Religiöse Kommunikation und soziales Engagement - Gerhard Wegner - E-Book

Religiöse Kommunikation und soziales Engagement E-Book

Gerhard Wegner

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Beschreibung

Dass christlicher Glaube mit sozialem Engagement verbunden ist, bezeugt bereits das Neue Testament in aller Deutlichkeit. Auch heute verbinden sich christliche Werte und konfessionelle Bindung mit dem Einsatz für das Gemeinwohl in der Zivilgesellschaft. Ja, bisweilen kann man den Eindruck haben, es bilde sich eine Art "Sozialreligion" heraus, die über ein hohes gruppenbezogenes Motivationspotenzial verfügt. Der Autor arbeitet die Zusammenhänge zwischen Religion und Engagement heraus – und wirft auch einen Blick auf nichtchristliche Religionen. [Religious Communication and Social Commitment. The Future of the Liberal Paradigm] That Christian faith is combined with social commitment is already clearly testified in the New Testament. Today, Christian values and denominational loyalties combine with the commitment to the common good in civil society. Sometimes, one could get the impression that a kind of "social religion" is originating that has a high group-related potential of motivation. The author analyses the interrelationships between religion and commitment – and also takes a look at non-Christian religions.

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Gerhard Wegner

Religiöse Kommunikation und soziales Engagement

Die Zukunft des liberalen Paradigmas

Gerhard Wegner, Dr. theol., Jahrgang 1953, studierte Theologie in Göttingen und Nairobi. Er ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD und apl. Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg, zudem Mitglied in zahlreichen politischen, kirchlichen und diakonischen Gremien, u.a. in der Sechsten Altenkommission der Bundesregierung, dem Beirat des Denkwerks Demokratie, dem Präsidium des Diakonischen Werkes Niedersachsen und dem Beirat zur 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Coverbild: © Thaut Images – Fotolia.com

Layout und Satz: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-04673-7

www.eva-leipzig.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Der Autor

Impressum

Einleitung

Soziale Gerechtigkeit Eine gemeinsame Herausforderung für Kirche und Diakonie

Erneuerte Sozialität - Kirche im Gemeinwesen Soziale Gerechtigkeit im Quartier

Religion und Wohlfahrt Soziale Konsequenz religiöser Haltungen

Gibt es ein protestantisches Wirtschafts- und Sozialmodell in Europa? Eine Sichtung kirchlicher Stellungnahmen aus Großbritannien und Skandinavien

Buchempfehlung

Fußnoten

»The exclusion of the poor is pervasive

and not accidental.«1

Einleitung

Die 5. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft2 (5. KMU) hat mit ihren Daten und noch mehr mit der Kontroverse über deren angemessene Deutung erhebliche Furore gemacht. Eine durchaus plausible Interpretation, die sich auch mehrfach prägnant in der abschließenden Publikation der Studie3 niederschlägt, ist die Säkularisierungstheorie, die das Abschwächen religiöser Kommunikation, kirchlicher Praxis und kirchlicher Bindung als Indikatoren für einen nicht mehr umkehrbaren Weg der Gesellschaft in Religionslosigkeit interpretiert. Obwohl in den Debatten der letzten Jahre in ihrer Geltung vielfach bestritten, ist diese Theorie immer wieder zu großer Plausibilität herangewachsen und zwar insbesondere, was die Einschätzung der Situation in Mittel-, Nord- und Westeuropa anbetrifft.4 Eine andere Interpretation der Daten der 5. KMU beharrt darauf, dass es lediglich um einen Rückgang kirchlicher Kommunikation, aber nicht auch um einen Verfall religiösen Interesses oder religiösen Bewusstseins geht. Vielmehr individualisiere und privatisiere sich das religiöse Interesse und nehme auf diese Weise vielfältige neue Formen an, die es erst noch von der Kirche aufzugreifen gelte. Suggeriert wird an dieser Stelle mehr oder minder deutlich, dass mit mehr Anstrengungen der Kirche in dieser Richtung Verfallsprozesse gestoppt werden könnten. Jedenfalls bewege sich die Gesellschaft keinesfalls in Richtung Religionslosigkeit.

Die Debatte ist komplex, oft positionell verhärtet und nutzt Daten oft genug lediglich als Sprungbretter für vorher längst feststehende Positionen. Aber welche Haltung man nun auch beziehen mag: Deutlich ist, dass die 5. KMU der EKD Netzwerke religiöser Kommunikation in der Kirche bzw. unter den Kirchenmitgliedern und darüber hinaus zu ihrem besonderen Thema macht. Dadurch befeuert sie die Kontroverse zwischen denen, die eine religionslose Gesellschaft prognostizieren und denen, die andere Formen der Religiosität aufkeimen sehen.

Kirche ist mehr als Religion

Durch diese Fokussierung auf religiöse Kommunikation – und auch durch die Art und Weise ihrer durchaus problematischen Thematisierung5 – hat sie die entsprechenden Daten, die einen deutlichen Rückgang von Religiosität zeigen, gewissermaßen selbst produziert. Die Feststellung mag auf den ersten Blick banal klingen: Jede Festlegung auf eine Fragestellung produziert entsprechende Ergebnisse. Sie gewinnt aber dann erheblich an Bedeutung, wenn man sich klar macht, dass die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung in ihrem Interesse an kommunikativen Netzwerken durchaus auch anders hätte verfahren können und dann auch andere Ergebnisse produziert hätte. So hätte sie z.B. ganz allgemein nach Kommunikationsformen und -inhalten der Kirchenmitglieder fragen können, also nicht spezifiziert auf religiöse Kommunikation, sondern z.B. nach kultureller, sozialer oder sonst wie gearteter Kommunikation. Hätte man dies getan, also einen sehr viel breiteren Ansatz gewählt, wäre mit großer Wahrscheinlichkeit schnell registrierbar gewesen, dass religiöse Kommunikation ein deutliches Spezialinteresse bestimmter Gruppen unter den Kirchenmitgliedern bezeichnet, aber nicht das allgemein übergreifende Interesse auch nur der Mehrheit der Kirchenmitglieder, geschweige denn anderer Gesellschaftsmitglieder. Das wäre ein theologisch und kirchlich unangenehmes Ergebnis – natürlich! Aber rein faktisch muss es zur Kenntnis genommen werden, wenn man ein realistisches Bild der Kirche gewinnen will. Es stellen sich dann sofort weitergehende Fragen, insbesondere ob »christliche« Kommunikation bzw. die »Kommunikation des Evangeliums« das Gleiche ist wie religiöse Kommunikation.

Weiter hätte man dann, und dies lässt sich anhand vieler Indikatoren, gerade auch der 5. KMU deutlich voraussagen, mit einer Fokussierung auf Netzwerke sozialer Kommunikation ein erheblich höheres Gesprächsaufkommen festgestellt als mit der Fokussierung auf religiöse Kommunikation. Wobei hier mit »sozial« nicht der Begriff der sozialen Praxis, wie er angeblich der KMU zugrunde liegt, bemüht wird, sondern sich sozial auf soziales Engagement im weitesten Sinne, d.h. auf solidarische, gegenseitige oder altruistische Hilfeleistungen der Kirchenmitglieder bezieht. Die soziale Kommunikation in diesem Sinne geht über das religiöse Interesse der Kirchenmitglieder weit hinaus. Ja, es scheint so zu sein, dass das Interesse daran, dass die Kirche sich sozial profiliert und Kirchenmitglieder sich sozial engagieren, nach wie vor das am weitesten durchschlagende Motiv für Kirchenmitgliedschaft ist. Dies ist in allen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen deutlich geworden und so auch noch einmal wieder deutlich bestätigt in der 5. KMU. Zwar schreiben die Kirchenmitglieder in ihrer großen Mehrheit der Kirche klassische, traditionelle, institutionelle Funktionen zu – von denen aber die große Mehrheit der Kirchenmitglieder selbst relativ selten Gebrauch macht. Wenn es aber um Funktionen geht, die zugleich auch mit großer Attraktivität verbunden werden, dann geht es stark um soziales Engagement.

Diese These wird, was den professionell engagierten Kern der Kirche anbetrifft, durch die Untersuchungen des 1. Kirchengemeindebarometers des Sozialwissenschaftlichen Institutes der EKD6 unterstützt. Hierbei handelt es sich um eine Umfrage unter Kirchenvorstehern und Kirchenvorsteherinnen inklusive Pastoren und Pastorinnen, die repräsentativ für ganz Deutschland durchgeführt worden ist. In dieser Befragung wird hinsichtlich der inhaltlichen Aufgabenzuschreibung der eigenen Kirchengemeinde zwischen religiösen, sozialen und kulturellen Erwartungen differenziert. Es wundert nach den bisherigen Ergebnissen nicht, dass die Zuschreibung von sozialen Inhalten auf die Kirchengemeinde die mit Abstand größte Gemeinsamkeit der Kirchenvorsteher darstellt und mehr oder minder deutlich vor der Zuschreibung religiöser Inhaltlichkeit liegt. Das bedeutet, dass an der Basis der Kirche, d.h. in den Kirchengemeinden vor Ort, ganz offensichtlich soziale Kommunikation sehr viel weitgreifender ist als religiöse Kommunikation. Letztere findet sich nach den Darstellungen des Kirchengemeindebarometers nur in einer spezifischen Reihe von explizit religiösen Veranstaltungen, so natürlich insbesondere in Gottesdiensten oder Gesprächsgruppen. Aber schon im religiösen Unterricht, sprich dem Konfirmandenunterricht, greift das Soziale besonders stark und nimmt dann in allen möglichen anderen kirchlichen Veranstaltungen deutlich die prägende Rolle ein.

Das bedeutet, dass die 5. KMU durch Fokussierung auf religiöse Kommunikation ein Bild von der Begrenztheit kirchlicher Kommunikation als religiöse Kommunikation erzeugt hat, dass der Wirkungsweise von Kirche in der Gesellschaft insgesamt nicht gerecht wird. Die Verengungen, die hier aufgezeigt werden und auch der daraus abgeleitete Rückgang von Religiosität entsprechen nicht dem, was Kirche wirklich in der Gesellschaft leistet, würde man auch die Netzwerke sozialer Kommunikation erfassen. Wie evident dies ist, hat sich am Engagement vieler Kirchenmitglieder in der Willkommenskultur für die Flüchtlinge im den Jahren 2015/16 deutlich gezeigt.

Damit ist nun natürlich nicht gesagt, dass die religiöse Kommunikation nur noch eine marginale oder gar keine Bedeutung mehr hätte, sondern lediglich, dass sie in der Prägung von Kirche ein Stück weit an den Rand der Aktivitäten rückt, was aber nicht bedeuten muss, dass sie deswegen bedeutungslos wird. Bildlich gesprochen: Gerade der Rahmen, der sich um die sozialen Aktivitäten der Kirche legt, prägt sie besonders und setzt diese sozialen Aktivitäten sozusagen überhaupt erst ins Bild, lässt um diese Aktivitäten herum eine ganze Reihe von symbolischen und selbstverständlich religiös-biblischen Narrativen aufscheinen, die Rückwirkungen auf dieses Sozialengagement haben. Insofern muss natürlich nach den Zusammenhängen von religiöser Kommunikation und sozialem Engagement gefragt werden, wenn man diesen wichtigen Aspekt der Kirche herausarbeiten will.

Die Idee einer Sozialreligion

Es kommt nun noch etwas hinzu, was die eben dargestellte Situation besonders akzentuiert und was schon vor mehreren Jahrzehnten von Friedrich Fürstenberg pointiert auf dem Begriff der Sozialreligion gebracht worden ist.7 Fürstenberg versucht mit diesem Begriff eine Entwicklung auf den Punkt zu bringen, die gerade nicht die Transformation von Religion in eine individualisierte Privatideologie, sondern in das Feld sozialpolitischer Initiativen hinein beschreibt und die er – m. E. sehr plausibel – in den letzten Jahrzehnten besonders in der evangelischen Kirche in Deutschland beobachten zu können meinte. Die Grundlage seiner Argumentation bildet eine Analyse der Transformation von Religiosität als Volksfrömmigkeit in eine institutionell abnehmend gebundene private Sinnsuche, die sich außerhalb der Privatsphäre immer stärker auf eine Sozialreligion hin entwickelt. Sie ist durch einen sozialreligiösen Aktivismus geprägt. »Die fortschreitende Ökonomisierung und Marktorientierung sozialen Verhaltens, führt jedoch nicht zu einer uneingeschränkten Diesseitigkeit, sondern auch zu einer zumindest ansatzweise zu beobachtenden Anreicherung des angeblich rationalen Kalküls mit quasi religiösen Inhalten.«8

Hier steht nicht die eigene Person, sondern die soziale Umwelt im Mittelpunkt der Erfahrungen. Entsprechende soziale Aktivitäten führen rasch zu Gemeinschaftserfahrungen mit Gleichgesinnten und damit auch zu sozialen Integrationsformen, die angesichts ihrer gesellschaftlichen Bedeutung besondere Beachtung verdienen.9 Entsprechende Bemühungen auch seitens der Kirchen eröffnen aus Fürstenbergs Sicht große Chancen, den gesellschaftlichen Pluralismus ohne Rückkehr zum Dogmatismus kirchlich aufzufangen.10 Dieser Prozess geht einher mit dem Wandel von der Staatskirche zur Verbandskirche – bzw. in meinen Worten von der »Anstalt« zum »Akteur« – in dem die örtliche Kirchengemeinde trotz all ihrer Verengungen und Marginalisierungen als soziales Beziehungsgefüge sui generis eine neue Bedeutung gewinnen kann. Vor allem durch die Bildung von Gemeindegruppen (z.B. Besuchsdienste, Selbsthilfegruppen, Schularbeitskreise etc.) kann die Schaffung eines gemeinsamen Sozialbewusstseins christlicher Prägung gelingen.

Was ist genau mit Sozialreligion gemeint? »Hiermit ist die allmählich entstehende Sozialform der Religion gemeint, die teils Anpassung der Kirchen an den pluralistischen Wertehorizont durch Betonung der Aktivitäten in einem von Glaubensentscheidungen weitgehend freien diakonischen Sozialraum, teils Aktivierung des Kirchenvolks durch sozialreligiöse Initiativen umschließt.«11 Deutlich wird, wie sehr dies eine andere, eher kollektive Transformation der Religion darstellt, als sie in Thomas Luckmanns12 Thesen von einer Religiosität in individualisierter und privatisierter Form prognostiziert wird. Sie kann als teilsäkularisierte Form christlicher Religion verstanden werden, mit der die Kirchen auf individuelle Bedürfnisse eingehen und in diesem Prozess Religion transformiert wird. So verstanden läge eine Sozialreligion geradezu in der Mitte zwischen den Prognosen der Säkularisierungs- und der Transformierungsthese des Religiösen.

Fürstenberg benennt einige Vorbedingungen für entsprechende Entwicklungen:13

– »Die individuellen Lebensprobleme werden im Kreise gleich Motivierter ernst genommen.«

– »Es wird von intellektuellen Bezugspersonen ein Deutungsschema angeboten.«

– »Hierzu werden wissenschaftlich fundierte Tatsachen mit persönlichen Erkenntnissen und ideologischen Integrationen verbunden.«

– »Der problematischen Gegenwartssituation wird ein sozial-utopisches bzw. sozial-eschatologische Züge tragender Idealzustand gegenüber gestellt, dessen Wünschbarkeit rein wertrational begründet wird.«

– »So erscheint die Veränderung des Bestehenden als moralisches Gebot, zu dessen Verwirklichung mehr oder weniger aktivistische Strategien angeboten werden.«

»Die Suche nach sinnvollen Handlungsmustern […] findet als kollektiver Lernprozess statt«, der durch intensive Gemeinschaftserlebnisse emotional abgestützt wird. Das Ganze führt dazu, dass Religiosität zum innerweltlichen sozialen Gemeinschaftserlebnis umgeformt wird. »So entsteht die Tendenz, die von den Amtskirchen verkündete Heilsbotschaft immer stärker durch soziale Bezüge zu konkretisieren und dies durch eine politische Theologie zu rechtfertigen. Religion tritt in dieser Phase vornehmlich als Sozialreligion in Erscheinung.«14

Nun muss man dieses Konzept der Sozialreligion als hegemonialen Trend der Umformung der klassischen Religiosität natürlich in vielfacher Hinsicht kritisch betrachten, genauso wie Luckmanns Privatisierungs- und Individualisierungskonzept. Auf einer rein phänomonologischen Ebene wird man aber nicht darum umhin können, die Umformung vieler Aktivitäten, gerade im protestantischen Bereich, in Richtung sozialen Aktivismus schlicht und einfach konstatieren zu müssen. Man analysiere in dieser Hinsicht nur die Entwicklungen des Kirchentages der letzten 30 bis 40 Jahre oder aber auch die Ausformung von Stellungnahmen politischer Art, so zuletzt zum Beispiel die Familiendenkschrift der EKD15, in der in einer bemerkenswerten Weise die religiös theologische Argumentation zurück und dafür die soziale Argumentation hochgefahren wird. Die Umformung klassisch traditioneller religiöser Kommunikationsformen in soziale Aktivitäten kann auf eine Entwicklung zurückblicken, die spätestens mit der 1968er-Bewegung beginnt und bis heute anhält16.

Wettbewerb um Nachfrage nach Kirche

An dieser Stelle greift eine weitere Überlegung, die von der Beleuchtung der praktischen Konkurrenzsituation, in der die kirchliche Praxis heute steht, ausgeht. Sie ist, folgt man der Analyse von Jörg Stolz u.a.17, dadurch geprägt, dass neben den hegemonialen Auseinandersetzungen um die Deutung gesamtgesellschaftlicher und organisatorisch milieubedingter Erfahrungen in der Gesellschaft, insbesondere ein heftiger Kampf um die Nachfrage der Einzelnen geführt wird. Und gerade in dieser Hinsicht lässt sich nun deutlich konstatieren, dass es einen merklichen Nachfragerückgang nach religiösen Formen und Inhalten in der Gesellschaft gibt – wobei immer wieder berücksichtigt werden muss, dass hier Religion mit der klassisch christlich-kirchlich tradierten Religion gleichgesetzt wird. Viele der einstmals mittels kirchlicher Angebote befriedigten Ich- und Identitätsbedürfnisse werden heute durch andere Angebote im Freizeit- und Konsumbereich umfassend abgedeckt. Gleichzeitig fällt es der Kirche aber schwer, individualisierte Ichbezogene Bedürfnisse ausdrücklich zum Thema ihrer Kommunikation zu machen, da sie von ihrer Fixierung auf Gemeinschafts- und Gemeindeformen her andere Bindungen aufweisen.

Genau dies gelingt nun aber, indem soziale Aktionsformen zum Thema gemacht werden, weil dies in einer an vielerlei Bedürfnislagen anschließenden Form wiederum Gemeinschafts- und Gruppenerlebnisse ermöglicht. Es existiert in dieser Hinsicht ein breiter Markt in der Gesellschaft, auf dem sich die Kirchen mit ihren sozialen Dienstleistungen tummeln und im Wettbewerb durchaus bestehen können, wie sich an den nach wie vor expansiven Tendenzen von Diakonie und Caritas zeigt. Es ist der Evangelischen Kirche in dieser Hinsicht ganz offenbar auch gelungen, den Kreis ihrer ehrenamtlichen Mitglieder erheblich erweitern zu können. Das heißt im Hinblick auf soziales Engagement gelingt es der Kirche anscheinend, Menschen anzusprechen und sich »am Markt zu behaupten«. Das hat auch mit der Schaffung von neuen Engagementmöglichkeiten, besserem Management in diesem Bereich und attraktiveren Positionierungen zu tun.

Die Zukunft des liberalen Paradigmas

Theologisch wie soziologisch geht es in diesen Debatten stets auch um die Rolle der Kirche in der Gesellschaft. Unbestritten ist sicherlich, dass sich ihre Rolle in den letzten 50 Jahren beträchtlich verändert hat – aber wie dieser Wandel genau gedeutet wird, ist zum Teil heftig umstritten. Nach dem Ende der Deutungsmacht der dialektischen Theologie in den sechziger Jahren etablierte sich ein theologischer Religionsdiskurs, in dem die Kirche als Institution der religiösen Kommunikation als fest in der Gesellschaft verankert interpretiert werden konnte.18 Religion sei – so konnte im Rückgriff auf soziologische Klassiker postuliert werden – das Medium individueller und auch gesellschaftlicher Selbstverständigung. Und indem sich die Kirche hierauf bezöge, wäre sie folglich im Kern gesellschaftlicher Prozesse funktional verankert.19 Diese Rolle der Religion, nicht aber der Kirche, gelte mit Thomas Luckmann20 sogar dann, wenn die Religion unsichtbar werde, d.h. keine soziale Gestalt mehr gewönne, da Sozialisation, in welcher Form auch immer, letztlich ein religiöser Prozess sei.21 Entsprechend konnten oberflächlich als Säkularisierung erscheinende Prozesse sozusagen in der »Tiefendeutung« – selbst gegen die expliziten areligiösen Selbstbeschreibungen der Beteiligten – als Transformation traditioneller religiöser Kommunikationsformen gedeutet werden. Religion bleibe folglich für Gesellschaft zentral. Die Kirche aber, dies wird besonders deutlich bei den Soziologen Luckmann22 und Matthes23, gerate in gesellschaftliche Marginalisierung, da ihre Dogmatik nicht flexibel genug sei, um neue religiöse Bedürfnisse ansprechen zu können.

Ohne hier die in ihrer Komplexität faszinierenden Konturen dieser Denkrichtung im Einzelnen darstellen zu können, sei nur auf eine zentrale Variante hingewiesen, die wissenschaftlich und praktisch erhebliche Folgen gehabt hat: die Aufmerksamkeitsverschiebung fort von den religiös Praktizierenden und an der Kirche Partizipierenden hin zu denen, die sich in dieser Hinsicht distanziert und im Grunde genommen konsumtiv verhalten. Ihnen müsse deswegen besondere Zuwendung zukommen, da sie in der herkömmlichen kirchlichen Praxis, weil nicht konform, stigmatisiert werden würden. Würde die Kirche aber ihre Interessen besser organisieren, könnte sie gegebenenfalls der drohenden gesellschaftlichen Marginalisierung entgehen. Die Welt ist in dieser Sichtweise voller Religion – was der Kirche aber nicht zugutekäme, da sie in ihren traditionellen Narrativen und Symboliken verharrend nicht religionsfähig sei. Die von vielen Menschen anerkannte, eigentlich einzige religiöse Einrichtung der Gesellschaft, die Kirche, würde sich so aus der Gesellschaft selbst hinausbefördern. Es ist dieses Denkmuster, das ich als liberales Paradigma bezeichnet habe.24 Es führt dazu, das sozialwissenschaftliche und kirchenpraktische Interesse auf diejenigen zu richten, die sich gerade nicht an der Kirche beteiligen, weil sie nur außerhalb der Kirche interessante religiöse Innovationen erwarten. Wenn die Kirche hier den Anschluss verliere und diese Menschen austreten würden, läge das an ihr – und eben ganz und gar nicht an den Interessen oder Dispositionen dieser Menschen. Sie hätten gar nicht die Chance gehabt, ihre Form der Religiosität in der Kirche zu entfalten. Zuletzt unterstützte die Milieutheorie diese Sicht der Dinge: Da die Kirche Religion exklusiv für ihre stark milieuverengte Kommunikation reklamiere, schließe sie große Milieugruppen nicht nur aus der Kirche sondern auch aus der Religion aus.25

Aus meiner Sicht ist diese Zustandsbeschreibung spätestens seit der 5. KMU so nicht mehr haltbar. Die entsprechenden Argumente habe ich mehrfach entwickelt. Ein latentes religiöses Interesse, das es durch geeignete kirchliche Angebote wachzurütteln gelte, ist so in den neueren Daten nicht zu erkennen. Die Frage, ob es das früher war, bleibt interessant. Die aus meiner Sicht klügste Bilanz der 5. KMU in dieser Frage lautet: »Kurz und gut: Religiöse Kommunikation und religiöses Verhalten sind im Alltag eher unwahrscheinlich.«26 Woraus dann interessanterweise aber folgt, dass wir akzeptieren müssten, »dass sich die Mehrzahl der Mitglieder protestantischer Kirchen dafür entschieden hat, die Gründe und Konturen ihres Glaubens anderen gerade nicht mitzuteilen, sondern sie für sich zu behalten.«27 Letzteres lässt sich so aus den Daten natürlich nicht belegen sondern nur hineinlesen (es sei denn mit »Glauben« ist hier etwas anderes als Religion gemeint). Mir scheint es zwingend zu sein, die Unterstellung der Ubiquität von Religion fallen zu lassen, gerade um der Wirklichkeit der vielen außerhalb der Kirche, insbesondere natürlich der Konfessionslosen, gerecht zu werden: »Deren Entscheidung ist zu respektieren und nicht mit einem funktionalen Religionsbegriff umzuinterpretieren.«28 In dieser Hinsicht ist das liberale Paradigma keine hilfreiche Deutung mehr. Die kirchliche Kommunikation findet als religiöse Kommunikation nicht mehr die Brücken, die es einstmals gab.

Aber – und dies soll in diesem Buch deutlich werden – das liberale Paradigma, nun verstanden als die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen christlich-kirchlicher und allgemeiner gesellschaftlicher Kommunikation, hat auch eine Zukunft. Und sie liegt im Bereich des sozialen Engagements bzw. allgemeiner gesagt: in einer gemeinsamen, breit geteilten, sozialen Kommunikation. Darauf haben auch die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen immer weder hingewiesen, ohne dass diese Erkenntnis weitergehende Folgen gehabt hätten:29 die größten Gemeinsamkeiten der Evangelischen in ihrem Interesse an Kirche liegen – neben dem Interesse an der eigenen kirchlichen Bestattung – in ihrem sozialen Engagement. Besonders deutlich wird dies bei den Erwartungen an die Kirche.30 In dieser Hinsicht ist auch die Zustimmung der Konfessionslosen groß: Wenn sie etwas an der Kirche schätzen, denn eben dies. Deswegen kann durchaus davon ausgegangen werden, dass sich Kirche immer dann, wenn sie sich diakonisch-sozial betätigt bzw. entsprechend kommuniziert, auf eine breite Resonanz in der gesamten Bevölkerung stützen kann. Sie ist auch noch weit größer als die Wertschätzung der professionellen Diakonie.31 Zudem scheint es so zu sein, dass soziales Engagement nicht selten mit Werten begründet wird, die aus einem religiösen in einen betont nichtreligiösen Kontext übertragen wurden, z.B. Nächstenliebe, Verantwortung für Bedürftige o.ä. Hier könnte also eine tatsächlich wirkmächtige Transformation des kirchlich-religiösen Glaubens vorliegen. Allerdings sind hier weitere Forschungen überfällig.

Auf den Punkt gebracht hat diese Situation zuletzt Christian Grethlein in seiner Kritik einer einseitigen Ausrichtung an Religion: »Bezieht man sich auf Jesu Auftreten, Wirken und Geschick zurück, so wird man feststellen, dass viele seiner Handlungen heute wohl kaum als religiös bezeichnet würden, obgleich sie zentral dafür waren, Menschen auf die anbrechende Gottesherrschaft hinzuweisen. Er aß und trank mit ihnen, wobei die inklusive Öffnung grundlegend war. Er heilte Menschen, er ließ sich mit ihnen auf Streitgespräche ein. Besonders hervorzuheben ist bei allem die starke Hinwendung Jesu zu Armen und Exkludierten.«32 Dem möchte ich ausdrücklich zustimmen. Es geht mithin mit der Fokussierung auf soziales Engagement als Transformation von Religion theologisch um eine Konkretisierung, gewissermaßen um eine »Verweltlichung«33 des Glaubens – ganz und gar nicht um seine Ablösung. Und auch gilt aus meiner Sicht, dass Religion nicht einfach durch sozialen Aktivismus abgelöst und in diesem Sinne »verweltlicht« werden kann. Der Anbruch der Gottesherrschaft im gemeinsamen Mahl bedarf eines transzendenten Bezuges, um wirklich präsent zu werden.

Zum Inhalt des Bandes

All diesen Zusammenhängen soll nun durch eine Reihe von Beiträgen in diesem Band nachgegangen werden. Damit wird der Versuch unternommen, ein anderes, die religiöse Kommunikation durchaus transzendierendes (und sie wahrscheinlich faktisch transformierendes) Bild der kirchlichen Praxis zu entwerfen, das auf soziales Handeln (im Sinne von gegenseitiger Unterstützung) bzw. soziales Engagement von Kirchenmitgliedern u.a. abhebt. Dabei wird zunächst einmal beschrieben, was tagtäglich geschieht. Allerdings ist die Beschreibung natürlich nicht frei von normativen, auch theologischen Ausgangspunkten.

Dabei möchte der Autor weder die vollständige Transformation von Religiosität in soziales Engagement propagieren noch seine Hoffnung auf eine Rettung der Kirche ausschließlich auf diese Dimensionen setzen. Er hält vielmehr in einer Reihe von Beiträgen daran fest, dass der religiösen Dimension eine eigene Bedeutung zukommt, die sie aus eigener Kraft und unter Bezug auf sich selbst aufweist. Diese religiöse Kommunikation wird von einer begrenzten Gruppe von Menschen getragen, die nicht unbedingt mit der großen Zahl der sozial Engagierten identisch ist. Dennoch geht es darum, die Verbindungslinien zwischen beiden aufzuzeigen.

Der Band versammelt in dieser Hinsicht Aufsätze, die sich mit Impulsen aus der Arbeit des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD verbinden:

Um die Perspektive christlichen Glaubens als Sozialvision überhaupt erst einmal aufzureißen und plausibel zu machen, werden im ersten Aufsatz Grundoptionen evangelischer Sozialethik entfaltet. Deutlich wird die Nähe, die zwischen grundlegenden Glaubensüberzeugungen und sozialen und ökonomischen Gestaltungsoptionen existiert. Eines geht nicht ohne das andere.

Im folgenden Beitrag geht es dann um die Frage der Gemeinwesenorientierung von Kirchengemeinden. Wenn die These von der (teilweisen) Transformation des christlichen Glaubens in soziales Engagement stimmt – ganz gleich ob als Säkularisierung oder als Verwirklichung des Glaubens – dann liegen im bewussten Bezug der Kirchengemeinden auf die Sozialräume, in denen sie beheimatet sind, große Aktivierungschancen.

Ein ganz weiter Zugang wird dann in einer breiten Ausarbeitung eingeschlagen, die sich um die Frage von Religion und Wohlfahrt allgemein dreht. Hier wird der Blick über das Christentum hinaus geweitet und der Versuch unternommen, der großen Bedeutung, die die Verknüpfung von Religion und sozialem Engagement in einer weltweiten Perspektive in allen Religionen hat, ein Stück weit nachzugehen. Es folgt schließlich eine Übersicht über die sozialpolitischen Positionierungen der Protestanten in Europa in den etwa letzten 20 Jahren. Sie beleuchtet die entsprechenden kirchlichen Haltungen (außerhalb Deutschlands) und kann den interessanten Nachweis einer tatsächlichen deutlichen sozialen Schwerpunktsetzung (im Unterschied hier zu ökonomischen Fragestellungen) führen.

Gerhard Wegner,

Brünnighausen Ostern 2016

Soziale Gerechtigkeit

Eine gemeinsame Herausforderung für Kirche und Diakonie1

Fragt man die Mitglieder der Evangelischen Kirchen in Deutschland danach, was sie von ihrer Kirche hauptsächlich erwarten, so rangiert soziales Engagement ganz oben. Über 80% von ihnen wollen, dass sich die Kirche für arme, gebrechliche und kranke Menschen einsetzt, und sich in dieser Richtung sozial in der Gesellschaft engagiert. Diese sozialen Erwartungen sind noch größer als die in einem engeren Sinne religiösen Erwartungen an die eigene Kirche.

Die Evangelische Kirche weist also ein klares Profil auf: Sie steht auch für sozialen Ausgleich, für soziale Unterstützung und soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft – was immer man auch im Einzelnen darunter verstehen mag. Ein Grund dafür, dass Menschen überhaupt Kirchenmitglied sind, ist folglich auch das Image, dass Kirche nicht nur nach innen gerichtet wirkt, sozusagen für sich selbst, sondern immer auch nach außen gerichtet für alle diejenigen in der Gesellschaft da ist, die Hilfe brauchen. Einer Kirche, »die sich kümmert«, wird folglich nicht nur Sympathie entgegengebracht, sondern dieses Kümmern wird von den eigenen Mitgliedern ganz klar erwartet – und dem wiederum wird von Nichtmitgliedern breite Sympathie entgegengebracht. Diese Erwartungen sollten ernst genommen werden, denn sie entsprechen dem Selbstverständnis einer Kirche, die die Diakonie bekanntlich zu ihren Lebens- und Wesensäußerungen zählt – also religiöse Kommunikation und soziales Engagement im Lebensvollzug überhaupt nicht trennen kann.

Allerdings ist es in Umfragen unter den Kirchenmitgliedern auch bezeichnend, dass das soziale Engagement vor allem in einem sehr allgemeinen Sinne erwartet wird. Wenn man konkreter fragt, z.B. nach der Kompetenz, die die Menschen der Kirche in Richtung einer effektiven Lösung sozialer Probleme zutrauen, werden die Erwartungshaltungen schwächer. Dann sind Kirchenmitglieder in Bezug auf ihre eigene Kirche oft skeptischer und erkennen in dieser Hinsicht auch nicht immer die Bedeutung der Diakonie. Zwar sind diakonische Einrichtungen in Deutschland breit bekannt – wie Brot für Welt, die Kindernothilfe, die Johanniter oder Bethel – aber nicht immer weiß man, dass es sich dabei um Aktivitäten der Evangelischen Kirchen handelt. Das konkrete diakonische Handeln der Kirchen erscheint folglich unterprofiliert zu sein. Die Kirchen könnten von einer stärkeren öffentlichen gemeinsamen Profilierung mit ihrer Diakonie nur gewinnen – auch in Richtung Mitgliederbindung.

Dies belegt aus meiner Sicht, dass es in der Kirchenmitgliedschaft und vielleicht auch in der Gesellschaft insgesamt ein Defizit an plausibler sozialethischer Meinungsbildung gibt. Zwar wird, wie gesagt, mit Kirchenmitgliedschaft und christlichem Glauben soziales Engagement verbunden, aber wie sich christlicher Glaube im Einzelnen in sozialethische Maximen oder gar in Gesellschaftskonzepte umsetzt, die auf soziale Gerechtigkeit zielen, ist sehr viel weniger bekannt und wird auch sehr viel weniger diskutiert. Dies hängt auch damit zusammen, dass es gerade in der letzten Zeit vielfach Empörung gab, wenn diakonische oder kirchliche Einrichtungen gegen anerkannte Anforderungen sozialer Gerechtigkeit, insbesondere im Bereich des Arbeitsrechtes, verstießen. Die Logik ist dann schnell: Wenn die Kirchen schon gegen gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen verstoßen, wen interessiert dann noch, was die Kirchen selbst für Vorstellungen von Gerechtigkeit haben? Das bedeutet: Wovon wir reden, muss sich auch in unserer Praxis abbilden – auch wenn es immer einen Überschuss der Verheißungen des Evangeliums geben wird. Und wenn diese »Abbildung« nicht klar und deutlich möglich ist – was diesseits des Reiches Gottes nicht gerade selten so sein wird – muss die Differenz erklärbar sein.

Was aber sind nun spezifisch christliche Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit? Darüber lohnt es sich nachzudenken und Zusammenhänge deutlich zu machen. Dies lohnt sich auch in missionarischer Hinsicht, wenn man es so sagen will. Das Gesellschaftskonzept des christlichen Glaubens – so differenziert und umstritten es auch ist – ist für heutige Zeitgenossen hoch interessant. Es entwickelt sich aus Vorstellungen eines guten Lebens heraus und sucht nach gesellschaftlicher Institutionalisierung. Dieses Denken steht nicht in einem völligen Widerspruch zu dem Gesellschaftsmodell und den Wertvorstellungen, die wir in Deutschland haben. Man kann deutlich erkennen, dass in Deutschland vieles an sozialstaatlicher und auch an sozialer marktwirtschaftlicher Ordnung, aus christlichem Geist heraus erwachsen ist. Auf der anderen Seite gibt vor allem in den letzten 20 Jahren Ansichten und Ordnungskonzepte, die aus einer anderen, neoliberalen oder marktradikalen Richtung kommen und die mit unseren christlichen Vorstellungen unvereinbar scheinen (amerikanische Christen würden das unter Umständen ganz anders sehen).

Diese Gedanken sollen in zehn Thesen entfaltet werden. Zuvor jedoch ein Zitat von John Rawls aus dem Jahr 1942, das als Leitmotiv der folgenden Überlegungen gelten kann und sie in gewisser Hinsicht auch pointiert zusammenfasst. Es stellt eine Art Glaubensbekenntnis dar, das John Rawls in seiner theologischen Abschlussarbeit in Princeton prägnant formuliert hat: »Die Welt ist in ihrem Kern eine Gemeinschaft, eine Gemeinschaft von Schöpfer und Erschaffenen. Und sie hat ihren Ursprung in Gott.«2 Dieser Satz beschreibt m. E. den Fluchtpunkt einer jeden christlichen Weltsicht: Die Welt wird als ein universeller Zusammenhang begriffen, in dem die gesamte Schöpfung, alles Erschaffene mit Gott und seinen Menschen unauflöslich verbunden ist. Der Ursprung dieses Zusammenhangs liegt in Gott und ihr Ziel auch wiederum in ihm; die Welt findet Erfüllung und Erlösung letztendlich in der Gemeinschaft mit Gott.

Von vornherein ist damit der Ausgangspunkt einer jeden christlichen Ethik in der Erfahrung eines großen Wir beschrieben. In diesem großen Wir gehören unsere vielen Ichs zusammen; sie gehen darin allerdings nicht wie in einem Zwangskollektiv auf, sondern sie sind in ihm aufgehoben, geborgen und genauso befreit. Es geht um einen Zusammenhang allen Lebens auf dieser Welt, der mit dem Begriff einer inklusiven Gemeinschaft gut erfasst werden kann. Gemeinschaft bedeutet, dass diese universelle Zusammengehörigkeit alles Lebendigen einen Selbstwert hat. Sie ist nicht geschaffen, um vernutzt und verbraucht zu werden; sie ist nicht geschaffen, dass die Einen die Anderen ausschließen, erniedrigen und beleidigen. Wenn es gelingt, die Gemeinschaft zum Wohle aller zu gestalten, dann feiert sie am besten ihren Schöpfer und preist durch ihre Existenz als universelle Gemeinschaft seine Großartigkeit. Diese Welt als Gemeinschaft ist in ihrem Kern schön, wie Gott schön ist und deswegen zieht sie alle Energien an. Gott stiftet sozusagen ein großes Kraftfeld der Liebe, in das die Inklusion aller erfolgen soll.

Dieser existenzielle Grundgedanke von der Welt als Schöpfung, die Vorstellung, dass alles in ihr, auch ich selbst, von Gott geschaffen sind, hat gravierende Folgen für die Erfahrung meines Alltags und der Welt im Ganzen. In diesem großen Zusammenhang hat das Leben der (Christen)Menschen einen Platz und ein Ziel. Von vornherein sind sie alle Berufene in dieser Welt, ihren Glauben so zu bezeugen, dass etwas von dieser universellen Gemeinschaft deutlich wird. Und wenn eine solche universelle Gemeinschaft besteht, dann bin ich betroffen von all dem, was in ihr geschieht. Ein verhungerndes Kind in Afrika oder gefolterte und erniedrigte Menschen anderswo fügen mir Schmerzen zu, weil sie zu mir gehören. Ich kann mich von solchen Geschehnissen nur pragmatisch, notgedrungen, distanzieren, weil ich sonst in all dem Leid und Bösen untergehen würde. Aber ich weiß, dass diese pragmatische Distanzierung, wiewohl lebensnotwendig, gleichwohl mich immer wieder schuldig spricht.

Dieser existenzielle Grundaspekt des Glaubens, der alle Erfahrungstätigkeit und alle Handlungen qualifiziert »rahmt«, soll nun in zehn Gedankengängen entfaltet werden. Es geht dabei in der Tat um Entfaltung in einem pointierten Sinne, d.h. um ein »Auseinanderfalten« dessen, was in diesem einen Kerngedanken, in diesem Grundglaubensbekenntnis vom Schöpfertum Gottes, schon enthalten ist. Es geht nicht darum, irgendetwas Neues hinzuzufügen, sondern ganz einfach zu versuchen, unserer Existenzbestimmung durch unser Geschöpfsein gedanklich zu folgen. »Wie Geschöpfe zu leben«: das zu entfalten, soll im Folgenden versucht werden.

1 Am Anfang steht die Ankündigung des Reiches Gottes

Gehen wir zurück auf null – auch wenn das mit der Nullsituation nicht so ganz stimmt. Gehen wir zurück zu dem, womit unser Christsein begonnen hat: zu Jesus Christus. Er war gewiss vieles, aber was er bestimmt nicht war: ein Religionsstifter. Und er hat bekanntlich auch keine neue Kirche geschaffen. Es ist banal, dies zu betonen – aber mir scheint es gerade in heutigen Zeiten außerordentlich wichtig, daran zu erinnern: Jesus ging es weder um die Schaffung einer gesonderten Einrichtung in der Welt, die als Kirche spezifische Funktionen in der Gesellschaft erfüllt, noch ging es ihm darum, ein apartes Wissen über Gott in die Welt zu bringen, was dann als Religion begriffen werden könnte. Ihm ging es um eine gemeinsame, im Kern kollektive Vision der Änderung des Lebens; um den Anbruch des Reiches Gottes. Er lebte die Ankündigung dieses Reiches Gottes unter den Menschen.

Das Reich Gottes mag die Kirche und wird auch die Religion beinhalten, aber es geht weit darüber hinaus. Es stellt keinen gesonderter Lebensbereich dar, sondern reklamiert die ganze, gesellschaftliche, soziale, individuelle, private und öffentliche Welt für die dynamische Liebe Gottes. Um sie geht es in dieser Ankündigung des Reiches. Am deutlichsten wird das in den Gleichnissen Jesu, insbesondere in den Reich-Gottes-Gleichnissen, in denen stets die Inklusion des Verlorenen in diese große Dynamik, in diesen universellen Zusammenhang von Schöpfer und Geschöpf im Mittelpunkt steht. Niemand soll verloren gehen auf dem Weg in die Erlösung und in den großen Frieden Gottes. Die Faszination der Gleichnisse von den Arbeitern im Weinberg, vom Verlorenen Sohn oder vom Barmherzigen Samariter ist bei näherer Betrachtung immer wieder – auch nach 2000 Jahren – unglaublich groß und ihre Herausforderung so radikal, dass man sich ihnen kaum entziehen kann. Sie stellen keine theoretischen Betrachtungen über die Welt an, sind keine philosophischen Vorlesungen darüber, wie es in der Welt vielleicht sein könnte, sondern ziehen die Menschen unmittelbar in ein Kraftfeld hinein. Wo sie erzählt werden, könnte man sagen, da ereignet sich das Reich Gottes, da verändert sich die Weltsicht der Menschen. Sie evozieren so eine neue radikale Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit Gottes, die weit über menschliche Gerechtigkeitsvorstellungen eines Suum Cuique, »Jedem das Seine«, hinausgehen. Nicht »Jedem das Seine« ist hier der Maßstab der Gerechtigkeit, sondern alles für den einen Verlorenem. Darum geht es.

Wer sich diesen Gleichnissen aussetzt und sich von ihnen in das Kraftfeld Gottes hineinziehen lässt, der lebt ein Leben in der Nähe des Guten. Es ist dies ein ganzheitliches Hineingezogen-Werden, mit allen Sinnen, in diese neue Lebenswelt. Das Reich Gottes, so betont es Paulus später, bestünde zwar nicht aus Trinken und Essen, sondern aus Liebe und Frieden im Reich Gottes, aber bei Jesus sind die Bilder für das Reich Gottes noch sehr stark auch von der Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie eben Essen und Trinken geprägt. Völker kommen zum Zion, lagern sich dort, essen und trinken und feiern gemeinsam. Dass Reich Gottes ist ein einziges großes Fest des Lebens, bei dem sich die Brote und Fische vermehren, so dass alle aus dem Überfluss heraus satt werden können. Der Ausgangspunkt des Glaubens ist nicht die Knappheit und die Not, vor der die Menschen fliehen, sondern es ist die Existenz umfassender Fülle, die unbegrenzt geschenkt ist. Aus ihr heraus ergibt sich ganz zwanglos der Impuls, den Weg zu denjenigen zu gehen, die nicht genug haben. Christlicher Glaube lebt aus der Erfahrung dieser überschießenden Fülle und ersehnt, dass alle daran teilhaben. Nicht um die pragmatische Lösung partikularer irdischer Probleme als solcher geht es mit dieser Ankündigung, sondern um die Schaffung einer neuen Wirklichkeit, die diese Probleme sozusagen in sich aufhebt. »Es ist genug für alle da!« Spirituell gilt dieser Satz auf jeden Fall und immer. Und aus dieser geistlichen Erfahrung heraus wird dann auch deutlich, dass entgegen allem Gerede auch ganz real eigentlich genug für alle da ist.