In der ländlichen Idylle der Samtgemeinde Uchte, zwischen den Weiten der Moore und den sanften Geesthügeln der Heide, schreckt eine Mordserie die Menschen aus ihrem Alltag. Mehrere Landwirte werden innerhalb weniger Tage auf blutige Weise umgebracht. An jedem Tatort finden die Ermittler jeweils einen Gegenstand, der weder dem Opfer, noch dem Tatort zugeordnet werden kann. Paul Voss hängt ein wenig durch, dafür bringt seine Kollegin Julia Westowski frischen Wind in die Mordkommission. Während sich zeitweilig die Ereignisse überschlagen, hat die Mordkommission ziemliche Schwierigkeiten, überhaupt eine Ermittlungsrichtung zu erkennen. Was bedeuten die seltsamen Gegenstände an den Tatorten? Verschweigen die Witwen etwas? Es wird wieder spannend im Südkreis Nienburg und auch der Humor und die Zwischenmenschlichkeit kommen nicht zu kurz.
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Geschichte spielt in der Samtgemeinde Uchte und ist in Gänze frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen, Sachverhalten oder Örtlichkeiten sind zufällig und entsprechen nicht der Realität.
Für die Opfer sexueller Gewalt
und für die, die ihnen
Kraft und Mut geben
© 2025 Paul Voss
Ingemar Guse
Hof Dunk 15
31595 Steyerberg
www.paul-voss-mord.de
Cover: Ronald Vieweg
Inhalt:
Ein Päckchen ohne Absender
Ein Mund voll Torf
Kein freies Wochenende
Erstmal Routine
Ein guter Freund
Schon wieder ein Mord
Sauenstrick
Es wird stressiger
Tomaten und Mozzarella
Yasir
Moko-Müdigkeit
Ein Tatverdacht
Erster Rückschlag
Neue Perspektiven
Zum Dritten
Paketdienst
Fehlschnitt
Eine wichtige Zeugin
Racheengel
Wahrheiten
Mission vollendet
Geständnisse
Pläne und Aussichten
Ich beugte mich in meinem drehbaren Bürostuhl nach vorne und drückte die Spitze des Zeigefingers auf den Knopf am unteren Rand meines rechten Monitors. Die Kontrollleuchte ging aus und ich wiederholte die Prozedur am linken Bildschirm.
Auch die LED erlosch und ich lehnte mich zurück und grinste über die Bildschirmwand vor mir hinweg zu meiner neuen dauerhaften Bürokollegin Julia Westowski, die ihrerseits noch angestrengt auf ihre Monitore schaute und mit den Fingern auf der Tastatur tobte.
"Soooo, Julia, ich hau’ jetzt hier ab und überlasse dir das Feld!", frohlockte ich.
Sie schaute mich mit großen Augen durch die Gläser ihrer fein goldgeränderten ovalen Brille an.
"Wie, du lässt mich jetzt hier hängen? Und wenn draußen wieder das Verbrechen tobt?", entgegnete sie mit gespieltem Entsetzen.
Ich selbst hatte nämlich Frühdienst und gedachte diesen nun um 15:30 Uhr pünktlich zu beenden um die Märzsonne noch ausgiebig auf dem Fahrrad auszukosten.
"Klar, Gert ist ja noch da und ihr müsst bestimmt noch raus zu Ermittlungen und kommt bei irgendeinem Bäcker vorbei, wo es Käsekuchen gibt!"
"Ich mag keinen Käsekuchen. Aber ich werd' schon was finden. Und zu dem Tatort von diesem scheiß Wohnungs-ED muss ich ja auch noch."
ED war die Abkürzung für Einbruchdiebstahl, denn genau diese Delikte hatte Siggi, unser Ermittlungsdienstleiter, Julia zugedacht. Die Fallzahlen waren rückläufig, also hatten wir auch nicht so viele Delikte zu bearbeiten. Allerdings gab es bei diesem Einbruch in ein Wohnhaus, welchen Julia nun zu bearbeiten hatte, einen ganzen Haufen Spuren abzuarbeiten. Und das bedeutete Aufwand. Es bedeutete Aufwand, der sich vermutlich nicht lohnen würde, denn zu oft rührten vermeintlich tatrelevante Spuren bei Wohnungseinbrüchen eben doch von den Menschen her, die in der Wohnung lebten.
"Du machst das schon! Ich bin dann mal weg. Auf Wiederschauen, bis morgen!"
"Tschüss! Verfahr' dich nicht!", verabschiedete sie mich.
Ich verabschiedete mich noch schnell von den anderen, dann ging ich eilig zu dem Fahrradständer des Dienstgebäudes, wo mein neues Rad auf mich wartete. Ich hatte mir vor Kurzem ein neues Fahrrad geleistet, Typ Reiserad im Retrostil, aber doch recht leicht und sportlich, mit feingliedrigem Stahlrahmen in der Farbe british racing green. Ich hängte die blaue Gepäcktasche an die rechte Seite des hinteren Gepäckträgers und klickte die Lenkertasche in die Halterung. Ein kurzer Blick auf das Smartphone zeigte mir, dass der Wind aus Südost wehte. Also beschloss ich, Richtung Rehburg zu fahren, um dann über Loccum und Wiedensahl wieder zur Weser zurückzukehren. So hätte ich für den Rückweg ungefähr Rückenwind.
Ich schloss das Gliederschloss auf und packte es in die Lenkertasche, anschließend schob ich das Rad aus der Abstellnische und an die Straße. Ich setzte den Fahrradhelm auf, schob die Sonnenbrille auf die Nase und saß auf. Heute Morgen hatte ich noch Handschuhe getragen und die Steppweste übergezogen, die jetzt in der Packtasche schlummerte. Die Sonne hatte nun, zum Ende des März, schon viel Kraft und vom Wind war nicht viel zu spüren.Die angenehme Frühlingsluft lullte mich ein wenig ein und so nahm ich nur gedämpft wahr, was um mich herum passierte. Ich radelte durch das Wohngebiet und dann die Landesstraße, die durch Stolzenau führt, hinauf bis zur Weserbrücke. Wenige Autos fuhren mit leisem Rauschen an mir vorbei. Irgendwo dröhnte ein sonores Motorengeräusch, wahrscheinlich ein Laubgebläse. Es war nicht in der unmittelbaren Nähe, aber doch übertönte es dezent alle leiseren Klänge, die der beginnende Frühling versprach.
An der Ampel musste ich kurz warten, bis ich mich auf den Radweg nach Leese begeben konnte. Nachdem die Anzeige auf Grün gesprungen war, setzte ich mich gemächlich wieder in Bewegung. Etwa in der Mitte der blauen Hängebrücke machte ich noch einmal kurz Halt und sah die Weser hinauf, Richtung Porta Westfalica, über die Kieswerke und die Marschflächen bis zu dem sanften Höhenzug des Weser- und Wiehengebirges. Die Luft war klar und versprach tolle Ausblicke für den weiteren Weg. Ein bisschen Fernweh kam in mir auf. Kurz dachte ich an Nina, die jetzt noch in dem kalten Sektionssaal stehen oder im Büro sitzen und Analysen und Berichte bearbeiten musste, während ich schon die Sonne genoss. Aber so war es eben, ein wenig gehörte es wohl dazu, dass eine echte berufliche Karriere auch mehr als brutto 40 Stunden Arbeit pro Woche bedeutete. Ich wusste ja, dass sie den Job liebte, bloß an solchen Tagen würde sie ab und an auch lieber mal ihren Arbeitstag früher beenden.
Wir würden das ganze Wochenende gemeinsam verbringen. Jedenfalls hatten wir das geplant, sofern kein Einsatz dazwischen käme.
Ich löste mich von dem Ausblick und nahm wieder Fahrt auf. Ich genoss die klare Luft und fühlte, wie die Sonne meine Haut wärmte. Ich passierte das nächste Kieswerk und das sich eben noch verstärkende Quietschen der Förderbänder wurde schon wieder leiser. In den Leeser Bahnhof fuhr der Regionalexpress ein, der von Minden kam und seine Fahrt bis Nienburg fortsetzen würde. Er kam mit einem Quietschen zum Stehen. Dann war kurz die dumpfe durchsage der Lautsprecher am Bahnsteig zu hören. Ich nahm die leichte Steigung als Motivation, mich ein wenig anzustrengen, trat kräftig in die Pedalen und schaltete noch einen Gang hoch.
Leese durchquerte ich zügig und drosselte mein Tempo erst wieder ein wenig, als ich die Bebauung hinter mir ließ und dem Wirtschaftsweg nach Rehburg folgte. Der Weg führte nun durch den Wald und es erklang von überall Vogelgezwitscher. Die Waldbewohner hatten den Beginn des Frühlings ebenfalls bemerkt. Ein Stück weiter endete der Wald und die Landschaft öffnete sich, wurde durchschnitten vom Steinhuder Meerbach. Bis ich an den von Heidhausen kommenden Querweg stieß begegneten mir nur drei Radfahrer, die ich freundlich grüßte und ein Trecker mit einem angebauten Düngerstreuer. Das Gefährt war wie üblich so breit, dass ich lieber über den Grünstreifen holperte, um ihm noch genug Platz zu lassen. Der junge Mann in der Kabine winkte freundlich und kurz darauf bog ich nach rechts ab. Nun begleitete mich ein dezenter Duft von Rindergülle, was mich wenig störte, denn ich konzentrierte mich auf das allgegenwärtige Vogelgezwitscher.
Ich griff nach meiner Wasserflasche am unteren Rahmenrohr, zog sie aus dem Halter und trank drei Schlucke. Danach beschleunigte ich wieder ein wenig. Als ich die Abzweigung erreichte, die nach links über die Düsselburger Straße nach Rehburg führen würde, entschied ich mich, geradeaus zu fahren und die Feldwege zu nehmen, die mich zu dem Waldgebiet zwischen Rehburg und Loccum führen würden. Ich war zwar motiviert, merkte aber, dass ich mir für eine Feierabendrunde vielleicht doch zu viel vorgenommen hatte. Also nahm ich den Weg, der mich in der Nähe des Golfplatzes vorbei und zu dem Weg führen würde, auf dem sich erst vor ein paar Monaten zwei brutale Morde ereignet hatten. Es war seit dem Fall nicht viel Interessantes im Dienst geschehen und ich hatte meine recht eindrücklichen Erlebnisse gut verarbeitet. Allerdings wartete ich immer noch auf die Einstellung des Verfahrens gegen mich, auch wenn das bloß Formsache war. Irgendwie ließ es mich aber auch nicht so recht los. Mein Schusswaffeneinsatz gegen den Täter war hundertprozentig rechtmäßig gewesen, doch auf Menschen zu schießen war eben auch für einen erfahrenen Polizisten eine krasse Ausnahmesituation.
Ich fand den besagten Weg ohne Weiteres wieder und als ich die Stelle erreichte, an der im vergangenen November die Leiche der Svetlana Oloczyk gelegen hatte, hielt ich kurz an und verharrte einige Augenblicke schweigend. Hier erklang nur wenig Vogelgezwitscher und die Atmosphäre war weniger frühlingshaft. Alles an dieser Stelle erschien mir eine Nuance dunkler, nein, düsterer war das bessere Wort. Eine seltsame Kälte kroch mir den Rücken hinauf. Ich wandte mich ab. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass ich mich eher auf der nördlichen Seite des hügeligen Waldes befand. Ich saß wieder auf und erreichte schnell auch die Stelle, an der der Leichnam von Manfred Rolfs gelegen hatte. Anstandshalber hielt ich für einige Gedenksekunden an, fuhr dann aber zügig weiter, bevor mich das Gefühl von eben einholte. Ich kam am Dinopark vorbei, vor dem einige geparkte Autos standen, vermutlich war die Saison schon eröffnet worden. An der Hauptstraße bog ich rechts ab und nahm Anlauf für die Abfahrt nach Münchehagen. Als das Gefälle hinab in den Ort stärker wurde, erreichte ich etwas über 50 Stundenkilometer und ließ das Fahrrad dann rollen. Erst unten im Ort trat ich wieder in die Pedalen bog nach links ab Richtung Stadthagen, etwas später wieder rechts in Richtung Kreuzhorst. Dort nahm ich den weiteren Weg über Büchenberg und Neuenknick, bis ich bei Döhren den Weserradweg der rechten Weserseite erreichte.
Die Idylle dieser leicht hügeligen Gegend mit ihren Windmühlen, Fachwerkhäusern und gemütlichen Dörfern löste in mir immer eine entspannte Stimmung aus. Ich drosselte mein Tempo und ließ meinen Blick schweifen. Die Sonne stand noch weit über dem Horizont, als ich das Rittergut Schlüsselburg passierte und auf die Weserbrücke einbog. Hier genoss ich noch einmal die Aussicht auf Gut Neuhof im Süden und die Weite der sich öffnenden Wesermarsch im Norden. Das Wasserkraftwerk brummte vor sich hin und ein Blick nach unten offenbarte, dass das Wehr bereits wieder so weit hochgezogen worden war, dass kein Wasser mehr hinüberlief. Lediglich der Durchlass über die Turbinen und die Fischtreppe auf der anderen Flussseite ließen noch Wasser hindurchfließen. Es kam ein Gedanke an den Klimawandel in mir auf, den ich schnell verdrängte. Ich setzte mich wieder auf den Sattel und radelte weiter. Ich durchquerte Schlüsselburg und bog dann rechts nach Stolzenau ab, weil ich nicht auf der Hauptstraße fahren wollte. Ich sah nicht auf die Uhr und gab mich abschweifenden Gedanken hin. Der Fahrtwind wehte mir kühl um die Nase und in mir entstand das Gefühl, die Fahrt würde sich länger hinziehen. Tatsächlich dauerte es keine halbe Stunde mehr, bis ich schließlich an meiner kleinen Mietwohnung in Nendorf eintraf.
Ich stieg aus dem Sattel, stellte das Rad ab und schloss das Garagentor auf. Als ich das Rad hineinschob, spürte ich, dass meine Beine doch ein wenig müde waren. Das wunderte mich nicht, denn außer zum Dienst hatten sie in den letzten Monaten nicht allzu viele Radkilometer zu leisten gehabt. Es wurde Zeit, wieder mehr zu fahren. Ich schloss die Garage ab und ging um die Ecke zur Haustür, wobei meine Fahrradschuhe mit ihren Cleats auf dem Pflaster knirschten.
Vor der Haustür lag ein kleines Paket. Ich stutzte, denn ich hatte nichts bestellt. 'An Paul Voss' stand auf der Pappe, mehr sah ich nicht. Ich hob es auf und drehte es. Es war leicht und ich spürte, dass im Inneren etwas hin und her rutschte. Ein Absender war nicht zu finden, auch kein Stempel oder Aufkleber. Es musste hier abgelegt worden sein. Hatte meine zukünftige Ex-Ehefrau Britta mir etwas gebracht?
Realistisch betrachtet vermutete ich nichts Böses und nahm das Paket mit hinein. Im Flur zog ich mir die Schuhe aus, dann ging ich in die kleine Küche und nahm ein Messer zur Hand, mit dem ich das Paketband durchschnitt. Ich klappte den Karton auf und entdeckte eine handtellergroße Porzellanschale und einen Porzellanstab, etwa so lang wie meine Hand breit war. Dann fiel mir ein, dass es sich um einen Mörser handelte, mit dem man Gewürze zerstieß oder was auch immer man sonst damit anfing. Ich stellte den Karton auf den kleinen Küchentisch, nahm ein großes Trinkglas und füllte Leitungswasser hinein. Mit dem Wasser schluckte ich eine Magnesiumtablette herunter. Ich blickte in das Paket. Das Teil kannte ich nicht, es war nichts aus unserem alten Hausstand, deshalb war es sicher nicht von Britta. Es lag auch kein Zettel dabei. Ich überlegte, was ich damit tun sollte. Sofort in den Restmüll werfen? Nein, dachte ich, vielleicht hat es ja irgendeinen Grund, dass das Ding hier steht, von allein ist es dort sicher nicht gelandet und irgendwer musste ja auch meinen Namen auf den Karton geschrieben haben. Ich entschied, den Karton zuzuklappen und im Flur zu den Schuhen zu stellen. In der Küche wollte ich das Ding nicht haben, ich hatte noch nie einen Mörser gebraucht. Und wenn ich ihn vielleicht mal gebraucht hatte, hatte ich in dem Moment nicht daran gedacht, dass ich gerade jetzt einen Mörser für das bräuchte, was ich tat. Ich schmunzelte, ich wusste wohl mit einem Mörder umzugehen, nicht jedoch mit einem Mörser. Vielleicht hatte mir jemand aus der Nachbarschaft das Teil hingestellt. Jemand, der es nicht mehr brauchte. Vielleicht hatte ich mal in irgendeinem belanglosen Gespräch über so ein Ding gesprochen. Irgendeinen schlüssigen Grund würde es wohl geben, warum man mir dieses Küchenutensil vor die Tür gestellt hatte. Vermutlich würde ich irgendwann denjenigen reffen und darauf angesprochen werden. Damit entledigte sich mein Gehirn der Aufgabe, sich weiter damit zu beschäftigen. Dass es durchaus schlau gewesen wäre, es nicht einfach so wieder zu vergessen, würde sich mir erst später offenbaren.
Als ich mein Wasserglas geleert hatte, überlegte ich, ob ich noch ein paar Leibesübungen vollbringen wollte, bevor ich ganz abkühlte. Also legte ich meine Windjacke ab, tauschte die Trekkinghose gegen eine kurze Sporthose und begann noch ein kleines Zirkeltraining mit Sit-ups, Bankdrücken und Latziehen. Nach drei Durchgängen musste ich dauergähnen und gab auf. Ich öffnete den Küchenschrank und den Kühlschrank und begann, mir ein paar belegte Brote zu schmieren und zwei Tomaten in Viertel zu säbeln. Ich drapierte alles hübsch auf einen kleinen und einen großen Teller und stellte es auf dem Tischchen bei den Sesseln in der Wohnzimmerecke bereit. Ich schwitzte nicht mehr, also begab ich mich erstmal unter die dusche. Wie üblich musste ich mich beeilen, um die erträglichen Temperaturintervalle des Duschwassers auszunutzen. Etwa zehn Minuten später saß ich im Schlafanzug in meinem alten Ohrensessel, schaltete den Fernseher ein und begann, mein selbst erstelltes Schnittchenbuffet zu verzehren. Nebenbei schrieb ich mit dem Smartphone ein paar Nachrichten, auch an Nina. Sie hatte vor zehn Minuten geschrieben, dass sie nun nach Hause fahren würde.
Ich streckte die Beine auf dem Polsterhocker aus und genoss die Entspannung. So könnte es doch mal ein paar Monate bleiben, dachte ich. Ein paar Jugendsachen bearbeiten, ein bisschen Präventionsarbeit machen, Stunden abbauen, Rad fahren, ein bisschen was mit den immer größer werdenden Söhnen unternehmen, die Freizeit mit Nina auskosten. Das wäre doch was. Ich fing mich ein und erklärte mir, dass es schlau war, die Gegenwart zu genießen. Es würde schon wieder etwas dazwischenkommen, schließlich arbeitete ich ja bei der Kripo und nicht auf dem Immenhof.
Ich schaute mir ein paar Nachrichtensendungen an und dann noch eine Folge Spongebob. Ich fragte mich manchmal, so wie jetzt auch, warum ich so etwas kindisches wie Spongebob gerne sah. Ich hatte keine Erklärung, auch heute nicht. Also tat ich es einfach. Es war eben ein Comic und Comics hatte ich immer geliebt, also warum nicht daran festhalten? Vor Kurzem hatte ich begonnen, auf YouTube alte Folgen von Captain Future anzuschauen. Ich fand sie fast noch besser als früher und schon bei der Titelmelodie bekam ich fast immer eine leichte Gänsehaut.
Ich schaltete den Fernseher ab, als Spongebob beendet war. Und als ich im Bad fertig war und Nina eine Gute-Nacht-Nachricht geschrieben hatte, ging ich ins Bett und öffnete YouTube. Bei der zweiten Folge Captain Future fielen mir die Augen zu.
Als am nächsten Morgen um 05:15 Uhr der Wecker klingelte, fühlte ich mich ausgeschlafen und erholt. 'Heut’ ist Freitag!', summte ich vor mich hin. Ich schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Die alten Stelzen fühlten sich doch ein wenig steif an, ich bemerkte einen dezenten Muskelkater in den Oberschenkeln. Die ersten Schritte gestalteten sich etwas behäbig, aber als ich in Bewegung kam, ging es wieder. Ich gönnte mir zwei Pötte Kaffee, dann zog ich mich für die Radfahrt zum Frühdienst an. Als ich im Flur die Schuhe anzog, fiel mein Blick wieder auf den Karton. Ich hatte ihn schon völlig verdrängt. 'Der Mörder' witzelte ich in Gedanken. Ich würdigte den Kartons keines weiteren Blickes, sondern verließ das Haus und radelte los. Ich hatte geplant, mittags Feierabend zu machen, dann noch einmal hierherzukommen, die Bude auf Vordermann zu bringen und dann zu Nina zu fahren, sobald sie sich meldete. Knapp zwanzig Minuten später war ich an der Dienststelle. Es herrschte die übliche morgendliche Ruhe. Die Wache war besetzt, es war gerade Schichtwechsel und im Ermittlungsdienst war noch niemand. Also ging ich nach unten und setzte frischen Kaffee auf, bevor ich mich umzog. Seit ich eine Kollegin im Büro hatte, war mir in der Herrenumkleide ein halber Schrank zugebilligt worden, sodass ich meine Klamotten nicht im Büro lagern musste.
Der Dienst verlief so, wie es sich der Volksmund von den Beamten vorstellt. Es wurde viel Kaffee getrunken, sehr viel besprochen, von dem sehr wenig mit dem Dienst zu tun hatte und es wurde nur sehr wenig gearbeitet. Dafür wurde viel gescherzt und gelacht, wir betrieben also so etwas wie geistige Wellness. Die restliche Dienstzeit verging ohne besondere Vorkommnisse. Pünktlich gegen 12:30 Uhr saß ich wieder gut gelaunt auf dem Rad und freute mich auf ein entspanntes Wochenende. Von dem Mörser im Karton zu erzählen hatte ich schon vergessen.
Walter Swienmeyer schloss zufrieden die Tür von seinem Sauenstall ab und ging zu seinem SUV hinüber. Die mittägliche Kontrolle des Bestands war beendet. Alle Tiere waren gesund und die neugeborenen Ferkel hatten allesamt überlebt. Er zog den langen grünen Kittel aus und legte ihn in den Kofferraum. Er setzte sich auf die Ladekante, tauschte die Gummistiefel gegen die Crocs und setzte sich ans Steuer.
Der Stall lag eineinhalb Kilometer entfernt vom Wohnhaus in Mörsen, einem kleinen Örtchen in der Samtgemeinde Uchte, knapp einen Kilometer östlich von Hoysinghausen gelegen. Er würde jetzt nach Hause fahren und sich ein wenig aufs Ohr legen. Seine Frau müsste inzwischen mit dem Haushalt fertig und auf dem Friedhof beschäftigt sein, um das Familiengrab für das Wochenende zu pflegen.
Einige Minuten später stellte er den Wagen zuhause ab und bemerkte, dass das Rad seiner Frau weg war. Er nahm den grünen Kittel aus dem Kofferraum und hängte ihn zum Auslüften an den Haken im Windfang der Haustür. Dann betrat er das Haus, zog die Crocs aus und die Lederlatschen an. Er schlappte in die Küche, nahm die Tageszeitung vom Tisch und ging damit zu seiner Mittagscouch im Arbeitszimmer. Dort legte er die Zeitung auf das Tischchen neben dem Sofa, griff die Lesebrille, die noch auf dem Schreibtisch lag und setzte sie auf.
Er wollte sich gerade auf das Sofa setzen, da klingelte es an der Tür. "Mist, immer wenn die Olle nicht da ist!", sagte er halblaut zu sich selbst. Er zog die Brille auf die Nasenspitze herab und ging zur Tür. durch das Milchglas der Türscheibe konnte er nur eine dunkle Silhouette sehen. Er öffnete. Die Person hatte ein Paket in der Hand. Er schaute darauf.
"Walter Swienmeyer?", fragte die Person.
"Ja, das bin ich. Aber ich hab nix bestellt!", erklärte er unwirsch, wobei er das 'st' kurz aussprach.
"Doch!", entgegnete die Person. "Das hier!"
Er sah nur eine flüchtige, sehr schnelle Bewegung, dann traf ihn ein dumpfer Schlag zwischen seinen Beinen. Der Tritt in die Hoden zeigte sofort Wirkung, ein übermächtiger Schmerz breitete sich in seinen Eingeweiden aus, stieg nach oben in die Brust und verhinderte, dass er weiteratmete. Sein ganzer Unterkörper zog sich zusammen, verkrampfte. Es fühlte sich an, als würde er in einer riesigen Klaue gehalten und zerquetscht. Er grunzte etwas, dann kniff er die Augen zusammen und sank nach vorn auf die Knie. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als ihn ein zweiter Tritt noch einmal dort traf. Der Schmerz überwältigte ihn, er kämpfte um Luft, doch sein Zwerchfell blieb fest, seine Lunge reagierte nicht auf seinen Wunsch sich zu weiten, neuen Sauerstoff einzulassen. Er röchelte, seine Kiefer klappten auf und zu. Wie ein Fisch in einem umkippenden Teich, versuchte er Luft zu schnappen. Er versuchte, die Arme zu heben, den Brustkorb irgendwie zu weiten, doch der reißende Schmerz in seinem Unterleib ließ es nicht zu.
Sein Mund stand offen, als er nach vorn kippte und mit dem Hals auf die rasiermesserscharfe Klinge traf, die ihm die Luft- und Speiseröhre und beide Schlagadern durchtrennte. Heißes Blut schoss ihm aus dem viel zu großen Schnitt, stumm griff er mit den Händen an seinen Hals, doch es half nichts mehr. Er fühlte, wie die warme Flüssigkeit zwischen den Fingern hindurchlief. Der Schnitt brannte heiß, die Hitze stieg nach oben, bis unter seine Schädeldecke, überlagerte den furchtbaren Druck auf seine Eingeweide noch. Ein Gedanke erhob sich aus dem dunstigen Schleier seines Geistes, wollte ihn zum Aufstehen bewegen. Ein Gedanke an Flucht, an Schutz vor der Gewalt, dem Schmerz. Doch der Gedanke verging wieder, wie ein Schiff, welches kurz am Horizont sichtbar wird, nur um kurz darauf wieder in den Weiten des Ozeans zu verschwinden. Er fühlte, wie er zu kippen begann, ein roter, undurchdringlicher Nebel stieg aus dem Meer seiner Gedanken auf, ganz langsam begann er zu stürzen. Er fiel und fiel, immer tiefer und tiefer. So etwas wie ein Gedanke formte sich in seinem Geist. Warum endete der Fall nicht? Der Schmerz verschwand ganz langsam, während er fiel, wich einer Wärme, oder war es Kälte? Seine Augen suchten nach einem Halt, aber da war nichts mehr, auch kein Rot, nur Grau, immer heller werdendes Grau. Von weit her meinte er, Worte zu vernehmen, Fetzen eines Satzes. "...Hölle...Schwein.." Dann tauchte er in das leuchtende Grau ein.
Walters Swienmeyers Körper fiel nach vorn und blieb reglos liegen, die Hand an die tief eingeschnittene Kehle gedrückt. Ein letztes Röcheln entrang sich seinem Hals.
Die Person sah auf ihn herab, wischte die Klinge am rechten Ärmel des Opfers ab. Dann zog sie ein nicht ganz faustgroßes Stück trockenen Torf aus einer Beintasche und drückte es zwischen die blutüberströmten Kiefer des Toten. Sie stellte das Paket neben dem Körper ab und ging.
Ich war gerade in meiner Behausung fertig, hatte Staub gesaugt, den Boden gewischt und die Wäsche im Bad aufgehängt. Ich hatte meine große Sporttasche mit allerlei Kleidung und meinen Wanderschuhen bestückt und begab mich damit zum Auto. Nina hatte mir eine Nachricht geschickt, dass sie in Hannover losfahren würde. Ich legte die Tasche auf den Beifahrersitz meines Pick-ups und startete. Ich musste drei Autos und einen Kieslaster durchfahren lassen, bevor ich auf die Hauptstraße Richtung Uchte einfahren konnte. Ich fuhr zur Kreuzung im Ort und bog rechts Richtung Minden ab. Die Sonne strahlte mir entgegen und ich fühlte die Wärme durch die Frontscheibe auf meiner Brust und freute mich. Es blendete allerdings auch, deswegen klappte ich die Sonnenblende herunter. Ich drehte den Ton des Radios auf lautlos und genoss es, einfach gemütlich am Steuer zu sitzen, dem Grummeln des Dieselmotors zu lauschen. Mein Handy klemmte in der Halterung auf dem Armaturenbrett.
Ich befand mich zwischen Glissen und Ovenstädt, als mein Handy klingelte. Ich kannte die Nummer, die da aufleuchtete, es war die von Julias Büroapparat.
"Jo, was'n?", meldete ich mich flapsig.
"Hey, Paul, ich bin's. Bist du schon unterwegs?", erklang Julias Stimme.
"Ja, bin gerade in Ovenstädt reingefahren, wieso?"
"Ähm, also, du müsstest mal wieder zur Dienststelle kommen", druckste sie herum.
"Lass mich raten, es gibt `ne Leiche?", erkundigte ich mich, mit einem leise resignierenden Unterton in der Stimme.
"Jaaa" dehnte sie, "und nicht so `ne schöne Sache. Kehle durchgeschnitten, also kein Unfall. Ich hab’ schon Siggi angerufen."
Ich atmete einmal schnaufend durch. Zweimal.
"Okay, ist dann so. Ich dreh mal um und rufe auch gleich Nina an. Vielleicht kommt die dann auch gleich nach Stolzenau. Oder habt ihr schon was angeschoben?"
"Nee, das kam eben vom Streifendienst. Da hat `ne Bäuerin ihren Mann vor der Haustür gefunden. Muss wohl schlimm aussehen. Ein Wagen ist vor Ort", erklärte sie mir.
"Wo ist das denn?", wollte ich wissen.
"In Mörsen, da hinter Uchte, keine Ahnung wo das genau ist, ich bin da vielleicht irgendwann auf Streife mal durchgefahren."
"Okay, ich kenn das. Aber dann fahre ich da direkt hin und komme nicht erst zur Dienststelle. Was hat Siggi gesagt?"
"Er wollte auch gleich wieder losfahren. Ich melde mich gleich nochmal, Carsten Ziller kommt gerade rein."
Sie legte auf. Ich hatte zwar noch keine Adresse, aber Mörsen war klein und ich würde das schon finden. Außerdem könnte ich ja gleich nochmal auf der Dienststelle anrufen. Meine gute Laune war spontan verflogen. Ein Mann mit durchgeschnittener Kehle dürfte wohl tatsächlich nicht auf einen Unglücksfall zurückzuführen sein, was bedeutete, dass es kein freies Wochenende gab. Ich brauchte gar nicht umzudrehen, sondern bog an der B 61 hinter Ovenstädt einfach rechts statt links ab und gab erst einmal zu viel Gas. "Verdammte Scheiße! Oh, du verdammte Scheiße! Warum? Warum ausgerechnet heute? Warum schon wieder? Scheiße,
verdammte!" Zum Glück hörte niemand, wie ich in meinem Auto meine aufkommende Wut herausbrüllte. Ich starrte auf die Tachonadel, die gerade die 140 Stundenkilometer überschritten hatte und zügelte mich wieder. Ich bremste bis auf knapp über 100 ab und stellte den Tempomat ein. Dann wählte ich über die Freisprecheinrichtung Ninas Nummer. Die Verbindung baute sich auf, dann klingelte es einmal. Vor dem zweiten Klingeln hörte ich schon ihre Stimme, die spontan die dunklen Wolken über mir vertrieb.
"Hey! Bist du schon unterwegs?", flötete sie.
"Ja, aber jetzt nicht mehr auf dem Weg zu dir. Willst du raten?", entgegnete ich mit noch leicht grummeligem Unterton.
"Ein Mord. Stimmt's?" Ihr Ton war noch fröhlich, aber ein wenig hatte ihre Stimme an Elan verloren.
"Exakt. Julia hat mich gerade vom Büro aus angerufen. Ich war gerade in Ovenstädt und bin wieder Richtung Uchte abgebogen. In Mörsen, das ist so ein Kleckerdorf hinter Uchte, liegt ein Mann mit durchgeschnittener Kehle vor seiner Haustür. Was meinst du, willst du gleich durchfahren? Vermutlich würden wir dich eh anrufen."
Es dauerte zwei stille Sekunden, ehe sie antwortete.
"Ja, ich mach´ das. Ich fahre eben zuhause vorbei und packe mir ein paar Sachen ein und dann bleiben wir nachher bei dir. Wird ja vielleicht spät werden. Schickst du mir den Standort, wenn du da bist?"
Ich staunte wieder einmal, dass sie so ansatzlos in den Arbeitsmodus umschalten konnte.
"Klar, mach ich. Wir machen uns trotzdem noch einen schönen Abend. Versprochen!", beschwichtigte ich.
"Ich freu´ mich drauf!", säuselte sie. Dann legte sie auf.
Ich schaltete den Tempomat wieder ab und fuhr doch etwas schneller als erlaubt. Knapp zehn Minuten später hatte ich Uchte und Hoysinghausen passiert und befand mich auf der alten, von vielen Asphaltflicken buckeligen Straße nach Mörsen. Die Ortschaft bestand nur aus ein paar Häusern und Höfen und direkt vor einem linksseitigen Anwesen stand ein Streifenwagen. Ich stellte mich dahinter, griff mein Smartphone und sicherte in der Karten-App den Standort. Diesen schickte ich sofort an Nina, dann stieg ich aus. Das Wohnhaus stand hinter einem kleinen Vorgarten mit einem Zaun aus senkrechten Holzbrettern. Neben dem Haus befand sich ein größeres landwirtschaftliches Gebäude, etwas verwinkelt, ich vermutete eine Scheune und ehemalige Stallungen, wie es oft war. Das ganze Objekt rahmte einen grau gepflasterten Hof ein. Das nächste bewohnte Anwesen war zwar in Sichtweite, aber bestimmt um die 200 Meter entfernt. Der Hauseingang war von der Straße nicht einsehbar. Ich betrat den Hof, das Wohnhaus befand sich linksseitig der Zufahrt, war aber vom Hof aus gesehen bis auf etwa zweieinhalb Meter Höhe von einer Eibenhecke verdeckt, die an den Bretterzaun anschloss. Das Haus war ein roter Ziegelbau mit Krüppelwalmdach, der Giebel zeigte zur Straße. Meine Kollegen vom Streifendienst standen vor einer kurzen Treppe, die in einem aus der Hausseite herausgezogenen Windfang mündete. Die Kollegen waren Nathalie Warnick und Rolf Mechtold. Nathalie stand ein paar Meter abseits und sprach mit einer Frau, die auf einem einzelnen Gartenstuhl saß, ein paar Meter von dem Hauszugang entfernt. Die Frau hatte ihr Gesicht in die Handflächen gelegt und schien zu weinen. Ich ging auf Rolf zu und sah dann auch schon, was los war. Mit dem Gesicht zu der dreistufigen Treppe gewandt lag dort ein Mann, vielleicht gute 180 cm lang, sehr schlank, grauhaarig, Jeanshose, graukariertes Oberhemd. Unter seinem Gesicht hatte sich eine große dunkle Blutlache ausgebreitet, die auch über die mittlere Stufe bis auf die untere geflossen war. Das war sehr viel Blut, dachte ich spontan. Ich nickte Rolf zu und schaute ihn dann fragend an.
"Walter Swienmeyer, 64 Jahre alt. Das da ist seine Frau. Hat ihn vor gut einer Stunde so gefunden, als sie vom Friedhof kam. Hätte gleich da auf ihn warten können", erklärte er mir, glücklicherweise in leisem Tonfall. Ich ignorierte den üblen Spruch und sah zu der Frau hinüber.
"Habt ihr schon einen Arzt verständigt?"
"Sie will keinen, aber ihre Schwester kommt gleich, die wohnt in Uchte", gab er zurück. "Brauchst du uns hier noch?", hakte er nach.
Mir schwoll schon wieder die Halsschlagader leicht an. Es war Freitagnachmittag, der Herr Kollege hatte noch vier bis fünf Stunden Dienst, sicher nichts Wichtiges zu tun und sein erster Gedanke war der, wie er sich möglichst schnell verpissen könnte. Ich atmete zweimal tief durch, dann schaute ich ihn an.
"Rolf, du bist doch so etwas wie eine Führungskraft. du weißt doch, was beim ersten Angriff zu tun ist. Ich bin hier, wie du erkennst, direkt privat hergefahren, ich hab´ weder 'ne Dienstwaffe noch sonst was dabei. Hier müsste zumindest abgesperrt werden. Und ich muss wenigstens wissen, was schon veranlasst wurde."
Er zog die Stirn in Falten, erzählte mir dann aber immerhin in knappen Worten, was schon geregelt war. Das war nicht viel, außer, dass Nathalie Julia informiert hatte und dass sie eine Einsatzmeldung über Funk abgegeben hatten. Ich zückte mein Telefon und wählte Siggis Büronummer. Es klingelte ein paarmal, dann nahm er ab.
"Hallo, Paul, bist du vor Ort?"
"Hallo, Siggi, ja, ich stehe direkt vor der Leiche. Mit Nina habe ich vorhin schon telefoniert, die ist auf dem Weg. Einen Unfall kann ich hier auf jeden Fall ausschließen, der Mann ist halb enthauptet und vermutlich weitgehend ausgeblutet. Ich bräuchte wenigstens ein Team hier und Kriminaltechnik. Die Kollegen vom ESD möchten gern zeitnah abgelöst werden."
Die letzten Worte sagte ich etwas lauter, obwohl Rolf nur zwei Meter von mir entfernt stand. Er grinste mich nur doof an und ich drehte mich wieder weg.
"Vielleicht könnt ihr noch einen Bestatter bestellen, ich weiß nicht, wo hier der nächste ist. Die Leiche muss in die MHH. Wer kommt denn her?"
"Julia und ich fahren gleich los und Carsten ist auch noch da, der fährt, glaube ich, gerade schon vom Hof", erklärte Siggi.
Wir verabschiedeten uns und ich ging zu der Frau, die immer noch das Gesicht in ihre Hände vergrub. Nathalie hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt.
"Frau Swienmeyer?", sprach ich sie an. Sie schaute schniefend hoch. Sie war auch sehr schlank, ich schätzte sie auf ein ähnliches Alter wie ihren Mann. Ihr hellgraues kurzes welliges Haar war leicht rötlich getönt, ihr Gesicht und ihre Augen waren nass und gerötet. Sie sagte nichts.
"Mein Name ist Voss, ich bin von der Kripo aus Stolzenau. Es tut mir sehr leid, was passiert ist. Denken Sie, Sie können mir einige wenige Fragen beantworten?"
"Ich versuch's", antwortete sie mit zitternder Stimme.
"Ich weiß schon, dass Sie vorhin vom Friedhof zurückkamen. Wann war das ungefähr und wann haben Sie Ihren Mann zuvor letztmalig gesehen?", begann ich.
Sie putzte sich die Nase mit einem Stofftaschentuch.
"Er ist nach dem Mittag zum Sauenstall, wie immer", begann sie. Sie sprach das 'St' scharf aus, 'stolperte über'n spitzen Stein', wie man auf dem Lande sagte. "Ich hab´ den Haushalt gemacht und bin dann kurz nach eins zum Friedhof, mit dem Rad, das Wetter ist ja schön. Ich bin so kurz nach zweie da wieder weg und dann lag er hier so." Sie begann wieder zu weinen und Nathalie legte ihr wieder die Hand auf die Schulter. Ich dämpfte meine Stimme noch etwas mehr.
"Haben Sie jemanden gesehen, als Sie zurückkamen, eine Person oder ein Fahrzeug?"
"Nein, keine Menschenseele!", schluchzte sie. "Wer tut uns denn sowas an, er hat doch keinem was getan? Wenn das man nicht diese Zigeuner waren!"
"Was meinen Sie?", erkundigte ich mich.
"Na, die kommen doch hier immer her und wollen Eisen haben. Und früher haben sie ja immer was gekriegt, aber wir haben doch nix mehr und die kommen trotzdem immer an, diese Halsabschneider."
Ich stutzte über das Wort, aber ich verstand, was sie meinte. In der Gegend waren verschiedene Lkw unterwegs, deren Besatzungen Schrott einsammelten und die auch immer wieder vor Straftaten nicht zurückschreckten. Aber dabei dachte ich an Diebstahl oder Einbruch, nicht an Mord. Ich sagte aber nichts, sondern drehte mich wieder zu der Leiche um und hockte mich dann daneben.
Der Leichnam lag auf dem Bauch, die Beine zum Windfang gerichtet, die Brust hing halb über der obersten Stufe. Die Arme lagen neben dem Oberkörper, der linke Arm noch halb darunter eingeklemmt. Beide Hände hingen nah neben dem Hals herunter und waren blutverkrustet. Er musste sich noch an den Hals gefasst haben. Die Kehle stand klaffend weit offen. Dann fiel mir etwas auf. Im Mund des Toten steckte ein dunkler Klumpen. Ich sah genauer hin, es war trockener Torf. Ich richtete mich wieder auf. Dabei entdeckte ich noch etwas. Neben dem Leichnam stand ein Karton, beziehungsweise ein Paket. Ich stieg vorsichtig die Stufen hinauf und achtete darauf, den Leichnam nicht zu berühren. Auf dem Karton stand nichts geschrieben, zumindest nicht, soweit ich es hier sehen konnte.
Ich zog mein Smartphone aus der Tasche und sah darauf. Es war kurz vor halb vier. Nina hatte geschrieben, dass sie zuhause losführe. Das war um 15:05 Uhr gewesen. Sie wäre also in zwanzig Minuten hier, wenn sie nicht in eine Geschwindigkeitsmessung geriet. Ich wandte mich nochmal an Frau Swienmeyer.
"Frau Swienmeyer, neben Ihrem Mann steht ein Paket, wissen Sie, was da drin ist?"
"Ein Paket? Nee, wir haben doch nichts bestellt. Das hab ich gar nicht gesehen. Soll ich mal nachgucken?" Ihre Stimme zitterte weiterhin.
"Nein, nein, wir kümmern uns schon darum. Meine Kollegen kommen gleich."
Ich sah auf, weil ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Jemand kam auf den Hof. Es war eine Frau, etwas älter scheinend als Frau Swienmeyer. Ich ging auf die Dame zu.
"Guten Tag! Kriminalpolizei, Voss ist mein Name. Warten Sie bitte dort, ich komme zu Ihnen!"
"Ich bin die Schwester, ich sollte herkommen!", rief mir die Dame entgegen, blieb aber noch vor der Hecke stehen.
"Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Bitte bleiben Sie hier bei mir. Es hat hier einen tragischen Vorfall gegeben, dort auf der Treppe liegt Herr Swienmeyer, es ist kein schöner Anblick. Ich kann Ihnen zu dieser Stunde noch nichts weiter sagen, es ist wichtig, dass sich um Ihre Schwester gekümmert wird. Wohnen Sie in der Nähe?"
"Ich bin aus Uchte gekommen, mein Mann ist mit dem Auto weg. Was ist denn hier passiert?", erwiderte sie.
Ich drehte mich zu Nathalie.
"Nathalie, würdest du bitte mit Frau Swienmeyer zu mir kommen?"
Nathalie half Frau Swienmeyer auf und begleitete sie zu mir. Die eigentlich drahtig wirkende Frau erschien kraftlos und gebrechlich. Ihre Schwester sah ihr sehr ähnlich, war offenbar älter aber ebenfalls sehr rüstig.
"Gibt es einen Hintereingang? Ich denke, es wäre sinnvoll, wenn die Damen im Haus blieben, solange wir hier arbeiten, aber ich möchte nicht, dass der Aufgang hier benutzt wird", merkte ich an.
"Hinten ist die Veranda, wir können durch den Garten gehen“, bot die Schwester an. Ich stimmte dem zu und bat Nathalie, die Damen noch bis zum Eingang zu begleiten. Sobald Carsten und die anderen ankamen, würden wir uns wieder um Frau Swienmeyer kümmern.
Ein paar Minuten später traf Carsten ein. Er stellte den Transporter als zusätzlichen Sichtschutz auf und packte dann zuerst die Kameraausrüstung aus.
Ich bedankte mich bei Nathalie und höflicherweise auch bei Rolf und ließ sie dann fahren. Ich bat darum, die Gegend zu bestreifen und mögliche verdächtige Personen zu überprüfen. Das sagten sie zu.
Als ich mich wieder zu Carsten drehte, kniete dieser bereits in seinem weißen Einwegoverall neben dem Toten und fertigte Makroaufnahmen.
"Schau mal hier", wies er mich an und zeigte auf den rechten Ärmel des Hemdes bei dem Toten. Da wurde ziemlich sicher die Klinge der Tatwaffe abgewischt, müssen wir unbedingt sichern."
Ich erkannte angetrocknetes Blut im Oberarmbereich des Hemdes.
"Was soll das bringen?", fragte ich nach.
"Naja, ich geh' mal davon aus, dass das sein Blut ist. Aber wenn das 'ne Messerklinge war, womit der Täter ihm die Gurgel durchtrennt hat, war die vielleicht auch schon vorher irgendwo in Gebrauch. Vielleicht gibt es da noch mehr DNA. Ist zumindest einen Versuch wert."
"Okay", nickte ich. "Kann mir das zwar nicht vorstellen, aber probiert werden sollte es. Zumindest war es eine ziemlich scharfe Klinge, wenn ich mir die Wundränder so anschaue."
"Hast wohl was von Nina gelernt, wie?", philosophierte Carsten mit einem grinsenden Seitenblick.
"Nee, ein bisschen was hab ich ja auch schon selbst gelernt", rechtfertigte ich. "Wollen wir mal dieses Paket da anschauen?", erkundigte ich mich.
"Später, ich hab das auf'm Schirm. Jetzt ist erstmal der hier dran. Hab´ schon gesehen, da ist nichts drauf zu sehen, keine Schrift, kein Aufkleber."
Ich hörte ein Auto und sah auf. Es war unser ziviler Ford Kombi, gefahren von Julia, Siggi saß telefonierend daneben.
Ich sah auf die Handyuhr und ging zu dem Wagen. Sie parkten an der Straße und ich warf einen Blick Richtung Hoysinghausen und musste grinsen. Es näherte sich ein flaches blau schimmerndes Auto, nicht rasend schnell aber für die schlechte Straße sehr zügig. Rechtsmedizinerin Dr. Nina Gorssen war im Landeanflug begriffen. Ich stellte mich an die Straße, um sie zu empfangen. Julia und Siggi stiegen derweil aus.
"Herzlich willkommen!", begrüßte ich meine Kollegen. "Ihr habt es noch gerade so vor der rasenden Pathologin geschafft!"
In dem Moment scherte Nina schon hinter meinem Pick-up ein. Sie kramte auf dem Beifahrersitz herum, bevor sie die Tür öffnete. Ich ließ meine Kollegen zu Carsten weitergehen und schlenderte zu Nina über die Straße.
"Na?", sagte ich mit einem vorsichtigen Lächeln.
"Na?", erwiderte sie. "du darfst mir ruhig einen Kuss geben, eigentlich hätten wir jetzt beide Feierabend und würden..."
Schnell drückte ich meine Lippen auf ihre und kürzte den einsetzenden Redeschwall ab.
"Ey, du bist mir ins Wort gefallen!", brüskierte sie sich.
"Ja, Entschuldigung, aber ich führe rechtfertigende..."
Sie tat es mir gleich und drückte dabei keck ihre Hüfte gegen meine.
"So, jetzt sind wir quitt. Und nun an die Arbeit!", wies sie mich an.
Sie trat an den Kofferraum ihres Wagens, wenn man die kleine Höhle denn so nennen durfte, heran und fummelte einen weißen Einwegoverall aus einer Tasche. Diesen streifte sie direkt über ihre Kleidung und marschierte dann schnellen Schrittes zu Carsten hinüber. Mit einem kurzen Lächeln begrüßte sie meine Kollegen, dann wandte sie sich dem Leichnam zu. Ich beobachtete, wie sie ihre Augen ein klein wenig zusammenkniff und die Lippen eine Nuance stärker zusammenpresste. Diese kleinen Veränderungen hatte ich inzwischen mehrfach an ihr beobachtet. Ich wusste, dass sie nun voll auf die Arbeit konzentriert war.
Sie beredete mit Carsten, was er bereits getan und verändert hatte. Als die beiden einen kurzen Moment schwiegen, meldete ich mich noch einmal zu Wort.
"Ich will euch nicht von der Arbeit abhalten, aber ich würde gerne wissen, was in dem Karton drin ist. Nicht, dass ich mich langweile, aber sollte da etwas gefährliches drin sein, müssten wir uns schleunigst kümmern."
"Meinst du das Päckchen hier neben dem Leichnam? Was ist damit?", erkundigte sich Nina.
"Es hat laut der Ehefrau da gestanden, als sie die Leiche fand. Sie kann es nicht zuordnen, vorhin war es nicht da und bestellt hätten sie auch nichts. Es steht auch nichts drauf. Ich glaube nicht, dass da ein Sprengsatz drin ist, aber wenn es aus irgendeinem Grund wichtig ist, dass wir es sofort anschauen und wir machen es nicht, ist es auch Mist", sinnierte ich.
Ohne dass ich eingreifen konnte, hatte Nina sich das Päckchen geschnappt und es aufgeklappt, offenbar war es nicht zugeklebt.
"Da ist nur eine kleine Schüssel drin.", teilte sie mit und nahm diese auch direkt aus dem Karton heraus. Ich schaute mir an, was sie da tat.
"Da ist ein bisschen Kondensat dran, die Schale ist auch kalt. Ich schaue mal vorsichtig rein!"
Sie hob vorsichtig den Deckel der runden Plastikschale an, offenbar war die Dose von einer dicht schließenden Bauart.
"Da ist bloß Flüssigkeit mit Eiswürfeln drin", erklärte Nina und führte die Schale vorsichtig in Richtung ihrer Nase, um den Geruch zu untersuchen.
"Scheint Wasser zu sein. Wasser mit Eiswürfeln. Vielleicht waren es vorhin auch ausschließlich Eiswürfel, die jetzt zum Teil getaut sind. Was anderes ist da jedenfalls nicht drin. Ich werde das mit ins Labor nehmen." Sie sah in die Runde, dann hielt sie Carsten die Schale hin. "Willst du das erst katalogisieren und Aufnahmen machen?"
"Jo, stell das Ding bitte nochmal in den Karton, dann knipse ich das und etikettiere es gleich", teilte Carsten mit.
Eiswürfel, dachte ich. Was sollte das? Hatte der Täter die dabeigehabt und dann vergessen? War das jetzt Zufall oder gab es irgendeinen Zusammenhang?
"Ich geh' mal zu Julia und Siggi rüber!", erklärte ich und wandte mich um. Die beiden saßen mit Frau Swienmeyer und Frau Dohlmann, so hieß die Schwester, auf der Veranda. Die Veranda war ein hübscher kleiner Wintergarten, mit den gleichen Steinen erbaut wie das Haus und mit Fenstern versehen, die fast die ganze Breite der Front und der Seiten einnahmen. Frau Swienmeyer saß in einem Schaukelstuhl, ein Taschentuch zwischen ihren Händen auf dem Schoß, die anderen saßen auf rustikalen Gartenstühlen aus Holz mit Polsterauflagen an einem ebenso rustikalen Gartentisch. Siggi schien gerade eine Frage zu stellen, aber ich konnte draußen nichts hören, weil die Fenster und auch die Tür geschlossen waren. Frau Swienmeyer schüttelte den Kopf und tupfte sich Tränen an den Augen ab. Ich klopfte, öffnete die Tür, steckte aber nur den Kopf hinein.
"Entschuldigung! Siggi, können wir uns kurz besprechen?"
"Ich komme raus!", erwiderte er und erhob sich. Er nickte den beiden älteren Damen zu und trat dann aus der Tür heraus.
"Und?" Er sah mich fragend an.
"Ich weiß noch nichts", begann ich. „Nina und Carsten machen ihre Arbeit. Direkte Hinweise an der unveränderten Leiche gab es nicht, es sieht nicht nach einem Kampf aus, jedenfalls nicht offensichtlich. Neben dem Opfer steht ein Pappkarton, darin ist eine kleine Tupperschüssel mit Eiswürfeln. Wie die dahin kommt und was das bedeutet, ist unklar. Wie weit ist denn Frau Swienmeyer belehrt und vernehmungsfähig?"
Siggi wiegte den Kopf hin und her. "Belehrt habe ich sie. Sie ist auch orientiert, aber steht natürlich stark unter dem Eindruck der Tat. Ich glaube, tiefergreifende und ausführliche Vernehmungen sollten wir mit ihr noch nicht angehen. Aber einfache Fragen kann sie schon beantworten. Sie hat mir auch schon erklärt, was sie heute bisher gemacht hat. Der Mann ist vorhin zum Schweinestall gefahren, sie war beim Friedhof und hat ihn so gefunden, als sie wiederkam. Aufgefallen ist ihr vorher nichts. Und neben der Leiche steht eine Schale mit Eiswürfeln?"
Ich nickte. "Ja, Nina hat zumindest geschnuppert und tippt auf einfaches Wasser. Ich hab keine Ahnung, was das bedeuten könnte. Ich würde Frau Swienmeyer gerne fragen, ob sie dazu spontan eine Idee hat."
"Mach das", bestätigte Siggi. "Die Frage kann sie bestimmt beantworten. Wie sieht es mit weiteren Maßnahmen aus?"
Ich zog die Mundwinkel herunter. "Ich habe schon überlegt. Eine Fahndung? Aber wonach? Für eine Ringfahndung ist es zu spät. Hinweise haben wir keine. Die Nachbarn sind außer Sichtweite. Ich würde zwei Streifenwagen herbeordern, die die Umgebung abfahren und von allen die Personalien feststellen, die sie antreffen. Aber sonst?"
Mehr fiel mir in diesem Moment tatsächlich nicht ein. Außer den üblichen Maßnahmen, wie sofortiges Anfordern von Handydaten. Und dazu mussten wir natürlich Dr. Gassmüller anrufen. Ich fluchte innerlich noch einmal. Warum musste so etwas immer freitags nachmittags passieren, wenn egal wer es war, schon auf dem Weg ins Wochenende war? Das machte immer alles viel schwieriger.
"Magst du Dr. Gassmüller anrufen? Vor allem wegen der Verbindungsdatensicherung", fragte ich Siggi.
"Der ist im Urlaub und nicht erreichbar. Seine Vertreterin ist Frau Solmann, ich rufe sie an. Sollte kein Problem sein", merkte er an.
Frau Solmann war erst seit Kurzem Vertreterin von Dr. Gassmüller, ich kannte sie noch gar nicht. Aber Siggi erschien mir zuversichtlich, deshalb fragte ich nicht, ob die Dame der Sache gewachsen wäre.
Während Siggi sein Diensthandy zückte, betrat ich die Veranda und schaute Frau Swienmeyer an.
"Frau Swienmeyer, Herr Roland hat sich ja bereits mit Ihnen unterhalten. Ich möchte Sie nun nicht mehr belasten als nötig, doch wäre ich sehr dankbar, wenn Sie die eine oder andere wichtige Frage beantworten könnten. Geht das?"
Sie nickte. "Sie müssen ja Ihre Arbeit machen!", bestätigte sie leise und mit gesenktem Blick.
"Dankeschön! Sie hatten ja bemerkt, dass neben Ihrem Mann ein Päckchen gestanden hat, Sie hatten auch schon gesagt, dass Sie nichts bestellt hätten. Fällt Ihnen zu diesem Päckchen etwas ein?"
Sie schüttelte andeutungsweise den Kopf. "Nein, kann ich Ihnen nichts zu sagen. Ich weiß nicht, wo das her ist. Aus unserem Haushalt ist das nicht."
"Ich erkläre gleich, warum ich das frage. Gibt es irgendeinen Grund, warum ihr Mann Eiswürfel bei sich gehabt haben könnte oder dass er Eiswürfel für etwas gebraucht haben könnte?", begann ich auf den Inhalt einzugehen.
"Nee, was sollte er denn mit Eiswürfeln? Die haben wir doch sonst auch nie. Unsere Enkel, die kriegen im Sommer mal Eiswürfel in ihren Apfelsaft, dann habe ich immer welche im Gefrierschrank, aber jetzt sind da keine. Wieso denn Eiswürfel?", erkundigte sie sich.
"Nun," begann ich, "in dem Päckchen befand sich eine Kunststoffschale mit Deckel und darin waren Eiswürfel. Haben Sie dafür eine Erklärung?"
"Nein, hab ich nicht. Ich weiß nicht, was die da sollen", bekräftigte sie und sah mich nun selbst fragend an.
Ich bedankte mich und verließ die Veranda wieder, um zum Leichnam zu gehen. Als ich um die Hausecke sehen konnte, bemerkte ich bereits das Fahrzeug des Bestatters. Nina und Carsten hatten den Leichnam inzwischen umgedreht und anders gelagert, sodass er halb ausgestreckt in Rückenlage an das Geländer gelehnt war. Das Blut war inzwischen geronnen und dank seiner Lage mit dem Kopf treppabwärts, hatten weder sein Gesicht noch seine Kleidung auffällige Blutflecken aufzuweisen. Aus einer gewissen Entfernung mochte man vermutlich meinen, Herr Swienmeyer säße einfach in lässiger Haltung auf dem Treppenabsatz.
Meine Lieblingspathologin und unser Kriminaltechniker nahmen gerade mit Wattestäbchen verschiedene Abstriche am Boden und am Geländer. Nina sah auf, als ich auf sie zuging.
"Wir haben ein paar Feststellungen gemacht, willst du sie hören?", erkundigte sie sich.
Ich nickte nur.
"Dem Opfer wurde vermutlich vor dem Schnitt in den Hals in den Unterleib getreten. Die Hose weist entsprechende Trittspuren auf und prämortale Verletzungen sind auch erkennbar. Kampfspuren oder Abwehrverletzungen, die auf ein Kampfgeschehen hindeuten, konnte ich nicht entdecken. Die Spuren deuten darauf hin, dass er mit einem oder vermutlich eher zwei Tritten überrascht wurde. Ich muss mir das in der Obduktion genauer ansehen, aber was ich so bisher sehen konnte würde ich davon ausgehen, dass die Tritte ihn zumindest kurzzeitig handlungsunfähig gemacht haben dürften. Die weitere Interpretation überlasse ich euch."
Sie sah mich an, ihre Augen leuchteten in dem Licht des Frühlingsnachmittags fast bernsteinfarben. Ich versank einen kurzen Moment in dem Anblick, bis mein Verstand auf ihre Ausführungen reagierte.
"Äh, okay...", dehnte ich, um mir noch ein paar Sekunden Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. "Also hat ihm jemand, vermutlich der Täter, in die Eier getreten und ihm dann den Hals aufgeschlitzt. Klingt eher nach einer Täterin", mutmaßte ich.
"Meinst du?", hakte Carsten ein.
"Hm, ja, irgendwie schon. Aber vielleicht sehe ich das auch nicht offen genug, für mich ist halt der Tritt in die Eier immer etwas, was Männer nicht tun, ich kann gar nicht sagen, wieso."
"Wahrscheinlich, weil wir wissen, wie doll das wehtut.", schätzte Carsten.
"Möglich.", ergänzte ich, wandte mich aber in Gedanken gerade von dem ab, was ich hier sah und grübelte über den Tathergang. Ein Gedanke brachte mich zurück. Ich musste Siggi nochmal sprechen. Praktischerweise stand er drei Meter hinter mir und sah sich schweigend um.
"Siggi?"
"Ja, bitte!"
"Wissen wir, ob die Haustür offen oder geschlossen war, als Frau Swienmeyer ankam? Wissen wir, ob jemand im Haus war oder ob etwas fehlt?", wollte ich wissen.
"Die Haustür war offen, sie hat sie zugemacht, aber drinnen nichts verändert. Sie meint, es sei niemand im Haus gewesen, das ist aber nur eine Mutmaßung."
"Zumindest hat er sein Portemonnaie noch in der Hosentasche und es sind 200 Euro in Scheinen drin. EC-Karte ist auch da", warf Carsten ein.
"Gut. du guckst Dir das Haus oder zumindest den Eingang aber noch an, okay?", wies Siggi Carsten an.
"Logisch, aber erst, wenn wir hier fertig sind. Sind wir gleich.", erwiderte er.
Nina zog sich gerade ihre Einweghandschuhe aus und kam zu uns herüber.
"Soll ich heute noch obduzieren? Aus meiner Sicht ist das nicht nötig. Todesursache ist eindeutig Verbluten, Tatwerkzeug eine sehr scharfe Klinge, schätze mindestens fünf bis sechs Zentimeter lang, Tritte in die Hoden stehen auch fest. Was sagt die Staatsanwaltschaft?"
"Frau Solmann will mich gleich zurückrufen", begann Siggi. "Ich denke, die Obduktion hat Zeit, wegen mir auch bis Montag, es geht ja nur um Details. Wichtiger ist aus meiner Sicht, dass wir ein Motiv herausfinden. Wir müssen also erstmal anschauen, wer unser Opfer überhaupt war und was ein Grund für die Tat sein könnte. Was meint ihr?"
Ich sah von Siggi zu Nina und dann zu dem Leichnam, der noch am Geländer angelehnt dasaß.
"Vielleicht sollten wir erstmal den Bestatter bitten, den Leichnam abzuholen", ersann ich und machte mich gleich auf den Weg, um bei dem wartenden Wagen Bescheid zu sagen.
Im Fahrzeug saßen ein Mann und eine Frau, ich erkannte, dass es sich um das Paar handelte, dem das Unternehmen gehörte. Sie stiegen bereits aus, als ich mich näherte.
"Sie können den Leichnam jetzt verbringen!", teilte ich den beiden mit.
Die beiden erschienen mit dem Kunststoffsarg am Treppenaufgang. Ich zog mir ein paar Latexhandschuhe an, um beim Umlagern des Leichnams zu helfen. Der Tote war recht großgewachsen, allerdings von hagerer Figur und deswegen ging alles recht einfach. Siggi und ich halfen, den Sarg bis zum Wagen zu tragen und Siggi erklärte die Beschlagnahme des Leichnams und dass der Transport nach Hannover zu erfolgen hatte. Als wir wieder den Garten betraten, war Carsten schon mit seiner großen Handleuchte, der Kamera und seiner uralten Lupe im Flur der Swienmeyers auf Spurensuche. Er kniete auf dem Boden und leuchtete gerade schräg gefächert über den Fliesenboden. Der Boden war augenscheinlich sehr sauber und glatt, nur vor der Haustür lag eine Fußmatte.