Schreckensklaue - Mord am Dinopark - Paul Voss - E-Book

Schreckensklaue - Mord am Dinopark E-Book

Paul Voss

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

In Münchehagen, in unmittelbarer Nähe des Steinbruchs, in dem 1980 erstmals und in den letzten Jahren erneut Dinosaurierfährten gefunden wurden, sterben plötzlich ein Mensch und ein Pony auf bestialische Weise. Die Mordkommission steht vor einem Rätsel, denn alles deutet auf einen Dinosaurier als Täter hin. Natürlich will niemand an so etwas glauben, doch es gibt keine Spur, die den Ermittlern hilft, die Zeit rennt und auch die Presseberichte machen es Paul Voss und seinen Kolleginnen und Kollegen nicht leichter. Der Kriminalermittler erlebt gerade selbst einen zweiten Frühling, doch irgendwo in der Umgebung von Münchehagen und den Rehburger Bergen scheint es ein Wesen zu geben, das eiskalt mordet...

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Seitenzahl: 287

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Paul Voss

Schreckensklaue - 

Für alle,

die Dinosaurier genau so toll finden, 

wie ich selbst...

Impressum

© 2022 Paul Voss

Postfach 1264

31587 Stolzenau

www.paul-voss-buecher.de

Cover: Ronald Vieweg

Inhalt:

Prolog

1. Spaziergang in der Dunkelheit

2. Schulkontext

3. Bissspuren

4. Etwas zu viel Sorge

5. Mehr Verwirrung als Erkenntnis

6. Zwischen den Diensten

7. Saubermann

8. Tod auf dem Ponyhof

9. Ein teils entspanntes Wochenende

10. Informationsbarriere

11. Schüsse

12. Spannende Entdeckungen

Epilog

 Prolog 

Seit dem Abschluss des letzten Falles am Januarsberg bei Steyerberg hatte sich in meinem Leben eine ganze Menge ereignet. Wirklich viel Positives war nicht dabei gewesen. Britta und ich hatten unser gemeinsames Haus fertig gebaut und waren schon umgezogen, als ich spürte, dass ich dort eigentlich gar nicht leben wollte. Da wir ja nicht unbedingt dort bleiben mussten und sich der deutsche Immobilienmarkt gerade in dieser Zeit sehr verteuert hatte, witterte ich eine gute Chance, mit dem neuen Haus Profit zu machen. Natürlich war Britta nicht einverstanden und wollte meine Argumente auch nicht gerne hören. Unsere Beziehung geriet zusehends unter Spannung und ich versuchte, so wenig wie möglich zuhause zu sein. 

Zum Verhängnis, wenn man es denn so sehen wollte, wurde mir eine Zusammenkunft mit der Moko in Bremen, bei der wir den Ermittlungserfolg vom Januarsberg ein wenig feiern wollten. Dr. Gassmüller hatte sich gewünscht, dass wir uns in Bremen treffen und so waren die Kolleginnen und Kollegen mit mir ab Leese und Nienburg an einem noch sehr warmen Spätsommertag mit der Bahn nach Bremen gefahren. Herr Dr. Gassmüller hatte auch Nina Gorssen, die Rechtsmedizinerin, eingeladen. Wir waren uns schon im Laufe der Ermittlungen etwas nähergekommen und sie hatte mich auch nach einem Date gefragt. Damals hatte ich ihr abgesagt. Ich fuhr in etwas labiler Stimmung nach Bremen, die sich allerdings positiv entwickelte, als wir schon die ersten Bierchen im Zug genossen, uns gegenseitig auf die Schultern klopften und Spaß hatten. 

Dr. Gassmüller und Dr. Gorssen empfingen uns auf dem Bahnhofsvorplatz. Und dann lief alles ein bisschen wie vorprogrammiert ab. Nina Gorssen saß schon beim Essen im Restaurant zufällig neben mir und fragte mich ein wenig über mein Privatleben aus. Ich denke, sie hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Sie sah toll aus, das tat sie ja schon wenn sie arbeitete und völlig ungeschminkt und ungestylt herumlief. An dem Abend sah sie umwerfend aus. Ich sorgte im Verlaufe des Abends schon selbst dafür, dass ich nicht zu nüchtern wurde und das führte dazu, dass ich ihr mehr von meiner Gemütslage berichtete, als vielleicht angebracht war. Es kam eins zum anderen. Der Abend war insgesamt sehr fröhlich, weil alle gute Laune hatten und bis auf Dr. Gassmüller und Dr. Gorssen hielt sich auch niemand mit Bier und Wein zurück, wobei das Ganze natürlich nicht ausartete. Wir hatten irgendwann das Restaurant verlassen und waren in einer gemütlichen Cocktailkneipe gelandet und wieder saß Nina Gorssen neben mir, diesmal aber nicht mehr auf einem Stuhl sondern auf einer gepolsterten Bank. Mir fiel schon auf, dass zwischen ihr und mir nicht einmal mehr ein Schmetterling mit hochgeklappten Flügeln hätte sitzen können, aber das störte mich nicht. Als sich das Ende der Veranstaltung langsam näherte, Dr. Gassmüller, Jan und Angela waren schon gegangen, fragte Dr. Gorssen mich, wie ich denn überhaupt nach Hause käme und was denn wohl meine Frau erwarten würde. Ich weiß gar nicht mehr genau, was ich dazu gesagt hatte, aber sinngemäß hatte ich erklärt, dass ich mit der Bahn fahren und dann schon irgendwie zurück kommen würde. Bei uns auf dem Land gab es ja zur Not auch noch die Kollegen vom Streifendienst, die mich zumindest zur Dienststelle, vielleicht aber auch nach Hause bringen würden. Auf jeden Fall stand mein Fahrrad an der Dienststelle. Irgendwie erwähnte ich auch, dass es völlig egal sei, wann und wie ich nach Hause käme. Nachdem sie mir dann erläutert hatte, dass sie zwischen Bückeburg und Rinteln wohnen würde, sowieso mit dem Auto da wäre und mich dann ja auch gut mitnehmen und zuhause absetzen könnte, landete ich nicht viel später auf dem Beifahrersitz ihres Cabrios. Auf dem Weg erzählte sie mir ein wenig von sich und fragte mich ganz nebenbei, ob wir uns nicht duzen wollten. Wir lachten viel während der Fahrt und irgendwann schlug sie vor, zu halten, das Autodach zu öffnen und die Sterne anzuschauen. Damit hatte sie mich völlig eingefangen und so landeten wir auf einem Feldweg zwischen Kuppendorf und Hoysinghausen, wo man auf den Geesthügeln freien Blick nach oben hat. Es liegt nahe, dass es nicht beim Sterne gucken blieb und wir verbrachten eine ziemlich heiße Nacht unter dem Sternenzelt. 

Es endete nicht mit diesem einen Treffen und natürlich bekam Britta mit, dass etwas anders war und am Ende gestand ich ihr, was sich ereignet hatte. 

Zu meiner Erleichterung gab Britta zu, dass sie in den letzten Wochen auch nicht wirklich immer Überstunden gemacht hatte. Ihre Arbeitszeiten hatten sich zwar meinem Gefühl nach verlängert, aber ich hatte das nicht hinterfragt. Jedenfalls traf sie sich ab und zu mit einem Arbeitskollegen. Wer das war und wie lange es schon ging, wollte ich gar nicht wissen. Ich war bloß froh, dass ich nun nicht allein der Buhmann war. Vielleicht hatte ich das alles allein heraufbeschworen? Ich wusste es nicht. Vielleicht sollte es einfach so sein.

Das alles gab unserer Beziehung jedenfalls den Rest und ich bot an, eine Wohnung zu nehmen. Mir war mein Wohnort sowieso ziemlich egal, ich wollte nur für mich sein. Dank eines guten Bekannten klappte es recht schnell, ich zog in eine kleine Wohnung in Nendorf. Mein Techtelmechtel mit Nina dauerte bis heute an, wir sahen uns ab und zu, wussten aber beide nicht, was daraus werden sollte. Ich jedenfalls nahm mir vor, optimistisch nach vorn zu schauen und mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Und die sollte mich schon bald wieder voll und ganz in Anspruch nehmen...

1. Spaziergang in der Dunkelheit

Es war der 10. November 2020. Manfred spazierte schnellen Schrittes auf dem grasigen Feldweg neben dem großen Steinbruch in Münchehagen entlang. Er hatte bereits seine große Runde hinter sich. Er war an seinem Häuschen im Ortskern von Münchehagen gestartet, hoch zum Freibad und vorbei am Eingang des Dinoparks, noch ein Stück weiter Richtung Bad Rehburg gegangen, um dann in den spätherbstlich trüben Wald abzubiegen. Die Wege waren nass und teilweise rutschig. Der von Frühjahr bis Herbst so dicht belebt scheinende Wald sah nun kahl und trostlos aus. Das Grün war gewichen, nur die mit Fichten und Douglasien bestandenen Flächen schenkten dem Auge noch den Eindruck des immerwährenden Lebens im Wald.

Manfred war hier aufgewachsen und hatte das Häuschen seiner Eltern geerbt und es in Ehren gehalten. Er lebte gerne in dieser Gegend und kannte die Rehburger Berge wie seine Westentasche. Das trübe Novemberwetter hatte ihn von seinem Spaziergang nach Feierabend nicht abgehalten, die eineinhalb Stunden draußen gaben ihm schon seit vielen Jahren immer neue Energie, wenn der Arbeitsalltag im Büro in Hannover ihn schlauchte.

Heute war er etwas langsamer unterwegs, in der kalten Jahreszeit machte sich gerne seine Lendenwirbelsäule bemerkbar und so war er auch heute nur schleppend in Gang gekommen. Es war nach 17 Uhr und die Dämmerung war schon so weit fortgeschritten, dass er nicht mehr viel von der Umgebung sehen konnte. Im Steinbruch nebenan war schon Feierabend und der sich anschließende Freizeitpark mit den Dinosaurierfährten und den lebensechten Dino-Exponaten war schon seit einigen Wochen geschlossen. 

Manfred summte leise einen Schlager von Roland Kaiser vor sich hin. "Manchmal möchte ich schon mit dir..." intonierte er zaghaft und dachte an seine neue Kollegin Renate. Seit seiner Scheidung von Ellen vor fast fünf Jahren war Manfred Single geblieben. Er hatte die Vorzüge der Freiheit für sich entdeckt, es genossen, völlig frei über sich und seine Zeit entscheiden zu dürfen, zumindest über die Freizeit. Aber in seinem Job in der Einkaufsabteilung des großen Autozulieferers in Hannover gefiel es im nach wie vor gut. Und seit einigen Monaten arbeitete dort Renate im gleichen Bereich wie er. Sie war nur ein Jahr jünger als er und sie hatte einen ähnlichen Weg hinter sich. Als ihre beiden Kinder erwachsen gewesen waren, war ihr Mann ausgezogen und inzwischen war auch sie geschieden. Sie war sportlich und charmant und wirkte eher wie Ende 30 als 52 Jahre. Sie beide verstanden sich gut, hatten sich schon einige Male zum Essen und ins Kino verabredet und flirteten gerne während der Arbeit. So ganz sicher, ob sich daraus mehr entwickeln sollte, war Manfred sich nicht, doch wollte er sich Zeit lassen und sie nicht überrumpeln. "Manchmal möcht' ich so gern mit dir...", sang er wieder leise weiter. 

Plötzlich hörte er ein Knacken. Er blieb stehen und lauschte. Es war von vorn rechts gekommen, da war er sich ziemlich sicher. Nun war es still und er hörte nur das Rauschen der Autos, das von der nicht so weit entfernten Bundesstraße zu ihm drang. Langsam ging er weiter, dann blieb er noch einmal stehen und horchte. Nichts. Vielleicht nur ein Ast, der gebrochen war, dachte er für sich und setzte sich wieder in Bewegung. 

Da knackte es erneut, es musste direkt vor ihm sein, dort zwischen den Kiefern und den Büschen darunter. Noch einmal blieb er stehen. 

"Hey!", rief er in die Richtung. 

Es kam keine Antwort. Dafür brach direkt vor ihm etwas aus dem Gebüsch und sprang auf ihn zu. Manfred konnte es nicht erkennen, sah nur, dass es größer war als er. Das Etwas war sofort direkt vor ihm, Manfred sah eine zuckende Bewegung, dann traf ihn etwas in den Bauch, fast direkt auf den Solar Plexus. Ihm wurde schwarz vor Augen, er fiel vornüber, versuchte zu atmen, doch es gelang ihm nicht.  Er spürte, wie ihn etwas packte und herumriss, bis er auf dem Rücken lag. Wieder versuchte er Luft zu holen, doch sein Zwerchfell wollte noch nicht nachgeben und so entrang sich seiner Kehle nur ein heiseres Krächzen. Er spürte wie etwas grausam kraftvolles seinen Hals packte, ihn anhob und dann so schnell und brutal niederdrückte, dass sein Kopf auf den harten Feldweg aufschlug. Seine Wahrnehmung verblasste und eine gnädige Ohnmacht nahm seine Sinne in Besitz. Das wilde Reißen an seiner Kehle spürte er nicht mehr. Sein Geist versank in der Dunkelheit, sank tiefer und tiefer, bis da nichts mehr war. Außer Schwärze.

Tina stellte ihren Fiesta auf dem Parkplatz vor dem Dinopark ab. Sie und Jenny stiegen aus, Jenny ging zum Kofferraum und öffnete ihn. 

"Ich glaube, ich nehme nur meinen Rucksack mit dem Tee mit, oder? Wir werden bei dem trüben Wetter ja doch nicht ganz so lange laufen", sagte sie zu Tina.

"Ja, du hast Recht. Ich glaube, wir sind spätestens mittags zurück und dann brauchen wir unsere Picknicksachen nicht", erwiderte sie. 

Also schulterte Jenny ihren kleinen Wanderrucksack mit dem Tee in der Thermoskanne und den Bechern. Dann machten sich die beiden jungen Frauen, mit Walkingstöcken und Wanderkleidung ausgerüstet auf den Weg. Ziel war das Waldgebiet hinter dem Steinbruch bis zum Rehburger Brunnenberg. Sie wollten sich Stellen im Wald suchen, an denen man noch die alte Schaumburger Landwehr erkennen konnte. Sie marschierten los, die Alte Zollstraße entlang, vorbei am Dinopark und den Zuwegungen des Steinbruchgeländes, um dann in östlicher Richtung in den Feldweg einzubiegen. Das Wetter war, wie die ganzen Tage schon, ziemlich nasskalt. Das Außenthermometer des Autos hatte 8 Grad Celsius angezeigt und die Luft war nach wie vor neblig dunstig. Man konnte meinen, das Wetter wollte sich noch nicht so richtig entscheiden, ob es nun regnen wollte oder nicht. Aber das sollte die beiden outdoorerfahrenen jungen Frauen nicht von einem Wandervormittag abhalten. Tina hielt kurz inne und zückte ihr Smartphone aus der Beintasche.

"Ich hab vergessen, die Route mit der App aufzuzeichnen", erklärte sie. "Jetzt läuft es aber."

"Du und deine Aufzeichnungen", entgegnete Jenny kopfschüttelnd, aber mit einem Schmunzeln. 

"Irgendwann in ein paar Jahren sitzen wir mal mit unseren Wanderkarten zusammen und...", begann Tina.

"Und dann können wir das alles in Gedanken nochmal nacherleben", fiel ihr Jenny lachend ins Wort. 

Beide begannen zu lachen. Sie genossen es, viel Zeit gemeinsam zu verbringen, besonders, weil sich dies im nächsten Jahr schon ändern konnte. Tina studierte in Hannover Geodäsie und interessierte sich auch deshalb sehr für die landschaftlichen Veränderungen in der Gegend. Jenny studierte Wirtschaftswissenschaften. Ihnen beiden war bewusst, dass sich im nächsten Jahr ihre Wege voneinander entfernen würden, je näher Referendariat und Abschluss rückten. Sie wollten ihr Zweier-WG Leben möglichst lange fortführen, aber dass sie nach der Uni in Hannover bleiben würden, war doch recht unwahrscheinlich.

"Halt mal", mahnte Jenny plötzlich. "Was ist das da?"

Beide blieben stehen. Vielleicht 50 Meter vor ihnen lag etwas auf dem Weg.

"Ist das ein Tier?", antwortete Tina fragend. 

"Ich weiß nicht, kann ich nicht erkennen, aber das liegt doch da irgendwie komisch. Ich hab ein komisches Gefühl. Wollen wir lieber umdrehen?", flüsterte Jenny. 

"Quatsch, wissen will ich das schon. Ich klatsche mal", erwiderte Tina etwas forscher, hob die Hände und klatschte ein paarmal. Dazu rief sie laut: "Hey! Hey!"

Aber es passierte nichts. Langsam schlichen sich die beiden näher und näher.

"Oh mein Gott Jenny, da liegt ein Toter. Und er sieht schlimm aus!", rief Tina, die sich etwas näher heran gewagt hatte als Jenny. 

Jenny kam näher, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und kreischte schrill.

"IIIIIIhhhh!"

Sie drehte sich um und erbrach sich laut stöhnend auf den Feldweg. 

Tina tat noch zwei Schritte auf den Leichnam zu, der mitten auf dem Feldweg lag. Der Anblick, der sich ihr bot, war grauenhaft. Der Tote schien ein Mann zu sein, er lag auf dem Rücken und seine weit aufgerissenen leeren Augen starrten in den Morgenhimmel. Sein Mund stand offen, wie zu einem stummen Schrei. 

Vom Hals bis zur Hüfte herab bestand der Leichnam nur noch aus blutigen Fetzen, dunkelrote Flecken lagen zu seinen beiden Seiten verteilt. Die Beine lagen ausgestreckt auf dem Weg. 

Tina drehte sich um. Sie war kreidebleich im Gesicht. 

"Oh Gott, oh Gott, was ist das, was ist da passiert? Wir müssen die Polizei rufen", stammelte sie. 

Sie schubste Jenny an, die wie erstarrt in Richtung des Toten blickte. Auf die stumme Aufforderung drehte sie sich tonlos um, immer noch die Hände vor Mund und Nase gepresst. 

Tina zog ihr Smartphone aus der Tasche und entsperrte das Display. Dann wählte sie die 110.

2. Schulkontext

Ich haderte mit dem Wetter, ich hatte überhaupt keine Lust mit dem Rad zu fahren. Es war 06:30 Uhr durch und ich musste mich langsam auf den Weg zum Frühdienst machen. Seit meiner Trennung von Britta war ich noch arbeitswütiger geworden und bedauerte es meist, wenn ich keinen Dienst hatte oder Termine anstanden. Ich kramte die Regenjacke aus dem Schrank in dem kleinen Flur meiner Bude und wollte sie schon überziehen, dann hängte ich sie wieder hinein. Ich blickte auf den Autoschlüssel, der an einem Haken am Schrank hing. 

Alles Zaudern half nichts, ich hatte mir fest vorgenommen, das Auto nur im absoluten Wetternotfall oder bei tatsächlicher Notwendigkeit für die Fahrt zum Dienst zu benutzen. Wenn ich es jetzt anders machte, war mir der Spott aller Kolleginnen und Kollegen gewiss, die ich normalerweise selbst großmäulig für ihre Bequemlichkeit tadelte. Also ließ ich die Regenjacke weg, entschied mich aber für den Regenüberzug auf dem Fahrradhelm und startete zum Kommissariat. 

Seit ich nach Nendorf gezogen war, war der Weg nicht nur dreieinhalb Kilometer kürzer geworden, ich musste auch keine Feldwege mehr fahren. Ergo dauerte der Weg zur Dienststelle weniger als 20 Minuten.

Ich schwang mich in den Sattel, meine mit Neoprenhandschuhen bewaffneten Hände packten die gekröpften Lenkerenden und ich radelte los. Der Dunst reflektierte das Licht meines Scheinwerfers und legte sich sanft und kühl auf mein Gesicht. Ich hörte das leise Rauschen der Fahrradreifen auf dem nassen Asphalt der Straße und spürte den leichten von schräg hinten heranwehenden Südwestwind. Ein dezenter Schweinestallduft mischte sich mit der klaren Luft. Ich riss mich zusammen, stellte mich in die Pedalen und beschleunigte. Ich schaltete zwei Gänge hoch und atmete etwas tiefer. Ich verließ die Ortschaft, wechselte nach links auf den Radweg und verlor mich in Gedanken an eine Radtour mit meinen Kumpels in den Alpen. Ein Milchlaster rauschte auf der Straße an mir vorbei und holte mich zurück in die Wirklichkeit. Ich war bereits in Böthel, einer kleinen Siedlung zwischen Nendorf und Stolzenau. Ich bemerkte, dass mir warm war und dass es eine gute Idee gewesen war, die Regenjacke nicht anzuziehen. Ich genoss den Rest der Fahrt durch die Nebenstraßen von Stolzenau bis zur Dienststelle. Als ich dort eintraf, war die äußere Schicht meiner Fleecejacke sanft durchfeuchtet. Auf der Dienststelle war es noch sehr ruhig, auf der Wache saß Kathleen und die Streife war unterwegs. Hausmeister Henning traf ich in der kleinen Küche an der Kaffeemaschine. Der Geruch des noch heißen Kaffeefilters, den er gerade gegen einen frisch gefüllten tauschte, stieg mir in die Nase.

"Moin Henning", begrüßte ich ihn.

Er erwiderte meine Begrüßung, ich ging allerdings gleich weiter nach oben Richtung Büro, ich wollte mich zügig umziehen. Oben war noch niemand, also konnte ich das Frühdienstritual ganz normal starten. Umziehen, Fahrradhose und Jacke zum Trocknen aufhängen, Rechner hochfahren und dann im Geschäftszimmer in mein Fach gucken. So tat ich es auch heute und durfte erfreut feststellen, dass mein Fach leer war. Allerdings zeigte mir ein Blick nach links, dass das Eingangsfach für den Kriminaldienst ziemlich voll war. Seit Siggi Roland mein neuer Ermittlungsdienstleiter geworden war, hatten sich ein paar Abläufe verändert, so auch die Dienstzeiten meines direkten Vorgesetzten. Deshalb musste ich im Computer etwas genauer gucken, was seit gestern aufgenommen worden war und was davon bei mir landen dürfte. 

Insgesamt hatte sich in unserem Zuständigkeitsbereich nicht sehr viel ereignet, was zu dieser Jahreszeit normal war. Die Leute auf dem Land verkrochen sich in der kalten Jahreszeit in ihren Häusern und so passierte auch weniger. Eine Anzeige fand ich, die etwas mehr Arbeit versprach. Es war eine Jugendsache. Zwei Jungs hatten einem anderen in der Schule sein Portmonee abgezogen, wie das heute so formuliert wurde. Ich öffnete die elektronische Akte und sah mir das genauer an. Der Fall war typisch für Jungs, die nicht nachdenken. Zwei Kumpels hatten einen anderen, der eigentlich auch Kumpel sein sollte, aus Spaß festgehalten und so getan, als würden sie ihn schlagen. Dann hatte der eine das Portmonee aus der Hosentasche des Jungen genommen. Und am Ende hatten sie von dem einen Euro aus dem Portmonee noch etwas beim Hausmeisterkiosk gekauft. Dummerweise war nun das, was sie da als etwas dümmlichen Scherz getrieben hatten, im juristischen Tatbestand ein echter Raub, also ein Verbrechen. Das bedeutete einen Einsatz in der Klasse, Vernehmungen der Jungs, Elterngespräche und ausreichend Berichte an das Jugendamt. 

Der Rest, der mich da noch treffen konnte, war zu vernachlässigen. Im Grunde war ich ganz froh, denn nun hatte ich wenigstens ein bisschen was zu tun. Eigentlich wären diese Wochen vor Weihnachten nämlich bestens geeignet, um mal die haufenweise vorhandenen Überstunden abzubauen. Bloß hatte ich keine Lust, im Novemberwetter frei zu machen, sondern wollte das lieber im Frühjahr tun.

Ich öffnete das Arbeitszeit-Erfassungsprogramm. Es zeigte 139 Mehrdienststunden. So schlimm war das doch gar nicht, mal drei Wochen frei und alles wäre wieder im Lot, dachte ich grinsend. Aber eben nicht im November. 

Ich wandte mich wieder dem "Raub" zu. Die Akte war schon in Weiterleitung an den Kriminaldienst und die Kollegen vom Streifendienst hatten alles sehr ordentlich aufgenommen. Tatort war die Oberschule in Stolzenau und ich nahm mir vor, gegen 08:30 Uhr dort anzurufen. 

Vom Flur hörte ich Stimmen und erhob mich aus meinem Drehstuhl, um die morgendlichen Grüße zu entbieten. Im Geschäftszimmer brannte jetzt die volle Beleuchtung und ich sah Cord Breitscheid, unseren Dienststellenleiter, am Regal mit den Ein- und Ausgangsfächern stehen. Dazu hörte ich die Stimme von Simone Teggenbrink, einer der Angestellten für den Bürodienst. Ich trat hinzu und begrüßte die beiden. Dann entschied ich mich, noch einmal nach unten zu gehen und mir einen Kaffee einzuschenken, um noch das eine oder andere Schwätzchen zu halten. 

Aus dem Besprechungsraum ertönten Stimmen und als ich den Raum betrat saßen da schon meine Ermittlerkollegen Hansi Krause und Sören 'Klüse' Klüssmeyer mit Kathleen, die das Mobilteil des Wachtelefons vor sich liegen hatte. Seit Hansi nicht mehr den Posten des Ermittlungsdienstleiters ausfüllen musste, hatte er sich im Dienst merklich entspannt. Und so kam es gerade in dieser Jahreszeit ab und zu vor, dass wir auch mal eine halbe Stunde länger im Besprechungsraum saßen, als unbedingt nötig. Ich nahm mir einen großen Pott aus dem Schrank, befüllte ihn mit Kaffee und Milch, stellte zufrieden fest, dass die zweite große Kanne gerade bereits von der Maschine gefüllt wurde und setzte mich zu den anderen. Klüse berichtete gerade von spektakulären Handballereignissen und bei näherem Hinsehen erkannte ich eine leichte Schwellung mit Färbung im Bereich seiner rechten Augenbraue. 

"Na, Klüse, hast du mal wieder deinem Namen alle Ehre gemacht?", forderte ich ihn grinsend auf, auch mir zu berichten, wie er sich das Veilchen zugezogen hatte. 

"Wie oft hast du es schon erzählt?", fügte ich hinzu.

"Na, 30 Mal bestimmt", brummte er. "Kurzfassung. Ich war vorgestern beim Handball. Ich wollte gerade zum Wurf ansetzen, als einer der Gegner mir mit ausgestrecktem Ellenbogen entgegenspringt. Ich konnte nicht mehr ausweichen und dann knallte es. Zeitstrafe für ihn, Pflaster für mich. Das war's."

Ich nickte anerkennend und nahm einen tiefen Schluck Kaffee. 

"Und wie ist es bei dir?", wollte Klüse wissen. 

"Naja, alles wie immer, nur schlimmer", entgegnete ich. 

Mehr sagte ich dazu nicht, ich wollte nicht über mein Privatleben reden, weil ich derzeit selbst nicht daraus schlau wurde. 

"Ich habe in der Lage einen Sachverhalt gesehen, der mich vermutlich ein wenig beschäftigen dürfte. Die Kollegen haben einen Raub angelegt, zwei Jungs an der OBS haben einem anderen sein Portmonee abgezogen. Ist alles nicht so heiß, wie es sich angehört. Hat jemand von euch davon was mitbekommen?", erkundigte ich mich, um das Thema zu wechseln. 

Niemand wusste etwas darüber. Der Sachverhalt war gestern von den Kollegen des Spätdienstes aufgenommen worden. Ich berichtete kurz, was sich ereignet hatte, dann entspannte sich ein lockeres Gespräch über verschiedene dienstliche Belange, so wie es oft passierte. Hansi erzählte ein paar Schoten von Kollegen, die schon vor Jahren pensioniert wurden. Da bekam man manchmal Geschichten zu hören, bei denen man sich wundern musste, was Polizisten sich früher so erlauben konnten. Besonders spannend waren Berichte von Wochenenddiensten, wie sie noch in den 1980er Jahren vorgekommen sein mussten, bei denen die Kollegen den Sonntag schlichtweg mit anderen Bürgern in der Dorfkneipe verbrachten. Manche Sachen waren früher nicht unbedingt besser gewesen als heute, allerdings weniger kompliziert. Kurz vor 08:30 Uhr erhob ich mich aus meinem Stuhl und ging ins Büro, um in der Oberschule anzurufen. Ich wartete fast eine Minute am Hörer, bis im Sekretariat der Schule abgenommen wurde. Halbwegs freundlich teilte mir die Sekretärin mit, dass sie mich zum Schulleiter durchstellen würde. Wieder ertönte das vertraute Tuten, eine Minute verging, dann noch eine. Wütend legte ich auf. Ich hasste kaum etwas mehr, als wenn mich jemand bei einem Anruf irgendwohin verband, ohne zu wissen, ob der oder die überhaupt anwesend war. Also wählte ich noch einmal die Nummer des Sekretariats, hielt mir den Hörer ans Ohr und lehnte mich im Drehstuhl zurück. Wieder verging eine knappe Minute, bis sich die Dame meldete. 

"Hallo, nochmal Voss von der Kriminalpolizei. Der Herr Schulleiter ist offenbar nicht anwesend, ich rufe an, weil es gestern in der Schule zu einer Straftat gekommen ist und nun einige Gespräche anstehen werden, in die die Schule involviert ist. Bitte richten Sie aus, dass ich unverzüglich zurückgerufen werden möchte", verlautete meine recht unfreundlich dargebrachte Anweisung an die Schulsekretärin. Sie antworte etwas weniger zickig, dass sie meinen Anruf weitergeben werde. Herr Kampfeld, der Schulleiter, werde sich bei mir melden. 

Damit war das erst mal erledigt und ich machte mir in der elektronischen Akte eine Notiz, dass ich den Kontakt zur Schule aufgenommen hatte. 

Eine knappe halbe Stunde später, ich wollte gerade nach unten zur Frühstücksrunde gehen, klingelte mein Telefon. Es meldete sich Sören Kampfeld, Leiter der OBS Stolzenau und entschuldigte sich zunächst ausführlich, dass er nicht zu erreichen gewesen war. Wir unterhielten uns freundlich über den Vorfall, der sich in der Klasse 9a ereignet hatte. Zu meinem Glück sah er die Sachlage ähnlich wie ich, nämlich so, dass die Jungs nicht wirklich kriminelle Energie in sich trugen. Dennoch hielt er es für wichtig, möglichst schnell mit der Klasse aufzuarbeiten, dass so ein Vorfall sehr ernst zu nehmen sei und nur einen kleinen Schritt von einem wahren Verbrechen entfernt war. Ich verabredete mit ihm, schon in einer halben Stunde, zum Beginn der dritten Schulstunde zu erscheinen. Die Zeit passte gut, denn die Klasse hatte in der Stunde Unterricht bei der Klassenlehrerin. Die Klassenlehrerin war Sabine Höstring, eine recht junge Dame, die noch Schaffensdrang verspürte. Ich hatte schon einige Male im Zuge von Präventionsarbeit Kontakt mit ihr gehabt und mochte sie. 

Ich suchte mir ein paar Unterlagen zusammen und malte mir auf ein Blatt Papier ein kurzes Konzept, um wenigstens einen groben Plan zu haben. Ich packte mir eine Banane ein, denn dazu fiel mir etwas Schlaues ein. 

Ich schrieb mitten auf den Zettel das Wort 'Raub', machte ein Oval drumherum und ein paar Strahlen. Dazu schrieb ich objektiver TB für 'Tatbestand', subjektiver TB, Jugendliche, Spaß und Ernst. Ich schrieb noch das Wort Grenzüberschreitung und Verantwortungsbewusstsein dazu. 

Dann malte ich ein Strichmännchen und schrieb 'Opfer' daneben sowie das Wort 'Gefühle'.

Das sollte an Stichpunkten für eine Diskussion mit der Klasse für eine Schulstunde reichen. Die Schülerinnen und Schüler kannten mich bereits aus dem Präventionsunterricht und ich konnte mich ganz gut mit den Jugendlichen unterhalten. 

Ich klemmte den Zettel in mein Klemmbrett und ging nach unten, zu den Waffentresoren. Meine Pistole steckte ich in mein gut verstecktes Holster an meiner Hüfte, dann begab ich mich noch kurz in den Gemeinschaftsraum, wo eine gemütliche Frühstücksatmosphäre herrschte. Siggi Roland war auch inzwischen angekommen und ich erklärte ihm, wohin ich wollte und dass ich spätestens um 11:00 Uhr zurück sein wollte. Für den Notfall hatte ich mein privates Handy dabei. 

Ich schnappte mir den Schlüssel vom Ford Kombi, der sowieso schon draußen auf dem Parkplatz stand und düste zur Schule. Ich parkte auf dem Parkplatz links von der Schule und kramte mein Klemmbrett hervor. Ich überquerte die Warteinseln der Bushaltestellen, die sich schräg vor der Schule erstreckten und nahm dann den Fußweg über den Schulhof, vorbei an den Tischtennisplatten aus Beton zum Eingang. Eine der Glastüren stand offen, der große Flurbereich war leer und ruhig. Vor der Tür zum Sekretariat, in dem Frau Schönreich wie üblich mit missmutigem Gesichtsausdruck auf ihren Monitor starrte, begegnete mir Herr Kampfeld.  Er trug eine Jeans, Sneaker und ein dezent graues Sakko über einem blauen T-Shirt. Seine langen dunkelblonden Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er blickte mich durch seine runde Brille freundlich an. 

"Hallo Herr Voss. Schön, dass Sie so schnell kommen konnten, Sabine Höstring erwartet Sie schon. Ich begleite Sie zur Klasse". 

Ich erwiderte seinen Gruß und folgte ihm ins erste Obergeschoss. Als er den Klassenraum betrat herrschte augenblicklich Ruhe, was mich immer wieder ein wenig überraschte, denn er strahlte nach meinem Dafürhalten längst nicht die Obrigkeit aus, wie ich es von Schulleitern aus meiner Schulzeit kannte. 

"Guten Morgen!", begrüßte er die Klasse.

"Guten Morgen Herr Kampfeld!", schallte es im Chor zurück. 

Wieder musste ich ein wenig schmunzeln. Herr Kampfeld ergriff gleich das Wort.

"Herrn Voss muss ich euch ja nicht mehr vorstellen und weswegen er da ist, könnt ihr euch bestimmt auch denken. Wir hatten ja heute morgen schon kurz über den Vorfall von gestern gesprochen. Ich werde das Wort jetzt an Herrn Voss übergeben." Und an mich gewandt fügte er hinzu: 

"Wir haben Luca und Florian für heute und morgen unter Vorbehalt suspendiert, Maik, der Geschädigte, sitzt dort hinten, mit der schwarzen Kapuzenjacke." Er deutete auf einen beschämt dreinblickenden, eher kleineren Jungen, der in der vorletzten Reihe links außen saß. 

Herr Kampfeld verabschiedete sich und überließ Frau Höstring und mir die Arena. Sie nickte mir nur zu und ich nahm das als Aufforderung, gleich zu beginnen. 

Ich begrüßte die Jugendlichen und erhielt den gleichen Chorgruß wie der Schulleiter. Dann begann ich zu berichten, was ich bislang an Informationen erhalten hatte. Ich nahm ein Stück Kreide und malte das Oval an die Tafel, in die Mitte schrieb ich das Wort Raub. Dann schwieg ich, schaute die Klasse an und zog wortlos meine Banane aus der Tasche. Mit ernster Miene brach ich den Stiel ab und schälte die Frucht, bis 3 Streifen Schale über meine Hand hingen. 

"Was habe ich hier gerade gemacht?", wollte ich von den Jugendlichen wissen. Ein Mädchen vorne meldete sich verlegen und ich forderte sie mit einem kurzen "Ja, bitte" zum Reden auf. 

"Sie haben die Banane geschält", sagte sie. 

"Stimmt. Aber wie könnte man das, was ich mit der Schale gemacht habe noch nennen?", fragte ich wieder in den Raum hinein. 

Ein Junge meldete sich.

"Sie haben sie abgepellt", sagte er, halb fragend. 

Ich grinste.

"Ja stimmt, aber welcher Begriff fällt euch noch dazu ein? Denkt auch an das, was hier passiert ist und warum ich hier bin", erläuterte ich meinen Gedankengang. 

"Meinen Sie 'abziehen'?", fragte das Mädchen, welches gerade vorher schon vom Schälen gesprochen hatte.

"Ja", dehnte ich, "genau das meinte ich. Abziehen. Ich habe der Banane die Schale abgezogen. Warum mache ich das und worauf will ich hinaus?"

Zunächst trat betretenes Schweigen ein. Dann meldete sich Maik, das Opfer des Vorfalls. Ich nickte ihm zu.

"Weil die mich abgezogen haben?", mutmaßte er. 

"Richtig Maik", lobte ich. "darauf wollte ich hinaus. Ich will euch erklären, dass das, was ihr als 'abziehen' bezeichnet, in meiner Polizeisprache etwas ganz anderes bedeutet, nämlich meistens das hier", wobei ich auf die Tafel deutete. 

"Abziehen ist meistens tatsächlich Raub. Und Raub ist ein Verbrechen, das heißt, laut Strafgesetzbuch wird der Täter mindestens mit einem Jahr Gefängnis bestraft", verlautbarte ich mit langsam und sorgfältig betonten Worten. 

Erschrockene Augen blickten mich von den Stühlen her an. Damit hatten die Jugendlichen nicht gerechnet, denn das sogenannte 'Abziehen' fand viel öfter statt, als unsere Statistiken es zeigten. Nach ein paar Sekunden der Stille setzte ich meinen Unterricht in etwas sanfterem Ton fort, erklärte die Zusammenhänge und fügte nach und nach meine vorher notierten Begriffe in das Tafelbild ein. Die Klasse war sehr interessiert und mir gefiel, dass alle mitarbeiteten. 

Dann klingelte mein Handy. Siggis Büronummer leuchtete auf. 

"Entschuldigt mich kurz, das ist wichtig", erklärte ich und verließ den Klassenraum. Ich nahm das Gespräch an. 

"Hallo Siggi! Was Dringendes?", erkundigte ich mich. 

"Hallo Paul", antwortete er. "Ja, wenn möglich komm bitte gleich zurück. Wir haben gerade einen etwas seltsam anmutenden Todesfall gemeldet bekommen. Kann Mord sein. Der Streifendienst ist schon unterwegs. Es geht nach Münchehagen. Ich würde einfach bei dir zusteigen und dann mit dir den ersten Angriff übernehmen."

"Klar, ich breche hier sofort ab und komme zurück. Bin in ein paar Minuten da", gab ich zurück. 

Ich trat zurück in den Klassenraum. 

"Hört mal, ich muss jetzt leider hier abbrechen, weil ich in einen Einsatz muss. Wir kommen auf die Sache zurück, bitte macht euch Gedanken über die Dinge, die ich gesagt habe. Und vielen Dank für eure gute Mitarbeit. Auch Ihnen vielen Dank Frau Höstring, wir bleiben in Verbindung."

Damit war ich schon aus dem Klassenraum heraus und auf dem Weg zum Wagen. 

Ich fuhr recht zügig vom Parkplatz, was mir noch einen missbilligenden Blick eines Busfahrers einbrachte, der gerade neben seinem Gefährt stand und rauchte. 

Knapp drei Minuten später traf ich an der Dienststelle ein, wo Siggi mich schon mit seiner großen Tasche in der Hand erwartete. Er öffnete die hintere Beifahrertür, warf die Tasche auf die Sitzbank und setzte sich dann auf den Beifahrersitz. 

"Wir müssen nach Münchehagen, Alte Zollstraße. Kennst du die?", begann er. 

"Ja, das ist die Straße am Dinopark", erwiderte ich und trat auf das Gaspedal.

3. Bissspuren

Ich fuhr ziemlich schnell, nahm die Strecke über Schlüsselburg und Loccum, weil die Bundesstraße in Leese längere Zeit voll gesperrt war. Auf den Straßen war wenig los, Berufsverkehr und Elterntaxis fuhren um diese Uhrzeit nicht und so kamen wir ohne Verzögerungen durch die Ortschaften. Siggi berichtete mir, dass über Notruf der Fund einer männlichen Leiche gemeldet worden sei. Zwei Frauen hätten den Fund gemacht und stünden vermutlich unter Schock, weil die Leiche ziemlich zerrissen aussehen soll. Mehr Informationen gab es nicht, abgesehen von der Ortsbeschreibung. Die Anruferin habe geweint und sei ziemlich aufgelöst gewesen, habe aber einen Rettungsdienst abgelehnt.

Zwischen Loccum und Münchehagen bog ich links in die Alte Zollstraße und musste acht geben, um die Erhöhungen am Ortsrand nicht zu schnell zu überfahren. An dem Feldweg, der vor dem Steinbruchgelände links ab führte, stand eine Blinkleuchte. Beim Abbiegen in den Weg sah ich den Streifenwagen in etwa 300 Metern Entfernung. Ich fuhr so zügig es der mit vergilbtem Gras bewachsene Weg zuließ und stellte unseren Zivilwagen direkt hinter dem Streifenwagen ab. Die Umgebung links und rechts des Weges war zum Teil bewaldet, rechts von uns befand sich der große Steinbruch, in dem vor Jahren die Dinosaurierfährten gefunden worden waren, die heute eine große Attraktion darstellten. 

Ich sah die beiden Kollegen vom Streifendienst. Sven Brose hatte eine Rolle Trassierband in der Hand und schien einen großen Bereich des Weges abzusperren. Nele Rosswich stand mit zwei jungen Frauen vor dem Streifenwagen und schrieb etwas in ihr Merkbuch. Wir gingen zu ihnen. Die beiden Frauen wirkten jung, vielleicht Anfang bis Mitte Zwanzig. Beide hatten wetterfeste Wanderkleidung an und trugen rote Wollmützen ohne Bommel. Eine der beiden trug einen leichten Wanderrucksack. Ihre Gesichter schienen blass und die Augen waren gerötet, offenbar vom Weinen.

Ich blickte den Weg hinauf. Sven war mit dem Trassierband in Höhe eines reglosen Körpers angekommen, der längs auf dem Feldweg zu liegen schien. Bis zu ihm waren es noch geschätzte 50 Meter, deshalb konnte ich nichts Genaues erkennen. Sven stand starr und schaute auf den Leichnam. Er hielt eine Hand vor den Mund und schüttelte langsam den Kopf. Dann setzte er seinen Weg fort, um alles abzusperren. Ich wandte mich zu Siggi. 

"Ich habe das Gefühl, dass uns da ein schlimmer Anblick erwartet. Was hältst du davon, wenn ich mich zunächst mit der Kamera bewaffne und Übersichtsaufnahmen mache, um uns einen Überblick zu verschaffen?"

Siggi nickte. 

"Mach das, ich sehe, was ich hier an Informationen bekomme. Ich werde Carsten Ziller anrufen, damit er die Spurensicherung übernimmt. Er hat sowieso Spätdienst", meinte Siggi.