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Die Gerichtspsychiaterin Dr. Simonetta analysiert die Vergangenheit des Musikers Dietrich Beck. Findet sie dabei den Grund für die Gewalttat, die man ihm zur Last legt und an die er sich angeblich nicht erinnern kann? Je tiefer sie in sein Leben eindringt, umso mehr gerät die kühle Wissenschaftlerin in den Bann des Künstlers Beck, der sie mit seiner Sinnesfreude provoziert und mit seinem Klavierspiel verwirrt. Und umso mehr wächst ihre Überzeugung, dass ihm aus seinen früheren Beziehungen tödliche Gefahr droht.
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Seitenzahl: 617
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Uwe Reinhardt
Roman
»Künstlerpech in extremer Version, Herr Beck, Gefängnis statt Karriere!«, resümiert Dr. Simonetta ironisch die scheinbar ausweglose Situation des Musikers Beck, der drei Wochen vor einem wichtigen Konzert auf der geschlossenen Station einer Nervenklinik erwacht. Die Ärztin, die seine Schuldfähigkeit beurteilen soll, sucht mit psychoanalytischem Gespür nach Erinnerungen und Verhaltensmustern und lässt so biografische Skizzen entstehen, die sich zu einem vielschichtigen Künstlerporträt verdichten. Becks Kindheit in einem angesehenen Dresdner Musikerhaushalt wird lebendig, ebenso sein Studium inmitten der ostdeutschen Kulturszene mit Lebenswirklichkeiten, denen Dr. Simonetta in ihrer pfälzischen Heimat nie begegnete. Sie erfährt, wie Reiseverbote, politische Zwänge und Einschränkungen der Meinungsfreiheit nachhaltig in persönliche Entwicklungen eingriffen und bei vielen Heranwachsenden den Gedanken an eine Flucht allgegenwärtig machten ...
Beck, der im wiedervereinigten Deutschland zum Generalmusikdirektor aufsteigt, strandet nach dem mysteriösen Tod seiner Partnerin als Mitglied einer Rockband in Australien. Dort erreicht ihn überraschend die Einladung zu einem Probespiel in Deutschland. Die Chance auf ein Comeback? Er reist an, gewinnt und fügt unmittelbar danach in der Garderobe einem Unbeteiligten lebensgefährliche Verletzungen zu ...
Uwe Reinhardt, in Dresden geboren, studierte Medizin und Musik und begann seine ärztliche Tätigkeit in der forensischen Abteilung einer Universitätsnervenklinik. Er arbeitete später als Internist und Dirigent mit Stationen in Frankfurt a. Main, Bayreuth und Öhringen/Hohenlohe und lehrte als Honorar- und Gastprofessor an den Musikhochschulen von Dresden und Stuttgart.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.
Uwe Reinhardt
Roman
Verlag Waldkirch
Der Herausgeber behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützen Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
ISBN Taschenbuch 978-3-86476-205-5
ISBN EPUB 978-3-86476-693-0
ISBN PDF 978-3-86476-694-7
1. Auflage 2025
Gesamtherstellung: Verlag Waldkirch KG
© Uwe Reinhardt 2025
Verlag Waldkirch KG
Schützenstraße 18
68259 Mannheim
Telefon 0621-129 15 0
Fax 0621-129 15 99
E-Mail: [email protected]
www.verlag-waldkirch.de
Satz und Gestaltung Verena Kessel, Verlag Waldkirch
Umschlaggestaltung und Covermotive Ulrike Reinhardt ”Begegnung“ (Encaustic, 2024), ”Remember I“ (Mischtechnik, 2025)
© Ulrike Reinhardt 2025
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Herausgebers
Prélude
Mittwoch, 13. September
Donnerstag, 14. September
Freitag, 15. September
Samstag/Sonntag, 16./17. September
Montag, 18. September
Dienstag, 19. September
Mittwoch, 20. September
Donnerstag, 21. September
Freitag, 22. September
Samstag, 23. September
Sonntag, 24. September
Montag, 25. September
Dienstag, 26. September
Mittwoch, 27. September
Donnerstag, 28. September
Freitag, 29. September
Samstag, 30. September
Sonntag/Montag, 1./2. Oktober
Coda
Anhang
Für Fritjof
Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull am 10. April 2010, bei dem eine riesige Aschewolke kilometerhoch in die Atmosphäre geschleudert wurde, hatte die Welt mit einem Schlag verändert. Das spürten diejenigen, deren Vorhaben an Flugplänen und Verkehrsverbindungen hingen, aber auch andere, deren Leben sich in kleinstem Kreise bewegte, die gar nicht reisen wollten. Warenflüsse gerieten ins Stocken, Briefe und Postsendungen, besonders dringend erwartet und deshalb dem Flugzeug anvertraut, kamen nicht mehr ans Ziel, Konferenzen scheiterten, Wiedersehen fielen aus, sogar manches Alibi könnte kippen ...
Mit derlei Gedanken befasst, erreichte unseren in Athen gestrandeten Verlagsdirektor Hubertus M. das Angebot des Hafenmeister von Patras, auf der hoffnungslos überbuchten Fähre als »blinder Passagier« in der Mannschaftskabine nach Venedig mitzureisen. Diese Gelegenheit ergriff er sofort, denn dadurch würde er rechtzeitig in München ankommen, um bei den wichtigen Verhandlungen seiner Firma doch noch zugegen zu sein.
Er ahnte nicht, dass diese Schiffspassage ihn mit einem ganz anderen »Naturereignis« konfrontieren würde, das wiederum uns in den Besitz dieses Romanmanuskripts gelangen ließ.
Lesen Sie seinen Bericht vorab.
Da lag sie! Fest in ihr Laken eingerollt wendete sie mir den Rücken zu. Ein winziges Heben und Senken verriet gleichmäßige Atemzüge und das Dämmerlicht verlieh ihren Locken einen schwachen Glanz. Es war kein Traum, was allmählich in mein Bewusstsein zurückkehrte: Vulkanasche über Europa, alle Flüge in Athen annulliert, die Fähre nach Venedig. Und diese Frau, die, von der Crew in letzter Sekunde an Bord geholt, nun neben mir schlief. Wir hatten Wein getrunken, getanzt. Zuletzt zu diesem Schlager. My Huckleberry friend. Moon River and me! Und danach? Ein einziger Aufschwung, losgelassen, unkontrolliert, von Gleichzeitigkeit überwältigt, eine Lichtkugel, die sich ballte, dehnte und in tausend funkelnde Blitze zersprang. Ein Dom von unendlicher Klarheit!
Von der Klimaanlage über mir fiel eisiger Wind, doch kalt war mir nicht. Hatte sie die Decke über mich gelegt?
Jetzt tänzelten helle Lichtpunkte durch die Kabine und in ihrem Haar blitzten Inseln auf, ein Botticelli-Rot, wie man es nach Florenz nie wieder vergisst. Hirngespinste im frühen Licht. Die Schiffsmotoren dröhnten und übertönten alle Geräusche. Schlief sie wirklich noch oder lag sie wach?
Als hätte sie die Frage gespürt, drehte sie sich herum und blinzelte schlaftrunken.
»Guten Morgen, ich heiße Hubertus«, lächelte ich ihr vorsichtig zu.
»Juliette«, antwortete sie verdutzt, zog erneut das Tuch fest um sich und blickte ratlos. Dann plötzlich schien alle Verlegenheit von ihr abzufallen; kopfschüttelnd prustete sie los und meinte: »Er hatte recht!« Doch gleich war sie wieder ernst und schwieg gedankenverloren.
»Ich bin froh, dass du es noch an Bord geschafft hast«, versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen.
Sie blieb stumm, dann rückte sie die Verhältnisse zurecht: »Sie standen an der Reling. Ich habe Sie um Ihr Bier beneidet.«
Das ›Sie‹ duldete keinen Widerspruch.
»Danke, dass Sie mich zudeckten.«
»Keine Ursache, gern geschehen.« Eine helle melodische Stimme. Und sie fügte hinzu: »Ein verrückter Tag!«
»Ja!«, antwortete ich leidenschaftlich, »und eine wunderbare Nacht!«
»Eine Ausnahmereaktion! Sie dürfen das Geschehene nicht überbewerten. Daran war dieser Schlager schuld.«
»Es war ein Wunder, das über uns beide kam!«
Mit einer Handbewegung wehrte sie ab. »Seit zwei Tagen sind doch alle Maßstäbe außer Kraft durch diesen winzigen Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen. Es ist einfach passiert, wir konnten nichts dagegen tun. Gehen wir einen Kaffee trinken!«
»Gern«, sagte ich, »treffen wir uns im Bistro, ich brauche ein paar Minuten.«
Das kalte Wasser machte meinen Kopf nicht klarer. Es war halb sechs, unser Tanz in der Bar lag keineswegs die Ewigkeit zurück, nach der es sich anfühlte. Ich ging nach oben. Die Decks waren menschenleer und an der Tür zum Restaurant schaukelte ein Schild: Chiuso. Ich suchte nach einem Kaffeeautomaten und sah Juliette bereits davorstehen. Sie nippte an einem Pappbecher und deutete auf den Tisch neben sich mit drei weiteren. »Wenig drin und heiß! Vorsicht!«
»Oh, danke! Wieso sind Sie gestern so spät gekommen? Wir haben uns doch schon im Zug gesehen!«
»Wir sind uns uns auf dem Bahnsteig in Athen begegnet!«, korrigierte sie mich, »ich musste noch einmal zurück zum Hotel, weil mein Pass noch an der Rezeption lag. Ohne Pass keine Fähre.«
»Und der Kapitän? Es wirkte, als hätte er bis zur letzten Sekunde auf Sie gewartet!«
»Der Vater einer Kollegin. Zum Glück hatte er mich noch bemerkt. Wie es aussieht, bietet dieses Schiff die einzige Möglichkeit, von Athen wegzukommen.«
»Auf jeden Fall die schönste.« Ich hatte neuen Kaffee besorgt und stellte die heißen Becher ab. »Das Frühstück beginnt in einer Viertelstunde!«
Sie winkte ab. »Ich lege mich noch einmal hin. Ich muss heute viel erledigen und brauche einen klaren Kopf!«
»Aber wann sehen wir uns wieder?«, versuchte ich sie zurückzuhalten. »Wir könnten zusammen essen.«
»Vielleicht,« wich sie aus, »wir treffen uns bestimmt. Auf so einem Schiff kann man sich gar nicht verfehlen.« Sie nahm ihren Kaffee und verschwand.
Am Vormittag sah ich sie auf dem unteren Deck an der Reling stehen, leger, in Jeans und Turnschuhen, das Alter schwer schätzbar, Ende vierzig oder Mitte fünfzig. Die schmale Figur und das offene Haar gaben ihr etwas Mädchenhaftes. Anmutig wirkte sie, aber zugleich unerreichbar. Konnte man Glück festhalten, wenn es plötzlich so nahe ist?
Um die Mittagszeit wartete ich vergeblich auf sie und schlief schließlich auf einem der Liegestühle ein.
Als ich erwachte, stand die Sonne noch immer hoch. Die Fähre kam mit schneller Fahrt voran, wo würden wir sein?
»Können Sie etwas entdecken?«, fragte es auf einmal hinter mir. »Juliette!« Ich fuhr herum. »Jetzt schon, eine Fata Morgana.«
»Ich habe Sie versetzt, ich weiß, Entschuldigung, aber der Kapitän hat mir Schreibtisch und Satellitentelefon überlassen, das musste ich ausnutzen. Ich konnte meinen Vortrag zum Glück auf morgen verschieben. In Mailand, bei einem Psychiatrie-Kongress«, ergänzte sie, als sie meinen fragenden Blick bemerkte. Wenn unsere Fähre pünktlich ankommt, werde ich rechtzeitig da sein. Was haben Sie gemacht, Hubertus, sind Sie auch vorangekommen?«
»Kaum! Ich bin auf Deck immer wieder eingenickt. Und wenn ich wach war, hat mich eine Melodie verfolgt.«
»Eine Melodie? Was für eine Melodie?«
»Kein Schlager! Nichts zum Mitsingen. Eine Fagott-Linie, Musik, die mich vor sich hertrieb. Wagner, Tristan und Isolde, Anfang zweiter Akt.«
»Nein!«, stieß sie hervor, »jetzt geht das so weiter, jetzt sprechen auch Sie von dieser Oper.«
Wieder schaute ich sie verständnislos an. Aber sie hatte sich schon gefangen, behielt für sich, was sie vielleicht sagen wollte und erkundigte sich nach meinem Beruf. Ich erzählte ihr von dem Verlag in München, den Verhandlungen über Filmverträge am morgigen Abend und meiner Athener Konferenz, in der es um die neuesten Übersetzungen von Homer ging.
»Braucht man so etwas?«, wunderte sie sich. »Ich finde die alten Texte schöner. Auch bei der Bibel oder in italienischen Opern.«
»Weil uns Formulierungen und Satzmelodie vertraut sind«, nickte ich. »Aber es lohnt sich, auch immer wieder das Original anzusehen. In diesem Jahr gab es die erste Übersetzung der Odyssee von einer Frau. Und siehe da, aus vielen Huren wurden plötzlich Jungfrauen.«
»Wunderbar«, lachte Juliette, »im wahrsten Sinne!«
Wir standen an der Reling, schauten auf die funkelnde See, in der sich immer mehr Wellen mit schäumenden Kronen schmückten, und spürten den salzigen Wind in unseren Gesichtern. »Heute Morgen sprachen Sie von einem Schlager, der an allem schuld gewesen sei? Das geht mir nicht aus dem Kopf.«
Juliette blickte mich an.
»Richtig! Hätten wir uns zusammen die Kleine Nachtmusik angehört, wäre nichts passiert. Nur ein Schlager verführt dazu, das gute Benehmen über Bord zu werfen. Es braucht diesen Hauch lasziver Trivialität, um sich näher zu kommen. Und die richtige Textzeile im richtigen Moment.«
»Und die richtigen Personen!«, fügte ich hinzu, »zwei verwandte Seelen, die sensibel genug sind, hinter einer zufälligen Begegnung das Gottgewollte zu erahnen. Wir folgten einer Vorsehung!«. Vergeblich versuchte ich, meine Emphase im Zaum zu halten. »Dass sich unsere Schicksalsfäden genau in diesem Moment auf diesem Schiff kreuzten, war doch vorherbestimmt! Gestern habe ich meinem Auditorium solche Zusammenhänge erklärt. Die Parzen haben sich diese Nacht für uns ersonnen. Da gibt es keinen Zweifel, Juliette!«
Nur einen Augenblick war sie irritiert. »Die Parzen, die Göttinnen des Schicksals? Nein! Verzeihen Sie, aber es war reiner Zufall, dass es ausgerechnet Sie getroffen hat. Sie standen einfach in der Nähe. Auch wenn sich unsere Blicke schon zuvor einmal gekreuzt haben. Das war es nicht. Es lag an dem Lied, das in diesem Moment über die Boxen kam. Und für mich, das macht es Ihnen vielleicht verständlicher, war es ein Déjà-vu. Mit diesem Schlager wurde ich mit einem Mal Teil eines Geschehens, das ich schon in allen Einzelheiten kannte. Das Szenario entstammte der Erzählung eines Musikers, den ich vor Jahren medizinisch begutachten musste. Alles, was uns beiden heute Nacht widerfuhr, hat er mir genau beschrieben. Nie hätte ich geglaubt, dass so etwas wirklich funktioniert. Schon gar nicht in meinem Alter«, setzte sie mit einem winzigen Lächeln hinzu. »Aber gestern folgte ich einem Zwang.«
Was sollte ich dazu sagen? »Ich würde Sie gern zu einem Glas Wein einladen. Dort drüben an der Bar?«, versuchte ich, Zeit zu gewinnen. Doch sie wehrte ab. »Morgen wird ein anstrengender Tag. Außerdem bin ich mit meinem Leben ganz zufrieden. Nicht böse sein, Hubertus! Denken Sie an Hölderlin«, feiner Spott zuckte um ihre Lippen, »wie er sich bei den Parzen bedankt: Einmal lebt ich, wie Götter, mehr bedarf es nicht!1 Der Dichter spricht unmissverständlich von einem einzigen Mal. Gute Nacht, Hubertus!«
Mit den Gefühlen eines verwirrten Schuljungen ließ sie mich stehen. Hatte ich diese Frau mit meinem rührseligen Pathos verschreckt? Was sollte ich nur tun?
Ich kaufte eine Flasche Wein und beschloss, an Deck zu bleiben. Im Windschatten ließ es sich aushalten. ›Schuld war nur der Schlager‹, hatte ich Juliette im Ohr. Vielleicht stimmte das sogar. Aber ›Schuld‹ war das falsche Wort. Katalysator müsste es heißen oder Heilsbringer. Das klang blasphemisch, doch war der Begriff ja nicht für den Messias reserviert. Jetzt dachte der Büchermensch in mir sofort an Klopstock und dessen wortgewaltiges Epos.2
Auch mit Homer hatte sich dieser Dichter befasst, doch waren seine Texte und schwülstigen Riesengedichte längst vergessen. Nur die hübschen kleinen Verse lagen einem noch auf der Zunge. Voller Sehnsucht sann ich vor mich hin: Im Frühlingsschatten fand ich sie; da band ich sie mit Rosenbändern. Sie fühlt es nicht und schlummerte.3Traumverloren verfolgte ich das Farbenspiel am Westhimmel. Da hörte ich Juliettes Stimme. Hatte ich zu viel getrunken? Nein, sie war es wirklich.
»Schön, dass Sie noch hier sind! Wird es nicht zu kalt?«
Ich war so überrascht, dass mir wieder nichts anderes einfiel, als zu fragen, ob sie einen Schluck Wein möchte. »Einen ganz kleinen. Darf ich?«, sie schaute zu meinem Glas. »Danke.« Dann strich sie sich einige Haare aus dem Gesicht. »Ich habe noch einmal über Ihre Worte nachgedacht. Sie sprachen doch vom »Schicksalhaften« unserer Begegnung. Möglicherweise besteht das tatsächlich darin, dass Sie einem Verlag vorstehen und ich vor einigen Tagen in Athen ein Manuskript erhielt. Vielleicht sollte unser Zusammentreffen ein Zeichen sein, Ihnen diesen Text zukommen zu lassen. Meinen Sie, es würde Ihnen etwas ausmachen, die Seiten einmal durchzusehen?«
Wieder verspürte ich bei Juliette diese Spur sympathischer Verlegenheit und bemerkte erst jetzt die Mappe, die sie auch während sie am Wein nippte, nicht aus der Hand gelegt hatte. »Das ist die Akte des Musikers, von dem ich Ihnen berichtete; genauer gesagt, ist es seine Geschichte, die eine Mitarbeiterin aus den Aufzeichnungen von damals zusammengefasst hat. Früher war es in einer psychiatrischen Klinik noch üblich, den Behandlungsverlauf und wichtige Überlegungen täglich niederzuschreiben und alle Explorationen auf Band aufzunehmen. Sie schildert, nicht ganz legal, die Tage, die damals für sein weiteres Schicksal so entscheidend waren, äußerst fantasievoll und trotzdem nahe an den Tatsachen.«
Ich konnte meine Freude nicht verbergen, als ich ihr das Päckchen abnahm. »Natürlich, sehr gern!«
»Morgen früh werden wir uns nicht mehr sehen, Hubertus. Mein Zug nach Mailand geht gleich nach unserer Ankunft. Vielleicht können wir telefonieren, oder Sie schicken die Papiere einfach zurück, die Anschrift steckt drin.«
Meine Augen starrten auf die Tür, durch die sie verschwand. Ich sah sie an; mein Leben hing mit diesem Blick an ihrem Leben; ich fühlt' es wohl, und wußt‹ es nicht. Schon wieder Klopstock. Sonderbar!
In der Mitte des Hauptdecks gab es einen freien Tisch mit bequemen Stühlen und gutem Licht. Ich goss mir den restlichen Wein ins Glas und breitete vorsichtig das Manuskript aus. Allein seine Herkunft machte es zu einer Kostbarkeit. Mit flüssiger Hand und blauer Tinte geschrieben prangte auf dem leicht zerknitterten Deckblatt der Titel:
MOON RIVER Für J. S., aufgeschrieben von S. F.
Ins Zimmer schwebte ein hochgewachsener, schlanker Herr Ende Fünfzig in strahlend weißem Kittel. Beck sah zunächst nur ein Gesicht, korkenzieherartig verdreht und voller Spott; die große gekrümmte Nase rot leuchtend unter kleinen, wach hin und her springenden Augen. Dann baute sich die ganze Gestalt mit schwungvoll manierierter Geste vor seinem Bett auf. »Mephisto?«, staunte Beck leise, um im nächsten Moment bewundernd herauszuplatzen: »Ein schöner Mephisto!« Im Hintergrund gluckste es.
»Du sagst es!« Die Antwort donnerte ihm entgegen, eine Szene wie bei Sophokles mit aufmarschiertem Chor. Im gut gefüllten Zimmer drängten sich die Assistenten.
»Herr Beck, seien Sie gegrüßt! Wir beide hatten bereits das Vergnügen, Sie erinnern sich? Sie haben dem Beamten vom Ministerium zack, zack mal eine verpasst. Sehr schön! An so viel Courage sollte sich mancher ein Beispiel nehmen, nicht wahr?« Der Mephisto blickte über die Schulter zu seinem Gefolge, als wolle er die Wirkung seiner Worte prüfen und fügte erläuternd hinzu: »Vor Ihren Augen befindet sich ein Musiker, der sich dem Auswahlverfahren einer Akademie stellte. Er spielte mit Gefühl, sprach bewegend über das Ästhetische der Kunst und schlug Minuten später einen Staatssekretär brutal zusammen. – Schauen Sie nicht so erschrocken, Herr Beck, der Mann lebt und wird es hoffentlich überstehen! So schnell kriegen Sie unsere Beamten nicht tot!« Für den Moment hatte er sich Beck zugewandt, jetzt richtete er sich weiter an sein Auditorium: »Nach allem, was wir wissen, war Herr Beck bislang ein unbescholtener Zeitgenosse, so dass sich natürlich die Frage aufdrängt, ob er zum Zeitpunkt der Tat überhaupt zurechnungsfähig war. Wir müssen untersuchen, warum ihm sein Tun entglitt. Nicht wahr, Herr Dr. Habicht?« Das kam plötzlich, kalt und schneidend, und Dietrich Beck konnte sofort erkennen, wer angesprochen worden war. »Richter und Staatsanwalt wollen wissen, ob Sie, Herr Beck, für dieses Tun verantwortlich zu machen sind. Hier im Departement für forensische Psychiatrie der Universitätsnervenklinik gehen wir solchen Fragen nach und prüfen die Schuldfähigkeit des Täters bei ungewöhnlichen Straftaten. Ich heiße übrigens Winter und leite diese Einrichtung.« Jetzt war er wieder bei Beck.
»Wissen Sie, ich habe in Wien auch ein paar Semester Musik studiert und denke, dass ich Sie vor diesen groben Zeitgenossen, die sich eigentlich um Sie kümmern sollen, noch ein wenig in Schutz nehmen muss. Ein unangenehmer Ort, solch eine Untersuchungshaftanstalt«. Winter sprach gedehnt und betonte jedes Wort. »Musiker müssen schließlich zusammenhalten.« Den letzten Satz glaubte Beck schon einmal gehört zu haben. Wieso zusammenhalten? Das käme richtigen Musikern nie in den Sinn. »Was sagte eigentlich dieser notorisch überbezahlte Faulpelz, dass Sie sich nicht bremsen konnten?« setzte der blütenweiße Mephisto seine Rede fort. »War er neidisch? Hat er Sie beleidigt? Oder war überhaupt er es, der mit der Rangelei angefangen hat? Sagen Sie's uns. Es war doch keiner dabei!« Beck wollte antworten, doch seine Lippen versagten den Dienst. Er zuckte mit den Schultern und drehte seine Handflächen nach außen. »Oh! Was für eine schöne atavistische Reaktion!«, jetzt strahlte das Gesicht des Professors begeistert und glich sich farblich der Nase an. »Prägen Sie sich das bitte ein, meine Damen und Herren! Nach schweren Verletzungen oder Überdosen von Neuroleptika schaltet das Gehirn zurück in primitive Verhaltensweisen! Jeder Affe würde genauso reagieren!« Beck nickte zustimmend, während der Professor sich weiter seiner Eskorte zuwandte:
»Was Herrn Beck betrifft, befand er sich bis vor wenigen Tagen selbst noch in einem lebensbedrohlichen Zustand, der die auswärtige Heilanstalt völlig überforderte. Deshalb holte ich ihn in unser Brain Center, wo er so lange bleiben wird, bis die Akutsituation beherrscht ist.« Professor Winter trat einen Schritt zurück und wies mit der Hand auf Beck. »Seine kognitiven Fähigkeiten werden im Moment noch durch die Folgen einer Hirnblutung, einer verschleppten Wiederbelebung und der Einwirkung dilettantisch ausgewählter Psychopharmaka moduliert.« Wellenhafte Bewegungen der Unterarme unterstrichen seine Worte. »An den Hergang kann Herr Beck sich nicht erinnern, weil er selbst ein stumpfes Hirntrauma erlitt. Alle Zeugen kamen, auch wenn sie anderes behaupten, erst hinzu, als er bereits zugeschlagen hatte und aussagefähige toxikologische Befunde liegen bis heute nicht vor. Also müssen wir herausfinden, Herr Beck, was bei Ihnen ein derartiges Gewaltpotential freisetzte. Vielleicht waren Drogen oder Alkohol im Spiel«, lächelte der Professor ihn wissend an. »Oder aber sie sind ein jähzorniger Mensch, dem die Kontrolle über sein Handeln immer wieder entgleitet. Dann ist eine derartige Tat voraussehbar und nicht zu entschuldigen. Ab sofort, Herr Beck, werden Sie Nutznießer medizinischer Leistungen, die von Sachkenntnis, Erfahrung und hohem Aufwand geprägt sind. Der für Sie zuständige Arzt ist«, Professor Winter beendete seine Kurzvorlesung mit einer dramaturgischen Pause, presste beide Hände wie ein Tenor auf die Brust und schaute in die Runde, »die für Sie zuständige Ärztin ist«, noch einmal zögerte er, als wolle er einen Oscar verleihen: »Dr. Juliette Simonetta.«
Beck beobachtete, wie sich die Genannte vor Ärger verfärbte und trotzdem einen Schritt nach vorn trat, als wäre es so einstudiert. Amüsiert wartete er auf ihren Knicks und blickte strahlend in die Runde.
»Sehen Sie, Frau Kollegin, Herr Beck freut sich schon darauf und Sie werden keine Schwierigkeiten haben, das Gutachten pünktlich« – wieder betonte der Professor jede Silbe – zu erstellen.« Jetzt würde sie ihm am liebsten den Hals umdrehen, dachte Beck und registrierte das feine Lächeln im Gesicht ihres Chefs, der mit einem »Guten Tag!« in straffer Pose zur Tür strebte, die ihm von einem Assistenten aufgerissen wurde.
Minuten, Stunden, Tage später? Beck fehlt der zeitliche Maßstab. Er ist nicht wach, aber da ist etwas um ihn, ein blaues Band aus Tönen, Tongirlanden, die sich zu einem Knäuel verdichten und auseinanderfallen, in warmes Abendlicht und ein fröhliches Lachen aufgehen. Das Mädchen an seiner Seite, Paula! Sie hat ihr Haar geöffnet und zieht ihn über Wiesen, stolpernd eine Böschung hinab, lässt ihn los und rennt davon. Kurz vor dem silbrig glänzenden Fluss hat er ihre Hand endlich wieder zu fassen bekommen. Jetzt hält er sie fest. Die Lichter der Leuchtreklamen und der Laternen spiegeln sich am Fuße der breiten Brückenpfeiler. Das dunkle Wasser fließt schnell, nur nahe am Ufer dreht es sich zu kleinen Strudeln und gluckert gegen die schwarzen Steine mit ihrem leicht öligen Geruch. Paula zieht ihn zurück ins trockene Gras, er spürt die Wärme ihrer Haut. »Du spielst so schön Klavier« flüstert sie. Eine Hand streicht zart über seine Wange und jetzt hört er die Musik, einmal näher, dann wieder von fern. Die aufgelösten Harmonien der Begleitung kommen direkt vom Wasser und mischen sich mit der Melodie, die sie beide vor sich hinsingen. Wieso ist er mit Paula am Fluss? Wieso summen sie gemeinsam dieses Stück? Er hat es auf der Abiturfeier in der Schule vorspielen müssen: Franz Schubert, Impromptu in Ges-Dur.4 Er sieht das Programm genau vor sich liegen. Das denkbar ungeeignetste Stück für eine Abiturfeier, doch der Musiklehrer hatte es so gewollt. Aber heute stimmt etwas nicht mit der Musik, irgendetwas ist falsch! Die Gedanken kommen wie auf kleinen Papierschnipseln geflogen, es ist schwer, sie zu fangen. Hat er einen und greift nach dem zweiten, ist der erste wieder weg. Er überlegt, dass es einen Trick geben muss, den ersten festzuhalten, um ihn mit dem zweiten und dem nächsten und wieder dem nächsten zu verbinden. ›Lass es bleiben‹, sagt der Direktor, aber jemand zwingt ihn, die Jagd fortzusetzen. Natürlich! Die Musik, die einfach nicht aufhört, ihretwegen muss er weitermachen.
Jetzt kommt Paula auf ihn zu, fällt ihm um den Hals und drückt ihm einen Kuss auf die Lippen, so impulsiv, als hätte sie lange vorher darüber nachgedacht oder als hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nie geküsst. Gleich darauf ist sie verschwunden.
›Guten Abend, Dietrich‹, da ist sie wieder, Abiturball im Hotel Demnitz, im weißen Kleid, so schön, so begehrenswert, wieso hat er sie bisher nicht wahrgenommen? Sie ist doch schon seit zwei Jahren in seiner Klasse. ›Lass uns tanzen, komm!‹
›Zu diesem Schubert geht das nicht‹, hört er sich rufen, ›der ist falsch, falsch, falsch…‹, die Worte verhallen wie in einem Tunnel.
Als Dietrich Beck erwachte, fühlte er eine kühle Hand auf seiner Stirn, eine andere lag auf seiner linken Schulter und er schaute in ein freundliches, von Locken umrahmtes Gesicht mit Stupsnase und Sommersprossen. »Paula? – Annett!«
»Weder noch. Ganz ruhig«, klang eine Stimme. Liebevoll. »Alles ist in Ordnung. Sie sind hier im Krankenhaus. Ich heiße Susanna. Haben Sie Durst?« Sie reichte ihm ein Glas und fügte hinzu: »Sie müssen keine Angst haben.«
»Angst? Wieso! Ich habe keine Angst!«
»Aber gerade haben Sie laut gerufen.«
»Ich war mit Paula auf dem Abiturball. – Doch Sie erinnern mich an jemand anderes!«
Beck versuchte, sich zu konzentrieren. Durch die Wand drang Klaviermusik. »Schon wieder falsch!« schüttelte er den Kopf.
»Das ist die Oberärztin, die in ihrem Zimmer übt. Macht sie immer, wenn sie Dienst hat oder abends nicht nach Hause will. Professor Winter hat es gestattet, weil es das therapeutische Klima verbessert. Stimmt doch, oder nicht? Sie hätte gern Musik studiert, angeblich haben es ihre Eltern verboten.«
»Sie spielt das Stück in der falschen Tonart« erwiderte Beck gereizt.
»Das hören Sie durch die Wand? Ich denke, Sie sind ein Rocker!« »Sagen Sie mir doch bitte, was passiert ist. Wo sind wir hier?« Beck deutete auf den großen Kalender an der Wand. »Wieso ist heute der 13. September?«
»Warum nicht? Sie haben sich doch schon letzte Nacht mit mir unterhalten und heute früh haben Sie unsern Chef als ›schönen Mephisto‹ begrüßt. Das weiß bereits die ganze Klinik.« Susanna schaute belustigt zu Beck.
»Richtig, ein ausdrucksstarker Typ! Aber an gestern Abend kann ich mich nicht erinnern. Wieso waren Sie die ganze Nacht bei mir?«
»Nur bis um zwölf. Ich war die Sitzwache.«
»Wie?«
»Ich habe aufgepasst, dass Ihr Blutdruck stimmt und dass Sie ordentlich atmen.«
»Und?«
»Na ja.«
»Was heißt ›na ja‹?«
»Sie schnarchen!«
»Oh! Die ganze Zeit?«
»Nein, nein!«, das Mädchen schüttelte den Kopf. Beck musste lachen. »Susanna! Und was passierte, wenn ich munter war?«
»Wir haben uns angesehen und über ein paar Sachen gesprochen, aber Sie sind immer gleich wieder eingeschlafen.«
»Gesprochen? Worüber?«
»Sie erzählten von Lulu und von dem Schicksalsfaden, den die Nornen spinnen«, das Mädchen begann, die Punkte an ihren Fingern abzuzählen, »über ein Begräbnis, von Ihrem Segelboot und viel über mich.«
»Über dich?«
»Über Susanna! Mehr über die von Mozart, aus seiner Oper Die Hochzeit des Figaro.5«
»Nichts über die andere?«
»Welche gibt es denn noch?« Statt zu antworten, setzte Beck sich mit einem Ruck auf und skandierte im Flüsterton mit weit aufgerissenen Augen: »Einundzwanzig Jahre alt wird sie nächstes Jahr, und wenn sie mich noch immer liebt, werden wir ein Paar.« Dann entspannten sich seine Züge und er begrüßte routiniert sein imaginäres Publikum: »Frivoles um die Geisterstunde, meine Damen und Herren! Herzlich willkommen zu Beckstage, der einzigartigen Late Night Show des Nordens. Unser Theaterabend hinter den Kulissen begann mit Susanna, Susanna von Erik Silvester!«
»Cool! Gott sei Dank sehen Sie es heiter«, Susanna blickte ihn begeistert an.
»Wie, heiter?«
»Na, dass Sie hier sind, im Gefängnis, auch wenn draußen Psychiatrie dran steht.«
»Gefängnis, Psychiatrie?« Beck schaute verständnislos. Dann lachte er auf: »Wenn ich das meiner Band erzähle, denken die Jungs wirklich, ich bin verrückt.«
»Meinen Sie Ihre Kollegen in Australien? Dort kommen Sie so schnell nicht wieder hin.«
»Aber sicher! Wenn heute der 13. September ist, dann«, jetzt nahm auch Beck seine Finger zu Hilfe, »dann startet ziemlich genau in drei Wochen in Sydney das nächste Konzert. 30 Tage hat dieser Monat selbst in Australien. Fast fünftausend Karten waren bei meinem Abflug schon verkauft. Stell dir das vor, Susanna, so viele Leute haben schon viel Geld bezahlt, nur um mich zu sehen.« Susanna schüttelte leise den Kopf: »Es müssen die Medikamente sein! Hier wird immer erst mal eine richtig hohe Dosis verordnet, damit sich die Neuen nicht so aufregen. Oder es ist Ihre Diagnose.«
»Was für eine Diagnose?«
»Frontalhirnsyndrom steht auf der Kurve.«
»Und was bedeutet das?«
»Ihr Gehirn vorn unter der Stirn ist durcheinander.«
»Das Gehirn unter der Stirn, Hirn unter Stirn« Beck wiederholte die Worte verzückt und wurde dabei immer lauter, »das hat Rhythmus!« Plötzlich schrie er los: »Da machen wir ein Lied draus!« Susanna wich zurück.
»Sie müssen sich ausruhen, Herr Beck, Sie sind völlig verdreht! Und ich habe zu tun.« Weg war sie.
Wieder wurde die Tür von außen aufgeschlossen. Dass hier jeder die Türen auf- und zuschloss, kam Beck merkwürdig vor.
»Wollen Sie einen Kaffee?«
»Wer sind Sie? Möchten Sie sich mir vorstellen?«
»Wollen Sie nun einen Kaffee oder nicht? Ich bin Schwester Kriemhild«
»Oh, mit so einem Namen hat man es schwer im Leben. Was Eltern ihren Sprösslingen aber auch antun!«
Kriemhild nahm Becks Feststellung regungslos zur Kenntnis. Beck konnte wieder schneller denken. Diese Schwester war ein Typ Frau, mit dem er noch nie gut zurechtgekommen war, kinderlos, unverheiratet, kulturbegeistert, selbstbewusst, aber vorwurfsvoll gegen jeden, der irgendwelchen Lastern frönte oder aus dem Alltagstrott ausbrach, um etwas aus seinem Leben zu machen. Unterkühlt, mit einer kleinen dünnen Handschrift ohne Mittelzone. Er ergriff die Kaffeetasse und dankte. »Sehr freundlich von Ihnen, ich bin etwas durcheinander.« Kriemhild blieb stumm.
»Haben Sie Kinder?«
»Drei, warum?«
Beck zuckte zusammen. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin überhaupt nicht in Form!«
Die Kaffeemaschine im Personalraum der Tagesklinik stand unter besonderer Obhut von Professor Winter. ›Bei einem Espresso im Stehen werden die meisten Geheimnisse verraten‹, pflegte er zu sagen, und tatsächlich waren die Hierarchien nirgendwo sonst so durchlässig wie an diesem Ort. Selbst die von ihrer Sekretärin gut versorgte Oberärztin schätzte die Gelegenheit, sich hier mit Mitarbeitern zu unterhalten, die sie sonst seltener traf. Als sie heute zur Tür hineintrat, sortierte Susanna gerade die Anforderungszettel für das Mittagessen. Dr. Simonetta mochte diese Praktikantin, die wie immer fröhlich grüßte: »Hallo, Frau Doktor, möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern, Susanna, schön, dich zu sehen. Wie war die Nacht mit Herrn Beck?«
»Was für eine Frage!« Ein flüchtiges Rot huschte über Susannas hübsches Gesicht.
Die Oberärztin lachte. »Stimmt, die kann man falsch verstehen.« »Diese Nachtwache war wirklich nett! Die Zeit verging wie im Flug. Wir sprachen über Gott und die Welt, genauer gesagt über Wotan und die Weltesche, über Erda und die Nornen. Sie weben das Seil und spinnen fromm, was ich weiß«, deklamierte das Mädchen aus dem Stehgreif in ausdrucksstarker Pose. »Wussten Sie, dass Franz Wedekind Maggi erfunden hat?« Der ungeliebte Schul-Autor war in Susannas Achtung deutlich gestiegen, seitdem Beck ihr nachts von seinen Skandalen erzählt hatte.6
»Das Etikett vielleicht. Soweit ich weiß, war er dort Marketingchef. Aber du bist ein echtes Talent, Susanna!«
»Für einen Rockmusiker ist Herr Beck unheimlich scharfsinnig. Er hat sofort erkannt, dass ich Mozarts lebendig gewordene Utopie von Lust und Liebe in einer Person bin. Die Frau, deren Besitz nicht nur erotische Bedürfnisse befriedigt, sondern auch eine freie Begegnung und gegenseitige Fürsorge verspricht.«
»Ist er dabei handgreiflich geworden?«, fragte Simonetta irritiert. »Du musst vorsichtig sein, er ist ein Gewalttäter. Wieso hat man überhaupt zugelassen, dass du allein mit ihm im Zimmer bleibst!«
»Wie ein Krimineller wirkt er überhaupt nicht!«
»Das ist gerade das Gefährliche! Im Moment kann man nicht einschätzen, ob seine eigentümliche Heiterkeit und die vielen Unverschämtheiten, die er von sich gibt, noch Folge seiner schweren Schädelprellung sind oder Ausdruck einer Charakterschwäche, mit der man ihn dann doch besser unter Verschluss hält.«
»Mir gegenüber tat er so, als würde er nächste Woche wieder in Sydney auf der Bühne stehen.«
»Ja, er ist noch ziemlich durcheinander.« Die Ärztin versenkte vorsichtig einen Würfel Zucker in ihrer Tasse. »Er hat unheimliches Glück gehabt, genauso gut könnte er im Wachkoma liegen oder für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen.«
»Was denken Sie, warum er so ausgerastet ist?«
»Ich weiß es nicht«, zuckte Simonetta mit den Schultern. »Jähzorn ist der häufigste Grund! Aber du hast es vom Professor gehört: jetzt beginnt die Fleißarbeit, man muss die vielen Hirnleistungen einzeln beurteilen, gezielt nach Denkstörungen suchen, nach Zwängen, Sinnestäuschungen oder einem Wahn und akribisch seine Vergangenheit durchforsten. Das ist aufwendig und kostet Zeit. Außerdem beobachten wir genau, wie sich sein Verhalten und Denkvermögen während des Aufenthaltes bei uns verändern. Momentan dürfte da noch einiges bei Herrn Beck im Fluss sein.«
»Aber so aus dem Bauch heraus? Warum hat er das getan?« Susanna ließ nicht locker.
»Irgendeinen Grund hat es für den Professor vermutlich gegeben, am reinen Affekt zu zweifeln, vielleicht fiel ihm am Tathergang etwas auf oder im Lebenslauf des Musikers. Gelegentlich muss er aber einen Straftäter auch aus reiner Gefälligkeit begutachten.« Susanna schaute die Ärztin fragend an. »Ja, wenn ihn irgendeine wichtige Persönlichkeit darum bittet, die nicht wahrhaben will, dass ihr Amigo ein ganz gewöhnlicher Krimineller ist.«
Nach dem Frühstück musste er noch einmal eingeschlafen sein, denn als er die Augen öffnete, blickte er in zwei ernste Mienen, ohne dass er gemerkt hatte, wann die dazugehörigen Personen ins Zimmer gekommen waren.
»Simonetta«, »Habicht«, hörte er, und sogleich fiel ihm der gestrige Auftritt wieder ein: »Verzeihen Sie, guten Morgen, aber ohne ihren weißen Kittel hielt ich Sie für Leidensgenossen.« Seine Begrüßung blieb unerwidert. Die beiden zogen sich jeder einen Stuhl heran und wechselten weder ein Wort noch einen Blick miteinander. »Ein sachbezogenes Arbeitsbündnis!«, startete Beck den nächsten Kommunikationsversuch und schaute Dr. Habicht erwartungsvoll an. Dieser Arzt mit seinem arrogant nach oben gezogenen Mundwinkel machte einen merkwürdigen Eindruck. Die Armbanduhr trug er über der Stoffmanschette des linken Hemdärmels, so etwas hatte Beck noch nie gesehen. Die Ärztin zu seiner Rechten, auf deren Knicks er bei der Visite vergeblich gewartet hatte, repräsentierte dagegen eine interessante Mischung aus Gouvernante und Teenager. Sie sagte ebenfalls nichts, hatte jedoch eine Ausstrahlung, die seine Augen zwang, auf ihr zu verweilen. ›Heute trägt sie nicht diese hässliche, viel zu große Brille, die ihr apartes Gesicht so beliebig werden lässt‹, fiel Beck in seinen Selbstgesprächsmodus zurück. Ganz im Gegenteil!‹ Bewundernd entdeckte er die ebenmäßig zarten Gesichtszüge dieser Frau, ihre anziehende Schönheit, die sie mit Absicht verbergen konnte, wenn sie wollte. Wann und warum würde sie das tun? Das Hellblau des eng geschnittenen Kostüms, das ihre zierliche Gestalt betonte, ließ sie blasser wirken, als sie eigentlich war, doch kontrastierte der Farbton wirkungsvoll zum rötlichen Gold des Haares, das leicht gelockt und sorgfältig gekämmt ihr Gesicht umspielte. Auf ihr äußeres Erscheinungsbild schien die Dame außerordentlich bedacht zu sein, sie überprüfte fortwährend mit kleinen Handbewegungen den korrekten Sitz ihrer Frisur und blies sich jetzt geschickt ein paar Strähnchen aus der Stirn. Nicht unsympathisch, befand Beck. Das musste sie sein, die Klavierspielerin. Ein bisschen nervös, leicht reizbar, vermutlich eingebildet, aber sehr intelligent und latent neurotisch. Beck hatte das Gefühl, dass die Gedanken ihm mit Reporterstimme über einen inneren Lautsprecher vorgesagt wurden. Sein Blick fiel auf die dünne Goldkette, die die Ärztin trug. Der winzige Anhänger im schmalen Ausschnitt ihrer weißen Bluse erinnerte an Wedgwood-Porzellan, wahrscheinlich ein kostbarer Familienschmuck von Großmama. Nur die Hände offenbarten, dass sie eine Dekade älter war, als er sie gestern geschätzt hatte. Sehr angenehm, dass die Lippen heute nicht mehr so grell leuchteten, wie bei ihrer ersten Begegnung. Zweifelsohne war der Lippenstift eine Waffe gegen den Professor.
Als ahnte sie, was ihm durch den Kopf ging, hielt Simonetta seinen zudringlichen Blicken mit ironisch zartem Lächeln stand, während sich Dr. Habicht in Positur setzte und begann, ihr die Ergebnisse seines Aktenstudiums vorzustellen: »Das ist Herr Beck, Dietrich Beck, von Beruf Musiker, 45 Jahre alt und ledig. Übliche Kinderkrankheiten, mit siebzehn eine Blinddarmentfernung, ansonsten gibt es keine schwerwiegenden Vorerkrankungen.« Beck konnte sich nicht entsinnen, diese Dinge jemals irgendjemandem mitgeteilt zu haben. »Nach den vorliegenden Unterlagen reiste Herr Beck am Dienstag, den 6.9., aus Sydney kommend über den Flughafen Frankfurt in Deutschland ein.«
»Brisbane.«
»Wie bitte?« Dr. Habicht ärgerte sich, dass er unterbrochen wurde. Laut wiederholte Beck »Brisbane. Ich bin aus Brisbane gekommen. Herr Dr. Geier. Vielleicht meinen Sie jemand anderes«.
Dr. Simonetta konnte ihr Lachen nicht unterdrücken und wusste sofort, dass sie damit das Verhältnis ihres Kollegen zu Dietrich Beck nachhaltig beeinträchtigt hatte, denn Dr. Habicht mochte es nicht, wenn man sich auf seine Kosten amüsierte. Tatsächlich setzte der Assistenzarzt seine Rede in verändertem Tonfall fort. »Herr Beck kam infolge diverser Flugausfälle verspätet an und betrat die Außenstelle des Kulturministeriums erst unmittelbar vor seinem Vortrag. Er präsentierte sich, nach Auskunft des Mentors, Professor Eberhardt, sehr gut. Gegen 12.10 Uhr verließ er den Saal und ging zur Garderobe zurück, wo die letzte Vortragende dieses Vormittags gerade von der Veranstaltungsassistentin abgeholt wurde. Wenig später kam es zur Tat. Herr Beck öffnete, wohl um zu rauchen, ein Fenster im Vorraum der Künstlergarderoben. Durch die entstandene Zugluft schlug die offenstehende Tür mit großer Wucht zu, so dass deren Glasscheibe zersprang. Dabei handelte es sich um eine wertvolle Jugendstilverglasung, die angeblich der Stolz des gesamten Ministeriums war. Alarmiert vom Lärm und durch den Anblick der Scherben aufgebracht, lief Dr. Hansen, das Opfer, hinzu. Der Pförtner, der etwas später den Raum betrat, sah bei seinem Eintritt, wie Hansen auf den Kaffeeautomaten aufprallte, zu Boden glitt und dort reglos liegen blieb. Der Pförtner versuchte Beck, der sich, so wörtlich, ›wie eine Furie gebärdete‹, mit beiden Händen am Oberkörper festzuhalten, doch dieser schüttelte ihn ab. In der Folge waren mehrere Personen damit beschäftigt, Herrn Beck zu bändigen, der dabei mit dem Kopf aufs Parkett schlug. Das könnte der Auslöser für die Blutung und die retrograde Amnesie gewesen sein. Herrn Becks Gedächtnislücke beginnt beim Betreten des Vortragssaales und endet auf der Intensivstation des St.-Anna-Hospitals.«
»Demnach war er nach seinem Vortrag zuerst allein in der Garderobe?«, meldete sich Dr. Simonetta erstmals zu Wort. Erleichtert registrierte Beck ihre wohltuende Stimme und den leicht singenden Dialekt, der ihn an eine nette Mannheimer Souffleuse erinnerte.
»Nach allem, was wir wissen, ja«, antwortete Dr. Habicht. »In den Akten ist zumindest nichts anderes erwähnt.« Das näselnde Organ des Assistenzarztes war hingegen schwer zu ertragen. Beck versuchte mit kreisenden Kopfbewegungen einer Nackenverspannung vorzubeugen, die ihm bei unangenehmen akustischen Eindrücken drohte.
»Der Objektschutz übergab Herrn Beck einer Polizeistreife, die ihn aufs Revier brachte. Dort steckte man ihn unbesehen in die Ausnüchterungszelle. Danach hat er viel Glück gehabt: Erstens rief ein Mithäftling um Hilfe, weil ihm auffiel, dass Beck bewusstlos wurde und zweitens war gerade ein Notarztwagen in der Nähe. So gelangte er noch rechtzeitig auf den Operationstisch.«
»Wollen Sie zu dem Hergang etwas sagen?«, fragte die Oberärztin Beck routiniert und versuchte erneut, einige widerspenstige Haare aus dem Gesicht zu vertreiben.
›Affektiert, aber es steht ihr‹, dachte dieser, während er laut antwortete: »Ja, gern. Ich habe seit dem Studium nicht mehr geraucht. Das mit dem offenen Fenster kann nicht stimmen.«
»Wurde Alkohol getrunken?«, richtete Dr. Simonetta sich an ihren Kollegen, ohne Becks Einwand zu beachten und führte ihren Gedanken fort. »Es war doch wohl ein Buffet aufgebaut, gibt es eine Blutalkoholbestimmung?«
»In der ersten Probe fand sich ein Wert an der Nachweisgrenze, der forensisch nicht verwertbar ist. Im Bistro serviert man keine alkoholischen Getränke. Also wahrscheinlich negativ. Im Flugzeug hat Herr Beck circa fünf Stunden vor der Landung eine Schlaftablette eingenommen, der erste Drogentest im St.-Anna-Hospital war jedoch unauffällig. Nach der Operation erholte sich Herr Beck so schnell, dass er schon wenig später auf die Normalstation konnte. Dort sahen ihn die Beamten von der Kripo und ein Ermittlungsrichter, der unseren Chef als Sachverständigen hinzuzog, weil er den Patienten für nicht normal hielt. Professor Winter empfahl eine forensische Begutachtung noch während des Ermittlungsverfahrens. Die Verlegung war bereits organisiert, als es plötzlich zu einem Zwischenfall kam. Der von der Polizei eingesetzte Wachmann, der das Zimmer kurz verlassen hatte, fand bei seiner Rückkehr Herrn Beck leblos im Bett. Nach dem Protokoll des Reanimationsteams bestand Kammerflimmern, das jedoch problemlos zu defibrillieren war. Prof. Winter hat ihn daraufhin gestern nochmals im St. Anna untersucht und geäußert, dass der Patient jetzt endlich in ein ordentliches Krankenhaus verlegt werden müsse, wenn er noch eine Chance haben solle.« Die Oberärztin ließ erneut ein helles Lachen ertönen. Offenbar war der Chef zweimal höchstpersönlich nach Wiesbaden gefahren. Das schien ihr das einzig Außergewöhnliche an diesem Fall zu sein. Mit einer ungläubigen Geste bat sie Dr. Habicht, ihr die Papiere zu reichen. In diesem Moment drehte dieser sein Gesicht nach hinten und nieste unvermittelt und laut in den Ärmel seines Holzfällerhemdes.
Pikiert übernahm Dr. Simonetta die weitere Gesprächsregie: »Herr Beck, wir werden in den nächsten Tagen untersuchen, ob es Hinweise auf Einschränkungen Ihrer Schuldfähigkeit gibt. Diese könnten in Ihrer Person oder in den Umständen des Tatherganges begründet sein. Für die Begutachtung räumt das Gericht eine Zeitspanne von sechs Wochen ein, nach den Regeln unseres Hauses sind wir jedoch gehalten, Sie so schnell wie möglich in die Untersuchungshaftanstalt zu verlegen.«
»Das kann nicht sein!«, Beck saß plötzlich kerzengerade im Bett. »In drei Wochen muss ich in Sydney auf der Bühne stehen!«
Dr. Simonetta fuhr fort, als hätte sie nichts vernommen. »Außer Ihrem Anwalt dürfen Sie keinen Besuch empfangen.«
»Ich brauche ein Telefon. Es weiß niemand, wo ich bin. Außerdem fehlt mein Gepäck. Mein Handy ist weg, Kalender und Brieftasche auch. Ich habe Termine.« Er merkte, wie seine Kräfte nachließen, aber auch die Wirkung der Medikamente, die eine so angenehme Gleichgültigkeit auslösten, ging zurück. Urplötzlich saß ihm die Angst im Nacken. Mit seiner Band in Australien würde alles zu Ende sein, von den Vertragsstrafen gar nicht zu sprechen, Lucy heiratete einen anderen, er flöge aus seiner Wohnung, den Job in Deutschland würde es auch nicht geben. »Sagen Sie mir endlich, was ich getan haben soll.«
»Sie haben einen Beamten zusammengeschlagen und ihn dabei lebensgefährlich verletzt.«
»Warum sollte ich so etwas tun, ich kenne doch hier keinen Menschen.« Beck wurde elend zumute.
»Wahrscheinlich ging es Ihnen einfach zu gut«, sagte Dr. Simonetta ungerührt. »Ich werde die Kollegen von der Unfallchirurgie bitten, dass sie sich Ihren Fuß anschauen, den werden Sie ja auf der Bühne noch brauchen.« Beck sah in diesem Moment den Anflug eines mitfühlenden Lächelns in ihren feinen Gesichtszügen und für eine Sekunde empfand er Zuneigung zu dieser Frau. Doch im nächsten Moment war er sich sicher, dass derartige Gesten hier genau berechnet wurden. Sie machte ihn sich gefügig. Daran bestand kein Zweifel.
Nach dem Mittagessen wurde es in dem hohen alten Gebäude still. Keine Rufe auf dem Flur mehr, kein klapperndes Geschirr. Jetzt schob sich der Sekundenzeiger der großen Wanduhr akustisch in den Vordergrund, klick, klick, klick. Beck zählte unwillkürlich mit. Er wartete auf Kriemhild und die Infusion, die seine wirren Gedanken besänftigen würde. Dass er sich auf seinen Kopf nicht mehr verlassen konnte, war das Schlimmste. Aber selbst diese Tatsache realisierte er nur von Zeit zu Zeit. Seine Stimmungen wechselten in rascher Folge, konzentrieren konnte er sich nur in wenigen, nicht willentlich herbeizuführenden Momenten, und die Art, wie er sich ausdrückte, kam ihm fremd und unangemessen vor. War er denn überhaupt noch Dietrich Beck? Er dachte über sich nach wie über einen Fremden. Wieso akzeptierte er so gelassen, dass er sich in einer ausweglosen Situation befand? Von der Ärztin war nichts zu erwarten. Sein Gedächtnis konnte sie ihm nicht zurückgeben, selbst wenn sie es wollte. Zwar wurden die Dinge, die vor seinem Auftritt geschahen, immer lebendiger, aber alle Erinnerungen verloren sich im Händeschütteln der Jury zur Begrüßung und führten in diese eigentümliche Müdigkeit, die ihn nicht einschlafen ließ, sondern in einen Dämmerzustand brachte. Auch jetzt erlag er dem Zwang, die Augen zu schließen. Und sofort umgeben ihn wieder Bilder, die sich bewegen und mit ihm sprechen: ›Hallo!‹ Da ist sie! Die schlanke Stewardess mit dem Tablett voller Champagnergläser und dem glänzenden Kopfschmuck. Sie schaut ihn an. Mit unergründlichen Augen, nein, nur mit einem. Wo ist das andere? Nofretete!7 Aus ihrem Gewand holt sie eine Phiole und zählt in jedes Glas sorgfältig Tropfen einer glasklaren Flüssigkeit, die wie Kügelchen in dem perlenden Getränk nach unten sinken. Zaubertropfen. ›Acht, neun, zehn.‹ Jetzt wird ihm wunderbar leicht zumute. Ausgestreckt im bequemen Sessel der Lounge verfolgt er das Video, das Jennifer aus dem Studio-Helikopter für die Abendschau gedreht und ihm aufs Handy geschickt hat. Es zeigt gewaltige Wolkenberge, die sich weit hinten über dem Meer türmen und von dem ständigen Wetterleuchten dramatisch weiß umrandet werden. Der Blick wird weitergeführt auf die Appartementhäuser der Küste, dann schwenkt die Kamera über die Containerschiffe an den Piers und folgt den Mäandern des Flusses, die sich wie mit Brillanten besetzt durch die Glitzerstadt zum Stadion ziehen, hin zu dem großen glänzenden Oval mit der grell leuchtenden Bühnen-Insel, auf der seine Band vom Publikum gefeiert wird. Jennifer holt sie dicht heran, jetzt ist er in Großaufnahme mitten auf dem Schirm und zwinkert ihr zu.
»Ich habe die Infusion angeschlossen, Sie müssen noch ihre Medikamente nehmen«, drang Schwester Kriemhilds Stimme an sein Ohr. Beck spürte die Tabletten im Mund und glitt in den Traum zurück. Ein schönes Konzert! Erstmals werden seine Gefühle durch keinerlei Zweifel getrübt. In dieser Nacht ist er bei seinem Publikum angekommen, wenn auch ganz anders, als er es sich je vorgestellt hat; auf einer Stadionbühne vor zehntausend Menschen mit einer australischen Rockband. Wie ein Schwamm saugt er den Beifall in sich hinein, füllt sein Glücksdepot für schlechte Zeiten. Schon seit seiner Schulzeit beherzigt er damit einen Rat, den er bei Curt Goetz, dem erfahrenen Theatermann, gelesen hat. Bryan, der Manager, ruft sie noch einmal zusammen. ›Pea Cea› sei du rechtzeitig zur Probe wieder da, sonst lasse ich dich durch Interpol einfangen.‹ Ihr Verhältnis ist immer noch angespannt. Aber er muss los, wenn er rechtzeitig am Flughafen sein will. Das schrille Kreischen der Teenager im Autogrammbereich wird ihm heute entgehen, schade! Der Fluchtausgang, den sonst glücklose Trainer und Elfmeterschützen nutzen, ist schnell erreicht; ein schmaler Pfad, sanft geneigt und dadurch wunderbar leicht zu laufen, wie zwischen Vatikan und Engelsburg, ein Bauprinzip, das sich seit zweitausend Jahren bewährt hat! Auf dem versteckten Hof erwartet ihn Joanna. Rauchend lehnt sie an der Motorhaube ihres riesigen Pickups. ›Hi, ein schönes Konzert! Den Anfang habe ich leider verpasst.‹ Die Bankerin wäre gern mit nach Deutschland geflogen, doch ihre Geschäfte erlauben im Moment keine Abwesenheit. ›Hier, trink was.‹ Die Mischung aus Fruchtsaft und Wasser ist angenehm frisch und macht munter. ›Pass auf dich auf.‹ Joanas Hand sucht sein Knie.
›Der Ozean wird dir fehlen‹, waren ihre Worte am Morgen beim Frühstück auf ihrem Balkon gewesen. ›Und du erst!‹, hatte er hinzugefügt, um sie nicht zu enttäuschen und Sekt nachgeschenkt. Den kräftigen Wind und die laute Brandung hatten sie auch in der Höhe noch überdeutlich hören können. Dunkelgrüne, goldene, weiße Schaumkronen, jede Welle überraschte mit einer neuen, nicht vorhersehbaren Farbkombination. Der Strand so früh am Morgen wirkte besonders weit und weiß. Erste Sonnenstrahlen, die über das hohe Gebäude glitten, trafen Joannas hübsches Gesicht und ein sehr liebevolles Gefühl war in ihm emporgestiegen und hatte seine Gedanken an Lucy verdrängt.
›Willst du nicht doch lieber hierbleiben? Das war doch eine ernsthafte Drohung!‹, insistierte sie noch einmal und meinte den anonymen Anruf, den sie vor drei Tagen zufällig mitgehört hatte: ›Die Bewerbungskommission geht davon aus, dass Sie Ihre Teilnahme absagen.‹
›Offenbar jemand, der die Konkurrenz fürchtet, das ist bedeutungslos!‹ Er verschwieg ihr die Anruferin, die ihm bereits vor vierzehn Tagen mit unterdrückter Nummer Ähnliches verkündet hatte, aber er telefonierte noch einmal mit Frankfurt. Ebby beteuerte, dass man fest mit ihm rechne. ›Alles ist offen und aus meiner Sicht hast du die besten Chancen.‹
›Genau das fürchten die Anrufer offenbar auch! Ich fliege. Nun erst recht!‹
Am Terminal steuert Joanna in die erste freie Parklücke. Sie umarmt ihn fest und küsst ihn zum Abschied. ›Mach‹s gut! Melde dich und komm gesund wieder. Ohne dich ist es hier verdammt einsam.‹ Er lädt den Kleidersack, seine Gitarre und den silbernen Koffer von der Rückbank. Im letzten Moment tippt sich Joanna an die Stirn. ›Warte, Piet lässt fragen, ob er dir seinen Entwurf für den Wettbewerb in Hannover mitgeben darf: Ein Hochhaus aus Pappmache. Er ist zu spät fertig geworden, in drei Tagen ist Einsendeschluss. Ein Dr. Farinelli würde es bei dir abholen. Du sollst es ihm aber bitte nur persönlich geben.‹ Joanna nimmt eine voluminöse Einkaufstüte aus kräftigem Papier von der Ladeplattform. Von oben schaut er auf ein fragiles Geflecht aus weißem Karton.
›Wer ist Piet?‹
›Mein Vetter. Ich kümmere mich um sein Architekturbüro. Alle wichtigen Anschriften liegen hier drin‹, sie zeigt auf ein offenes Kuvert, das am Rand des Modells steckt. Er streicht Joanna übers Haar und ist in Gedanken bereits unterwegs. Lautlos schließt sich die elektrische Schiebetür hinter ihm, er tastet noch einmal nach den Papieren in der Jackentasche: Abflug Viertel vor zwei nach Singapur, von dort sofort weiter bis Frankfurt, Hotel in Wiesbaden, Auftritt im Ministerium. Rückflug reichlich drei Wochen später.
›Guten Morgen, Mr. Pea Cea.‹
›Oh, steht der Name jetzt auch in meinem Pass?‹ fragt er die bildhübsche Asiatin hinter dem Schalter.
›Nein, nein, aber ich weiß, wer Sie sind, der Adonis unter den Wilden. Leider konnte ich nicht ins Konzert kommen. Nach Deutschland? Oh, das ist weit. Ich gebe Ihnen den schönsten Platz.‹
›Der ist doch bestimmt vergeben!‹
›Wieso?‹, fragt das Mädchen überrascht.
›Der Platz neben Ihnen! Das wäre der schönste!‹
›Herr Beck! War das ein Antrag? Ich nehme ihn an, ich sage ja! Übrigens, ich heiße Cindy Carroll, damit Sie auch wissen, wen Sie heiraten.‹ Doch dann ist sie wieder formell. ›Irgendetwas an dem Computer funktioniert nicht.‹ Sie telefoniert kurz. In ihrer schmucken Uniform sieht sie wirklich großartig aus. Jetzt ist seine Bordkarte da. Er reicht ihr ein Autogrammfoto. ›Schicken Sie mir bitte eine Mail unter dem Stichwort der schönste Platz, in knapp vier Wochen bin ich wieder hier!‹
›Das mache ich, ganz bestimmt! Einen schönen Flug, Mr. Pea Cea!‹
Die Uhr zeigt kurz vor eins, und das Terminal ist an diesem frühen Morgen leer, bis auf kleinere Menschengruppen an einzelnen Ausgängen. Es herrscht die diffuse Stimmung eines zeitlichen Niemandslands: Der neue Tag hat noch nicht angefangen und der alte ist schon lange zu Ende. Er fühlt sich überdreht und gleichzeitig todmüde. Endlich am Gate, bleibt noch eine knappe Stunde bis zum Abflug. Er meldet sich am Schalter und bittet, dass man ihn in der Lounge informiert, wenn es an Bord geht. Als nach dreißig Minuten immer noch kein Aufruf gekommen ist, geht er wieder in die Halle. Die Maschine steht bereits am Einsteigefinger, das ist gut zu sehen. Die Passagiere haben sich zu einer Schlange formiert, unruhig, als könnten sie damit das Personal bewegen, die Türen aufzusperren. ›Was ist los?‹
›Man lädt das Gepäck wieder aus. Eine Bombendrohung.‹ Im Lautsprecher hört er seinen Namen. Cindy Carroll steht jetzt am Schalter des Gates. ›Mit so viel Verspätung erreichen Sie den Anschluss in Singapur nicht, ich schicke Sie über Bangkok, Abflug ist in vierzig Minuten.‹
Draußen wird es schon hell, als er endlich im Flieger sitzt. ›Herzlich willkommen an Bord‹, begrüßt ihn die mandeläugige Stewardess und greift vorsichtig nach der Gitarre. ›Braucht sie eine besondere Pflege?‹
›Die beanspruche ich‹, meldet sich der Herr zu Wort, der sich auf dem Platz neben ihm einrichtet. ›Darf ich mich vorstellen, Thorsten Mugele.‹ Doch die Flugbegleiterin kümmert sich erst einmal um die große Papiertüte.
›Was ist das?‹
›Der zukünftige Höhepunkt von Downtown Hannover. Ein Bankgebäude, bitte nicht drücken!‹ Die Stewardess nickt verständnisvoll.
›Sind sie nun Architekt oder Musiker?‹, will sein Nachbar wissen. ›Was möchten Sie trinken?‹, werden sie unterbrochen. Ohne die Antwort abzuwarten, reicht die Stewardess Champagner. Wer sich so in den Sessel fallen lässt, hat sich von seinen Sorgen noch nicht getrennt. Sie kennt die heimlichen Wünsche ihrer Schutzbefohlenen. ›Zum Wohl!‹
›Langsam sollte es losgehen, wenn ich übermorgen nicht pünktlich bin, war die Reise umsonst.‹
›Was haben Sie vor?‹, fragt Mugele.
›Ich bewerbe mich. Mit einer kleinen Show.‹ Der Alkohol entfaltet seine Wirkung.
›Wer braucht denn so etwas! Sorry. Wo wollen Sie anfangen?‹
›An einer Uni. Etwas ziemlich Neues, finanziert von einem spendablen Fürsten!‹
›Ein Hoch auf unseren kunstliebenden Adel! Na, vielleicht meint es das Schicksal gut mit Ihnen, und man nimmt Sie nicht. Sie haben doch bestimmt ein ordentliches Einkommen, einen deutschen Pass und eine deutsche Krankenversicherung. Damit geht es Ihnen nirgendwo besser als in Australien!‹
Die Stewardess schenkt nach und er gewinnt langsam den richtigen Abstand, um über die wichtigen Dinge des Lebens nachzudenken. Ein bequemer Ledersessel dreißigtausend Fuß über dem Geschehen ist für ihn schon immer der beste Platz dafür. So entspannt wie hier gelingt das nirgendwo. Den Kopf an die Scheibe des Bullauges gelehnt, gibt er sich dem Schauspiel der Wolken hin. Sturmzerzauste Kumulusformen wecken im Vorbeiziehen Namen und Erinnerungen. Gerade naht sich die Windsbraut von Kokoschka, eine Farbsinfonie aus Grau und Lila auf der zerklüfteten Figur von Alma Mahler und ihren sich in der Tiefe verlierenden Abgründen. Federförmig schieben sich scharf umrandete Spitzen in verschiedenen Ebenen übereinander: Kulissen wie bei Boris Godunow. War das in Salzburg oder in München? Es ist ewig her! Jetzt rückt ein effektvoll beleuchtetes Ensemble an, das ihn an das Schaufenster einer Milchbar in Florenz erinnert. So viele fröhlich bunte Eissorten hatte er im ganzen Leben noch nicht gesehen. Sein Nachbar ist inzwischen eingeschlafen. Wahrscheinlich ein Geschäftsführer, der sein Leben mit Orientierung, Disziplin und Prinzipien wohlsituiert durchschreitet. Kaum zu ahnen, wo er, Dietrich Beck, mit solchen Voraussetzungen gelandet wäre. ›Aus Ihnen wird etwas Großes‹, hatte ihn sein Direktor bei der Überreichung des Abiturzeugnisses unter Druck gesetzt, aber dazu hätte er an bestimmten Stellen mehr Glück gebraucht. Egal, sein Schicksal ist so oder so von Paulas Tod bestimmt worden, der hat ihn aus der Bahn geworfen, daran ändert auch das viele Geld nichts, das er jetzt verdient. Vielleicht hält Frankfurt morgen eine neue Wendung bereit! Wer weiß?
›Trinken wir auf das Hier und Heute und auf uns.‹ Thorsten Mugele ist wieder munter und in rührseliger Stimmung. Die Turbulenzen haben sich gelegt und der Service wird fortgesetzt. ›In den allermeisten Fällen findet sich eine Lösung.‹
So gesehen hat er recht. Als vor vier Jahren alles am Ende schien, tauchte Kevin auf, und jetzt spielt er in Australien in voll besetzten Stadien. Wenn das nichts Großes ist. Der Direktor würde zufrieden sein. Viel besser, als in einem Provinztheater vor hundert Leuten eine Repertoireveranstaltung zu dirigieren. Als ›Reichsachteljäger‹ hatten sie ihn dort beschimpft, als er begann, Operetten, die seit Jahren auf dem Spielplan waren, wieder korrekt einzustudieren. ›Für die fünf Prozent der Zuschauer, die es merken, müssen wir das machen!‹ Das fand damals sogar der Konzertmeister übertrieben.
Im Unterbewusstsein registrierte Beck, dass sein Puls und Blutdruck kontrolliert wurden. Jemand stellte Fragen. Nein, die kommen von der Dame am Transitschalter, zu der er sich gerade vorkämpft, nachdem er gehört hat, dass in Bangkok das Bodenpersonal streikt. Die meisten Umsteigeverbindungen sind gestrichen. Hunderte von gestrandeten Passagieren warten auf den nächsten Flug nach Deutschland. ›Dietrich Beck, sind Sie das?‹ Die Uniformierte blättert auf ihrem Bildschirm. ›Für Sie haben wir einen Platz in der Lufthansa-Maschine heute Abend. Economy, aber es ist der letzte überhaupt. Ihre Verlobte, Kollegin Cindy Carroll, hat ihn für Sie von Brisbane aus reserviert.‹ Großartige Frau. Sie sollte er wirklich heiraten!
Die Klimaanlagen in der Lounge verbreiten frostige Kälte, so steigt er die Treppe zum Dachgarten hinauf. Dort raubt ihm Gewächshausschwüle die Luft. Doch hinter Springbrunnen und üppig blühenden Orchideen entdeckt er eine schattige Ecke, in der ein einzelner auffällig gekleideter Herr sitzt, der konzentriert zu arbeiten scheint. Bei näherem Hinsehen erkennt er, dass sich ein Skizzenblock mit gekonnten Strichen füllt. ›Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen?‹
›Ja selbstverständlich, sehr gern, kommen Sie, ich mache Ihnen Platz. Hoffentlich stört Sie meine Zigarette nicht. Hier weht wenigstens ein frisches Lüftchen. Musiker muss man doch pfleglich behandeln.‹ Der Gitarrenkoffer war nicht zu übersehen. ›Ich bin Joe. Mein Gott, das scheint schon wieder eine aufregende Reise zu werden.‹
›Wollen Sie auch nach Frankfurt?‹
›Gewiss. Zum Glück habe ich keine Termine‹, sagt Joe und nimmt genussvoll einen tiefen Zug.
›Ich schon, ich geh rasch telefonieren‹. Eberhardt ist sofort am Apparat. ›Mach dich im Flieger frisch, jetzt wird es eng! Die Morgenmaschinen aus Thailand landen fast immer verspätet. Wichtig ist der Vortrag. Du darfst auf keinen Fall überziehen, am besten drei Minuten kürzer. Unbedingt dunkler Anzug, hast du im Handgepäck? Ok. Weißes Hemd, Schlips, nicht zu bunt, aber auch nicht blass, notfalls noch einen kaufen. Fürst von Schwenningen liebt gut gekleidete Menschen und schöne Krawatten. Um Gottes Willen keine Schleife!! Brauchst du den Flügel? Welche Projektion? Was, du hast keine Präsentation?‹ Zum ersten Mal verschlägt es Eberhard die Sprache. ›Ok! Komm sofort aus dem Flughafen, warte nicht aufs Gepäck, Lufthansa bringt deinen Koffer ins Hotel.‹ Dann ist das Gespräch beendet. Er weiß immer noch nicht, warum Eberhardt ausgerechnet ihn für den Posten an der Akademie vorgeschlagen hat. Wieso hat er alle Hebel in Bewegung gesetzt, ihn trotz seiner Formfehler auf die Liste der letzten Sechs zu setzen? Er öffnet die Tür der Telefonzelle und sieht noch den Mann davoneilen, der seine Unterhaltung verfolgt haben muss. ›Halt!‹ Aber der Unbekannte ist bereits im Gedränge verschwunden. ›Völlig überspannt‹, sagt er zu sich, ›am besten, ich kehre wieder um!‹ Auf dem Rückweg nimmt er zwei eisgekühlte Fruchtsäfte mit. ›Das ist aber nett von Ihnen‹, freut sich Joe.
›Hübsch!‹ Auf dem Papier entsteht ein junger Mann, der sich um ein verlegen zurückweichendes Mädchen bemüht, das der Zeichner mit mehreren Röcken und einer Haube versehen hat. Joes Haare sind blond, lang und zu einem kleinen Schwänzchen gebunden, sein Mund verrät, wie sehr er sich an der eigenen Kunstfertigkeit freut. ›Ich mach' ihn nur noch schnell fertig, den Bengel. Was gab's da vorn?‹
›Vielleicht sehe ich Gespenster, aber ich könnte wetten, dass jemand mein Gespräch mithören wollte.‹
›Wollte er, ich habe ihn für Sie gezeichnet.‹ Joe zieht ein Blatt von unten aus dem Block hervor, ›kann ja sein, dass Sie das noch mal brauchen. Besser als ein Phantombild. Manche Leute sind heutzutage schrecklich nervös und stellen schlimme Sachen an. Kennen Sie ihn?‹ Auf dem Karton sieht Beck einen schlanken Herrn im Anzug, Mitte 40, sein Profil erinnert an Thomas Becker. Becker war kein angenehmer Zeitgenosse. Aber wieso sollte der hier in Bangkok sein? Im Hintergrund prangt ein riesengroßes Ohr.
›Sehr freundlich, vielen Dank. Ich bin mir nicht sicher.‹
Joes Block ziert jetzt ein nacktes Mädchen mit so geschickt rotiertem Körper, dass alles Wesentliche verborgen bleibt. ›Rätseln Sie wohl, was das wird? Da kommen Sie nie drauf!‹ Er arbeitet mit flinken Strichen weiter. ›Ein Aufklärungsbuch für Amish People.‹
›Ach was? So etwas dürfen die doch gar nicht lesen!‹
›Stimmt. Aber die Regierung von Pennsylvania hat verfügt, dass alle Kinder in jeder Schule etwas über Biologie hören müssen. Folglich auch diese. Und deshalb haben mein Partner und ich einen Staatsauftrag. Da ist nicht nur der Absatz gesichert, sondern es ist schon ausverkauft, bevor es überhaupt fertig ist. Wie das neueste Modell von Aston Martin. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen ein Exemplar.‹
›Unbedingt!‹ Er gibt dem Zeichner seine Karte.
›Übrigens, was sucht Pea Cea allein in Deutschland? Wenn ich das fragen darf.‹
›Sie kennen mich?‹
›Na, aber. Sie sind doch die Perle der Gruppe.‹
›So Gott will, bewerbe ich mich in‹, er schaut auf die Uhr, ›ich weiß nicht genau in wieviel Stunden, um einen Lehrstuhl.‹
›Ach du grüne Neune!‹, Joe hält im Zeichnen inne. ›Wollen Sie sich wirklich mit Studenten und deutscher Bürokratie herumärgern, wenn Sie doch bereits ein kleiner König sind?‹ Er saugt an seiner Zigarette und entlässt durch die Nasenlöcher feine Kringel. ›Welches Fachgebiet?‹
›Es geht um die Ästhetik populärer Musik.‹
›Was lässt sich denn dazu in zwanzig Minuten sagen?‹
›Zum Beispiel, dass die Trennung von E- und U-Musik sittenwidrig ist, heißt: Die Ausbildung von Musikern muss sich von Grund auf ändern!‹
Joe lacht. ›Kann schon sein! Aber das wollen die morgen früh vielleicht gar nicht hören, so auf nüchternen Magen. Vor allem wenn die Kommission aus dem klassischen Bereich kommt. Denk dran, mein Lieber: Niemals eifern, immer entspannt bleiben.‹ Joe hat unmerklich in das vertraute ›Du‹ gewechselt.
›Hat man dich auch in Economy umgebucht?‹
›Ja, auf einen Mittelplatz in Reihe 45, furchtbar. Kannst nicht du morgen meinen Vortrag halten? Joe, bitte, tu mir den Gefallen!‹
›Ach komm! Mit der richtigen Schlaftablette schaffst du das ohne Probleme. Willst du eine? Wirkt zuverlässig, du schläfst sechs Stunden tief und fest, danach erwachst du und bist fit. Hier, probier' sie aus, dafür lädst du mich zu deiner Antrittsvorlesung ein.‹ ›Woran merke ich, Joe, dass du es gut mit mir meinst?‹
›Ganz genau weißt du das erst morgen früh, oder du wirst es nie mehr erfahren.‹
Über Deutschland strahlt bereits die Sonne. Mit dem Entschwinden der letzten weiß gezuckerten Alpenausläufer beginnt der Landeanflug auf Frankfurt. Gott sei Dank konnte er eine Weile schlafen. Nachdem er lange mit kribbelnden Füßen auf seinem Sitz hin und her gerutscht war, hatte er gegen Morgen mit Todesverachtung zu Joes Tablette gegriffen und dabei noch einen Blick in die Tüte aus dem Duty-free-Shop geworfen. Er war Joes Vorschlag gefolgt und nun im Besitz einer Hermes-Krawatte, die fast genauso teuer war wie sein ganzer Anzug. ›Gelb-Lila mit Grün und zierlichen Arabesken, sehr edel und dezent anmachend‹, so hatte der Zeichner sie bewundernd beschrieben.
Beim Aussteigen sieht er ihn weit vorn in der Maschine. Joe winkt ihm zu und deutet mit dem Zeigefinger zur Kabinentür. Ist das Thomas Becker, der in diesem Moment das Flugzeug verlässt?
