Mord am Kiessee - Paul Voss - E-Book

Mord am Kiessee E-Book

Paul Voss

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

An einem warmen Sommertag wird die Leiche einer gutaussehenden Frau an einem Kiessee in der Samtgemeinde Mittelweser gefunden, in direkter Nähe des beliebten Weserradweges. Es handelt sich um Tanja Schirtek, eine Ornithologin, die an einem Projekt an den regionalen Kiesseen arbeitete. Die Mordkommission nimmt vom nahe gelegenen Ort Stolzenau die Ermittlungen auf und rätselt, wer überhaupt ein Motiv haben könnte, die junge Frau brutal zu erschlagen. Vieles deutet auf die Tat eines psychisch Kranken hin und - eher zufällig - ergibt sich eine heiße Spur. Doch so einfach, wie es für einen Moment erscheint, wird es für die Ermittler nicht. Wer "Mord im Klosterwald" gelesen hat, wird hier einige Charaktere wiedertreffen, doch handelt es sich diesmal um eine erfundene Geschichte.

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Seitenzahl: 313

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Paul Voss
Mord am Kiessee
Für meine liebe Ehefrau
Impressum:
Paul Voss
Postfach 1246
31587 Stolzenau
www.paul-voss-buecher.de
Inhalt
1. Geister
2. Vögel
3. Auf dem Bau
4. Am See
5. Die blonde Hexe
6. Die Leiche am See
7. Sven
8. Überbringen einer Todesnachricht
9. Aufruf der Mordkommission
10. Büsche und Hecken
11. Der Jäger
12. Jenseits dieser Welt
13. Was ist mit dem Bau?
14. Adelig
15. Steffi
16. Gerhard von Davenstedt
17. Eine Festnahme
18. Spuren
19. Eine neue Wendung
20. Beweise
1. Geister
Robert schob sein klappriges Fahrrad mit der rechten Hand. Er lief mittig auf der schmalen Gemeindestraße und gestikulierte mit dem freien linken Arm wild vor sich hin.  Er war auf dem Weg nach Hause, zu seinem verfallenden Haus in Heemsche, das ihm seine Mutter hinterlassen hatte. Die Dose Bier, die er sich bei Edeka in Steyerberg gekauft hatte, war schon leer. Schuld daran war der düstere Typ, der ihm die ganze Zeit hinterherlief und auf ihn einredete. Als die Dose leer war, hatte er sie dem Kerl an den Kopf geschmissen, aber das hatte ihn nicht dazu gebracht, sich zu verziehen. 
Es war sein üblicher Weg. Er war morgens losgezogen, hatte sich auf das Rad gesetzt und war durch die Felder bis hinter Schinna an die Weser geradelt. Er hatte den Auftrag, das Land zu vermessen und zu überwachen, damit sich an den Maßen nichts veränderte. Sein Weg führte ihn durch die Wesermarsch weiter über Wellie und dann über die Apfelstraße nach Steyerberg. Die Pfandflaschen und Pfanddosen, die er unterwegs auflas, setzte er dort in eine Dose Bier und, je nach Erlös, ein paar Nahrungsmittel um. 
Heute hatte es nur für die Dose gereicht. Allerdings hatte er einige Veränderungen festgestellt und an seine Behörde gemeldet. Die Erde hatte sich wieder gestreckt. Der Weg bis zur Weser war etwas länger geworden. Das lag allerdings an den Erdbewegungen, nicht weil die Straßenbauer den Weg umgebaut hatten. 
„Halt die Fresse!“, brüllte er den Kerl, der ihm folgte, an und drehte sich zu ihm um. „Halt die Fresse oder ich schneid‘ dir die Kehle durch!“ Der Typ sagte nichts, blieb dort stehen, wo er war und starrte Robert an. Robert ging weiter. Als er sich wieder umdrehte, war der Typ verschwunden. „Ich komme wieder“, ertönte ein Flüstern ganz nah an Roberts Ohr. Er sah sich um. Es war niemand zu sehen. 
Eine Dame im Rentenalter, die gerade in ihrem Gemüsegarten arbeitete, beobachtete Robert aus der Entfernung. Sie sah, wie er mit seinem Arm gestikulierte und vor sich hin redete. Gerade hatte sie ihn jemanden anschreien gehört und deshalb von ihrem Beet aufgesehen. Es war niemand bei ihm in der Nähe. „Armer Junge“, sagte sie leise. „Ist es wieder soweit?“
Viele Leute in der Gegend kannten Robert Herken. Tagein, tagaus zog er mit seinem Rad oder zu Fuß durch die Gegend. Früher hatte er noch mit seiner kranken Mutter zusammengelebt, in einem alten Haus Richtung Ensen. Er hatte schon früh in der Jugend angefangen, alles mögliche an Drogen zu nehmen. Das hatte sich später massiv auf sein Hirn und seine Wahrnehmungen ausgewirkt. Es hieß, dass er Stimmen hörte und Geister sah. 
Das Gesundheitsamt kümmerte sich um ihn, aber viel geschah von der Seite offenbar nicht. Über die Jahre gab es immer mal wieder Phasen von einigen Wochen, in denen man ihn gar nicht sah. Angeblich war er dann im Landeskrankenhaus. Vermutlich wurden dort seine Medikamente neu eingestellt. Wenn er wieder auftauchte, sah man ihn wieder herumstreunen, allerdings in der ersten Zeit freundlicher gestimmt und nicht so geistesabwesend. 
Jetzt war Hochsommer und in diesem Jahr war er noch nicht fort gewesen. Es war wohl wieder an der Zeit. Sie beobachtete ihn, als er an ihrem Grundstück vorbeizog. Was er redete, konnte sie nicht verstehen. Er drehte sich immer wieder nach hinten um, zeigte auch einmal mit dem Finger in die Richtung hinter sich. Sie nahm er nicht wahr und nach wenigen Minuten war er wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Robert überquerte die Kreisstraße. Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Er bemerkte nicht, dass ihm der Schweiß vom Kopf rann. Es war August und Nachmittag, draußen herrschte mit 33 Grad Sommerhitze. Robert hatte sich morgens seine schwarze Jeans, sein grünes T-Shirt und die dunkelgraue Sweatjacke aus seinem Klamottenstapel gegriffen. Und das behielt er für den Rest des Tages am Leib.
Er näherte sich der Bank, die links vom Weg, von einer Buchsbaumhecke eingerahmt, auf Spaziergänger wartete. Die Stelle mochte er  nicht, zu oft saßen dort die beiden Frauen, die vor Schmerzen so laut heulten, dass er es kaum ertragen konnte. Er kam näher und auch heute saßen sie wieder dort. Es waren Mutter und Tochter, vermutete er. Jedenfalls war es eine alte Frau mit grauen Haaren und Falten im Gesicht und eine jüngere, vielleicht in seinem Alter. Sie saßen zueinander gewandt, jammerten und stöhnten. Robert beschleunigte seine Schritte und diskutierte laut mit sich über die geänderte Wegstrecke und die Ausdehnung der Erdoberfläche. Er stellte fest, dass er morgen wieder los musste. Die Veränderungen mussten beobachtet und die Strecken genau festgehalten werden. Für die Verarbeitung nutzte er sein Arbeitsprogramm, dass er in seinem Kopf immer mit sich trug. 
Schnell waren die Frauen außer Hörweite und
er konnte seine Gehgeschwindigkeit wieder drosseln. In seinem Inneren spürte er die Wut aufsteigen. Warum nur mussten diese Weiber immer gerade dann dort sitzen, wenn er vorbei kam? Sie hatten es vermutlich auf ihn abgesehen. Wahrscheinlich waren sie mit denen bekannt oder gar verwandt, die nachts an seinem Haus auftauchten und dort herumschrieen. Früher hatten die Frauen ihm leid getan. Aber irgendwann war es ihm zu viel geworden, immer diese Schmerzensschreie,  das Gejammer und Gestöhne.
Er ging wieder schneller, er musste sich abreagieren. Also schmiss er das Rad in den Grünstreifen und suchte nach etwas, mit dem er auf die Büsche einschlagen konnte. Er fand einen trockenen Knüppel und drosch damit auf die Triebe eines Holunders ein. Die dünnen Zweige knickten ab, Blätter zerrissen und fielen links und rechts zu Boden. Robert spürte, wie sich der Druck in seinem Inneren abbaute. Er ließ den Stock fallen, ging zu seinem Rad, hob es auf und merkte, dass sich ein Hebel am Lenker verdreht hatte. Das störte ihn nicht weiter. Er schob das letzte Stück bis nach Hause. 
Das Gebäude war verkommen. Die Tür war offen, drinnen herrschte heilloses Chaos. Robert nutzte nur einen Raum und eine Toilette, wenn man die verdreckte Latrine so nennen mochte. In seinem Wohn- und Schlafraum stand ein Bett. Auf dieser Liegestatt verbrachte er die meiste Zeit, wenn er nicht draußen war. Hinter dem Haus befand sich ein völlig verwilderter Garten. Die einzige Regulierung, die die Natur hier erfuhr, waren Roberts Wutanfälle, die er mit einem der alten Gartenwerkzeuge an den Pflanzen ausließ.
2. Vögel
Tanja stapfte mit Strohhut, kurzer Hose, T-Shirt in Tarnfarben und halbhohen Gummistiefeln über das abgeerntete Rapsfeld. Ihr Ziel war die Rückseite des großen Kiessees zwischen Anemolter und Landesbergen. Ihr großer Sitzrucksack war voll mit ihrem Equipment: Wasserflaschen, Fernglas, digitale Spiegelreflexkamera, Klemmbrett und Karten. 
Tanja war Ornithologin, wohnte in Minden und hatte die Kiesseen an der Mittelweser als Forschungsrevier auserkoren. Im Bereich Stolzenau war der Ausbau der Auskiesung im Wachstum begriffen, doch es gab auch schon große Areale, die nicht mehr bewirtschaftet wurden und unter Naturschutz standen. Sie hatte eine Genehmigung des Landkreises und durfte auch die umfriedeten Gelände auf eigene Gefahr betreten. 
Vor Kurzem hatte sie an diesem See die typischen Rufe der Wasserralle gehört. Sie hörten sich so ähnlich an wie das Quieken von Ferkeln und das hatte sie sofort neugierig gemacht. Die Wasserralle gehörte zu den vielen gefährdeten Vogelarten, die durch die fortschreitende Kultivierung der Landschaft in immer kleinere Lebensräume zurückgedrängt wurde. 
Es wäre sicherlich keine Sensation, aber doch eine schöne Entdeckung, wenn sie die Vogelart auch hier an den Kiesseen nachweisen konnte. Die Wasserralle benötigte flache bewachsene Wasserzonen mit Schilf, Weiden und anderen Pflanzen, die ihr Deckung, Schutz und Brutmöglichkeiten boten. Zu Tanjas Freude war es den Kieswerken gelungen, beim Rückbau der Uferbereiche solche Zonen zu erschaffen. Nach und nach hatte sich die Vegetation eingestellt. 
Solch ein Uferdickicht war nun Tanjas Ziel. Da Wasserrallen sehr scheu waren, musste man viel Geduld mitbringen. Und die hatte sie – sehr viel Geduld sogar. Das hatte sie besonders im Umgang mit Männern bewiesen. Seit einem Jahr war sie mit Sven verheiratet, und seit sie ihn hatte, war der Bedarf an Geduld zum Glück weniger geworden. Sven war zwar schnell eifersüchtig, aber ansonsten war das Zusammenleben mit ihm sehr schön und entspannt.
Vor ihm war das anders gewesen. Sie war viele Jahre mit Gerhard zusammen gewesen, Gerhard Freiherr von Davenstedt. Er war ein paar Jahre älter als sie und sehr anstrengend. Sie mochte ihn immer noch, aber als sie nach Jahren endlich die Beziehung beendet hatte, war eine große Last von ihr gefallen. Seine Blaublütigkeit war ihm ein wenig zu Kopf gestiegen und er hatte seine Nase sehr hoch getragen. Tanja stammte aus bodenständigen Verhältnissen. Als sie Gerhard damals mit Mitte  20 kennengelernt hatte, war er Anfang  30, sah wirklich gut aus und hatte diese für sie außergewöhnlichen Umgangsformen. Ein wenig war sie sich wie eine Prinzessin vorgekommen, auch wenn man sie in seiner Familie anfangs eher mürrisch angeschaut hatte. 
Merklich geändert hatte sich das erst, als sie ihren Doktortitel erhalten hatte. Ihre Doktorarbeit hatte sie über Wasservögel geschrieben. Gerhard hatte sich allerdings im Bett als lahme Ente entpuppt. Er war zärtlich und romantisch und konnte sie mit seinen sanften Worten immer wieder einlullen, aber wenn die Hüllen fielen, trat eher Langeweile ein. Das war mit Sven ganz anders und es hatte sich zu ihrem Glück seit dem ersten Mal mit ihm nichts daran geändert. Im Gegenteil, sie freute sich auf jeden Kontakt mit ihm.
Tanja hatte das Ufer fast erreicht. Vereinzelt hatten sich junge Weiden und Erlen einige Meter von der Uferzone entfernt angesiedelt. Hinter einigen solcher Jungbäume stellte sie ihren Sitzrucksack ab und baute das Stativ für die Kamera auf. Es war der dritte August, kurz nach 10 Uhr, und die Sonne stieg langsam höher. Sie hatte kein Thermometer dabei, aber es mochten schon gut 25 Grad sein und zum Nachmittag waren 32 Grad vorhergesagt. Gut, dass sie den breiten Hut und ausreichend Sonnenmilch dabei hatte. Der Platz war ideal. Vor ihr lag direkt eine Stelle, die frei von Schilf und Röhricht war, sodass sie gut auf den See blicken konnte. Links und rechts war die Flachwasserzone schön breit und schon weiter als mannshoch mit Rohrkolben, Schilf und Weiden bewachsen,. Eigentlich ideal für die Wasserralle.
Auf dem See tummelten sich Scharen von Enten und Gänsen. Auch ein paar Schwäne hielten sich etwas abseits auf dem  Wasser auf. Leise war es nicht gerade, musste sie feststellen. Es mochten wenigstens  200 Gänse sein, vielleicht noch wesentlich mehr, denn Tanja konnte längst nicht jeden Winkel des  Gewässers überblicken. 
„Eigentlich eine schöne Stelle, um heimlich ins Wasser zu springen“, dachte sie für sich. 
Ein Handtuch hatte sie dabei – für alle Fälle. Vielleicht brauchte sie später noch eine kleine Abkühlung. Das Stativ war perfekt ausgerichtet. Tanja setzte sich auf den ausgeklappten Sitzrucksack und begann, auf   dem Klemmbrett ihre Aufzeichnungen zu führen.
3. Auf dem Bau
Ich fluchte laut. Meine Frau Britta und ich hatten uns ein älteres Haus auf dem Dorf gekauft und uns entschlossen, es komplett zu sanieren. Mein ererbtes Häuschen war uns beiden einfach zu klein und da ich auf dem Grund nicht bauen durfte, hatten wir uns so entschieden. 
Jetzt befanden wir uns mitten in der Abbruchphase. Das gesamte Obergeschoss sollte  neu gebaut werden, dafür musste das alte abgerissen werden. Der  Dachstuhl war dermaßen marode, dass alles andere Unsinn gewesen wäre. So marode  alles mögliche  an dem Haus, was aus Holz bestand, war, so hart und massiv erwies sich alles, was aus Stein gemauert war. 
Nun stand ich auf einer Leiter im Obergeschoss und wollte den zentralen Schornstein abbrechen. Es war kaum zu glauben: Die Hohlziegel zerbarsten unter dem Fäustelhammer zu Kleinteilen, aber der verdammte Mörtel war hart wie Granit. Am liebsten hätte ich ja ein Stahlseil um den Schlot gelegt und einfach mit dem Trecker gezogen. Aber wer weiß, was dann alles zu Bruch gegangen wäre. Und weil ich diese Frage nicht beantworten konnte, musste der Schornstein eben abgebaut werden. 
Ich wechselte regelmäßig zwischen Bohrhammer und Fäustel mit Meißel und alle  zehn Minuten war ich sicher, dass das jeweils andere Gerät doch die bessere Variante war. Ich hatte mir den zweizügigen Schornstein ausgesucht, der fast in der Mitte des Hauses stand. Mein Schwager Kim durfte den einzügigen auf der anderen Seite bekämpfen. Der Schornstein war allerdings ein bisschen älter,  sodass  es dort etwas leichter ging. 
Es war Samstag.  Alle Welt fuhr irgendwo zum Baden, war im Urlaub oder döste den Tag über im Schatten. Am späten Vormittag hatte ich schon das Gefühl, das Thermometer hätte die 30-Grad-Marke geknackt. Nachdem mir nun beim Stemmen schon zweimal Mörtelkörnchen ins Auge geflogen waren, hatte ich mir eine Schutzbrille aufgesetzt. Natürlich hatte ich auch Gehörschützer  im Einsatz. Egal, ob Fäustel oder Bohrhammer: Die Arbeit ging ganz gut auf die Ohren. 
Jetzt lief der erste Schweißtropfen von innen auf das staubige Brillenglas. Der zweite folgte gleich hinterher. Frustriert setzte ich beides ab, wischte die Bügel und die Gehörschützer mit meinem Ärmel und die Brille mit einem Taschentuch ab. Ich sah zu Kim hinüber, weil dieser gerade einen Jubellaut ausgestoßen hatte. 
„Was ist passiert?“, wollte ich wissen. „Mir ist ein Handschuh in den Schornstein gefallen“, gab er zurück. Okay, das war ungünstig, aber zum Glück hatte ich mit ausreichend Vorrat vorgesorgt. „Solange es nicht der Hammer ist oder womöglich dein Handy“, meinte ich lachend und machte mich wieder an meine Granitsäule. 
Letztlich war ich ganz zufrieden. Es ging endlich mit dem Haus voran und auch wenn der Schornstein sehr widerspenstig war, würde er doch bis zum Abend weg sein. Wenn das Wetter sich halten würde, wollten wir am nächsten Wochenende das Dach abbauen und in den Folgetagen hoffentlich den neuen Dachstuhl aufbauen. So war jedenfalls die Absprache mit dem Zimmermann.
Die Arbeit war ein guter Ausgleich zu den geistigen Strapazen der letzten Monate. Die vergangene Mordkommission hatte sich lange hingezogen und meinen Kollegen und mir einiges an Geduld abverlangt. Von mir aus durfte es in den nächsten Monaten gerne ruhig bleiben. Ich hatte nichts dagegen, zeitweise mal nur Beleidigungen und einfache Körperverletzungen zu bearbeiten. Solche Phasen boten sich besonders an, wenn man einen Berg von Überstunden angesammelt hatte und ein altes Haus umbauen wollte. 
Ich ließ meine Hände arbeiten und summte vor mich hin. Den nächsten Schweißtropfen, der auf den unteren Rand der Schutzbrille tropfte, beachtete ich einfach nicht und arbeitete weiter. Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass ich bereits auf Höhe der Dachhaut angekommen war. Ich hatte also das schwierigste Stück geschafft. Von unten hörte ich Britta rufen. „Kommt ihr essen?“ „Jawohl, Chefin!“, rief ich zurück. Kim folgte mir über die Leiterluke in der Garage nach unten. Im Garten stand eine Bierzeltgarnitur, es gab Würstchen und Kartoffelsalat, dazu alkoholfreies Bier. Beim Essen philosophierten wir, wie wir mit dem Dach weitermachen wollten. 
Anschließend mussten wir uns gegenseitig einige motivierende Sprüche um die Ohren hauen, um nicht vom alkoholfreien auf echtes Bier umzusteigen und den Rest des Tages einfach im Garten zu bleiben. Aber Britta hatte da ein Auge drauf, und so ging es direkt wieder hoch in den Steinbruch. 
Am späten Nachmittag hatten wir es geschafft. Mir reichte es auch für den Tag. Ich bedankte mich bei Kim und entschied, die Restarbeiten auf den nächsten Tag zu schieben. Wenig später saßen Britta und ich in meinem alten Bulli und fuhren nach Hause. 
Mein jüngster Spross Leon verbrachte seit der Erkrankung seiner Mutter vor  zwei Jahren jedes Wochenende und den Großteil der Ferien bei uns. An diesen Tagen nahm sich meist meine Mutter oder meine Schwägerin seiner an und er verbrachte den Tag mit seinen Cousins. 
Als wir zu Hause ankamen, waren alle Kinder noch dabei, durch die Planschbecken zu toben.
Ich stieg aus meinen staubigen Klamotten, zog mir eine Badeshorts an und begab mich zu ihnen. Mit einem Gartenschlauch spülte ich mir den Dreck und Staub ab und tobte noch ein bisschen mit. Später gab es Bratwurst und wir waren zum Glück alle früh müde.
Am nächsten Tag schliefen wir erst aus,  bevor ich wieder zur Baustelle fuhr und  Schutt aufräumte. Zum frühen Nachmittag war ich damit fertig und nahm mir den Rest des Tages frei. 
Früh startete ich am nächsten Morgen mit dem Rad zum Dienst nach Stolzenau. Ich unterhielt mich kurz mit dem Kollegen in der Wache, dann ging ich nach oben und öffnete alle Fenster, soweit Blumentöpfe und sonstiger Schnickschnack auf den Fensterbänken das zuließen. In meinem Fach lagen keine neuen Akten, was mich nicht wunderte, schließlich war ich am Freitag als letzter gegangen und hatte alles in Empfang genommen. 
Ich schaute im System die Einsatzinformationen durch und fand ein paar interessante Sachverhalte, aber nichts Großes. Zwei Strafanzeigen sah ich, die dann wohl für mich sein dürften. In Nendorf hatten sich zwei Jungspunde gestritten und dann waren die Fäuste geflogen. Beide waren noch unter 18, was hieß, dass ich  auf jeden Fall beide einladen musste. 
Das andere war eine Beleidigungsanzeige. Offenbar war ein örtlicher Jäger in der Nähe eines Kiessees mit einer Frau aneinander geraten. Er über 60, sie Anfang 40, wohnhaft in Minden. Der Jäger war hier aus der Nähe, ein Friedrich Groder, den kannte ich persönlich aber nicht. Erstmal abwarten, was im Text steht, entschied ich. 
Mein direkter Vorgesetzter Hansi war der nächste, der zum Dienst kam. Allzu viele Kolleginnen und Kollegen sollten heute auch gar nicht erscheinenEs waren noch Sommerferien und unsere Urlaubsquote war  voll ausgeschöpft. Ein Blick auf den Dienstplan zeigte mir, dass Hansi und ich bis mittags die einzigen Ermittler auf der kleinen Dienststelle bleiben würden. Wir beschlossen, uns mit einem Kaffee unten in den Besprechungsraum zu setzen und die Akteneingänge durchzusehen. 
Die Kollegen des Streifendienstes kamen dazu, darunter auch die Beamtin, die die Beleidigungsanzeige am Freitag aufgenommen hatte. Sie erzählte, dass die Frau gegen Abend hier erschienen sei. Sie sei wohl nett gewesen, habe sich aber ziemlich über den Jäger aufgeregt. Sie sei Vogelforscherin und habe Betretungsrechte für die Naturschutzgebiete an den Kiesseen. Der Herr habe sie grundlos mehr oder weniger durchgängig beleidigt. Letztlich waren die Beschimpfungen vom Unrechtstatbestand wohl kaum relevant, zumal die beiden unter vier Augen zusammengetroffen waren. Das Schlimmste was der Mann gesagt hatte, muss wohl die Bezeichnung „dumme Kuh“ gewesen sein. Es schien mir das übliche Privatklagedelikt zu sein. Das bedeutete, es bedurfte nur eines Dreizeilers und dann war die Arbeit schon erledigt. 
Die nächste Akte brachte mir wohl etwas mehr Arbeit ein. Zwei große Jungs hatten sich auf einer  geselligen Grillparty wegen eines Mädels gestritten. Da beide schon ein paar Mischungen intus gehabt hatten, waren ihnen offenbar die Worte schnell ausgegangen und der Konflikt wurde in der Weise der 
Höhlenmenschen ausgetragen, allerdings ohne den Einsatz der Keule. Zum Glück hatte man beide schnell getrennt und so gab es nur ein Veilchen auf der einen und eine dicke Lippe auf der anderen Seite. Ich fragte mich, wer von beiden wohl am Ende das Weibchen für sich beanspruchen konnte? Vermutlich keiner von beiden. So hätte ich auf jeden Fall einen guten Einstieg in die Vernehmung, die ja bei den beiden gleichzeitig als erzieherisches Gespräch zu nutzen war. Dies war in der Jugendsachbearbeitung vorgeschrieben und  sinnvoll. Meistens machte es auch Spaß, denn junge Menschen sind, gerade im ruhigen Gespräch mit der Polizei oft sehr lernwillig.
Dass ich mich mit den Erwachsenen aus dem Beleidigungsverfahren noch heute sehr viel intensiver beschäftigen würde, ahnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.
4. Am See
Tanja hatte sich bäuchlings auf den Boden gelegt, den Kopf auf die verschränkten Arme abgestützt und den Blick auf das Dickicht am Seeufer gerichtet. Es war Mittagszeit und die Sonne stand hoch am Himmel. Plötzlich hörte sie wieder das quiekende Geräusch. Einmal, dann noch einmal. Es kam von rechts. Leise drehte sie sich auf die Seite und kramte ihr Fernglas aus dem Rucksack. Sie benötigte es nicht, um die Entfernung optisch zu überbrücken, dafür war der Vogelruf zu nahe gewesen, doch mit dem Fernglas konnte sie besser fokussieren und präziser suchen. 
Sie stützte die Ellenbogen auf und begann, die Uferzone ganz langsam und genau quadratmeterweise abzusuchen. Ihre Sorgfalt hatte Erfolg: In etwa 20 Meter Entfernung entdeckte sie eine Wasserralle, gleich neben einem geflochtenen Gebilde aus Halmen zwischen mehreren Rohrkolben. Es musste das Nest sein. Ganz vorsichtig legte sie das Fernglas beiseite und griff nach der Kamera. Sie musste sie vom Stativ lösen und ärgerte sich für einen Moment, dass sie das Gerät nicht schon griffbereit hingelegt hatte. Als sie die Digitalkamera in der Hand hielt, nahm sie wieder die Position von eben ein. Sie brauchte gefühlt eine Minute, das Nest durch die andere Sichtweise per Teleobjektiv wiederzufinden. Das erwachsene Tier war weg. Sie machte einige Bilder von dem Nest und wartete ohne die Kamera abzusetzen. 
Dann hörte sie ihr Smartphone summen. Sie legte die Kamera aus der Hand und zog das Telefon aus der Seitentasche des Rucksacks. Sven rief an, sie wischte über das Display und nahm den Anruf an.
„Hey, da bin ich“, meldete sie sich grinsend.
„Hey, meine Süße, wo steckst du gerade?“, begrüßte Sven seine Frau. „Ich bin an diesem Kiessee, von dem ich dir gestern Abend zu Hause erzählt habe. Ich habe gerade das Nest von der Wasserralle entdeckt und direkt Fotos gemacht. Eigentlich wollte ich jetzt warten, dass der Altvogel zurückkommt, aber da meldete sich so ein heißer Typ am Telefon, da musste ich unterbrechen.“ Sven lachte.
„Soso, ein heißer Typ also. Der heiße Typ hätte Lust, dich auf der Arbeit zu besuchen. Das Meeting in Bremen ist schon beendet und ich fahre jetzt zurück nach Minden. Ich muss erst am Nachmittag wieder dort sein und könnte genauso gut den kleinen Umweg fahren und mit dir eine chillige Stunde am Kiessee verbringen. Was meinst du? Soll ich vielleicht noch was mitbringen, vielleicht ein paar Oliven, Zaziki und Fladenbrot? Dann könnten wir noch ein bisschen picknicken.“
Tanja wusste genau, welche Hintergedanken er dabei noch hatte, aber sie fand die Idee toll. Sie verabredeten sich und Tanja beschrieb ihm den Weg. Er würde sie anrufen, sobald er dort ankam, wo ihr Auto stand. 
In freudiger Erwartung begab sie sich wieder mit dem Fernglas in Lauerstellung. Die Kamera stand griffbereit neben ihr. Ein paar Minuten suchte sie, dann hatte sie den Altvogel entdeckt. Zu ihrer Überraschung sah sie ganz in der Nähe noch einen weiteren. Sie wechselte schnell vom Fernglas zur Kamera und hatte Glück. Ohne lange suchen zu müssen hatte sie gleich die Vögel wieder im Visier und begann zu fotografieren. 
Das war schon ein toller Erfolg. Damit hatte sie direkt den Nachweis, dass die Wasserralle sich hier angesiedelt hatte und auch brütete. Nun würde sie täglich wiederkommen und die Vögel beim Brüten und dann bei der Aufzucht der Jungen beobachten. Natürlich wollte sie auch mit der Unteren Naturschutzbehörde Kontakt aufnehmen. Es wäre sinnvoll, den Bereich, in dem sie sich befand, etwas besser abzusperren, um zu gewährleisten, dass die scheuen  Tiere bestmöglich geschützt wurden. 
Ihr gelangen noch einige weitere gute Aufnahmen, bis ihr Handy wieder summte. Sven war angekommen und hatte sein Auto neben ihrem abgestellt. Tanja erklärte ihm, wohin er gehen musste und lief ihm entgegen. Ihr Beobachtungsposten war von der kleinen Gemeindestraße aus nicht sichtbar. Das Auto stand am Fahrbahnrand und man musste erst ein Stück weit am See entlang gehen und dann noch einem weiten Bogen folgen. Als sie am Anfang der Biegung ankam, stand Sven schon fast vor ihr. 
Sie nahm Anlauf und sprang ihm auf den Arm. Er musste sie mit dem rechten Arm festhalten, in der linken Hand hatte er einen Korb. Sie drückte ihre Lippen auf seine, rutschte aber ein Stückchen herunter, wodurch er wieder sprechen konnte. „Wow, was für ein stürmischer Empfang“, sagte er mit einem breiten Grinsen. „Ich hab uns was Leckeres mitgebracht.“ Sie nahm ihn an der Hand. 
„Komm, wir gehen zu meinem geheimen Beobachtungsplätzchen, das liegt gleich hinter der Biegung.“ Mit einem verschwörerischen Lächeln sah sie ihn an und fügte hinzu: „Da sind wir völlig ungestört.“ Er zog sie an der Hand an sich und küsste sie. „Ich bin gespannt“, meinte er. 
Sie hatten die Stelle schnell erreicht. „Hübsch hier“,  bewunderte Sven die Aussicht. „Und den Vögeln scheint es hier auch zu gefallen!“ „Gutes Stichwort“, raunte sie ihm ins Ohr und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. Sie fühlte das Kribbeln im Bauch, was sie so oft spürte, wenn sie mit ihm allein war. Er verbog sich umständlich, um gleichzeitig den Korb abzustellen und ihre Taille zu umfassen. 
Der Korb glitt aus seiner Hand und Sven richtete sich wieder auf. Seine Hände fanden den Weg unter ihr flecktarn Shirt und knöpften geschickt den BH auf. Tanja hatte das Aufknöpfen des Hemdes beendet und schob es ihm von den Schultern, er ließ es einfach nach hinten auf den Boden fallen. Bevor er selbst weiter Hand anlegen konnte, hatte sie in einer schnellen Bewegung T-Shirt und BH ausgezogen und zu dem Rucksack geworfen. Sie pressten sich aneinander und ihre Lippen verschmolzen. Seine Hände streichelten ihren Rücken, suchten den Hosenknopf und fanden ihn. Vorsichtig löste er den Knopf und zog den Reißverschluss auf. Seine Hände glitten über ihre Beckenknochen unter ihren Slip auf ihre Hinterbacken und begannen, diese sanft zu kneten. Sie stöhnte leise auf und drückte ihre Hüfte gegen seine. 
„Zieh dich aus“, flüsterte sie ihm ins Ohr und schob ihn ein Stückchen weg. Binnen weniger Sekunden waren sie beide nackt. Sven legte seine Jeans lang auf den Boden und zog Tanja mit hinunter. Er legte sich auf den Rücken und sie stieg über ihn, hockte sich hin und legte sich mit dem Bauch auf seine Brust. Langsam schob sie sich herunter, immer weiter, bis sie vollständig vereint waren. Die Welt um sie herum versank, sie gaben sich ihrer Lust hin und erreichten einen gemeinsamen Höhepunkt. 
Sie verharrten noch einige Minuten in der Position, Sven kraulte ihr sanft den Rücken, an dem kleine Rinnsale aus Schweiß hinunterliefen. Tanja spürte, dass das zähe Gras in ihre Knie drückte und erhob sich langsam. „Was hältst du von einer kleinen Abkühlung?“, fragte sie. „Warum nicht?“,  erwiderte Sven lächelnd. „Meinst du, man kann hier ins Wasser gehen?“ Tanja zeigte auf die Lücke  im Uferbewuchs. „Da vorn sieht es so aus, ich hab es noch nicht ausprobiert. Komm, wir testen es mal!“
Sie zog ihn an der Hand hoch und hinter sich her, zu der Stelle, die sie meinte. Ein schmaler Streifen ohne Pflanzenbewuchs führte in den See hinein. Tanja hatte gar keine Berührungsängste mit der Natur und ging voran. Man konnte ein paar Meter in die Wasserfläche hineingehen, bis man an eine Stelle gelangte, an der der Boden steiler abfiel. „Hier ist die Abbruchkante“, erklärte sie Sven. „Wir sollten uns vorher noch etwas abkühlen, aber dann können wir bestimmt ein Stück schwimmen.“
Mit den Worten fasste sie mit der rechten Hand ins Wasser und spritzte ihn nass. Es ergab sich eine kurze Schlacht in dem Flachwasserbereich, dann traten sie an die Abbruchkante heran und ließen sich langsam in das tiefere Wasser gleiten. Sie schwammen eine kleine Runde. Das Wasser war kühl, aber durch die vielen sonnigen und heißen Tage nicht zu kalt zum Schwimmen.
Sven mahnte zur Vorsicht, schließlich war der Kiessee nicht zum Baden freigegeben und beide hatten keine Ahnung wie tief er sein mochte. Tanja wusste um die Gefahren des Badens in den Kiesseen. Die Seen konnten teilweise deutlich tiefer als zwanzig Meter sein und dort unten war das Wasser auch nach Wochen des Sommers sehr kalt. Geriet man an eine Stelle, an der das Wasser plötzlich deutlich kälter war, konnte sich das mitunter drastisch auswirken. Sie wusste, dass jedes Jahr Menschen, selbst gute Schwimmer, in Kiesseen ertranken, weil sie die Gefahren unterschätzten. 
So kehrten sie nach einer kurzen Runde wieder  zurück ans Ufer. „Jetzt habe ich richtig Hunger“,  stellte Sven fest, als sie wieder bei den Sachen angekommen waren.  Sie setzten sich nackt auf die Hosenbeine seiner Jeans und packten den Proviant aus. Das mediterrane Fingerfood schmeckte köstlich. Es dauerte nicht lange und sie waren wieder getrocknet. Als sie fast alles verzehrt hatten, war es kurz nach vierzehn Uhr und Sven wollte wieder los. „Ich muss um sechzehn Uhr in der Firma sein, wir wollen noch über einen neuen Auftrag sprechen. Ich glaube aber nicht, dass das lange dauert, spätestens um sechs bin ich wieder zu Hause.“ 
„Wieder ein gutes Stichwort“, meinte Tanja augenzwinkernd. „Ich denke, ich breche hier  gegen siebzehn Uhr auf. Vielleicht auch noch etwas früher, ich habe heute so tolle Bilder gemacht, ich will die gleich noch auf die Festplatte ziehen und meinen Bericht weiterschreiben. Den Rest Büroarbeit erledige ich morgen früh, vielleicht fahre ich morgen erst gegen Mittag hierher und bleibe dann etwas länger. Jetzt weiß ich ja, wo das Nest ist. Ich freue mich schon auf heute Abend!“ Sven zog sich an. Dann gab er ihr einen langen Kuss, schnappte den Korb und ging. 
Tanja zog sich ihre Tarnklamotten an, setzte den Hut auf und bezog wieder Beobachtungsposten. Sie genoss die innere Wärme und verlor sich in ihren Gedanken, bis sie wieder das Quieken der Wasserrallen hörte. Sie beobachtete noch eine ganze Weile geduldig weiter. Es geschah aber nichts Interessantes mehr und so packte sie kurz nach 16 Uhr ihre Sachen sorgfältig zusammen und machte sich auf zum Auto. 
Sie hatte im Kofferraum ihres Golfs einen Kasten mit gepolsterten Fächern für ihre Foto- und Fernglasausrüstung. Sie räumte den Rucksack aus und verstaute alle Gegenstände in den dafür vorgesehenen Fächern. Gerade als sie fertig war, hielt ein grüner Geländewagen neben ihrem Auto. Ein grauhaariger, hagerer Mann stieg aus, im Kofferraum des Wagens bellte ein Hund in einem Transportkäfig.
Nach dem Auto, der Kleidung und dem Aussehen zu urteilen, musste der Mann ein Jäger sein. Tanja schätzte sein Alter auf Mitte sechzig. Er schaute grimmig drein. „Suchen Sie hier was Bestimmtes?“, maulte er Tanja an, ohne ein Grußwort vorweg zu schicken. Tanja wandte sich zu ihm und sah ihm direkt in die Augen. „Schönen guten Tag“, entgegnete sie freundlich. „Ja, stimmt genau, etwas Bestimmtes. Und Sie?“
Der Mann schaute noch griesgrämiger und trat zu ihr hinter ihren Golf. Er warf einen kurzen Blick in den Kofferraum, allerdings ohne sich hineinzubeugen. „Sind Sie eine von diesen Naturschützerinnen?“, fragte er, weiterhin in einem völlig unfreundlichem Tonfall. Tanja hörte auf zu lächeln. Sie spürte, mit welcher Sorte Mensch sie es zu tun hatte. Sie kam öfter in Kontakt mit Jägern, wobei sie mal sehr positive und mal sehr negative Erfahrungen machte. Diese würde wohl zu den negativen gehören. 
Sie sah den Mann nun genauso unfreundlich an.
„Nein, ich bin nicht eine von diesen Naturschützerinnen. Ich bin Ornithologin. Darf ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe? Ich hatte Ihren Namen vorhin gar nicht verstanden.“ Der Mann trat einen Schritt zurück und sah an Tanja auf und ab. „Den brauchen Sie auch nicht zu wissen! Ich bin der zuständige Jagdaufseher und möchte wissen, was hier in meinem Revier los ist. Sie haben hier mit dem Auto gar nichts verloren, hier ist nur ,Anlieger frei‘, das hätte Ihnen beim Herfahren schon auffallen müssen“, erklärte er in herrischem Tonfall.
Tanja holte tief Luft, in ihr baute sich bereits eine deutliche Spannung auf. „Guter Mann, ich sagte bereits, ich bin Ornithologin. Ich habe eine Genehmigung der zuständigen Naturschutzbehörde und darf die Naturschutzgebiete um die stillgelegten Kiesseen in der Samtgemeinde Mittelweser betreten und meine Arbeit dort ausführen. Da die Naturschutzgebiete von Gesetzes wegen  nicht bejagt werden dürfen, stehen sie mit Sicherheit auch nicht unter Ihrer Aufsicht. Übrigens schließt meine Genehmigung auch das Anfahren der Seen mit dem Pkw ein.“
Eine Fahrradklingel ertönte, eine Frau und ein Mann hatten sich mit Fahrrädern genähert. Da der Mann mit dem Geländewagen so elegant leicht quer und mitten auf der schmalen Straße stand, mussten die Radfahrer absteigen und durch das höhere und mit Disteln und Brennnesseln verwachsene Gras im Seitenstreifen schieben. 
„Muss man sich mit dem Auto hier so hinstellen?“, merkte der Mann kopfschüttelnd im Vorbeischieben kritisch an. Der mürrische Jagdaufseher beachtete das Paar gar nicht. Vermutlich betrachtete er die Radfahrer auch als unerwünschte Störenfriede. Wahrscheinlich hatte er sehr oft solche Probleme, immerhin befanden sie sich auf dem Weserradweg. Die beiden Radfahrer schoben ein paar Meter weiter und befreiten dann zunächst die Räder von trockenen Grashalmen und Pflanzenteilen, die sich beim Passieren des Geländewagens in den Speichen verfangen hatten.
Indessen herrschte der Jäger Tanja an. „Werden Sie mal nicht frech, junge Frau. Ich weiß schon, wer hier was darf und wer nicht. Sie kenne ich jedenfalls nicht. Mit Leuten wie Ihnen ist es immer dasselbe. Sie meinen, Sie müssten hier durch jedes Gebüsch kriechen, überall Ihre Nase reinstecken, das Wild aufscheuchen und am besten noch unsere Hochsitze mitbenutzen. Und am Ende sorgen Sie noch dafür, dass die Jägerschaft noch mehr Probleme hat.“
Tanja reichte es allmählich, der Kerl war offenbar ein richtiger Vollidiot. „Passen Sie auf, ich benutze weder Hochsitze, noch treibe ich mich irgendwo herum. Meine Arbeit ist wissenschaftlich und ich werde dafür bezahlt.“ Sie hielt ihm ihren Betretungsausweis unter die Nase. „So, damit Sie sehen, dass ich mich hier mit Recht aufhalte. Im Gegensatz zu Ihnen, kann ich wenigstens beweisen, dass ich hier herumkriechen darf. Wenn Sie meinen, ich würde mich  in irgendeiner Form rechtswidrig verhalten, beschweren Sie sich beim Landkreis Nienburg, dort wird man Ihnen sicher mit Freude weiterhelfen. Ich habe keine Lust, diese Diskussion weiter zu führen. Also lassen Sie mich nun bitte zufrieden und halten sich zukünftig von mir fern!“ 
Mit diesen Worten griff sie ihr Klemmbrett und schloss den Kofferraum. Dann trat sie hinter den Geländewagen und notierte das Kennzeichen. Der Mann glotzte sie wütend an. „Ja, schreiben Sie sich das Kennzeichen gut auf und dann hauen Sie bloß hier ab, blöde Kuh!“ Er öffnete seine Autotür und stieg ein. Tanja starrte ihn wutentbrannt an, wollte etwas sehr unfreundliches erwidern, schluckte es aber herunter.
Sie stieg in ihren Golf, ließ alle Fenster herunter und fuhr los. Sie atmete ein paar Mal tief durch. Von allen Jägern, mit denen sie bisher in ihrer Tätigkeit aneinander geraten war, war dieser Mann definitiv der unfreundlichste und vielleicht auch dreisteste gewesen. Sie erlebte es öfter, dass ihre Anwesenheit in Wald und Flur durch Jäger in Frage gestellt wurde, doch in den meisten Fällen führte ein vernünftiges Gespräch zu gegenseitigem Verständnis. Manchmal konnte sie sogar das Interesse wecken. So etwas wie heute hatte sie jedenfalls noch nie erlebt.
Sie traf auf das Paar mit den Fahrrädern und empfand das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Sie überholte und bemühte sich um viel seitlichen Abstand, lenkte ihren Golf dabei weit in den ungemähten Bereich des Seitenstreifens hinein. Nach einigen weiteren Metern hielt sie an und stieg aus. Die Leute schienen sie oder das Auto zu erkennen und stiegen ab. Tanja sprach die beiden  an. Der Mann hatte Gepäcktaschen am Rad, die Frau nicht, vermutlich waren es keine Fernreisenden.
„Guten Tag! Ich möchte mich für die Situation eben entschuldigen. Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich den Mann nicht kenne und ihn auch nicht veranlasst hatte, anzuhalten. Ich arbeite hier als Ornithologin und das scheint dem Herrn, seines Zeichens Jagdaufseher, zu missfallen.“ Die beiden lächelten nun freundlich und die Frau antwortete: „Das ist nett, dass Sie angehalten haben. Wir sind aus Nienburg, den Herrn kennen wir auch nicht. Aber so ein unmögliches Verhalten, wir haben ja noch gehört, wie er mit Ihnen umgegangen ist. Wirklich unglaublich, so etwas sollte man anzeigen. Aber wir lassen uns davon unsere schöne Tour nicht verderben. Das sollten Sie auch nicht.“ Tanja nickte freundlich. „Sie haben sicher recht. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Auf Wiedersehen!“ Das Paar verabschiedete sich freundlich und setzte seinen Weg fort. 
Die Frau hatte gesagt, man solle den Mann anzeigen. Immerhin hatte er sie ja tatsächlich beleidigt und vor allem völlig grundlos. Sie hatte sich wirklich bemüht, höflich zu bleiben. Am liebsten hätte sie ihm eine ordentliche Ladung Pfefferspray verpasst. Aber das wäre zu viel des Guten gewesen. Ihn anzuzeigen wäre hingegen doch wirklich richtig. Sie fuhr bis zur nächsten Einmündung und griff dort nach ihrem Smartphone. Sie suchte die nächstgelegene Polizeidienststelle. Das Telefon zeigte ihr die in Stolzenau an. Der Ort lag sowieso auf ihrer Route und sie entschloss sich, dort Anzeige zu erstatten.
In der Wache in Stolzenau saß eine junge Polizistin. Sie war sehr freundlich und erklärte Tanja ausführlich, welche Rechte und Pflichten sie hatte. Sie schrieb sich alles auf, gab schon eine ganze Menge Daten in den Computer ein und ließ Tanja ein Formular unterschreiben, bei dem es sich um einen sogenannten Strafantrag handelte. Das Kennzeichen überprüfte die junge Frau auch und erklärte Tanja dann, dass es sich bei dem Halter um einen Mann handele, der 64 Jahre alt sei, was zu Tanjas Einschätzung passte. Nach etwa 20 Minuten war alles fertig und Tanja setzte sich wieder ins Auto. Sie fühlte sich schon wieder viel besser und schrieb eine kurze WhatsApp-Nachricht an Sven. „Bin in 45 Minuten zu Hause, freue mich auf Dich!“ Dazu ein Küsschen-Emoji und dann machte sie sich auf den Heimweg.
Sie wohnten in Minden in einer geräumigen Wohnung im ersten Obergeschoss. In den heißen Wochen im Sommer heizte sich das Haus trotz guter Isolierung nach und nach immer mehr auf, sodass beide in dieser Zeit meist nur in Unterwäsche durch die Wohnung liefen. Oder noch leichter bekleidet. Das führte  automatisch zu sehr viel körperlicher Nähe,
was Tanja sehr genoss. Überhaupt war sie sehr glücklich mit Sven und so hatte sie den nervigen Vorfall von vorhin schnell verdrängt.