Mord im Klosterwald - Paul Voss - E-Book

Mord im Klosterwald E-Book

Paul Voss

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Die 23 Jahre alte Sonja zieht in das kleine niedersächsische Örtchen Bad Rehburg. Im September verschwindet sie spurlos, etwa eine Woche nach ihrem letzten Lebenszeichen wird ihr Leichnam im Klosterwald zu Loccum aufgefunden. Vieles an ihr, ihrer Art zu leben, ihrer Einstellung und ihrem Umfeld erscheint andersartig bis mysteriös und gibt der ermittelnden Mordkommission viele Rätsel auf. Es wird ein langer und steiniger Weg für die Ermittler, die Spurenlage ist schlecht, es passieren Missgeschicke und es ist kaum zu prognostizieren, was sich am Ende tatsächlich zugetragen hat. Immer wieder treten neue Fragen auf, ergeben sich spannende und vielversprechende Hinweise. Doch welche ist die ganz heiße Spur? Es ist ein Fall, den das Leben schrieb, von einem jungen Leben, das plötzlich endet, von düsteren und verirrten Seelen und von einem einfachen Ermittler, der neben dem Beruf noch ein Privatleben führt.

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Seitenzahl: 336

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Für J.T.

Ich schreibe dieses Buch auch, weil ich den Menschen von Dir erzählen möchte.  Du bist früh gegangen und Du hättest selbst noch viel zu erzählen gehabt.

 Impressum:

© Paul Voss (2020)

Postfach 1246

31587 Stolzenau

Prolog  

Unser Leben hat helle und dunkle Seiten, wir alle kennen Schönes und Hässliches. Für einen Kriminalbeamten wie mich, scheint es häufig so, dass das Dunkle und Hässliche die Oberhand gewinnt, weil man laufend dagegen arbeitet. Das Hässliche hält sich oft verborgen und es muss mit viel Arbeit und Mühe an das Tageslicht geholt werden. Auch wenn es  gelingt, das Übel am Schopf zu packen, es aus seinem Sumpf an die Oberfläche zu ziehen, kann man meist nur einen flüchtigen Blick darauf werfen. Meist versinkt es danach wieder und man reißt ihm höchstens ein paar seiner Tentakel aus, mit denen es sich wieder und wieder heimlich am Guten bedient.

Die Geschichte, die ich hier erzähle, hat sich im Grundsatz tatsächlich ereignet. Mir ist klar, dass ich hier echtes Leiden schildere, auch wenn manches mit meiner Fantasie angereichert, vervollständigt und auch verfälscht wird. Die Namen der Agierenden sind geändert, doch werden sich diejenigen, die mit den Geschehnissen verknüpft waren,  vermutlich wiedererkennen. Sie mögen es mir nachsehen.

Ich erzähle die Geschichte von Sonja, auch ihren Namen habe ich geändert. Es ist die tragische Geschichte einer jungen Frau, die gerade begonnen hatte, ihren eigenen Weg zu gehen. Es ist eine Geschichte von einfachen Menschen, die ihre Arbeit machen, von anderen Menschen, die nicht in allem den Normen der Mehrheit entsprechen und von überheblichen Menschen, die sich maßlos überschätzen und es wagen, Werte gegeneinander abzuwägen, die sie doch nicht begreifen können.

Und es ist die Geschichte von etwas, für das ich keinen Namen habe, etwas, was im Denken von manchen den Namen "Mensch" nicht führen sollte, von etwas, das dennoch eine Schöpfung unserer Welt ist und uns in grausamer Weise einen Spiegel vor das Gesicht hält.

I.

Heinz Täkel saß in seinem Zimmer in der geschlossenen Abteilung des Landeskrankenhauses. Seit über einem Jahr schon starrte er jeden Abend auf die kleine Nebenstraße und sah zum Eingang des Nachbarhauses.

Er beobachtete die Freigänger, die täglich bei der jungen Frau gegenüber ein und aus gingen, die dort im Obergeschoss wohnte. Es waren immer mal wieder andere Typen, die dort klingelten und hineingingen.

"Die Schlampe", dachte er, "erst kifft sie mit denen und dann macht sie für die Viecher auch noch die Beine breit."

Die Pfleger und Therapeuten hatten ihn schon oft gebeten, seine Mitpatienten nicht als Viecher zu bezeichnen. Er hatte sich abgewöhnt, sie so zu nennen. In seinen Gedanken blieben sie Viecher, wert- und nutzloses Getier, hier eingepfercht, um geändert, erzogen oder, wie sie es hier nannten, resozialisiert zu werden. Das alles, um sie der Gesellschaft anzupassen und sie dann wieder in die Welt zu entlassen.

Er würde sich einfach weiter an die Regeln dieser Idioten hier halten, an den Gesprächen teilnehmen und das Spiel mitspielen. Wenn er sich keine Fehler mehr erlaubte, wäre er vielleicht nächste Woche schon auf der offenen Station und käme das erste Mal in Begleitung raus. Ein wichtiger Schritt.

Bis dahin würde er sich weiter gedulden, sich das Bild der jungen Frau von gegenüber einprägen und sich nachts vorstellen, wie er ihr die Kehle zudrückte, bis sie die Augen verdrehte.

Heute war der große Tag. Täkel hatte schlecht geschlafen, hatte nur von seinem nutzlosen Bruder und seiner Mutter geträumt, die in ihrem Spießerhaus oben nahe der Küste ihr Spießerdasein fristeten und sich seiner schämten.

Nach dem Frühstück war das Einzelgespräch mit Dr. Kurz. 30 endlose Minuten mit diesem aalglatten Psychologen, der allein zu entscheiden hatte, wie es mit ihm weiterging. Heinz Täkel leierte seine Texte herunter, erklärte, dass er sich über Gartenarbeit freuen würde, redete über gute Gespräche mit seinen Mitpatienten und dass es ihm mittlerweile gefallen würde, dass die Jungs ihn "Opa" nannten. Tief in seinem Inneren kochte er vor Wut bei dem Gedanken daran. Er war 48, hatte 7 Kinder und zu keinem von denen Kontakt. Seine Ex-Schlampen hatten ihm die Blagen angehängt, weil sie Geld haben wollten. Er hatte immer für sie geknechtet, sie hatten sich eingebildet, er würde das ewig so weiter tun.

Dr. Kurz machte sich wie üblich einige Notizen, stellte die gleichen Fragen wie jedes Mal und klappte dann sein Buch zu. Er sah Täkel freundlich an. "Nun, lieber Herr Täkel, das hört sich für mich so an, als ob Sie einige Dinge wohl verinnerlicht hätten. Ab nächsten Dienstag sehen wir uns auf der Station 2. Sie werden im Gärtnerbetrieb auf dem Gelände einige Aufgaben übernehmen und dann sehen wir uns mal an, wie es mit den begleiteten Spaziergängen klappt.

Wir werden Sie zu Andi auf das Zimmer verlegen, den kennen Sie ja schon aus den Gruppengesprächen."

"Danke, Dr. Kurz", entgegnete Täkel. Als der Psychologe das Zimmer verlassen hatte, stahl sich ein diabolisches Grinsen auf sein Gesicht.

Am Dienstagmorgen holte ihn der Pfleger Rolf auf der 1 ab. Das Frühstück gab es schon auf Station 2 und Andi freute sich bereits. Mit einer gewissen Zufriedenheit stellte Täkel fest, dass er von dem neuen Zimmer aus zwar nicht mehr den Eingang zur Wohnung der Schlampe sehen, jetzt aber den kleinen Platz an der Seite des Hauses und den Bürgersteig überblicken konnte.

II.

Sonja hatte gute Laune. Endlich konnte sie die miefige Wohnung in Lichtenmoor hinter sich lassen. Zuerst fand sie es dort ja schön, aber leider konnte ihr Kater Migo nicht in den Garten und außerdem war es auch ganz schön weit weg von Mama, Papa und Lisa und Martin, ihren älteren Geschwistern. Die neue Wohnung in Bad Rehburg war sehr gemütlich. Vor allem war sie am Waldrand gelegen und fast direkt hinter ihrem Eingang begann ein Wanderpfad in die alten Buchenwälder der Rehburger Berge. Sonja liebte den Wald und die Bäume. Bäume waren beseelte Wesen, denen eine besondere Kraft, Weisheit und Ruhe innewohnte. Anders als die meisten ihrer Zeitgenossen verbrachte Sonja sehr viel Zeit in den Wäldern und in der Natur. Sie genoss es, immer wieder neue geheimnisvolle Plätze zu entdecken, an denen sie der stressigen Welt entrücken konnte. Noch heute stellte sie sich gerne vor, wie es wäre, als Waldelfe durch die Baumwipfel zu schweben, dem Lied des Windes zu lauschen und lange Unterhaltungen mit den alten Bäumen zu führen. Dass manche sie deswegen nicht richtig ernst nahmen und ihre Ansichten belächelten, störte sie nicht. Auch wenn sie hatte lernen müssen, dass es ihr wohl noch nicht vergönnt war, ganz in der freien Natur zu leben, hatte sie sich entschieden, ihren Beruf genau an dieser Vorstellung zu orientieren. Sie wollte Erzieherin werden, Kindern ihre Wahrnehmungen näher bringen, die kleinen Menschen für die Pflanzen- und Tierwelt begeistern. Schon jetzt konnte sie darüber lange Vorträge halten. Im letzten Jahr hatte sie ein Seminar über Wildnispädagogik besucht, seitdem hatte sie ihr Ziel klar vor Augen.

Lisa und Papa wollten heute mit ihr den Umzug über die Bühne bringen. Wie üblich waren sie nicht ganz pünktlich, aber um kurz nach 9:00 Uhr rollte Papas Pick-up mit einem Leihanhänger vor das Haus.

Nach einigen umständlichen Diskussionen, wie man wohl was am besten nach unten tragen konnte, fragte Sonja den Nachbarn, ob er mit anpacken könnte. Der muffelte zwar etwas von einem Termin nach dem Mittag, konnte Sonja ihre charmante Bitte aber letztlich nicht abschlagen. Nach einer knappen Stunde und viel Gepolter im Treppenhaus war ihr gesamter kleiner Hausstand ordentlich verladen und verzurrt und wenige Minuten später fuhr ein kurzer Konvoi, bestehend aus einem schwer beladenen Pick-up mit Anhänger und Sonjas kleinem grünen Lupo in Richtung Bad Rehburg.

III.

Mir lief der Schweiß nur so von der Stirn. Die letzten Kilometer mit dem vollgepackten Fahrrad zur Lahnquelle waren ganz schön anstrengend. Das Plätschern der Lahn, die hier nur ein kleines Bächlein war und die malerische Landschaft entschädigten mich allerdings großzügig für die Strapazen. Für einen Septembertag war es erstaunlich warm. Meine beiden Kumpels und ich hatten ein paar sehr tolle Tage verbracht. Wir waren in Koblenz mit den Rädern gestartet, um dort den Rhein zu überqueren und die Lahn bis zur Quelle aufwärts zu fahren. Gefühlt waren wir schon wochenlang unterwegs. So fühlte es sich auf den Radtouren immer an. Es gab für Geist und Seele keine bessere Erholung, schon nach den ersten wenigen Kilometern stellte sich jedes Mal ein Gefühl der inneren Freiheit ein. Es muss wohl daran liegen, dass in uns allen noch rudimentär der Jäger und Sammler lebt, den es immer wieder von der Höhle fortzieht, um sich aus eigener Kraft durch immer neue Gegenden zu bewegen. Auch wenn wir heute nicht hinter dem Wild oder wilden Kräutern hinterherjagen, so ist der gemütliche Gasthof oder der sonnige Biergarten ein hervorragendes Ziel.

 Ich hatte mich schon lange auf die Tour gefreut. Die letzte Mordkommission hatte letztes Jahr im Dezember begonnen und erst im Juni vor wenigen Monaten geendet. Eigentlich hatte ich gehofft, für längere Zeit nur ganz schlichte Fälle zu bearbeiten, wieder regelmäßig Feierabend zu haben und auch mal ein paar Stunden abbauen zu können. Leider hatte mein Vorgesetzter auf der Heimatdienststelle schon andere Pläne.

"Gut, dass du endlich wieder da bist, wir müssen unbedingt an die BTM-Szene ran. Du sollst das Verfahren übernehmen und die TÜ machen!"

Hurra! Übersetzt hieß das, die regionale dörfliche Drogenszene ist mal wieder ein wenig aus dem Ruder gelaufen und die rechtlichen Voraussetzungen und damit auch die gesetzliche Verpflichtung für eine Telefonüberwachung liegen vor.

Soviel also zur zeitweisen dienstlichen Entschleunigung.Tatsächlich gab es zahlreiche Hinweise, auch Strafanzeigen hatte es schon gegen einige Leute gegeben und so gab es natürlich keine Ausreden.

Freude kam bei mir nicht auf. Wer sich schon mal mit diesen Dauerkiffern unterhalten hat, weiß, wovon ich spreche. Die schaffen es, 15 Minuten zu telefonieren und dabei 3 Sätze zu sprechen. Oder sie sprechen in ihrer "Geheimsprache". Wenn man dann später seine Berichte schreibt, muss man erst mal ausholend erläutern, was mit Weed, Odd, T oder P und so weiter gemeint ist.

Die findigen Rechtsanwälte, die die meist jungen Herrschaften später vor Gericht vertreten, haben oft ganz andere Vorstellungen von dem am Telefon Gesagten.

 "Mein Mandant hat dem Anrufer ein Paar Schuhe angeboten, wie kommen Sie denn darauf, dass es um Drogen geht?" Oder: "Mein Mandant ist von dem Anrufer kontaktiert worden, das ist richtig. Mein Mandant kennt aber den Anrufer nicht und hat auch gar nicht verstanden was dieser von ihm wollte. In dem Telefonat kam ihm das Ganze unheimlich vor, deshalb ist er auf das Gespräch eingegangen. Diese Wörter kennen doch alle Jugendlichen."

Solche und andere kreative Ausreden gilt es im Voraus zu erahnen und von vornherein zu unterbinden.

Wenn man also denkt, das Ganze läuft wie im Fernsehen, ein paar Telefonate anhören, schnell ins Auto springen, Tür auftreten, die Strolche festnehmen und kiloweise Marihuana beschlagnahmen, liegt leider falsch.

Kurz gesagt, ich fand mich also damit ab. In den folgenden Wochen saß ich vorwiegend in meiner dunklen Bürohöhle, hatte Kopfhörer auf und die Tastatur qualmte.

Abends musste ich mir politische Diskussionen auf 3Sat oder zeitgenössische Literaturkritiken auf Arte anschauen, um das Gleichgewicht im geistigen und rhetorischen Anspruch meines Verstandes wieder herzustellen. Ganz ehrlich, nach einer Woche Telefonüberwachung im Drogenmilieu ohne entsprechenden geistigen Ausgleich und Du redest selbst wie ein Vollidiot.

"Ey Digger, is Kaffee", soll heißen: "Guten Morgen, lieber Kollege, ich habe schon Kaffee aufgesetzt."

Letztlich kam ich selbstverständlich meinem Dienst- und Treueverhältnis nach. Über die Wochen sammelten sich auch reichlich Informationen an und so gab es schließlich Durchsuchungsbeschlüsse. Eines schönen Septembermorgens flogen also bei mehreren jung-dynamischen, arbeitsscheuen Mitbürgern die Türen auf, die Jungs wurden unfreundlich geweckt und dann wurden die sogenannten Höhlen umgekrempelt. Höhlen ist in Anbetracht der Unordnung, Verschmutzung und Luftverunreinigung der Behausungen eigentlich eine Beleidigung für die Habitate von Bären, Füchsen und Spechten.

Die einzigen, die in diesen Räumlichkeiten mit Begeisterung vorgehen, sind die Drogenspürhunde.

Gefunden wurde ziemlich wenig, aber doch genau das, was man üblicherweise bei Kleindealern findet.

Beschlagnahmt wurde auch alles mögliche, vor allem die Smartphones, Tablets,  und internetfähigen Konsolen. Das Ganze ist ungefähr so, als würde man einem Blinden gleichzeitig den Stock und den Hund wegnehmen.

Ich habe mich oft gefragt, warum man diese Tage der völligen Hilf- und Orientierungslosigkeit der kleinen Drogenheinis nicht sinnvoll nutzt, indem man sie sofort in den Entzug schickt und danach zu einer Ausbildung zwingt. Aber so einfach ist das eben nicht im modernen Rechtsstaat.

Übrigens geht die Arbeit nach der Durchsuchung erst richtig los. Alles muss protokolliert, jeder eingesammelte Fussel als Asservat gelistet und gespeichert werden. Danach werden diverse Berichte geschrieben, Fotogalerien, sogenannte Bildberichte, kreiert und gedruckt und unzählige beschlagnahmte Dinge zu Untersuchungsstellen verschickt. Danach heißt es meistens warten, mindestens ein paar Tage, manchmal mehrere Wochen.

"Wenn die Durchsuchungen gelaufen und die Untersuchungsanträge verschickt sind, brauche ich wirklich mal eine Woche frei", hatte ich meinem Vorgesetzten schon vorher erklärt.

Und in dieser freien Woche befand ich mich jetzt.

Die Tour näherte sich ihrem Ende, als wir an dem malerischen Gasthof an der Lahnquelle eintrafen. Bevor wir etwas anderes begannen, setzten wir uns an einen Tisch und genossen ein alkoholfreies Weizenbier und bestellten leckere Schnitzel und Pommes, genau das Richtige nach den Anstrengungen.

Extra große Portionen für hungrige Radler sorgten alsbald für Wohlbefinden und gleichzeitig für ein langsames Einsetzen einer gewissen Müdigkeit.

Um nicht in Verdauungsstarre zu verfallen, erhoben wir unsere zugegeben etwas schwerfälligen Leiber und suchten draußen die Quelle.

Die Lahnquelle ist ein kleiner Teich unter Bäumen im Garten des Gasthofes. Über einen schmalen Überlauf aus Feldsteinen ergießt sich die frisch geborene Lahn als Rinnsal über eine sanft abfallende Kuhweide in Richtung der Wälder und Dörfer. Kaum vorstellbar, dass aus diesem Bächlein in nur wenigen hundert Kilometern ein breiter Fluss wird, der sich in vielen Schleifen durch die Mittelgebirge windet, um schließlich in den Rhein zu münden. Für den Abend hatten wir ein Zimmer in einer gemütlichen Pension in einem kleinen Dorf gebucht. Die Gastgeberin, eine sehr freundliche ältere Dame hatte vorausschauend genügend Bier kaltgestellt, sodass wir den Tag sorglos ausklingen lassen konnten.

Unseren letzten Tag und die Rückreise hatten wir von vornherein nicht konkret geplant. Wir hatten uns das Endziel der Radtour offen gelassen, wollten vielleicht eine Stadt im Sauerland anfahren, um dort für den Rest der Strecke in den Zug zu steigen.

Als wir am nächsten Tag die Drahtesel beladen und nach einem ausgiebigen Frühstück wieder voller Energie steckten, beschlossen wir, einfach erst mal Richtung Norden durch das Sauerland zu radeln und gegen Mittag zu sehen, wie weit wir bis dahin gekommen sind.

Es wurde wieder ein toller Tag bei Sonnenschein in den herrlichen Landschaften und beschaulichen Dörfern des Sauerlandes. Dank der teilweise toll ausgebauten Radwege schafften wir schon bis mittags viele Kilometer und beschlossen, zunächst einfach über den Hennesee und Warstein Richtung Heimat zu fahren.

Am Nachmittag kamen wir in Anröchte an und wurden von einem Regenschauer überrascht. Glücklicherweise fanden wir Unterschlupf in einer Bäckerei, wo es zu unserem Entzücken eine Riesenauswahl an Kuchen und Torten gab. Nach wenigen Minuten hatten wir den Regen vergessen und füllten unsere Kalorienspeicher großzügig auf. Und so beschlossen wir, heute noch mit dem Rad bis zu unseren Endzielen im Münsterland und Bielefeld zurückzufahren.

Kurz hinter Anröchte trennten sich also unsere Wege und ein Kumpel wandte sich westwärts. Zu zweit radelten wir weiter bis Bielefeld. Wir kamen gegen Mitternacht an, hatten immerhin 160 teils bergige Kilometer hinter uns und waren entsprechend erschöpft. Mein Auto stand bei meinem Kumpel und so kam ich gegen 01:30 Uhr mit schweren Beinen, aber entspanntem Geist, wieder zu Hause an.

IV.

Am nächsten Morgen bemerkte ich einen recht ausgeprägten Muskelkater in meinen Beinen. Es war Sonntag, der 20. September 2015. Auf dem Kalender stand nur ein Geburtstag in der Verwandtschaft, es sollte also ein entspannter Tag werden, ein bisschen faulenzen, nachmittags eine gemütliche Familienrunde und danach noch auf die Couch. Ich hatte wohlweislich für den morgigen Montag Spätdienst geplant, um nach der Radtour nicht gleich wieder morgens ganz früh aufstehen zu müssen.

Über den Tag hemmte mich mein Muskelkater doch sehr und ich war froh, als wir gegen 17:00 Uhr wieder zu Hause waren und mich auf das Sofa fallen lassen konnte.

Der Gedanke an die zahlreichen Akten auf der Dienststelle wollte mir einen Moment die Stimmung verdunkeln, doch dann entschloss ich mich, die anstehenden Arbeiten in den nächsten Wochen in Ruhe und Sorgfalt nach und nach zu erledigen. Mit dem Ende der Telefonüberwachung und nach den Durchsuchungen endete normalerweise für längere Zeit der Stress und in den anderen Deliktsfeldern sah es vor meinem kurzen Urlaub recht übersichtlich aus. Ich hätte also im Grunde nun endlich die Zeit, die ich mir nach Ende der letzten Mordkommission erhofft hatte, auch wenn Drogensachen nicht unbedingt mein Lieblingsaufgabenfeld darstellten. Wenigstens erst mal ein paar Wochen ohne Stress.

Dachte ich...

V.

Sonja suchte ihr Lieblings-T-Shirt und fand es nicht. Wahrscheinlich war es ausgerechnet in dem letzten Karton mit Klamotten gelandet. Den hatte sie noch nicht ausgepackt, er stand nämlich noch unter denen mit Büchern und den Küchengerätschaften, die sie nicht so oft brauchte.

Sie kramte den Karton hervor und fand erleichtert das T-Shirt.

Es war kurz vor 20:00 Uhr, gleich müsste Olli da sein, der Lebensgefährte ihrer Schwester Lisa. Olli hatte zwei Karten für ein Konzert von Mythods, einer Band die sie sehr mochte, die aber nur wenige kannten. Sonja liebte die Musik, eine Mischung aus Gothic Rock und sanften Balladen, ob es dafür auch eine eigenen Bezeichnung gab, wusste sie nicht. Die Texte gingen ihr unter die Haut, sie handelten von der Natur, von mystischen Wesen, von Beziehungen der Lebewesen  und natürlich auch von der Liebe. Die Liebe empfand Sonja als sehr mystisch. Vor allem die vergangenen beiden Jahre hatten sie sehr geprägt, als sie eine dauerhafte, rein virtuelle Fernbeziehung mit Ronny geführt hatte. Ronny war ein sehr gutaussehender Mann, Ende 20, und wohnte auf einem renovierten Resthof bei Karlsruhe. Sie hatten sich über das Internet kennengelernt, Sonja hatte sich sofort in sein Foto verguckt und Ronny entpuppte sich mit allem was er von sich preis gab als ihr Traummann. Er hatte längere blonde Haare, grüne Augen, war schlank und sportlich und lebte seinen Traum von einem Gnadenhof für Tiere eingebettet in die Natur.

Jede neue E-Mail von ihm, jeder abendliche Anruf, jedes neue Bild, hatte ihr Herz höherschlagen lassen. Sie hatte sich darauf eingelassen, dass sie sich erst persönlich treffen sollten, wenn alles perfekt sei. Er hatte gesagt, sie hätten etwas ganz Besonderes, eine Liebe im Geist, etwas Überirdisches, ohne zeitlichen Druck sich auf körperlicher Ebene zu früh begegnen zu müssen. Sonja hatte das fasziniert, er war so ganz anders, als die Freunde die sie bisher gehabt hatte. Sie hatte sich ganz darauf eingelassen, die nächtlichen Telefonate genossen, sich seinen Worten hingegeben, das Kribbeln der erotischen Fantasien gespürt. Ronny hatte es verstanden, sie auf einer Ebene zu erregen, wie es vor ihm niemandem gelungen war. Niemals hätte sie erwartet, dass sie beim Telefonsex die schönsten Orgasmen erleben könnte, spüren könnte, wie sie sich mit ihm in ihrer Seele vereinigte, mit ihm eins würde. Lange Zeit empfand sie eine Erfüllung, vielleicht getragen von der Fantasie eines bald bevorstehenden gemeinsamen Lebens.

Doch nach anderthalb Jahren wollte sie nicht mehr warten, nach und nach kam zu der Sehnsucht und der fantasievollen Vorstellung der großen Liebe auch ein Gefühl von Zweifel. Hielt Ronny sie doch nur hin? War er vielleicht verheiratet? Gab es den Hof gar nicht?

Sie wollte ihn endlich sehen, ihr Geist und ihr Körper sehnten sich nach ihm. Doch als sie vehementer wurde, ihn für sich einfordern wollte, zog er sich zurück. Ihr Misstrauen wuchs, gleichsam eine tiefe Enttäuschung und Traurigkeit.

Deshalb machte Sonja im Sommer mit Ronny Schluss, ohne ihn jemals gesehen zu haben. Eine Stimme in ihr sagte ihr, dass etwas nicht richtig war, dass sie es beenden müsse.

Sie kapselte ihn ab, wollte ihn vergessen oder wenigstens aus ihrem Denken und Fühlen verdrängen. Auch das war mit ein Grund, warum sie sich einen neuen Wohnort gesucht hatte. 

Sonja hatte nur mit sehr wenigen Mitmenschen über Ronny gesprochen. Weder hatte sie ihre tiefsten Gefühle zu ihm verraten, noch von ihren Erlebnissen mit ihm berichtet. Ein wenig hatte sie sich auch davor gescheut, manchmal verstand sie sich selbst nicht.

Selbst Denise, ihrer besten Freundin, hatte sie nur das Nötigste von Ronny erzählt. Denise hatte sie vor etwa 2 Jahren kennengelernt, als die Ausbildung zur Sozialassistentin begonnen hatte. Denise war einige Jahre jünger, war schon mit 16 bei ihren Eltern ausgezogen und wusste, was sie wollte.

Als sie Denise kennenlernte, war sie schon mit Ronny zusammen. Wenn sie sich heute fragte, warum sie Denise niemals tiefer in ihre Gefühle und Erlebnisse mit Ronny eingeweiht hatte, fand sie keine genaue Antwort. An Denise konnte es nicht liegen, sie hatten sich gesucht und gefunden und es gab von Anfang an ein tiefes Vertrauensverhältnis zwischen beiden. Sonja fragte sich, ob irgendetwas in ihr schon immer gespürt hatte, dass etwas an Ronny nicht echt war. Sie wollte das Thema abschließen, nicht mehr darüber sprechen, auch nicht mit Denise.

Sonja hatte beschlossen, für eine längere Zeit keine Männer mehr an sich heranzulassen. Das hieß nicht, dass sie sich jeden Kontakt und jeden Spaß verbot, aber von einer Beziehung wollte sie nichts wissen. Wichtiger war es ihr geworden, zu sich selbst zu finden, erst einmal gut für sich selbst zu sorgen.

Heute freute sie sich auf das Konzert und den Abend mit Olli. Olli war ein entspannter Typ, bei dem sie sich wohl und sicher fühlte, auch weil sie seine tiefe Liebe zu ihrer Schwester Lisa spürte. Die beiden waren schon lange zusammen und hatten zwei süße Kinder, die Sonja beide in ihr Herz geschlossen hatte.

Mit Olli konnte sie über alles reden, er konnte auch stundenlang zuhören, hatte nicht den Drang, alles moralisch zu werten und er sah die Welt mit ähnlichen Augen wie Sonja selbst. Dass er nicht viel von Arbeit und Produktivität hielt, störte Sonja nicht.

Olli war schon viel herumgekommen, hatte eine längere Zeit bei den Indianern in Nordamerika verbracht und viel über deren Weltanschauung gelernt. Außerdem war er sehr musikalisch, kannte sich sehr gut in der Branche aus und teilte Sonjas Musikgeschmack. Lisa hatte nichts gegen die enge Beziehung zwischen ihrem Partner und ihrer kleinen Schwester, sie wusste, dass Olli ein bisschen Ersatzvater für Sonja war. Papa selbst war ein fürsorglicher Mann und immer hilfsbereit, aber tiefgründige Gespräche führen, das war nichts für ihn.

Und Mama war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Seit der Trennung ihrer Eltern hatte Mama sich zurückgezogen, ergab sich ihrem Selbstmitleid und sprach nur noch über Krankheiten und Sorgen. Insofern war Lisa froh, dass Sonja mit Olli über alles reden konnte.

Lisa hatte es nicht immer leicht gehabt. Lange hatte sie sich Kinder gewünscht, lange hatte es nicht geklappt, bis endlich Sonjas kleine Neffen auf die Welt kamen. Auch wenn sie ihren Partner von Herzen liebte, er war nicht so richtig der Mann im Haus, der die Familie ernährte. Von geregelter Arbeit hielt er nicht viel, er konnte ganze Tage sinnierend mit seiner Gitarre verbringen, Liedertexte schreiben oder Melodien ausprobieren. Zum Lebensunterhalt trug dies leider nicht viel bei. Olli genügte das, was man vom Staat zum Leben erhielt, hier kannte er auch die richtigen Wege, um nicht zur Arbeit gezwungen zu werden.

Um etwas mehr zur Verfügung zu haben, musste Lisa deshalb selbst tätig werden.

Seit die Kinder das Kindergartenalter erreicht hatten, hatte Sonja sich ihr wieder etwas mehr zugewandt und seit sie nach Bad Rehburg gezogen war, war sie auch schon öfter zu Besuch gekommen. Lisa hatte ein gutes Gefühl in Bezug auf ihre kleine Schwester, der Umzug schien ihr gutgetan zu haben.

Bei Sonja läutete die Türklingel. Sie drückte auf den Türsummer und rief Olli dann über die Treppe zu, er solle noch kurz nach oben kommen. Sie hörte ihn die Treppe hinauf schlurfen und flitzte noch einmal schnell ins Bad. Olli schlug vor, gleich loszufahren, dann müssten sie auf jeden Fall nicht hetzen und quatschen könnten sie auch im Auto.

Das Konzert war perfekt. Es war ein sehr kleines Event mit nur etwa 100 Gästen und so konnte Sonja "Mythods" hautnah erleben. Danach kaufte sie am Merchandising-Stand ein T-Shirt der Gruppe und wollte dann auf die Autogrammstunde warten. Allerdings hatte Olli, selbst schon bei Events aufgetreten, eine bessere Idee, vor allem, weil er die Location kannte. Er nahm Sonja an die Hand und führte sie am Backstagebereich vorbei über den Hof in ein anderes Gebäude hinein. Hinter der Tür traten sie in einen Raum, aus dem sie alle fünf Bandmitglieder verblüfft anschauten. Sonja war ganz außer sich und fand keine Worte. Die Jungs von der Band waren nach dem ersten kurzen Schreck von dem forschen Auftritt angetan und so bekam Sonja Exklusiv-Autogramme auf ihr neues T-Shirt und ein Foto mit der Band gab es obendrein.

Auf der Rückfahrt war Sonja noch voller Euphorie, konnte gar nicht aufhören zu reden und der Redebedarf war auch bei ihrer Ankunft an der Wohnung keinesfalls gedeckt. So begleitete Olli sie noch in die Wohnung, in der die Unterhaltung noch weiterging bis Olli meinte, so langsam könnte sich Lisa Sorgen machen. Er trat die Heimreise an. Er ahnte nicht, dass er das letzte Familienmitglied war, das Sonja lebend sah.

Am nächsten Morgen, es war Freitag, verschlief Sonja. Sie wurde wach, als ihre Klassenkameradin Tabea anrief und sie fragte, ob sie rauskommen würde. Sonja und Tabea fuhren freitags meistens zusammen mit dem Auto zur Berufsschule, weil Tabea sowieso durch Bad Rehburg fuhr.

Sonja erklärte ihr, dass sie verpennt habe und nachmittags sowieso noch etwas in Nienburg zu erledigen habe. Tabea solle schon weiterfahren, sie käme selbst nach. In aller Eile zog sie sich an, natürlich auch das neue T-Shirt, und fuhr mit ihrem grünen Flitzer zur Berufsschule.

In der Schule traf sie Denise und Tabea und berichtete beiden ausführlich von dem Konzert. Tabea unterbrach sie und erklärte ihr, dass aus ihrem geplanten Treffen am Samstag nichts werden würde. Sie habe einen schon lange abgesprochenen Termin mit einer anderen Freundin vergessen. Die beiden sprachen ab, sich am Samstag darauf zu treffen. 

Der Tag verging wie im Flug, es ergab sich auch nichts anderes für das Wochenende und so nahm Sonja sich vor, auszuschlafen und dann später nach Loccum in den Klosterwald zu fahren, um ein wenig zu lernen und auszuspannen.

VI.

Heinz Täkel war auf dem Weg in die Praxis für Physiotherapie am Ende der Straße. Inzwischen hatte er die Erlaubnis, sich zu den Ausgangszeiten im gesamten Bereich der Ortsteile von Rehburg-Loccum frei zu bewegen. Nur noch wenige Tage ohne Regelverstöße, dann erhielt er die zweithöchste Stufe der Freigängerrechte, also freie Verfügung über das Wochenende und Reiseerlaubnis in ganz Niedersachsen.

Zu den Terminen zur Lymphdrainage in der Praxis ging er schon seit Wochen allein. Die große Operation an seinem Raucherbein war schon einige Monate her, aber solange er noch über Druckschmerzen klagte, verschrieben ihm die Ärzte in der Besserungsanstalt immer wieder neue Termine zur Lymphdrainage. Die lange Zeit in der geschlossenen Abteilung hatte sein Raucherbeinproblem nicht gerade verbessert, sodass die Operation am Ende notwendig wurde.

Jetzt hatte er durch die tägliche Gartenarbeit wieder mehr Bewegung und seit Kurzem hatte er auch ein gebrauchtes Fahrrad für seine unbegleiteten Ausgänge erhalten.

Endlich hatte er die Zeit mit den begleiteten Ausgängen hinter sich, endlich durfte er ohne Wärter durch sein Revier streifen.

Die regelmäßigen Lymphdrainagen an seinem Bein waren die Highlights der Woche. Jedes Mal hoffte er, die jüngere der beiden für ihn zuständigen Physiotherapeutinnen würde sich um ihn kümmern. Sie war schlank, vielleicht 1,60m groß und hatte lange, gewellte, dunkle Haare. Sie wirkte eher schüchtern, konnte aber zufassen.

Er lag ohne Hose auf der Behandlungsliege und genoss die gleichmäßigen kräftigen Ausstreichungen an seinem Bein. Er musste sich konzentrieren, um keinen Ständer zu bekommen. Ein Gedanke an sein Elternhaus ließ das warme Kribbeln in seiner Körpermitte sofort verschwinden.

"So, Herr Täkel, das war es für heute, wie fühlt sich das Bein an?", fragte die junge Frau schüchtern.

"Gut", sagte er, setzte sich auf und ergriff seine Jeanshose, streifte sie über seine Füße und zog sie hoch. "Wann ist der nächste Termin?", wollte er wissen.

"Warten Sie bitte, ich schaue nach", die junge Frau verließ das Zimmer.

"Dumme Fotze, du weißt auch nie was", dachte er still bei sich und grinste.

Er trat aus dem Zimmer an die Rezeption.

"Ihr nächster Termin ist am kommenden Mittwoch um 11:00 Uhr."

"Okay", murmelte er und verließ die Praxis ohne sich zu verabschieden.

Mürrisch betrat er das Anstaltsgebäude und ging zur Station 2. Heute Nachmittag war Gruppentherapie, wieder eine geschlagene Stunde das Gelaber von Dr. Kurz und den dämlichen Wärtern. Dann wieder die Fragen und die schlauen Antworten von den Viechern, besonders von seinem pädophilen Zimmergenossen Andi.

Bis zum Mittagessen hatte er noch eine halbe Stunde Zeit, Andi musste mit den anderen in der Tischlerei knechten, die Wärter hockten zusammen im Dienstzimmer. Er meldete sich kurz zurück und ging auf sein Zimmer. Eine halbe Stunde reichte aus, um sich noch einmal um sich selbst zu bemühen.

Er zog die Vorhänge zu, griff sich ein Taschentuch und legte sich auf sein Bett. Er öffnete seine Hose, nahm seinen Schwanz in die Hand und schloss die Augen. Er ging im Geist eine halbe Stunde zurück, legte sich wieder auf die Behandlungsliege. Die massierenden Hände der Physiotherapeutin suchten langsam den Weg von seinem Knie hoch zur Leiste. Sie glitten weiter nach innen und griffen in seine Unterhose, massierten weiter. Ihr Oberkörper beugte sich vor, er richtete sich ein wenig auf und ergriff mit beiden Händen ihren schlanken Hals. Sie erschrak und starrte ihn an, die Bewegungen stellte sie ein. "Mach weiter oder ich mach hier weiter", flüsterte er ihr zu. Keuchend mit angsterfüllten Augen massierte sie weiter.

Er stöhnte und kam. Sorgfältig achtete er darauf, dass sein Ejakulat auf dem Taschentuch landete. Viel war es nicht, wie auch, wenn er es sich mehrmals am Tag besorgte. Ein paar Minuten gönnte er sich noch, hing der Vorstellung nach, wie die junge Frau in Todesangst ihr Werk vollendete. "Heute Abend komme ich wieder", raunte er und öffnete entspannt die Augen.

Am nächsten Mittwoch traf er wie immer kurz vor dem Termin in der Praxis ein. Am Tresen saß die ältere Bürokraft, die er dort nicht jedes Mal sitzen sah. Er grüßte nicht, sondern sagte nur: 

"Täkel, mein Termin ist um Elf."

"Ja, Herr Täkel, bitte nehmen Sie noch ein paar Minuten Platz. Frau Meyer ist leider plötzlich erkrankt und wir konnten nicht so schnell die Termine absagen. Frau Kollhaus hat jetzt bis zum Mittag die Patienten mit übernommen, deshalb müssen wir aber die Zeiten deutlich straffen und Sie müssen leider etwas warten."

"Ja", er setzte sich auf einen Stuhl. Das waren zwei Ärgernisse gleichzeitig, er hasste es zu warten und Frau Kollhaus war die ältere Physiotherapeutin. Sie machte zwar ordentliche Arbeit, hatte aber ein Pferdegesicht und regte seine Fantasie nicht im Mindesten an.

Nach 5 Minuten kam sie allerdings schon um die Ecke. 

"Guten Tag, Herr Täkel, wir können sofort beginnen, die Patientin nebenan ist so freundlich und macht die Übungen an den Geräten selbständig, sodass ich mich schon um Sie kümmern kann.“

Die Tür zum Geräteraum stand einen Spalt offen. An einem der Geräte saß eine junge Frau, sie hatte die Arme ganz nach oben gestreckt, sodass ihr schwarzes T-Shirt ein wenig von ihrer hellen Rückenhaut freigab. Täkel sah brünettes Haar, zu einem glatten kurzen Zopf gebunden und eine dunkle Brille. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen.

Die Behandlung war wie üblich auch bei Frau Kollhaus gut, sie traf die Stellen am Bein sogar noch etwas präziser. So war er nach den 20 Minuten trotz der vermeintlichen Unannehmlichkeiten entspannt und das Bein fühlte sich gut an.

Als er die Tür öffnete huschte die junge Frau vorbei Richtung Ausgang. Er hörte wie sie "Tschüss" sagte und Frau Kollhaus entgegnete: "Danke, dass das selbständig so gut geklappt hat! Auf Wiedersehen, Herr Täkel, Ihr nächster Termin ist am Freitag um 10 Uhr.“

"Tschüss", sagte er halblaut und trat den Rückweg an. Interessiert stellte er fest, dass die junge Frau, die eben die Praxis verlassen hatte, etwa 30 Meter vor ihm auch in Richtung Anstalt ging.

Er hielt den Abstand und beobachtete, wie sie die Straßenseite wechselte und zu der Eingangstür des Hauses gegenüber ging, um dann in dem Haus zu verschwinden.

Er überlegte. Die Schlampe von gegenüber hatte er schon länger nicht gesehen, hatte darüber aber nicht weiter nachgedacht, weil er ja seit dem Umzug auf die 2 den Eingang nicht mehr beobachten konnte. Seit wenigen Wochen stand ein grüner Kleinwagen regelmäßig an der Hausseite.

Die junge Brünette musste zu dem Auto gehören und dort jetzt wohnen. Er würde mal welche von den Viechern ausfragen, die sich oft draußen herumtrieben.

Wenige Tage später wusste er mehr. Die Schlampe war weggezogen, jetzt sollte da eine Neue wohnen, die aber niemanden beachtete und etwas bieder aussah. In den nächsten Wochen sah er sie nicht mehr, allerdings stand abends fast immer das Auto da. 

An diesem Donnerstagabend saß er wieder einmal am Fenster und beobachtete die Zufahrtsstraße zur Einfahrt. Es war kurz vor 20 Uhr, als ein älterer, höherer Wagen, so eine Familienkarre, in die Zufahrt einbog und langsam weiterfuhr. Auffällig langsam. Draußen war es noch ziemlich hell und auf dem Fahrersitz saß ein Mann mit längeren, zotteligen Haaren, der sich umsah. Der Wagen fuhr bis zu dem grünen Kleinwagen und blieb dort stehen.

Täkel dachte bei sich, wie dämlich der Typ sich da mit dem Auto hinstellte. Er konnte die Fahrerseite nicht mehr sehen. Er beobachtete weiter. Plötzlich ging an dem Wagen das Licht an und er setzte sich in Bewegung, fuhr die Straße langsam zurück. Der Zottel saß wieder auf dem Fahrersitz, auf dem Beifahrersitz saß die junge Frau, brünett, dunkle Brille. Das musste sie sein. Neugierig starrte er dem Wagen hinterher, bis er ihn nicht mehr sehen konnte.

VII.

Ich hatte es mir mit meinem iPad und einem Sudoku auf dem Sofa gemütlich gemacht. Irgendwie überkam mich ein bisschen die Müdigkeit, deshalb legte ich das Tablet weg und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange und ich war eingedöst. Ich hatte noch nicht lange geschlafen, als das Festnetztelefon klingelte. Wie üblich ging meine liebe Ehefrau Britta an das Telefon, meistens war es sowieso für sie.

"Der liegt auf dem Sofa, warte mal, ich gebe ihn dir", konnte ich hören. Etwas verwundert hörte ich die Stimme von Hansi, meinem Vorgesetzten. "Na, hast du dich gut erholt?", wollte er wissen. "Ja, ich habe den Kopf wirklich gut freibekommen, allerdings haben wir uns gestern noch 160 Kilometer angetan und jetzt bin ich doch ganz schön kaputt. Bin froh, dass ich morgen erst zum Spätdienst kommen muss. Was hast du denn auf dem Herzen?"

"Du musst dich in Nienburg melden, die MoKo ist aufgerufen. Wir hatten letzte Woche eine Vermisstensache, eine 23-jährige Frau aus Bad Rehburg. Heute wurde sie im Loccumer Wald gefunden, tot. Die sind gerade noch bei der Tatortarbeit, den letzten Sachstand kenne ich auch nicht.“

"Super", dachte ich. "Ist gut, ich rufe da mal an, wahrscheinlich darf ich gleich antanzen."

"Lass dich nicht so lange binden, wir brauchen dich in Stolzenau", hörte ich noch, dann verabschiedete ich mich. Ich legte das Telefon auf den Tisch und setzte mich hin. "Nicht schon wieder", dachte ich. Ich fühlte, wie sich mein Bauch zusammenzog. Ich war so froh gewesen, wenigstens nun erst mal überschaubare Arbeit machen zu dürfen, auch wenn es nur diese ungeliebten Kleindrogengeschichten waren. Aber das waren hauptsächlich Jugendliche oder junge Erwachsene, mit denen ich es da zu tun hatte und irgendwie hatte ich zu denen immer einen ganz guten Draht, vielleicht merkten sie, dass ich nicht von ganzem Herzen Bulle war.

Ich haute einmal mit der Faust auf die Sitzfläche des Sofas. Britta erschrak und schaute mich mit großen Augen an. "Alles okay?"

"Nein. In Nienburg ist die MoKo aufgerufen, in Loccum im Wald gibt es eine Frauenleiche. Ich muss dort jetzt anrufen, wahrscheinlich warten die schon. Hansi wusste gerade auch nicht mehr. Ich könnte könnte zu viel kriegen, ich bin so kaputt und jetzt muss ich wahrscheinlich da gleich hinfahren und die ganze Nacht arbeiten."

"Wie schrecklich! Die andere MoKo ist doch gerade erst zu Ende gewesen."

"Ja, Süße, nützt ja nichts, ich rufe jetzt an."

 Kurz danach erreichte ich jemanden in Nienburg, ich weiß gar nicht mehr, wen. Jedenfalls sollte ich so schnell wie möglich herkommen.

Dort herrschte die Chaos-Phase. Fast alle einsetzbaren Kolleginnen und Kollegen waren zum Leichenfundort gefahren und nun musste nach und nach alles koordiniert werden.

 Ich sagte zu, mich direkt auf den Weg zu machen. Nachdem ich mich wieder ordnungsgemäß gekleidet hatte, fuhr ich zur Dienststelle nach Nienburg.

Wie erwartet herrschte noch ein großes Durcheinander und ich hörte hier ein paar Brocken und da ein paar knappe Sätze. Etwa um 20:30 Uhr war der MoKo-Raum voll und Rainer Busch, Chef des Kommissariats für die Todesermittlungssachen, ergriff das Wort, um alle auf einen Sachstand zu bringen.

 "Hallo zusammen. Wie ihr gehört habt, ist die MoKo aufgerufen und wir werden wohl einen Haufen Arbeit vor uns haben. Heute Nachmittag wurde die 23 Jahre alte Sonja Schuiten von ihrem Papa im Wald hinter dem Loccumer Kloster gefunden. Tot, versteckt unter Ästen und Gras. Die Stolzenauer hatten seit Mitte der Woche die Vermisstensache bearbeitet, hatten auch mit Hunden gesucht, aber nichts gefunden. Der Erkennungsdienst und die Tatortgruppe sind vor Ort, es ist alles weitläufig abgesperrt und die Tatortarbeit läuft noch auf vollen Touren. Die Rechtsmediziner aus Hannover sind auf dem Weg. Wir haben überhaupt nichts Genaueres. Der Vater wird gerade von Frank und Anita vernommen. Er hat seine Tochter heute am späten Nachmittag gefunden und direkt Anita angerufen, weil sie auch im Rahmen der Vermisstensache mit ihm gesprochen hatte.

Der Papa ist unser erster Anhaltspunkt, ich kann noch nicht abschätzen, wie es weitergehen wird.

Was wir bisher wissen ist, dass ihr Auto in Loccum auf dem Marktplatz stand, das wurde dort schon am Donnerstag bemerkt. Der Wagen wurde beschlagnahmt und in unsere Garage gebracht. Durchsucht ist er schon, es wurde nichts Besonderes gefunden.

Die Familienmitglieder wissen alle schon Bescheid, der Vater hatte das direkt weitergegeben.

Die Wohnung ist versiegelt, da waren die Stolzenauer aber auch schon im Laufe der Woche drin.

Das Handy ist aus, es war schon die ganzen Tage aus, wie weit die Verkehrsdaten jetzt schon vorliegen, weiß ich nicht.

Die Aktendatei ist schon gesperrt, da kommen jetzt nur noch die ran, die in der MoKo als Sachbearbeiter und Funktioner gespeichert sind. Wer die Daten nicht aufrufen kann, muss sich bei mir melden, ich schalte euch dann dafür frei. Presseinformationen laufen nur über mich, die Bildzeitung war auch schon vor Ort.

Die Feuerwehr ist ebenfalls da, die sperren mit ab und haben Lichtmasten aufgebaut. Die Stolzenauer sind mit zwei Streifenwagen da, ich hab sie gebeten, von allen Feuerwehrkollegen die Daten aufzunehmen.

Jetzt schlage ich vor, ihr lest euch soweit möglich in die Daten ein, zu der Vermisstensache gibt es ja schon Berichte und dann warten wir ab, was die Vernehmung von dem Vater ergibt und wie weit die Tatortarbeit heute noch voranschreitet.

Ich kümmere mich jetzt darum, wie wir den Leichenfundort und die Wohnung heute Nacht bewachen."

 Gut, nun hatten erst mal alle etwas zu tun. Das Wichtigste am Anfang ist, möglichst schnell einen Überblick zu gewinnen und sich frühzeitig auf seine eigenen Aufgaben zu konzentrieren. Meine Aufgabe in der MoKo war grundsätzlich die Arbeit rund um den Tatverdächtigen.

Soweit ich alles verstanden hatte, gab es bisher keinen. Opfer und Angehörige des Opfers waren der Part von Frank und Anita und noch von einigen anderen Teams. Das fand ich auch gut so. Ich konnte wohl professionell mit den widerwärtigsten Typen umgehen, aber Eltern betreuen, die gerade erfahren hatten, dass sie ihre Tochter verloren haben, war nicht mein Ding.

So suchte ich mir erst mal Günter. Günter war im Organigramm mein Partner für den Part Täterarbeit und hatte eben auch mit im Kreis gesessen, war aber ziemlich schnell wieder in dem allgemeinen Gewusel nach Rainers Ansprache verschwunden.

Ich fand ihn in seinem Büro, ein Stockwerk weiter oben.

"Na, Paul, das ist ja eine schlimme Geschichte, die da auf uns zukommt. Ich habe gerade Kaffee gekocht, möchtest du auch?"

 Ich nahm dankend an. In Nienburg ist die Wasserqualität etwas besser als in Stolzenau, da schmeckt der Pulverkaffee aus den im Dauerbetrieb laufenden Schlichtmaschinen nicht ganz so schal wie in Stolzenau.

Günther wusste von der ganzen Sache auch überhaupt noch nichts. So setzten wir uns erst einmal mit einer Tasse Kaffee vor einen Bildschirm und begannen zu lesen, was schon zu lesen war.