöd schauen, wenn er das mitkriegt. Dass er sich bei uns brausen kann mit seinem Gas.

Wo er mir aber echt weh tun kann, der Putin, ich sage es ungern, das ist mit den Heizschwammerln. Im Winter sitze ich in der Gaststuben drin. Im Sommer bin ich im Gastgarten draußen. Aber dazwischen erwischt er mich. Zwischen dem noch nicht warm und nicht mehr kalt sind die Heizschwammerl schon sehr fein. Wenn er uns da den Hahn zudreht, wäre das echt bitter. Aber mit dem Klimawandel hören sich die Übergangszeiten sowieso auf, schau’ ma mal.

Wichtiger ist, dass uns das Corona nicht mehr erwischt. Dagegen ist der Krieg ein Klacks. Der Virus hat mir schon zweimal meine Lebenspipelines abgedreht. Der Wirt zu. Das Tröpferlbad zu. In die Kirche hätte ich gehen können. Aber was tu ich dort? Bin net dem Jesus sein Haberer. Beim dritten Lockdown war es mir dann wurscht. Bin ich hinten beim Wirten hinein, Vorhänge zu …

Aber das Bad hat mir schon sehr gefehlt. Sie müssen öfter herkommen, dann verstehen Sie, was ich mein. Jetzt haben Sie schon wieder das Wasser abgedreht. Sie haben doch noch eine Viertelstunde. Sie werden denen doch nicht ihr heißes Wasser schenken. Aso, Sie würden mir Ihre 15 Minuten gutschreiben lassen. Sehr großzügig, nobel, das wäre nicht notwendig gewesen. Für das bisserl guten Rat mit den Fliesen. Aber das freut einen natürlich sehr. Kommen S’ bald einmal wieder. Und wenn ich nicht da bin, können S’ gern auch in meine 7er-Kabin rein. Werden S’ sehen, die ganze Wand gefliest, das hat schon was. Ah ja, und wenn Sie mit dem Badewaschl reden, sagen S’ ihm bitte, ich nehm zu Ihre 15 Minuten gleich noch eine ganze Stunde dazu. Die Zweisiebzig gönne ich mir, ich trau denen beiden nicht, Corona hin, Putin her, mir sind die jetzt wurscht, ich bleib in der Dusch.

Wolfgang Machreich

ist ein Fan des Mölltaler Geschichten Festivals – seine Texte wurden in diesem Rahmen bereits mehrfach ausgezeichnet. Der gebürtige Pinzgauer startete als Spengler- und Glaser ins Berufsleben. Auf dem zweiten Bildungsweg studierte er Theologie und Philosophie in Salzburg und arbeitete anschließend als Außenpolitik-Redakteur bei der Wochenzeitung „Die Furche“, danach als Pressesprecher für die Grüne Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Seit 2017 ist er freier Autor und Journalist.

DAS ERDÄPFELGEISSLEIN

ELISABETH KOFLER-WEICHSELBRAUN

Ich wusste nicht warum.

Ich fragte sie, aber sie meinte nur, dass ich schön leise sein solle und ganz gut aufpassen, meinte sie, solle ich auch.

Und dann las Mama. Immer die gleiche Geschichte, jeden Abend. Für mich und meinen Bruder Hansl.

Ich fragte mich, wie jedes Mal, wie es wäre, im Uhrkasten zu sitzen, zu hören, wie draußen die Geschwister gefressen werden.

Zu warten, bis mich der böse geißleinfressende Wolf findet, oder nicht.

Diese brennende Ungewissheit. Dieses unselige Warten, diese kalte, luftlose Angst.

Das war wie mit dem Froaß.

Vom Tag meiner Geburt an hatte ich den. Die Leute aus dem Dorf sagten, es sei ein Wunder, dass ich nicht im Kindbett gestorben war.