Moralische Ökonomie - Gerhard Wegner - E-Book

Moralische Ökonomie E-Book

Gerhard Wegner

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Beschreibung

Welche Antworten kann christlicher Glaube angesichts krisenhafter Verwerfungen in der aktuellen Wirtschaftsentwicklung Europas wie auch weltweit auf die drängenden Fragen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen geben? Im Anschluss an die Moralphilosophie John Rawls', das Konzept des "Capability Approach" von M. Nussbaum und A. Sen, die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers sowie an die Theologie Eberhard Jüngels und Johann Baptist Metz' entfaltet der Autor Grundlinien eines christlichen Ethos in Kategorien einer moralischen Ökonomie. Aus der auch historischen Spannung zwischen moralischer Ökonomie und Kapitalismus wird die Vorstellung einer zivilen Ökonomie als Leitbild einer zukünftigen Gesellschaftsgestaltung entwickelt.

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Welche Antworten kann christlicher Glaube angesichts krisenhafter Verwerfungen in der aktuellen Wirtschaftsentwicklung Europas wie auch weltweit auf die drängenden Fragen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen geben? Im Anschluss an die Moralphilosophie John Rawls', das Konzept des 'Capability Approach' von M. Nussbaum und A. Sen, die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers sowie an die Theologie Eberhard Jüngels und Johann Baptist Metz' entfaltet der Autor Grundlinien eines christlichen Ethos in Kategorien einer moralischen Ökonomie. Aus der auch historischen Spannung zwischen moralischer Ökonomie und Kapitalismus wird die Vorstellung einer zivilen Ökonomie als Leitbild einer zukünftigen Gesellschaftsgestaltung entwickelt.

Prof. Dr. Gerhard Wegner ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (SIEKD), Hannover.

Gerhard Wegner

Moralische Ökonomie

Perspektiven lebensweltlich basierter Kooperation

Verlag W. Kohlhammer

Alle Rechte vorbehalten © 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert, Neuendettelsau Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Printed in Germany

ISBN 978-3-17-024150-3

E-Book-Formatepdf:978-3-17-024151-0epub:978-3-17-024152-7mobi:978-3-17-024153-4

Inhaltsverzeichnis

Als Geschöpfe Gottes kooperieren – Ansatzpunkte moralischer Ökonomie Eine Einleitung

ERSTER TEIL CHRISTLICHER GLAUBE UND GESELLSCHAFTSGESTALTUNG

Selbstwirksamkeit und Angewiesenheit. Christlicher Glaube und Gesellschaftsgestaltung

Verweltlichung. Maßstäbe für christliches Handeln in der Welt

Aus Luthers Geist erwachsen. Der moderne Sozialstaat Ein Problemaufriss

Die Entdeckung der Zivilität. Zehn Beobachtungen zu Fernwirkungen der Reformation auf das Verhältnis von Religion, Zivilgesellschaft und säkularem Staat

ZWEITER TEIL GERECHTIGKEIT IM WIRTSCHAFTSSYSTEM

Moralische Ökonomie. Gerechtigkeit im Wirtschaftssystem

Arbeitssouveränität. Impulse aus aktueller protestantischer Arbeitsethik

DRITTER TEIL DAS ZIVILGESELLSCHAFTLICHE WIR

Nächstenliebe im Gemeinwesen. Theologische Perspektiven

Inklusion braucht tragende Beziehungen – Kirchen als Inklusionsagenten in der Gesellschaft

„Sozialraumunternehmer“. Neues Denken in der Gemeinwesenarbeit

So kommt das Wir in die Welt! Familien stärken in evangelischer Perspektive

VIERTER TEIL NATALITÄT UND ENTWELTLICHUNG

Der „Natalitäts-Faktor“. Über die Kraft, etwas Neues zu beginnen

Entweltlichung als Weltbeziehung. Über die heilsamen Grenzen der Effizienz der Kirche

Literatur

Als Geschöpfe Gottes kooperieren – Ansatzpunkte moralischer Ökonomie Eine Einleitung

Angesichts der Dominanz eines finanzmarktgetriebenen ökonomischen Handelns, das auf moralische Anreize nicht nur verzichtet, sondern sie als Grundmotive geradezu ausschließt, lohnt es sich heute wieder neu nach Strukturen und Ressourcen lebensweltlich basierter Kooperation als der Grundlage menschlicher Gemeinschaft zu fragen. Sie sollen im Folgenden unter dem Leitmotiv einer „Moralischen Ökonomie“ analysiert und für zentrale Politikfelder der Gegenwart sichtbar gemacht werden. Dabei erfolgt eine Verknüpfung mit zentralen Topoi christlicher Ethik: sie konzipiert moralische Ökonomien in vielen Lebensbereichen und erweist darin ihre Lebendigkeit (und auch ihre Funktionalität)

Wenn man sich auf diese Perspektive und diesen Blick auf die gegenwärtige gesellschaftliche Realität auch nur eine Zeit lang einlässt, wird sofort deutlich, wie schlichtweg fundamental Formen lebensweltlich basierter Kooperation für die Grundierung von Gesellschaft allgemein, aber dann auch von einem ökonomischen Handeln jeder Art sind. Lebensweltlich basierte Kooperation – in diesem Sinne eben moralische Ökonomie – ist die primäre Form einer jeden Ökonomie. Andere marktliche oder gar finanzmarktliche Transaktionen setzen diese Form der Ökonomie voraus und zehren von ihren materiellen, sozial-interaktiven und vor allem symbolischen Ressourcen. Weit mehr noch als das politische und staatliche Handeln ist ökonomisches Handeln damit auf Voraussetzungen angewiesen, die es prinzipiell nicht selbst schaffen und auch nicht reproduzieren kann, sondern beständig voraussetzen muss. Dazu zählt an allererster Stelle das Vorhandensein von handlungsfähigen, autonomen und gerade so zur Kooperation fähigen Personen, die auf den Märkten als Vertreter von Interessen auftreten können. Ein auf Interessenartikulation basierendes Handeln stellt eine strenge Selektion aus dem Gesamtfeld von menschlich möglichen Handlungsweisen dar und erfordert einen entsprechend disziplinierten Umgang der Akteure mit sich selbst. Ohne die Sozialisation in lebensweltlich basierter Kooperation sind entsprechende Formen eines solchen hochreflexiven und von allem abstrahierenden Handelns und einer entsprechenden Identitätskonstruktion der Einzelnen überhaupt nicht möglich.

Mit lebensweltlich basierter Kooperation sind zunächst unmittelbare Formen letztlich körpernaher Interaktion vor allem in ursprünglichen Gemeinschaften, wie insbesondere in Familienverbänden, angesprochen. Moralische Ökonomie ist im Kern eine Ökonomie, die aus der in der Familie vorhandenen und immer wieder rekonstruierten Fürsorgesituation heraus erwächst und die Werte, die aus dieser ursprünglichen Situation heraus entstehen, für weitere Felder, möglicherweise für das Gesamte einer Gesellschaft, entwickelt und kultiviert. Es ist deswegen kein Wunder, dass die Diskussion über moralische Ökonomie auch immer wieder auf Formen familienbasierter Interaktion und familienbasiertem Gabentausches zurück geht, wie er in archaischen Gesellschaften vorkommt und unter eben dem Titel der moralischen Ökonomie bis heute, insbesondere in afrikanischen Gesellschaften, in der Diskussion eine große Rolle spielt. Fälschlicherweise wird diesen Formen von Ökonomie allerdings nicht selten eine grundlegende Gleichheit der in ihr vorhandenen Akteure unterstellt. Dies ist jedoch nur in äußerst seltenen Fällen der Fall. Grundsätzlich geht es um Formen von Gemeinschaftsorientierung, die in sich durchaus hierarchisch, matriarchalisch oder patriarchalisch gestaltet sein können, aber auf der Inklusion einer spezifischen, klar abgesteckten Gruppe basieren. Hier liegen deswegen natürlich seine Grenzen. Innerhalb dieser Gruppe – und bis heute eben innerhalb von Familien – erfolgt die soziale Koordinierung prinzipiell durch intensiven Gabentausch, der durch das Dazwischentreten spezifischer ökonomischer Medien, wie des Geldes, gestört, ja zerstört werden kann. Dabei ist nicht das Auftreten von Geld als solches, sondern die Art der Durchdringung der Interaktionen durch Geld, das heißt die Verrechnung von allen möglichen Tauschvorgängen qua Geld, der entscheidende Faktor. Auch in Familienverbänden wird selbstverständlich viel über Geld geredet und gehandelt – dennoch bleibt in dem, was man normalerweise als Familienhandeln verstehen würde, das Geld mit einem Gabecharakter ausgestattet, das insofern geschenkt, ja verschenkt wird und auf diese Weise Reziprozität unter den Familienangehörigen stiftet.

Der klassische Gemeinschaftsbegriff, wie er von Ferdinand Tönnies und in der Vergangenheit von vielen anderen entwickelt wurde, beruht auf dieser Form von Gabentausch und entwickelt eben daraus die Kernstruktur von gemeinschaftlicher Interaktion, die von Tönnies dann scharf gegen die abstrahierende gesellschaftliche Interaktion abgesetzt wird. Natürlich ist diese scharfe Differenz immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt gewesen. Es sind vor allen Dingen die Erfahrungen der deutschen Geschichte und des massiven Missbrauchs dieses Gemeinschaftsbegriffs (was man jedoch nicht Tönnies anlasten kann!), die zu einer gewissen Distanz gegenüber dem Gemeinschaftsbegriff führen müssen. Gemeinschaften und damit auch die mit ihnen einhergehenden Formen moralischer Ökonomien sind durchaus in sich inhärent ambivalent. Aber sie sind gerade in dieser und durch diese Ambivalenz schlichtweg grundlegend und für die Konstituierung von Handlungsfähigkeit und Identität von Menschen unverzichtbar. Mit ihnen sind auch unmittelbar identitätsnahe Anerkennungsformen, wie die bei Axel Honneth und anderen so intensiv beschriebene Liebe1, gemeint. Liebe konstituiert Formen von in sich selbst Wertvollem und in dieser Hinsicht in sich selbst zweckhaften, d. h. gemeinschaftlichen Kooperationsformen, die in unserer Vorstellung keinen Zweck über sich selbst hinaus haben müssen. Gerade deswegen wird Liebe herkömmlich mit Familie assoziiert – was dazu führt in Familie (und Ehe) meist mehr zu sehen als lediglich Verträge in gegenseitigem Interesse.

Von dieser Bestimmung her wird unmittelbar einsichtig, wie eng solche Formen der Kooperation und Koordination mit religiöser und in besonderer Weise christlicher Symbolik einhergehen können. Die folgenden Texte versuchen in dieser Hinsicht plausibel zu machen, dass und wie christliche Sozialethik im Kern immer wieder lebensweltlich basierte Kooperation, d. h. moralische Ökonomie stiftet (als auch aus ihr resultiert). Dies ist deswegen der Fall, weil sich religiöse Selbstdefinition und existenzielle Verortung nicht anders als in dem eben beschriebenen Sinne ‚gabenorientiert‘ verorten kann – aber die damit konstituierte Gemeinschaft auch immer wieder im Blick auf universalisierte Formen zu erweitern trachtet. Die Universalisierung bedeutet jedoch nicht das Aufgeben von gemeinschaftlich basierten „Familienwerten“, sondern ihre Ausdehnung auf die Menschheit und auf die gesamte Welterfahrung. Die Familia Dei, die Christus konzipiert, indem er darauf hinweist, dass seine Brüder und Schwestern nicht nur seine leiblichen Brüder und Schwestern seien, umfasst im Prinzip die gesamte Menschheit. Die entsprechenden, sozusagen aus einer fürsorglichen Geste Gottes heraus erwachsenden Werte, sollen als soziale Grundortung für die gesamte Menschheit dienen.

Auf diese Weise wird eine universale Inklusion aller in eine umfassende Gemeinschaft erreicht. Dabei bleibt der Leitwert der Kooperation grundlegend. Auch dann, wenn zur Schaffung dieser universellen Gemeinschaft abstrahierende Verfahren wie geldbasierte Tauschoptionen, Wettbewerbsmärkte, ja die Bildung autoakkumulativen Kapitals notwendig ist, werden diese Mechanismen nicht in eine völlige Freiheit entlassen – es kann infolgedessen niemals um marktradikale Haltungen gehen, sondern sie bleiben dem Vorrang der Kooperation untergeordnet. Dies hat auch damit zu tun, dass sich die religiöse Welterfahrung aus der Erfahrung einer radikalen Großzügigkeit Gottes in der Erschaffung der Welt und der in dieser Hinsicht immer wieder erfahrbaren „Fließgeschwindigkeit der Gnade“ ergibt.

Der Kern des religiösen Existenzverständnisses besteht darin, sich selbst als nicht autoproduktiv, sondern als Geschenk Gottes zu begreifen mit allem, was einen selbst ausmacht und in dieser Hinsicht von der Sorge um die eigene Identität oder gar die eigene Durchsetzung prinzipiell und grundsätzlich entlastet zu sein: Ich lebe aus radikaler Großzügigkeit, ich lebe aus dem Fließen der Gnade Gottes und bin mit mir selbst beschenkt. Nirgendwo anders als in der Bergpredigt Jesu und seiner Rede mit dem berühmten „Sorgt nicht“ wird dieser Kerngedanke in einer Radikalität sondergleichen deutlich. Er findet sich darüber hinaus aber auch in anderen, insbesondere in asiatischen Religionen weit entfaltet. Der Beginn der religiösen Welterfahrung ist folglich nicht die ethische Herausforderung oder gar die moralische Zwangsanweisung, diese Welt retten zu müssen, sondern die Erfahrung, dass diese Welt längst gerettet ist und ich an ihrer dauernden Errettung, an ihrer beständigen Neuschaffung durch Gott meinen Anteil haben kann. Gleichwohl wird aber innerhalb dieses Rahmens meine Verantwortung deutlich eingeschärft. Sie ist z. B. im Gleichnis vom Großen Weltgericht bei Matthäus in einer drastischen Weise prägnant herausgearbeitet – ein Text, der genau wie die Bergpredigt seinesgleichen sucht. Ich kann diese existenzielle Option des Lebens aus geschenkter Gnade heraus aber auch radikal verfehlen, wenn ich den bedürftigen Nächsten verfehle. Ich kann dadurch mein eigenes Leben verfehlen und ganz grundsätzlich gefährden.

In dieser Spannung von Indikativ und Imperativ vollzieht sich auch die Ausarbeitung von Formen moralischer Ökonomie. Ich bin sozusagen immer schon in lebensweltliche basierte Kooperation hineingestellt. Ich kann mich gar nicht außerhalb von ihr definieren, aber ich kann die Ansprüche, die daraus erwachsen, missachten und damit meinen Ort in dieser Kooperation verfehlen und letztendlich mich selbst und das Gefüge der Gesellschaft bedrohen. Und die Gesellschaft insgesamt kann auch ihrerseits die für sie selbst notwendige Kooperation gefährden, indem sie, statt sie zu stärken, allein auf Formen autoakkumulativer Schaffung von Reichtum setzt und die notwendige rein koordinierende Funktion von Märkten und Wettbewerb durch ihre „freie“ Selbstwirksamkeit ersetzt.

Dann tritt die Situation ein, dass diese Form der Ökonomie zu einer aggressiven Form der Religion verkommt, die aus Sicht der christlichen Religion nur noch als Götzendienst beschrieben werden kann. Dann entsteht der fatale Eindruck, dass sich die Gesellschaft ganz grundsätzlich mit geschickten Berechnungen und Kalkulationen gegen Risiken jeder Art nicht nur absichern, sondern auch mit diesen Risiken der Zukunft handeln und schon jetzt Gewinne machen könnte. Genau dies war der fatale Irrtum der Finanzmärkte vor dem Crash 2008 und er wird es weiterhin bleiben. Eine letztendliche Absicherung gegenüber dem, was aus der Zukunft auf uns zukommt, ist nicht möglich. Aus der Zukunft kommt aus religiöser Perspektive die Großzügigkeit Gottes auf uns zu und jede Form des Sich-Verstellens dem gegenüber verschlimmert mögliche Krisen nur noch.

Lebensweltlich basierte Kooperation findet ihre symbolische Zuspitzung in der Konstitution eines WIR. Dabei ist von vornherein zu sehen, dass diese Leistung auch ambivalent ist. Wir können nicht leben, ohne uns zu einem WIR gehörig zu empfinden. Gleichzeitig bedeutet aber eine solche WIR-Konstitution immer auch die Ausschließung von anderen, die nicht zu uns, sondern zu den anderen gehören. Im christlichen Glauben ist diese Ambivalenz allerdings wiederum immer schon im neutestamentlichen und biblischen Geschehen insgesamt eingefangen, indem die Konflikthaftigkeit zwischen dem WIR und den ANDEREN immer wieder im Blick auf universale Lösungen durchgespielt wird. Es ist im Kern das „Christusgeschehen“ von Kreuz und Auferstehung selbst, das an dieser Stelle bedeutend ist und in dem das WIR immer wieder im Blick auf die ANDE-REN hin erweitert wird. Der Christus, der am Kreuz hängt, hängt am Ort der völligen Gottlosigkeit – außerhalb der Mauern der Stadt, der Grenzen, der Macht – im Bereich der Ohnmacht. Er ist aus dem WIR der Macht – Gemeinschaft ausgestoßen und ist zu einem ANDEREN geworden. Und genau mit diesem anderen Ausgestoßenen identifiziert sich Gott in seinem Handeln. Die Auferstehung symbolisiert die Durchbrechung dieses WIR, das Grenzen zu den ANDE-REN zieht und inkludiert die grundsätzlich Anderen prinzipiell. Und genau in dieser Hinsicht bricht dieses Handeln dann eben auch die bornierte Familienbezogenheit der ursprünglichen christlichen Gemeinschaften immer wieder auf und treibt sie zur Inklusion der Anderen. Nicht allerdings, um die entsprechenden Werte zu vergleichgültigen, sondern um sie im Sinne von universeller Fürsorglichkeit zu verallgemeinern.

Axel Honneth, der in den folgenden Texten mehrfach zitiert wird, hat in seiner großen Studie über das „Recht der Freiheit“ in dieser Hinsicht drei Sphären der modernen Gesellschaft nach Konstituierungsbedingungen eines WIR befragt.2 Dabei kritisiert er die mangelhafte Konstituierung dieses WIR auf der Ebene der Ökonomie ganz besonders, aber dann auch im Blick auf die mangelhafte Umsetzung von demokratischen, politischen Strukturen. Im Blick auf die Familie allerdings zeichnet er das Bild eines gelungenen Kooperationsfeldes in der Moderne, in dem Menschen in der Angewiesenheit der Familienmitglieder aufeinander sich gegenseitig darin unterstützen, autonom Handelnde zu werden, die eben dadurch prinzipiell kooperations- und fürsorgefähig sind. Genau an dieser Stelle setzt eine Verbindung von Familien und Ehestrukturen mit religiösen Vorstellungen bzw. dem christlichem Glauben ein – oder sie wird auch sonst gesellschaftlich als nicht mehr plausibel erfahren.3

Lebensweltlich basierte Kooperation stellt im Kern nichts anderes als Arbeit dar. Und spätestens seit der Reformation ist jede Form von innerweltlicher Arbeit als innerer Kern einer Berufung, eines Berufs, insbesondere durch Martin Luther, aber auch durch die anderen Reformatoren, aufgewertet worden. Es ist ausgesprochen faszinierend zu sehen, wie bei Luther dies nicht nur auf ökonomisches Handeln im engeren Sinne, d. h. Kaufen und Verkaufen oder Produzieren von Dingen, sondern eben auch auf die fürsorglichen Beziehungen in einer Familie und darüber hinaus ausgedehnt wird. Auch Mutter oder Vater stellen in dieser Hinsicht Berufe dar, die als solche in sich eine Selbstzweckhaftigkeit tragen, und – so würden wir heute sagen – intrinsisch motiviert sind, weil sie ihren Sinn in sich selbst tragen. Um diesen Raum der Exekution der eigenen Berufung auch wirklich leben zu können, hat Luther der Obrigkeit eine prinzipiell fürsorgliche Funktion für das Ganze der Gesellschaft und insbesondere im Blick auf die Armen zugewiesen. Es hat jahrhundertelang gebraucht, bis diese Zuweisung einer produktiv fürsorgenden Funktion an die Obrigkeit zur Herausbildung der modernen Sozialstaaten geführt hat. Aber es ist wirkungsgeschichtlich in großer Deutlichkeit nachzuweisen, dass der moderne Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, der sich als Voraussetzung der freien Entfaltung der Tätigkeiten aller begreift, insbesondere in denjenigen Ländern zustande gekommen ist, die lutherische Grundströmungen aufgewiesen haben. Daran lässt sich gut im Vorfeld des fünfhundertsten Reformationsjubiläums erinnern. Und dies stellt keine billige Apologie der Reformation dar, sondern erinnert gegenüber den eher abfälligen klassischen Äußerungen von Max Weber und Ernst Troeltsch über Luther daran, dass Ökonomie nicht erst mit der Erwerbsökonomie einsetzt, sondern ihre Grundlagen weit vorher: eben in lebensweltlich basierter Fürsorge aufweist. Christlich gesehen – und in dieser Hinsicht auch gerade gut lutherisch argumentiert – ist es nicht so, dass im herkömmlichen ökonomischen Handeln zunächst das Geld verdient werden müsste, das man dann nutzen kann, um Kinder zu erziehen oder Menschen zu pflegen. Der Zusammenhang ist genau umgekehrt: Kinder und Pflege als elementare Kooperationssituationen sind die Voraussetzungen dafür, dass sich überhaupt Geld vermittelte Beziehungen herausbilden können.

Es ist erstaunlich, aber von der Dominanz der Weberschen und Troeltschen Tradition her auch wiederum verständlich, dass im deutschsprachigen Raum die enge Verwandtschaft christlicher Sozialethik mit und ihre vielfache Bezogenheit auf moralische Ökonomie nur wenig diskutiert worden ist. Die Diskussion findet sehr viel stärker im englischsprachigen Bereich statt und wird hier auf die Entwicklung im 19. Jahrhundert bezogen. Ähnliches gilt zum Beispiel aber auch für die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Deutschland.4 Intensiv wird sie in armen Ländern, so insbesondere in Afrika geführt.5

Nun wäre es allerdings verkürzt, an dieser Stelle nicht darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zu den hier entwickelten Gedanken die moderne Wirtschaftsform des entfalteten Kapitalismus dazu tendiert, Formen moralischer Ökonomie entweder zu ignorieren oder aber auch zur eigenen Legitimation zu reklamieren.

Diese Ökonomie tendiert dazu, die symbolische Legitimation ihres eigenen Handelns in ihrer eigenen Produktion stets mit zu produzieren und auf diese Weise die Bedürfnisstrukturen der Menschen in einer Weise zu formen, die zu einer Autoreproduktion ihrer eigenen Möglichkeiten führt. In der christlichen Ökumene wird dieser Prozess unter dem Begriff des „Consumismo“ diskutiert: der Verwandlung aller Beziehungen in warenförmige Konsumverhältnisse und der Verschleierung von Strukturen durch den alles dominierenden Konsum. Wie weit dieser autoreproduktive Prozess der modernen Wirtschaft in Zukunft durch die immer weitere Ausdehnung von Konsummöglichkeiten seine eigenen moralischen Voraussetzungen vollkommen aufzusaugen und damit jegliche Kritik dieses Systems von außen zu delegitimieren in der Lage ist, ist schwer zu sagen. Das vorliegende Buch plädiert jedenfalls dafür, die entsprechenden moralischen Ressourcen lebensweltlich basierter Ökonomie zu stärken und dies insbesondere durch ihre Plausibilisierung im Rahmen des christlichen Glaubens.

Der Band ist folgendermaßen aufgebaut:

In einem ersten Teil (Christlicher Glaube und Gesellschaftsgestaltung) geht es um die systematische Diskussion von Maßstäben christlichen Handelns zwischen Selbstwirksamkeit und Angewiesenheit als Grundbedingungen einer conditio humana religiosa. Solche Maßstäbe helfen zu einer Verweltlichung des Glaubens: zu seiner Realisierung in spezifischen Gestaltungsimpulsen der Institutionen moderner Gesellschaft. Als Beispiele hierfür wird dann die soziale und zivilgesellschaftliche Wirkungsgeschichte der Reformation thesenhaft diskutiert.

Der zweite Teil (Gerechtigkeit im Wirtschaftssystem) macht das Thema Moralische Ökonomie explizit und entfaltet den Begriff im Verhältnis zum modernen Kapitalismus. Es ergeben sich ‚dialektische‘ Beziehungen, die in einer Vorstellung von ‚ziviler Ökonomie‘ aufgehoben werden. Entsprechendes zeigt sich auch beim Thema Arbeit.

Der dritte Teil (Das zivilgesellschaftliche WIR) entfaltet Perspektiven einer produktiven Kooperation im Blick auf die Gestaltung von Sozialräumen als Orte der Solidarität und der Inklusion von Menschen mit Behinderungen unter dem Leitbegriff der Schaffung von tragenden Beziehungen. Der Teil schließt mit Erwägungen zur Situation und zur Bedeutung der Familie.

Schließlich finden sich im vierten Teil (Natalität und Entweltlichung) zwei bewusst stark religiös-theologisch argumentierende Texte, denen es um die Ermöglichung des Neuen aus der Kraft der Entweltlichung geht.

Die Texte dieses Bandes führen Überlegungen meiner Studien in: ‚Teilhabe fördern – christliche Impulse für eine gerechte Gesellschaft‘6 weiter. Ging es darin vor allem um die Fragen der Bekämpfung von Armut vor dem Hintergrund der Forderung nach umfassender Teilhabe so soll nun der Blick auf Grundstrukturen der Gesellschaft geweitet werden.

1 Vgl. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M. 1992, S. 148ff. Und: Harry G. Frankfurt: Gründe der Liebe. Frankfurt a. M. 2005. Und auch: Hans Joas: Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a. M. 1996, S. 236.

2 Axel Honneth: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011. Darin: Das ‚Wir‘ persönlicher Beziehungen (S. 233); Das ‚Wir‘ des marktwirtschaftlichen Handelns (S. 317) und Das ‚Wir‘ der demokratischen Willensbildung (S. 470).

3 In eben diese Richtung zielt die neue Familientext der EKD: Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Gütersloh 2013.

4 Vgl. Michael Kittner: Arbeitskampf. Geschichte. Recht. Gegenwart. München 2005, z. B. S. 33: ‚Ideelle Grundlagen: Christentum.

5 Vgl. z. B. I.N. Kimambo / G. Hyden / S. Maghimbi / S. Sugimura (ed.): Contemporary Perspective in African Moral Economy. Daressalam University Press 2008. Auch: Elizabeth Isichei: Voices of the Poor in Africa, Rochester 2002.

6 Gerhard Wegner: Teilhabe fördern – christliche Impulse für eine gerechte Gesellschaft. Stuttgart 2010.

Erster Teil Christlicher Glaube und Gesellschaftsgestaltung

Selbstwirksamkeit und Angewiesenheit. Christlicher Glaube und Gesellschaftsgestaltung7

„Es ist also nicht richtig, dass Menschen mit größeren natürlichen Gaben und dem überlegenen Charakter, der ihre Entwicklung ermöglichte,

ein Recht auf ein System der Zusammenarbeit hätten,

das ihnen die Erlangung weiterer Vorteile auf Weisen gestattet,

die anderen keine Vorteile bringen.

Man hat seinen Platz in der Verteilung der natürlichen Gaben ebenso wenig verdient wie seine Ausgangsposition in der Gesellschaft.“8

(John Rawls)

Im Folgenden wird die Frage diskutiert, welche Aussagen christlicher Glaube heute zu Fragen der Gesellschaftsgestaltung, insbesondere zu ökologischen, ökonomischen und sozialpolitischen Problemlagen, machen kann und wie er überhaupt zu ihnen kommt. Der Anlass hierfür ist die sicherlich nicht ganz unbegründete Vermutung, dass Kirche und Theologie im Grunde genommen stets nur dem Zeitgeist hinterher laufen und wenig Neues und Eigenes beitragen.9 Nicht gerade selten treten sie mit Stellungnahmen in der Öffentlichkeit auf, die diejenigen anderer Akteure lediglich verdoppeln. Dass sie sich dennoch aus einer – allerdings nur in der Pluralität vorhandenen – christlichen Wirklichkeitsdeutung ergeben, wird oft nicht deutlich. Dennoch ergeben sich gerade ihre innovativen Anstöße von dieser Ebene her.

Dabei wird von vornherein davon ausgegangen, dass diese Fragen in einem allgemeinen öffentlichen Kontext erörtert werden und nicht in spezifischen Sonderwelten christlicher Religion (wobei diese allerdings heuristische Funktionen erfüllen können und deswegen sehr wertvoll sind). Christen wollen von ihrem Glauben her stets auch die Entwicklung der Gesellschaft prägen und stellen sich deswegen dem „Kampf um Aufmerksamkeit“, dem alle Akteure in der Gesellschaft unterliegen. Das bedeutet von vornherein, dass es zum einen um das Abarbeiten an hegemonialen Deutungen der Gesellschaft und um deutliche eigene Markierungen geht. Hegemoniale Deutungen sind in modernen pluralen Gesellschaften nur möglich, wenn sich in ihnen grundlegende Wünsche und Bedürfnisse der Menschen artikulieren. Und zum anderen, dass sich Fragen der inhaltlich-thematischen Positionierung nicht immer von strategisch-taktischen Überlegungen kirchlichen Handelns trennen lassen. Letztlich hängt die reflektierte „Prägekraft“ des Christlichen an der kommunikativen Präsenz der Kirchen in der Gesellschaft – auch wenn sich christlicher Glaube natürlich auch außerhalb der Kirchen in vielfacher kultureller und sozialer Form wirkungsgeschichtlich deutlich macht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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