Mord am Januarsberg - Paul Voss - E-Book

Mord am Januarsberg E-Book

Paul Voss

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Am Januarsberg, einem in der Eiszeit entstandenen Geesthügel nördlich von Steyerberg, malerisch in einem größeren Waldgebiet gelegen, findet eine Joggerin eines Morgens zwei Leichen, eine Frau und einen Mann. Beide wurden jeweils mit nur einem Schuss tödlich getroffen. Die Mordkommission tritt zusammen und rätselt über Zusammenhänge und Motivlage eines möglichen Täters. Zunächst wird, auf Grund der professionellen Schusstreffer, an einen Jäger gedacht, doch wer sollte einen Grund haben, die beiden unbescholtenen Menschen zu töten? Schnell wird klar, dass die beiden Ermordeten sich kannten und miteinander schliefen, doch gerade dies scheint kein besonderes Geheimnis zu sein und niemanden, nicht einmal den Ehemann der erschossenen Frau, wirklich zu stören. Die Arbeit der Ermittler gestaltet sich mühsam, alle richten sich auf eine lange Dauer und viel Kleinarbeit ein. Niemand ahnt, dass der Mordkommission die Zeit davon läuft...

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Seitenzahl: 352

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Paul Voss

Mord am Januarsberg

 Für Jesko

Impressum

© 2020 Paul Voss

Postfach 1264

31587 Stolzenau

www.paul-voss-buecher.de

Inhalt:

1. Lautlos

2. Farben und Tapeten

3. Tatortarbeit

4. Berufsschule

5. Pathologie

6. Kevin

7. Perspektiven

8. Jean-Luc

9. Lichtblicke

10. Ex-Partner

11. Verwirrungen

12. Du, mein Sohn...

13. Drei Schüsse

1. Lautlos

Ewald Vogel war von seinem Rad abgestiegen. Der Weg, der am südlichen Rand des Januarsberges in Steyerberg vorbeiführte, bestand – wie üblich im Spätsommer – aus reinem Pudersand. Es war noch sehr warm draußen, gegen Mittag hatte das Thermometer bei Iris auf der Terrasse 29 Grad angezeigt. Inzwischen stand die Sonne knapp über dem Horizont, aber in dem weichen Sand war ihm das Fahren zu anstrengend. So kam er nur langsam voran. Als er an dem Wanderweg vorbei schob, der direkt auf den Berg führte, beschloss er, noch einen kurzen Abstecher zu dem kleinen Aussichtsturm zu machen. Er schloss sein Rad an einer Kiefer an und machte sich auf den Weg. Der führte ihn durch die kleine, mit Gräsern und Heidekraut bewachsene Freifläche und stieg dann ein kurzes Stück ziemlich steil an. Links und rechts des Anstiegs erstreckte sich der Kiefernwald, der für die von Endmoränen geprägte Geestlandschaft typisch ist. 

Nach dem Anstieg wand sich der Weg fast flach durch den Wald, um dann das letzte Stück bis zum Holzturm wieder recht steil anzusteigen. Nach links zog sich eine Heidefläche. Der Weg war sandig, mit etwas Kies darin, ziemlich ausgetreten und durchzogen von schlängelnden Spuren der Mountainbiker, die gerne die kurze Abfahrt von der Spitze des Berges ausnutzten.

Der sogenannte Berg, immerhin die höchste Erhebung in der Gemeinde Steyerberg, misst auf dem Gipfel 84 Meter über Normalnull. Es war keine gewaltige Anstrengung, zu Fuß nach oben zu gehen. Ewald erinnerte sich an seine Kindheit und Jugend. Oft war er mit Freunden oder der Familie hier gewesen. Damals war der Wald um den höchsten Punkt des Berges noch jung und die Bäume sehr niedrig gewesen. Der Januarsberg war bekannt dafür, dass man bei gutem Wetter das Denkmal des Kaisers Wilhelm in Porta Westfalica, etwa 40 Kilometer in Luftlinie entfernt, sehen konnte. Heute musste man auf den kleinen Aussichtsturm des Heimatvereins steigen, um über die Kiefern hinweg in die Ferne blicken zu können. Und auch dessen Höhe würde bald nicht mehr ausreichen. 

Ewald stieg die Stufen bis auf die Plattform des gut drei Meter hohen Türmchens empor und sah  zur untergehenden Sonne nach Westen. Es wehte nur ein laues Lüftchen und es war niemand außer ihm dort. Er genoss die Stille und dachte an den vergangenen Nachmittag, an dem er Iris zuhause besucht hatte. Gemeinsam hatten sie auf der Terrasse gesessen und sich gesonnt. Nachmittags waren sie ins Haus gegangen, hatten sich gegenseitig massiert und es danach in ihrem Ehebett miteinander getrieben. Sie hatten es schon öfter getan, wenn Iris Mann weiter weg tagelang auf Montage war. Ewald war es egal, ihm ging es eigentlich nur um das eine und Iris' Ehe war sowieso zerrüttet. Sie sagte immer, sie sei mit ihm nur noch aus Gewohnheit verheiratet und er würde selbst fremdgehen. Die beiden würden nur noch zusammenbleiben, bis ihr Sohn Kevin seine Ausbildung abgeschlossen hatte. Er war im dritten Lehrjahr bei einem Dachdeckerbetrieb in der Region und sie und ihr Mann wollten durch Trennung und Wohnungsauflösung nicht seinen Abschluss gefährden. Ewald liebte Iris nicht und sie liebte ihn auch nicht. Aber sie hatten zusammen ihren Spaß und Ewald tat es gern mit ihr. 

Seit er vor einigen Jahren bei seiner Frau ausgezogen war und eine kleine Wohnung in Deblinghausen gemietet hatte, konnte er neben der Arbeit tun und lassen, was er wollte. Er warf noch einen Blick in die Runde, aber die Luft war zu dunstig: Man konnte das Denkmal in Porta Westfalica nicht erkennen. Er fotografierte mit seinem Smartphone den Sonnenuntergang, dann drehte er sich um und stieg die Holzstufen wieder herab. Unten angekommen, sah er auf sein Smartphone. Er hatte eine Nachricht von Iris bekommen und entsperrte das Gerät mit seinem Fingerabdruck. In dem Moment spürte er einen Schlag auf die Brust, der ihn erschrecken ließ, denn vor ihm stand niemand. 

Ein stechender Schmerz breitete sich in seinem Brustkorb aus. Ewald bekam keine Luft mehr. Er fasste sich an die Brust, dann sah er auf seine Hand. Sie war voller Blut. Es gelang ihm einfach nicht, Luft zu holen. Er röchelte, wollte schreien, doch ihm kam kein Laut über die Lippen. Noch einmal mal versuchte er einzuatmen. Ein wenig hob sich sein Brustkorb, doch der Schmerz wurde schlimmer – unerträglich. In ihm wuchs das Gefühl, innerlich zu zerreißen. 

Er starrte auf sein Telefon, sah, dass das Display leuchtete, doch erkennen konnte er nichts mehr. Langsam verschwamm sein Blick, es war wie das Fernsehbild, wenn ein Sommergewitter aufzog: Alles war verpixelt, verlor die Farbe. Ewald entglitt das Zeitgefühl. Minuten – gefühlt schienen es Stunden zu sein – stand er nur da. Sein Kopf hämmerte, lieferte ihm keine eindeutigen Informationen mehr.  Der Schmerz ließ jetzt nach, es rauschte in seinen Ohren, das verpixelte Bild verschwamm, wurde heller und heller, bis es gleißend weiß war. Er spürte wie er fiel, tiefer und immer tiefer, ein endloser Fall ohne Aufprall. Dann war es vorbei. 

Sein Körper kippte nach vorn, fiel in sich zusammen. Sein Gesicht schlug hart auf dem festgetretenen Sandboden auf. Ganz langsam kroch sein warmes Blut unter ihm hervor, es bildete sich ein kleines Rinnsal, das nicht in dem trockenen Sand versickern wollte. Das Licht in seinem Kopf erlosch. Ewald war tot.

Eine Fliege landete auf seinem Rücken, gleich neben dem rot geränderten Loch unter seinem linken Schulterblatt. Sie krabbelte um das Loch herum, dann senkte sie ihren Saugrüssel in das noch warme Blut. Das Tier folgte einfach dem Geruch, der ihm zeigte, wo es seine Eier ablegen konnte. Die Fliege handelte nach den Anweisungen ihres Instinkts. Die Natur wartete nicht: Der tote Körper wurde sofort einem nächsten Zweck zugeführt, während die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwand. Ganz langsam senkte sich die Dunkelheit über den Januarsberg.

Iris sah auf ihr Smartphone. Draußen war es schon eine Weile dunkel gewesen, als noch eine Nachricht von Ewald kam. Sie beachtete sie nicht gleich, sondern sah noch den Tatort zu Ende an. Dann nahm sie ihr Telefon und las: „Bitte komm morgen ganz früh zum Januarsberg. Zum Aussichtsturm. Ich warte da. Es ist wichtig.“ Das war seltsam, gar nicht Ewalds Art. Er war nun wahrlich kein geheimnisvoller Typ. Aber da sie morgen in der Frühe sowieso joggen wollte, nahm sie sich vor, zum Januarsberg zu laufen.

Sie schrieb nicht zurück, sondern schaltete das Smartphone aus und ging zu Bett. In dieser Nacht schlief sie schlecht und als sie morgens aufstand, fühlte sie sich unwohl. Sie kochte sich einen großen Becher Kaffee und klappte ihr Tablet auf. Auf der Seite der Tageszeitung loggte sie sich ein und öffnete das E-paper. Auf der dritten Seite stand ein kurzer Artikel über den Mond, genauer gesagt über den Vollmond, wie er letzte Nacht gewesen war. Der Himmelskörper befand sich aktuell verhältnismäßig nah an der Erde. Deshalb solle der Vollmond besonders gut zu sehen sein und außergewöhnlich hell scheinen. Dies könne sich teilweise auf die Gemüter der Menschen auswirken, hieß es in dem Bericht.

Das war es also, dachte sie. Wer weiß, was Ewald sich gedacht hatte. Sie genoss ihren Kaffee, zog sich ihre Laufkleidung an und ging vor die Tür. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, aber es war schon fast taghell. Sie steckte Hausschlüssel und Smartphone ein und trabte langsam los. Von ihrer Wohnung bis zum Januarsberg waren es knapp zweieinhalb Kilometer, also mit der Überquerung des Aussichtspunktes eine schöne Runde für einen Morgenlauf. In den Straßen war es noch ruhig. Sie lief am Lebensgarten vorbei über den Rosenanger in den Wald hinein. Tau hatte sich auf die Landschaft gelegt und ihre Fußspitzen wurden auf dem Waldweg feucht. Ihr Thermometer hatte zwölf Grad angezeigt, deshalb hatte sie vorsichtshalber die langärmelige Laufjacke angezogen. 

Als sie an dem Querweg unterhalb des Januarsberges ankam, sah sie ein Fahrrad an einer Kiefer stehen. Im Näherkommen erkannte sie, dass es das von Ewald war. Sie lief daran vorbei und schlug den direkten Weg zum Aussichtspunkt ein, auch wenn sie wusste, dass dies die steilste Strecke nach oben war. Eigentlich nahm sie zum Laufen lieber einen der seitlichen Wege, denn diese waren zwar länger, aber weniger stark ansteigend. Den Tau auf dem Sattel des Rades bemerkte sie nicht. 

Sie nahm die erste kurze Steigung ziemlich schnell, bemerkte nach dem Anstieg aber, dass ihr Puls deutlich in die Höhe schoss und deshalb trippelte sie das nächste Stück nur langsam weiter. Als sie aus dem Wald heraus kam, beschleunigte sie ein wenig, doch für die zweite Steigung verkürzte sie ihre Schritte. Sie blickte zum Aussichtsturm, doch Ewald konnte sie nicht sehen. Vielleicht war er hinter dem Turm unter den Bäumen. Iris kam schnaufend oben an, ging an der kleinen Mauer mit den Richtungshinweisen vorbei und wandte sich der Treppe des Turms zu. 

Dort entdeckte sie einen großen dunklen Fleck auf dem Boden. War das Blut? Sie sah sich um, blickte auf die Wege und die Heidefläche, doch sie fand Ewald nicht. So betrachtete sie erst mal genauer diesen seltsamen Fleck. Es sah so aus, als hätte jemand etwas dort fortgeschleift, in Richtung der Bäume. Iris folgte der Schleifspur und erstarrte. Unter den Kiefern lag jemand. Mit ein paar schnellen Schritten war sie dort und erkannte Ewald. Er lag auf dem Bauch, in der Kleidung, die er gestern angehabt hatte. Auf seinem Rücken sah sie ein Loch. Sie beugte sich zu ihm herab, fasste seine Schulter an, zog vorsichtig daran. Er war steif. Sie richtete sich auf und Panik erfasste sie, während sie nach ihrem Telefon kramte. 

„Iris?“, ertönte eine Stimme hinter ihr. Das Blut gefror ihr in den Adern. Langsam drehte sie sich um. „Du?“, war das einzige was sie sagen konnte. Etwas schlug durch ihren Kopf, brach durch die Stirnhöhle, grub sich mit rasender Geschwindigkeit durch ihr Gehirn, brachte alles, was in ihrem Geist geschah, in einem Sekundenbruchteil zum Stillstand und riss ein Loch in ihren Hinterkopf. Sie brach zusammen wie ein Hochhaus nach einer Sprengung. Ihr Kopf fiel nach hinten, die Beine knickten ein. Sie fiel rücklings schräg auf den kalten Körper ihres Gelegenheitsliebhabers. 

2. Farben und Tapeten

Mein Urlaub war seit zwei Tagen beendet, aber ich hatte mir noch eine dienstfreie Woche erbeten, um in unserem neuen Haus weiterarbeiten zu können. Es war ja nur zur Hälfte ein Neubau: Wir hatten ein altes Haus gekauft, das komplette Obergeschoss abgerissen und inzwischen ein neues wieder erbaut. Von außen sah alles schon ganz gut aus: Das Dach war fertig, die Fenster ordentlich eingebaut und innen waren die Trockenbauer auch schon mit ihrer Arbeit durch. Ich hatte überall Kabel verlegt und nun galt es, zunächst unten im Erdgeschoss fertig zu werden. Deswegen war ich seit zwei Tagen fieberhaft dabei, Kabelschlitze in den Wänden wieder mit Putzmasse zu verspachteln, weil meine liebe Ehefrau Britta schon sehnsüchtig darauf wartete, Tapeten ankleben und Decken streichen zu können. 

Ich war guter Dinge, mein Tun so strukturieren zu können, dass ich am letzten freien Tag mit den Spachtelarbeiten fertig werden würde und ich genau zum Start der Malerarbeiten wieder zum Dienst müsste. Mit Farben und Tapeten kann man mich in die Flucht schlagen. Ich glaube, wenn ich mal in die Hölle kommen würde, stünden dort kilometerlange Tapeziertische und ich müsste über Äonen dünne Raufasertapeten über klemmende Kleistermaschinen ziehen und dann den ständig einreißenden, schlecht gekleisterten Tapetenhaufen auseinanderpulen und versuchen, die Fetzen an schiefe Wände mit bröckeligem Putz zu kleben. 

Oder es stünden dort unendliche Mengen an halbvollen, schlecht gerührten Eimern mit Wandfarbe, die ich mit klemmender und glitschender Rolle auf alte Raufasertapeten, von denen sich die Späne lösen, auftragen müsste. Natürlich würde die Farbe niemals decken, aber sogar noch auf Kniehöhe spritzen und tropfen. Vielleicht übertreibe ich gerade ein wenig, aber: Tapezieren und Anstreichen ist wirklich nicht mein Ding, da mache ich lieber im Streifendienst Vertretung in der Verkehrsüberwachung.

Zum Glück sah meine liebe Britta das anders. Sie fuhr schon mit Begeisterung los, um Farben und Tapeten einzukaufen. Mit dem gleichen Enthusiasmus kam sie dann auch nach Hause, um mir stolz ihre Errungenschaften zu präsentieren und zu erläutern, wo und wie welche Tapeten an die Wände geklebt werden würden. Und wie man es von einem echten Kerl erwartete, gelang es mir recht gut, die Begeisterung zunichte zu machen. Aber was konnte ich denn dafür? Mich faszinierten vielleicht große Kalksandsteinblöcke oder geschälte Baumstämme als Wandoberflächen. Oder auch pures Gestein wie in einer Tropfsteinhöhle. Aber Tapeten? 

Gut, es gibt ja Kompromisse. So fand sie tatsächlich Tapeten mit Bäumen, also mit Mustern die den Formen von Bäumen ähnlich sehen. Ich meine von Laubbäumen im Winter, nicht mit Weihnachtsbäumen, sondern mit kahlem Gestrüpp. Nein, so ist es auch nicht. Ich denke ich verzettele mich hier. Also freute mich einfach, dass meine Frau sich freut und versuchte, ihr das irgendwie klar zu machen. Es schien für sie dennoch nicht ganz dasselbe zu sein, als würde ich mich ehrlich für die Tapeten begeistern.

Zum Glück hat sie mit ihrer Mama jemanden an ihrer Seite, der das Zeug auch noch gerne an die Wand klebt. So jemanden zu haben, sollte einen Mann wie mich sehr dankbar sein lassen. Ich hingegen hatte im Rahmen dieser Konversation um Farben und Tapeten den hoffnungsvollen Gedanken, dass mich doch vielleicht irgendein dienstlich relevantes Geschehen ganz plötzlich voll beanspruchen könnte. Vielleicht mal eine Serie von Einbrüchen oder Stress an einer Schule, wo es mal wieder einer umfassenden Polizeiarbeit bedurfte. 

Bislang war so etwas jedoch  nicht zu erwarten. Also war ich froh, dass zumindest noch Kabelschlitze in den Wänden offen waren und ich noch ausreichend Putzmörtel hatte. Britta hatte auch frei genommen und war damit beschäftigt, meine Spachtelarbeit noch weiter zu glätten. Wir arbeiteten in verschiedenen Räumen und ich sah sie nur, wenn ich neuen Mörtel anrühren musste. Irgendwann bekam ich Durst und wollte Britta fragen, ob sie Lust auf einen Kaffee hatte. Ich ging also in das alte Gästebad, welches noch funktionierte und wusch mir die Hände. Dann kramte ich mein Telefon aus meiner Tasche, die ich in die Garage gestellt hatte, damit sie nicht so viel Staub abbekam.  Ich entdeckte zwei Anrufe in Abwesenheit, einmal von meinem Vorgesetzten Hansi und einmal eine Nummer der Polizeidienststelle Nienburg, die ich aber nicht direkt zuordnen konnte. Ich tippte auf die Nummer von Hansi und wartete. Es dauerte nicht allzu lange, bis er sich meldete.

„Moin Paul! Bist Du gerade schwer beschäftigt?“ „Wie man's nimmt“, gab ich zurück. „Wir sind auf unserem Bau und ich stehe kurz davor, große Angst zu bekommen.“ Hansi stutzte. „Große Angst? Was ist denn passiert?“, erkundigte er sich mit besorgtem Tonfall, sodass ich lachen musste. „Nee, es ist alles ok. Ich bin mit meinen Kabelschlitzen fast fertig und nun fürchte ich, dass ich beim Tapezieren dabei sein muss. Das könnte morgen schon losgehen.“ Da könne er mich beruhigen, erwiderte Hansi. „Wir brauchen dich so schnell wie möglich hier. Also eigentlich nicht wir, sondern wieder die Moko. Es gibt einen Doppelmord in Steyerberg, genauer gesagt oben am Januarsberg.“ Nun war ich erst mal einen Moment sprachlos. „Am Januarsberg? Das gibt's ja nicht. Jetzt gerade aktuell?“ Hansi bestätigte das. Es sei heute gegen 9 Uhr gemeldet worden. „Ein Mann und eine Frau, offenbar erschossen. Das Team der Kriminaltechnik ist vor Ort und die Moko wurde wieder aufgerufen. Es wird vermutlich wieder bei uns in Stolzenau rundgehen, Jan Falkenhalter ist schon hier. Er hat jetzt wohl den Hut auf. Dich sollte ich alarmieren, Angela Siebenstein ist erreicht worden und bei Andre Schneider soll ich auch noch anrufen. Thomas Schmäding und Siggi Roland haben noch Urlaub, Du hast ja nur dienstfrei und...“

Das sei kein Problem sagte ich ihm. „Ich muss nur einmal nach Hause unter die Dusche und dann komme ich her. Gib mir eine Stunde. Oder ich fahre direkt da hin, liegt ja auf dem Weg. Wer macht denn die Tatortarbeit?“ Carsten Ziller aus unserem Team sei bereits hingefahren, aus Nienburg erwarte man noch Martina Felden. „Und die Frau Dr. Gorssen von der Rechtsmedizin weiß auch schon Bescheid. Die wollte ebenfalls herkommen, aber nochmal anrufen wenn sie losfährt. Von mir aus kannst Du da auch direkt hinfahren.“ Ich sagte ihm zu, kurz nach Hause und anschließend umgehend zum Tatort zu fahren. 

Dann ging ich zu Britta und verkündete ihr die Botschaft. Irgendwie kam sie mir auf die Schliche, dass es mir doch nicht so leid tat, wie ich vorgab. Sie grinste mich an. „Gib doch zu, dass du froh bist, dass Hansi dich angerufen hat. Ich merke doch, dass du hier keinen Bock mehr hast.“ Ich musste irgendwie einlenken. „Ja, Süße, du hast mich mal wieder ertappt. Mir hängt diese Schmiererei hier so zum Hals raus. Außerdem bin ich ja fast fertig. Jetzt muss ich aber nach Haus und du musst eben mit, du kannst ja dann mit dem Auto wieder herfahren.“

Wir ließen also einfach alles stehen und liegen, setzten uns in meinen alten Bulli und fuhren nach Hause. Ich flitzte in die Dusche, danach zog ich mir diensttaugliche Klamotten an und nahm unseren Ford, Britta wollte mit dem Bulli wieder zur Baustelle fahren. Natürlich vergaß ich, mir was zum Essen und Trinken mitzunehmen. 

3. Tatortarbeit

50 Minuten nach Hansis Anruf kam ich am Januarsberg an. Es war kurz nach 11 Uhr. Ich ließ unser Auto ein wenig abgesetzt von den ganzen Dienstwagen stehen. Nun fiel mir auf, dass ich Hansi gar nicht gefragt hatte, wo am  oder auf dem Januarsberg der genaue Tatort war. Zum Glück waren unten am Zugangsweg zum Aussichtsturm zwei Kolleginnen vom Streifendienst, die mich nach oben zum Turm schickten. 

Ich begab mich zügigen Schrittes die beiden Anstiege, die von einem kurzen flachen Stück getrennt waren, hinauf und sah dort das ganze Aufgebot. Es war schon alles mit Trassierband abgesperrt. An den Zuwegungen zu dem kleinen Holzturm standen Kollegen in Uniform. Und, man sollte es kaum glauben, da stand auch schon ein Team von Nonstopnews mit Kamera. Woher die das nur schon wieder gehört hatten, frage ich mich staunend. Aber egal, die machten auch nur ihre Arbeit. 

Ich begrüßte den Kollegen an der Absperrung und auch die Journalisten, die mich fragend anschauten. Ich kroch unter dem rotweißen Absperrband hindurch und zog mir nebenbei Einweghandschuhe an. Es war schon ein Weg markiert, den man benutzen sollte. Daran hielt ich mich. Ein Stückchen hinter dem Holzturm sah ich dann die anderen. Carsten Ziller hatte schon einen Bereich mit Sprühfarbe gekennzeichnet, wo sich alle aufzuhalten hatten, die an die Fundstelle der Leichen nah heran durften.

Ihn selber sah ich, mit seiner Kamera bewaffnet Fotos machen. Die Leichen lagen noch beide dort, ein Körper schräg über dem anderen. Plötzlich fing Carsten an zu winken, aber nicht zu mir, sondern in Richtung des Weges, über den auch ich gekommen war. Ich drehte mich um und sah Martina Felden mit ihrem großen Ausrüstungstrolley den Berg hochstapfen. Ich wollte gerade umdrehen, um ihr zu helfen, als der Kollege an der Absperrung schon lostrabte und ihr den Trolley abnahm. 

Das Kamerateam blieb artig an der Absperrung, nahm aber natürlich Martina gleich neugierig ins Visier. Die schenkte den jungen Männern überhaupt keine Beachtung, sondern nahm dem Kollegen den Trolley wieder ab und ging weiter. Carsten eilte ihr jetzt entgegen. Die beiden waren zusammen, benahmen sich aber im Dienst äußerst professionell, es gab nicht mal ein Küsschen. 

Ich selber war an der Sammelfläche angekommen. Das Ganze erinnerte mich irgendwie an einen dieser Raucherplätze auf Bahnhöfen. In diesem Viereck standen noch zwei uniformierte Kollegen. Einer davon war Cord Breitscheid, der Dienststellenleiter aus Stolzenau, die andere war eine Kollegin aus dem Streifendienst. Cord begann sofort, mich in die Lage einzuweisen. 

„Guten Morgen Paul, toll, dass du so spontan herkommen konntest. Ich hatte mit Hansi abgesprochen, dass ich erst mal hier bleibe und die eintreffenden Kollegen einweise. Wir haben die Moko aufgerufen und Hansi kümmert sich in Stolzenau um die Organisation. Wir haben vier Streifenteams zur Unterstützung bekommen und sichern zunächst den ganzen Hügel ab. Die Leichen wurden von einer jungen Frau gefunden, die hier über den Hügel gelaufen ist. Sie heißt Marie Seemeyer, kommt aus Steyerberg. Kalle Prissek und Sören Klüssmeyer waren vorhin kurz hier und haben sie mit nach Stolzenau genommen, um sie zu vernehmen. Das heißt, sie sollten sie erst nach Hause begleiten, damit sie sich umziehen konnte“, berichtete er. 

„Die junge Frau war ziemlich schockiert“ erzählte Cord weiter. „Sie hat gleich einen Notruf abgesetzt, die Sanis und ein Notarzt waren dann auch hier, sind aber schon wieder weg. Wir haben alle Daten notiert und sogar die Schuhsohlen fotografiert. Carsten hat hier jetzt erst mal das Sagen. Bezüglich der Leichen kann ich dir nicht ganz viel berichten, weil Carsten mit dem Notarzt und den Sanis gesprochen hat. Ich weiß nur, dass der Mann vermutlich schon etwas länger tot ist und dass offenbar beide erschossen wurden. Der Mann hat wahrscheinlich eine Schussverletzung in der Brust, die Frau am Kopf. Außer der jungen Frau Seemeyer wurde hier bisher niemand angetroffen. Ob unten am Weg Leute bei den postierten Kollegen waren, weiß ich aktuell nicht. Die Jungs von Nonstopnews haben über den Rettungsdienst Wind bekommen. Wir haben da vorne, bei Dirk und Michael die Sammelstelle für Presse angedacht.“

Dabei deutete er auf die beiden Kollegen am Rande der Absperrung, wo immer noch die beiden jungen Männer mit der Fernsehkamera standen. „Ok“, bestätigte ich. „Haben wir schon Personalien zu den Leichen?“ Cord überlegte kurz. „Mein Stand ist, dass der Mann hier aus Steyerberg kommt, er muss wohl Papiere dabei haben. Die Frau ist, glaube ich, noch nicht identifiziert, aber sie trägt Joggingklamotten, dürfte also aus der Nähe stammen. Das Weitere müsstest du Carsten fragen. Eins fällt mir gerade noch ein, Hansi sagte mir, er habe diese quirlige Rechtsmedizinerin erreicht, wie heißt sie doch noch?“

Ich musste grinsen, quirlig passte gut zu ihr. „Du meinst Nina Gorssen, also Frau Dr. Gorssen?“ Cord nickte. „Ja genau die, die hatte er erreicht und sie wollte sich auf den Weg machen. Ich weiß aber nicht wann die eintreffen wollte, und schlage vor, du telefonierst gleich nochmal mit Hansi, der wird dir vielleicht schon mehr sagen können.“

Ich folgte seinem Vorschlag, zog mich ein bisschen zurück und setzte mich mit Telefon und meinem Klemmbrett auf den mit Heide bewachsenen Boden. 

Ich erreichte Hansi sofort. „Hallo Paul, bist du schon am Tatort?“, meldete er sich. „Ja, Cord hat mich schon so weit eingewiesen.  Mit Carsten habe ich noch nicht gesprochen, Martina ist vor ein paar Minuten eingetroffen. Die legen jetzt erst mal richtig los. Gibt es bei dir schon was Neues?“

In der Tat war man schon weiter gekommen. „Ja, wir wissen schon, wer die Frau vermutlich ist, jedenfalls wenn sie die Inhaberin des Handyanschlusses ist. Carsten hatte mir vorhin die Gerätenummer von dem Handy genannt, das sie in der Jackentasche hatte. Darüber habe ich Personalien bekommen. Es müsste dann eine Iris Rempner sein, die in Steyerberg wohnt. Sie ist da gemeinsam mit einem Mann gemeldet, einem Mark Rempner. Die Gemeinde schickt mir gleich die Ausweisdaten mit Passbildern von beiden.“

Außerdem habe Frau Dr. Gorssen vor zehn Minuten angerufen. „Da war sie schon von der Autobahn in Wunstorf runter und stand wohl gerade an der Ampel. Die müsste dann in einer halben Stunde bei euch sein. Andre Schneider hab ich auch erreicht, der hatte ebenfalls dienstfrei und kommt dann zur Dienststelle nach Stolzenau. Jan richtet gerade noch euren Arbeitsraum mit ein, den halte ich soweit auf dem Laufenden. Er hat zwischendurch mit dem Dr. Gassmüller von der Staatsanwaltschaft telefoniert. Der kümmert sich wohl schon um alle möglichen Gerichtsbeschlüsse. Mehr hab ich nicht.“

Das war eine erstaunlich Menge an Daten. „Weißt du auch was aus der Vernehmung der jungen Frau?“, wollte ich noch wissen und erfuhr, dass Sören und Kalle noch in der Vernehmung seien. Bislang wusste er nur, dass sie beim Joggen da oben lang gelaufen sei und dann die beiden Leichen gefunden habe. Und sie habe wohl niemanden gesehen, auf ihrem Weg auf den Berg. 

„Was wirst du jetzt machen?“, fragte er. „Ich spreche gleich mit Carsten durch, wie wir vorgehen. Wenn Frau Dr. Gorssen sowieso in einer halben Stunde da sein wird, werden wir an den Leichen jetzt nichts mehr verändern. Cord sagte, beide hätten Schussverletzungen. Wir brauchen hier also noch einen Sprengstoffsuchhund, besser noch zwei, für die Suche nach den Patronenhülsen. Und ich halte es für sinnvoll, den Hubschrauber herzuschicken, für Übersichtsaufnahmen. Kannst du das anleiern? Ach, und was ist mit unserer Pressesprecherin, kommt die auch hierher? Das wäre jedenfalls sinnvoll. Von Nonstopnews sind schon zwei Jungs hier, dann werden wir auf die BILD und einige andere auch nicht lange warten müssen.“

Es entstand eine kurze Pause, bis Hansi weiter redete. „So, ich hab mir gleich was notiert. Hunde, Hubschrauber, Pressestelle. Ich werde sehen, was wir hinkriegen, aber es ist ja Wochentag, da müsste das alles klappen. Ich melde mich wieder.“

Damit endete unser Telefonat. Ich schrieb mir kurz auf, was wir abgesprochen hatten und stand wieder auf. Ich sah zu Carsten hinüber, wartete einen Moment bis er herüber blickte und winkte ihm zu. Er kam zu uns. Ich berichtet ihm und Cord kurz, was ich mit Hansi besprochen hatte, dann verließ ich den Absperrbereich und folgte Carsten auf dem markierten Gehpfad zu den Leichen.

„Der Notarzt hat kaum etwas verändert“, erklärte Carsten mir. „Die Frau ist noch nicht so lange tot wie der Mann. Der Arzt hat nur bei beiden den sicheren Tod festgestellt, die Lage aber nicht verändert.“ Ich nickte. Was ich da sah, erschien seltsam. Die Leichen lagen übereinander, der Mann unten, die Frau oben. Er lag auf dem Rücken, gerade ausgestreckt, die Arme links und rechts abgewinkelt. Die Frau lag bäuchlings über ihm, die Beine leicht gespreizt, mit ihrem Oberkörper auf seinem, ihr Gesicht an seinem Hals. Er trug eine Jeanshose und ein Langarmshirt, sie enge Joggerkleidung. Sie lagen dort, als würden sie gerade übereinander herfallen. Wenn sie nicht so reglos und blass wären. Und das große blutige Loch im Hinterkopf der Frau passte auch nicht zu dieser Pose. Sollten sie in dieser Position erschossen worden sein? Das konnte nicht sein. 

Ich wandte mich an Carsten. „Weißt du, ob die hier so gelegen haben? Das sieht ja aus als ob die...“, setzte ich an. Ich sprach es nicht aus, sondern sah ihn nur fragend an. Er fasste sich ans Kinn, so wie ich es von ihm kannte.

„Ja, das kam mir auch schon komisch vor“, sagte er. „Aber es soll so gewesen sein. Der Notarzt hatte mir vorhin gesagt, er habe absichtlich nichts an der Position verändert, weil ihm das auch sehr sonderbar erschienen war. Er hatte da seine Apparate an die Körper angeschlossen, den Tod festgestellt und dann aber nichts mehr gemacht. Wir haben auch noch nichts weiter verändert. Ich hab nur vorhin gleich gesehen, dass die Frau in der Jackentasche auf dem Rücken ein Smartphone hatte. Das hab ich da raus genommen und die Daten, die ich sehen konnte an Hansi weitergegeben. Bei dem Mann hatte ich an die Gesäßtaschen gefasst und seine Börse gefunden, die Kalle und Sören schon mitgenommen haben. Der Name des Mannes ist Ewald Vogel, wohnhaft in Deblinghausen. Die Nina Gorssen kommt ja her, darum wollten wir noch gar nichts verändern.“

Das konnte ich nachvollziehen. „Die müsste übrigens vermutlich spätestens in einer halben Stunde hier sein, ich habe eben mit Hansi telefoniert und dort hatte sie angerufen, als sie bereits in Wunstorf war. Hansi hatte auch schon Personalien zu den Handydaten, eine Iris Rempner. Ich hab ihn noch gebeten, bei der Hubschrauberstaffel anzurufen, wegen Fotos und bei den Hundeführern wegen der Suche nach Patronen. Und ich habe vorgeschlagen, unsere Pressesprecherin herzubestellen – wer weiß, wann hier der große Trubel losgeht.“ 

Ich fragte ihn nach seinen Planungen. „Also ich hab das mit Martina so abgesprochen: Wir haben hier die Gehpfade und den Aufenthaltsbereich markiert. Du kennst das doch, mit den Gehpfaden für die Leute, die am Tatort herumlaufen dürfen?“ Ich nickte nur und er fuhr fort. „Ich mache jetzt Fotos von den Leichen in der Position wie sie liegen. Martina kümmert sich um die Schuhspuren, wir haben ja Abdrücke von ihren und von seinen Spuren hier auf der Erde, du siehst ja, wo überall schon Schilder stehen. Naja, und da suchen wir gleich noch mit unseren Gerätschaften nach Blutspuren. Wenn Nina da ist, kümmern wir uns zusammen um die Leichen, ich mache Fotos, Martina sichert die Spuren und Nina macht die Leichenschauen.“

Ich stutzte, weil er Frau Dr. Gorssen mit Vornamen nannte. „Seid ihr per du?“, fragte ich neugierig.  „Ja, wir kennen uns ja schon lange,“erklärte Carsten. „Aha,“ meinte ich, „ich glaube, ich verlasse euch erst mal, weil ich ja eigentlich hier im Moment nichts tun kann.“ Jan sei in Stolzenau schon dabei, die Moko einzurichten, Angela komme auch dorthin, ebenso Andre Schneider. „Die junge Frau, die den Tatort entdeckt hat, wird gerade noch vernommen, wenn die noch da ist, würde ich wohl gerne gleich noch selbst mit ihr reden“, nannte ich einen weiteren Grund für meinen Aufbruch.

„Ich denke mal, dass Frau Dr. Gorssen hier draußen nur das Nötigste machen und die Leichen möglichst schnell obduzieren wird. Gleich kümmer ich mich mal um den Bestatter. Weißt du, ob wir in Stolzenau schon ein paar Fotos von hier haben?“ Carsten nickte. „Ja, Sören hatte vorhin die kleine Digicam dabei und hat ein paar Aufnahmen gemacht. Er wollte die auf der Dienststelle gleich auf CD brennen. Um einen Bestatter wollte sich Hansi eigentlich schon kümmern. Ich hatte ihn gebeten, einen zu informieren, aber noch nicht herzubestellen. Das muss ja noch nicht sein, wenn wir hier noch ein bis zwei Stunden brauchen, muss der ja nicht warten. Kannst ihn ja gleich nochmal drauf ansprechen.“

Wie auf Bestellung klingelte mein Telefon, es war Hansi. „Hallo Paul, ich hab schon ein paar Dinge erreicht. Der Hubschrauber startet gleich und die Pressesprecherin auch. Ich hab auch den Bestatter in Steyerberg erreicht. Der hält sich bereit und ich habe ihm das Versprechen abgenommen, dass er keine Infos rausgibt. Presse ist zwar schon da, aber es muss jetzt ja nicht mehr sein, wenn es sich vermeiden lässt. Die Hunde sind informiert, müssen das aber erst mal intern klären – die Kollegin am Telefon wusste nicht sofort, welche Hundeführer gerade im Dienst sind. Die melden sich aber wieder. Wie ist jetzt dein Plan?“

Ich berichtete ihm, was ich mit Carsten besprochen hatte und bat darum, die junge Frau noch da zu behalten. Damit verließ ich erst mal den neuen Tatort und ging zurück zum Auto. Die Jungs von Nonstopnews fragten mich, ob ich schon mehr sagen könnte. Ich teilte ihnen lediglich mit, dass wir hier wegen Verdacht des Mordes an zwei Menschen ermitteln würden. In Kürze würden ein Hubschrauber und jemand von der Rechtsmedizin eintreffen. Mehr sagte ich nicht, damit stand aber fest, dass sie vorerst hier bleiben und uns nicht auf der Dienststelle belagern würden. Die beiden waren nett und bedankten sich. 

Ich begann sofort, über das Gesehene zu grübeln. Als ich wieder unten am Weg ankam, saßen die beiden Kolleginnen im Streifenwagen und bewachten den Zugangsweg. Mir fiel ein Herrenfahrrad auf, das an einer der Kiefern angeschlossen war. Ich sprach die beiden darauf an. Das Fahrrad hatte bislang noch niemand so richtig beachtet. Deshalb schlug ich vor, einen kleinen Bereich um das Rad abzusperren, damit die Kriminaltechniker es auch noch untersuchen konnten. Ich konnte mir vorstellen, dass es zu dem Toten oben auf dem Berg gehörte. Mit Hilfe der beiden Kolleginnen zog ich Trassierband um die nächsten Bäume rund um das Fahrrad und bat die beiden, den Bereich mit zu überwachen. Dann rief ich nochmal kurz Carsten an und erzählte ihm davon. Er bedankte sich und versprach, dass er und Martina sich darum kümmern würden, wenn sie oben fertig waren. Ich machte noch ein paar Fotos mit dem Smartphone und ging dann zum Auto.

Da war er also, der nächste Fall, womit sich alle Heimwerkerarbeiten für die nächsten Tage bis Wochen mit einem Schlag erledigt hatten. Ein Doppelmord auf dem Januarsberg und irgendwie hatte ich eine Vorahnung, dass es kein leichter Fall werden würde. Die Opfer waren offenbar erschossen worden, also aus der Distanz heraus getötet, wie groß diese gewesen sein muss, ließ sich nur vielleicht durch genaueste Untersuchungen bestimmen. 

Und die Leichen lagen übereinander, als ob sie Zärtlichkeiten austauschen würden. War das ein Zufall? Zufälle gab es bei Mord selten, wenn auch nicht alles geplant und durchdacht sein musste, hatte doch das allermeiste, was irgendwie auffiel, auch einen Grund. Ich musste aufpassen, dass ich erst einmal objektiv blieb und nicht von Anfang an etwas in meine Wahrnehmungen hinein interpretierte. Doch natürlich konnte ich meine Gedanken nicht ausschalten.

Ich setzte mich ins Auto und fuhr los. In meinem Kopf ratterte es. Die Frau lag mit dem Bauch auf dem Oberkörper des Mannes. Im Hinterkopf hatte sie ein hässliches großes Loch. Das musste das Ausschussloch sein, also hatte man ihr von vorn in den Kopf geschossen. Dazu passte ihre Lage schon mal nicht: Wenn jemand mit einem Kopfschuss getötet wird, reißt ihn die Energie des Geschosses eigentlich nach hinten, zumindest den Kopf. Und wenn er dann fällt, fällt er nicht gerade nach vorn, zumindest nicht, wenn er so ein Loch im Hinterkopf hat, wie es der Leichnam der Frau zeigte. Warum lag sie trotzdem so auf ihm? Ich hatte sein Gesicht vorhin nicht gesehen, deshalb konnte ich nicht einmal sagen, ob ich ihn vom Sehen her kannte. Der Name der Frau war mir noch nie begegnet. 

So fantasierte ich während der Fahrt über einen möglichen Tathergang und merkte kaum, dass ich bei der Dienststelle ankam. Ich fuhr auf den Parkplatz und sah gerade ein Audi-Cabrio einparken. Andre traf auch ein. Das freute mich. Wir hatten uns seit dem letzten Fall gar nicht mehr gesehen. Irgendwie hatte ich mich schon daran gewöhnt, ständig mit ihm unterwegs zu sein. Das war jetzt zwar erst gut vier Wochen her, aber die gemeinsame Arbeit mit ihm hatte mir ein wenig gefehlt. Er hatte mich nicht bemerkt und so trafen wir uns am Eingang.

„Moin“, begrüßte ich ihn. „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Mit einem Grinsen grüßte er zurück: „Moin, man hat hat mich herbestellt, habe gehört, hier liegt ein schwerer Fall vor und man schafft es nicht ohne mich!“ Wir mussten beide lachen. Ich schloss die Tür auf und wir gingen erst mal schnurstracks in unsere altbekannten Räumlichkeiten. Jan hatte sich bereits hinter mehreren Monitoren häuslich eingerichtet und sah uns mit großen Augen grinsend an. 

„Oh, Waldorf und Stadler sind wieder vereint. Guten Tag und herzlich willkommen“, waren seine Begrüßungsworte. „Moin, ich sehe das Krümelmonster, aber wo sind die Kekse?“, entgegnete ich. Nach dem kurzen Begrüßungsschwätzchen machte ich mich schnell auf den Weg zu Hansi und dem Vernehmungsteam. Hansi saß in seinem Büro und telefonierte. Als er mich sah, nahm er den Hörer vom Ohr. „Warte mal“, sagte er zu der Person am anderen Ende der Leitung und sah mich an. „Kalle und Sören sitzen gegenüber und warten schon auf dich. Die Frau Seemeyer ist noch drin.“ Ich nickte und drehte mich zur Tür gegenüber um. Auf mein Klopfen ertönte ein lautes „Ja, bitte!“.

Ich betrat Kalles Büro. Es war klein und eng und mit drei Leuten war es schon knapp. Zu viert wurde es richtig kuschelig. Sören und Kalle saßen beide an Kalles Schreibtisch, ihnen gegenüber eine sehr verschüchtert wirkende junge Dame. Ich gab ihr die Hand zur Begrüßung. „Guten Tag, Frau Seemeyer. Mein Name ist Paul Voss, ich bin ein Kollege von Herrn Prissek und Herrn Klüssmeyer. Ich gehöre der Mordkommission an und würde mich auch noch einmal kurz mit Ihnen unterhalten wollen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ An die anderen beiden gewandt fragte ich: „Was meint ihr, wie lange es noch dauern könnte?“ „Eigentlich sind wir soweit fertig“, antwortete Kalle. „Wir hatten vorhin schon die Schuhe abfotografiert und eine Speichelprobe genommen, Frau Seemeyer hat da netterweise eingewilligt. Ich kann die Vernehmung jetzt auch schließen.“

Das passte mir gut. Ich bedankte mich bei den beiden und bat, dass sie im Moko-Raum kurz Bescheid sagen würden, wenn sie soweit waren. Mir war klar, dass die arme Zeugin vermutlich gleich ein paar Dinge ein zweites Mal erzählen musste, aber für Andre und mich war es einfach sinnvoll, von ihr ihren ersten Eindruck direkt zu hören.

Kaum war ich unten angekommen, klingelte Jans Telefon. Ich ging also noch einmal nach oben und holte Frau Seemeyer dort ab. Wir setzten uns zu dritt mit ihr in den Arbeitsraum. Das war eigentlich untypisch, aber es war ganz gut, wenn wir alle einmal ein erstes Bild von der Zeugin vermittelt bekamen. Im Grunde konnte sie gar nicht viel sagen. Sie hatte ihre Laufrunde um 8.45 Uhr begonnen. Die verlief üblicherweise über den Januarsberg.

Eigentlich hatte sie noch die Stufen zum Aussichtspunkt mitnehmen wollen, hatte dann aber die beiden Leichen gesehen. Zuerst hatte sie gar nicht bemerkt, dass beide tot waren. Ihr erster Gedanke war, dass die beiden sich da küssen würden und sich fast ihres Aufkreuzens geschämt, doch dann merkte sie, dass sich beide gar nicht bewegten und sah von oben nochmal hin. Dabei fiel ihr das Loch im Hinterkopf der Frau auf. Sie lief hin, traute sich dann nicht mehr weiter heran und rief den Notruf an. Dann rannte sie den Berg hinunter zum Weg, wo sie aber wartete. Sie war dort niemandem begegnet und hatte auch nichts gehört.

Wir stellten ihr keine weiteren Fragen, sondern erkundigten uns, ob Kalle oder Sören die Dame nach Hause bringen würde. Der 24jährige Sören erledigte das gern, was wir amüsiert zur Kenntnis nahmen.

Es klingelte an der Tür und ich sah aus dem Fenster: Angela war angekommen. Ich ging zur Eingangstür und ließ sie herein. Nun waren wir, soweit es möglich war, erst mal komplett und wir setzten uns in unserem Moko-Raum zusammen. Da ich als einziger schon am Tatort gewesen war, erzählte ich noch einmal in aller Kürze, was passiert war. Sören hatte mir eine CD in die Hand gedrückt, darauf waren knapp 20 Fotos, die er und Kalle vorhin vor Ort geschossen hatten. Ich listete noch auf, was ich mit Carsten abgesprochen hatte und sah dann Jan fragend an. Er übernahm das Zepter.

„Ja, was soll ich sagen? Ich begrüße euch hier zu unserer neuen Moko. Irgendwie hat man mir hier seitens der höheren Führung mal den Hut aufgesetzt – ihr müsst mir also alle brav gehorchen.“ Er zwinkerte uns zu. „Ich kenne  aber auch noch nicht mehr Fakten als die, die Paul eben erzählt hat. Herr Dr. Gassmüller weiß schon Bescheid und wartet darauf, dass wir sichere Personalien von der toten Frau bekommen. Bei ihr gehen wir ja schon davon aus, dass es sich um Iris Rempner, wohnhaft in Steyerberg, handelt. Das ist jedenfalls die Anschlussinhaberin zu dem Telefon, was Carsten bei ihr gefunden hat. Der Mann heißt Ewald Vogel, er hatte sein Portemonnaie dabei, das Carsten vorhin auch schon entdeckt hat. Er wohnte in Deblinghausen. Dr. Gassmüller wollte sich, wie üblich, sofort um alle möglichen Beschlüsse kümmern: Durchsuchung bei den Toten, Funkzellen- und Telefondaten zu den Personen und so weiter“, fasst er die ersten wichtigen Infos für uns zusammen.

„Der Polizeihubschrauber ist inzwischen unterwegs. Die sollen vor allem Fotos von oben machen. Dann brauchen wir Sprengstoffsuchhunde, um nach Patronenhülsen zu suchen und eigentlich auch Kollegen mit Metalldetektoren. Außerdem muss der Bereich abgesperrt werden, bis wir mit den Suchmaßnahmen fertig sind. Es ist also einiges zu organisieren und Personal brauchen wir auch noch mehr. Ich habe heute Morgen schon mit Hansi Krause gesprochen, der junge Kollege Sören Klüssmeyer und Carsten Ziller werden erst mal mit in der Moko arbeiten, vielleicht auch noch jemand aus dem Streifendienst. Tommi und Siggi sind beide im Urlaub. Ob einer oder beide danach noch zu uns stoßen werden, weiß ich noch nicht“, gab er einen Überblick über die Situation.

„Als kleine Überraschung für Angela ist geplant, noch jemanden für die Aktenführung zu organisieren. Du sollst also nur ein bisschen Hilfestellung geben, um jemand anders anzulernen. Wahrscheinlich soll das Doreen Beilinger machen, die hat allerdings noch heute und morgen Urlaub. Ich rufe sie aber nachher mal persönlich an“, schloss er seinen kleinen Vortrag.

„Was hältst du denn davon, wenn wir mal nach dem Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung von dem toten Mann fragen? Das könnte man doch zeitnah erledigen, finde ich“, fragte ich Jan. Er überlegte kurz, dann griff er zum Telefon. Ich wusste, dass er Dr. Gassmüller anrief und es dauerte keine zwei Sekunden, da meldete der sich auch schon. „Es geht um den Beschluss zur Wohnungsdurchsuchung bei dem männlichen Opfer“, begann Jan. Weiter kam er nicht, man konnte schon Dr. Gassmüller reden hören. Jan schmunzelte. Mit einem „Ok, bis später“, endete das Telefonat. Jan schob die Mouse an seinem Rechner hin und her und kurz darauf summte der Drucker. „Das ist der Beschluss“, erklärte er grinsend. 

Dr. Gassmüller war also wieder in Topform. Einer sofortigen Durchsuchung bei dem männlichen Opfer stand nichts im Wege. Wir sprachen ab, dass Andre, Angela und ich das übernehmen würden. Jan wollte währenddessen die organisatorischen Dinge voran treiben. Da ich grundsätzlich immer eine Ausrüstung für spontane kleinere Durchsuchungen im Büro bereit liegen habe, konnten wir im Grunde gleich starten. Praktischerweise hatten wir bereits einen Dienstwagen zugewiesen bekommen, den Jan schon mitgebracht hatte. So dauerte es keine zehn Minuten, bis wir im Auto saßen und auf dem Weg nach Deblinghausen waren. 

Wir wussten noch nicht, ob uns da ein Haus, ein Hof oder nur eine Wohnung erwartete und wer vielleicht einen Schlüssel hatte. Deswegen wollten wir es erst einmal so versuchen. Hinfahren, nachschauen und dann weitersehen. Eine Viertelstunde später kamen wir auf ein bäuerliches Anwesen. Ein älterer Herr in entsprechender Bekleidung – einer grauen Hose, Gummistiefeln, grün-weiß-grau kariertem Hemd und Schlapphut – sah uns misstrauisch an. Ich zückte meinen Ausweis und ging zu ihm hinüber.