Mord auf Westfälisch - Jobst Schlennstedt - E-Book

Mord auf Westfälisch E-Book

Jobst Schlennstedt

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Beschreibung

Bielefelds bester Ermittler in seinem persönlichsten Fall. Im Leben von Kriminalkommissar Jan Oldinghaus stehen Veränderungen ins Haus, buchstäblich. Ein neuer Teilhaber des elterlichen Hofs, der bekannte Wurstfabrikant und Multimillionär Hagen Piepenbrock, mischt die Familie mit seinen Plänen für das Gut auf. Dann erschüttern zwei kaltblütige Morde Ostwestfalen. Die Ermittlungen führen Jan und sein Team ausgerechnet zu Piepenbrocks Firma. Als auch noch ein Anschlag auf dessen Villa in Bad Oeynhausen verübt wird und der sogenannte Wurstbaron spurlos verschwindet, eskaliert die Lage...

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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit 2004 lebt er in Lübeck. Hauptberuflich arbeitet er als Senior Consultant für ein großes dänisches Unternehmen und berät die Hafen- und Logistikwirtschaft. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. Seitdem hat er mehr als zwanzig Krimis geschrieben. »Mord auf Westfälisch« ist der fünfte Fall mit seinem Bielefelder Kommissar Jan Oldinghaus.

www.jobst-schlennstedt.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus Carolyn Fox/Arcangel.com, shutterstock.com/Zhenyakot

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-914-3

Originalausgabe

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Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.

Altes Sprichwort

Loser

Etwas zu verlieren war Teil seines Lebens. Gewissermaßen wie die tägliche warme Mahlzeit, wie sie die meisten Menschen kennen. Ein Tag ohne Verlust oder zumindest ohne das Gefühl, dass ihm etwas durch die Finger glitt, das doch eigentlich ihm gehörte, fühlte sich irgendwie seltsam und unvollständig an.

Er lächelte bitter und nahm einen tiefen Zug von seiner Selbstgedrehten, während mal wieder Szenen seines Lebens wie ein tragischer Film an ihm vorbeirauschten.

In Momenten, in denen er glaubte, sein Leben würde vielleicht doch eine positive Wendung nehmen, wurde er misstrauisch. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass es das Schicksal plötzlich besser mit ihm meinte. Zu viel Schlechtes war ihm widerfahren. Und an Gottes Gnade wollte er schon gar nicht glauben. Er hatte sich längst abgewöhnt zu hinterfragen, was er ihm getan hatte, dass er ihn immer und immer wieder auf die Probe stellte.

Wenn er zurückdachte, musste er sich eingestehen, dass er schon als Jugendlicher nicht auf der Sonnenseite des Lebens gestanden hatte. Immer hatte er mehr verloren als dazugewonnen – der klassische Loser. Und diesen Stempel war er nie mehr losgeworden, im Gegenteil, er selbst hatte sogar dazu beigetragen, dass alles noch viel schlimmer wurde, indem er sich zu defensiv verhielt und in wichtigen Situationen die falschen Entscheidungen traf. Oder einfach gar keine.

Und wenn er doch einmal etwas erreicht hatte und obenauf war, was natürlich so gut wie nie vorkam, konnte er sicher sein, dass sein Glück nicht von langer Dauer war. Denn sosehr er sich auch anstrengte, es zu halten, es rann ihm davon wie feiner Sand durch die Finger.

Irgendwann hatte er es sich zu eigen gemacht, sein Pech zu ertragen. Stillschweigend, ohne in Selbstmitleid zu verfallen. Aber als Maria dann in sein Leben trat, war plötzlich alles anders. Er hatte tatsächlich gehofft, dass sich fortan alles zum Besseren wenden würde. Nie wieder wollte er sie loslassen, hatte er sich geschworen. Dieses eine Mal musste er das Glück doch festhalten können. Und zwar für immer. Tief im Innern hatte er wahrscheinlich auch damals schon geahnt, dass dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen konnte.

Jetzt war sie tot.

Es war nicht wie immer gewesen, nein, viel schlimmer. Einfach nur grauenhaft und unerträglich. Er hatte sie nicht retten können. War nicht da gewesen, als sie ihn brauchte. An den Tagen, an denen sie körperlich und seelisch am Ende gewesen war. Er hatte nicht nur geahnt, dass es nicht gut enden würde. Im Grunde hatte er es gewusst.

Vielleicht war es ja tatsächlich gar nicht sein Schicksal, alles Gute, was ihm widerfuhr, auf tragische Weise wieder zu verlieren, ging es ihm durch den Kopf. Vielleicht war in Wahrheit er selbst das Problem. Denn war es nicht so, dass ihn auch bei Maria eine Mitschuld traf? Er hätte ihren Tod verhindern können, wenn er für sie da gewesen wäre. Er hätte die Zeichen erkennen müssen. Ihre Ängste ernst nehmen.

Das ganze Pech, das ihn verfolgte, war doch nur das Resultat seiner Unaufmerksamkeit. Und des Zögerns in den wichtigen Momenten seines Lebens. Verbunden mit der Angst, das Falsche zu tun und stattdessen zu verharren und sehenden Auges ins nächste Unglück zu stürzen.

Und doch war es falsch, sich einzureden, er hätte ihr Leben auf dem Gewissen. Maria und er waren doch beide Opfer. Der Täter war zweifelsohne jemand anders. Und er kannte ihn. Nicht persönlich, aber gut genug, um zu wissen, wozu er in der Lage war. Er war sich auch sicher, dass Maria nicht sein einziges Opfer war oder bleiben würde.

Der Entschluss, den er in der vergangenen Nacht gefasst hatte, war richtig. Er musste etwas unternehmen. Für Maria. Und für alle anderen. Und natürlich auch für sich selbst. Er hatte lang genug tatenlos zugesehen. Gefangen in seiner eigenen Trägheit und Angst. Was hatte er jetzt nach Marias Tod überhaupt noch zu verlieren? Nicht einmal sein eigenes Leben war ihm noch etwas wert. Es gab da nur noch eine Sache, die ihn antrieb.

Rache.

Vielleicht auch die Sorge, dass es weitere Opfer geben würde. Aber in erster Linie war Rache das Gefühl, das ihn in den vergangenen Wochen überhaupt noch am Leben gehalten hatte. Im ersten Augenblick, nach Marias Tod, hatte es Momente gegeben, in denen er darüber nachdachte, dem Ganzen sofort ein Ende zu setzen. Den Menschen zu verlieren, der ihm endlich den nötigen Halt gegeben und für ein lang ersehntes Glücksgefühl gesorgt hatte, war wie ein brutaler Schlag mit dem Hammer gewesen. Sämtliche Energie und sein Lebenswille waren in diesem Moment aus seinem Körper gewichen. Aber nach dem ersten Schock hatte sich der Gedanke an Rache nach und nach in seinem Kopf eingenistet.

Ein Gefühl, das ihm bislang immer fremd gewesen war. Trotz all der Rückschläge hatte er nie einen Groll gegen andere gehegt und diese für seine persönlichen Niederlagen verantwortlich gemacht. Obwohl es, wenn er ehrlich zu sich war, das ein oder andere Mal angebracht gewesen wäre.

Aber das hier war anders und hatte nichts damit zu tun, dass ihm die Mitschüler die Reifen seines neuen Fahrrads zerstochen hatten, das er zu seinem dreizehnten Geburtstag bekommen hatte. Oder dass seine erste Freundin ihn mit seinem besten Kumpel betrogen hatte. Dass er seinen ersten Job verloren hatte, weil ihm ein Kollege nicht wohlgesonnen war. Er hatte ihm Werkzeug untergeschoben und ihn dann verpfiffen und behauptet, er würde klauen. Die Liste von Enttäuschungen war lang, und vieles hatte er längst verdrängt.

Doch diesmal war ein Mensch gestorben, und zwar nicht irgendeiner, sondern die Liebe seines Lebens. Das Glück, das er nicht hatte loslassen wollen.

Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, dann schnippte er sie hinter sich auf die Straße. Den ganzen Nachmittag hatte er hier im Schatten eines Gebüschs in der Nähe des Hauses gewartet. Das Haus, in dem der Mann wohnte, der für den Tod von Maria verantwortlich war. Der Mann, den er zur Rechenschaft ziehen wollte. Wie genau, das wusste er noch immer nicht. Aber lange durfte es nicht mehr dauern.

Bei dem Gedanken überkam ihn ein Schauer. Ein panisches Gefühl durchfuhr seinen Körper. Er war kein Mörder, aber er verstand in diesem Moment, dass er wahrscheinlich schon bald einer sein würde.

Limetten

Der Mann mit den schlohweißen Haaren sah ihn in einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis an. Sie kannten sich. Nicht persönlich, aber von einigen kurzen Begegnungen beim Abendmarkt auf dem Klosterplatz. Meistens war er zu spät gewesen, so wie heute. Dann räumte der Mann schon längst seine Wurstspezialitäten wieder zusammen. Genau wie die anderen Händler, die nun Feierabend hatten.

Feierabend hatte auch er. Aber mit dem Unterschied, dass sein Arbeitstag vor mehr als dreizehn Stunden begonnen hatte. Und trotzdem hatte er das Gefühl, der Berg an Arbeit, der sich vor ihm stapelte, werde immer größer statt kleiner.

Sein Vater hatte immer gesagt, dass sich im Alter zwischen dreißig und vierzig entscheide, wohin die Karriere führe. Es handele sich um die wichtigsten Jahre in einem Berufsleben, in denen er den richtigen Weg einschlagen könne oder aber als belangloses Rädchen im Uhrwerk eines Unternehmens untergehen werde.

Jetzt war er vierunddreißig, fühlte sich an den meisten Abenden allerdings mindestens fünf Jahre älter. Hatte er die Gabelung zum Erfolg bereits verpasst, oder befand er sich noch immer auf dem richtigen Weg? Er hatte in den vergangenen Jahren wichtige Aufgaben erfüllt und für die größten Kunden der Firma gearbeitet. Aber zu welchem Preis? Um mehr als siebzig Stunden in der Woche zu buckeln. Und seit mehr als zwei Jahren auf eine Gehaltserhöhung zu warten. Die versprochene Beförderung stand auch noch immer aus.

Er hatte Dinge getan, die ihm schlaflose Nächte bereiteten. Anders als bei einigen seiner Kollegen und Kolleginnen riet ihm sein Gewissen bisweilen, dass die Firma es mit den zum Teil zweifelhaften Machenschaften nicht übertreiben sollte. Aber hatte er als Einzelner überhaupt eine Chance? Sich dagegen zu wehren, was seine Chefs verlangten, würde wahrscheinlich einem Rausschmiss gleichkommen. Er war nun mal momentan nicht mehr als dieses kleine Rädchen im großen Getriebe und würde in dieser Position nicht dafür sorgen können, dass das Unternehmen eine andere Richtung einschlug.

Jedenfalls war er froh, dass über die Sache, an der er beteiligt gewesen war, inzwischen etwas Gras gewachsen war. Je mehr Zeit verging, desto besser gelang es ihm, die Gedanken daran beiseitezuschieben. Aber die Angst, dass die Sache noch einmal hochkochte und ihm schaden würde, ließ ihn nicht los.

Der Mann am Stand mit der geräucherten Wurst hatte ihn bestimmt schon lange durchschaut und warf ihm genau deshalb jetzt diesen mitleidigen Blick zu. Weil er wusste, dass er nicht glücklich mit dem war, was er tat. Dass er viel zu viel Zeit im Büro verbrachte, anstatt rechtzeitig Feierabend zu machen und das Leben zu genießen. Zum Beispiel, um sich stärker auf das einzulassen, was er in den letzten Wochen mit Alina erlebt hatte. Etwas, von dem er sich definitiv mehr vorstellen konnte, und aktuell der einzige Lichtblick in seinem Leben.

Manchmal wurde er in einem paranoiden Anfall das Gefühl nicht los, dass dieser Mann am Wurststand sogar etwas von den Dingen ahnte, die er getan hatte. Die er am liebsten verdrängen und für immer vergessen würde. Aber das war natürlich ausgeschlossen.

Er ging weiter über den Platz und vermied es, sich noch einmal nach dem Mann umzusehen. Er schämte sich regelrecht. Allem Anschein nach war er ein offenes Buch. Er konnte sich noch so unauffällig verhalten, aber wenn selbst der Wurstverkäufer ahnte, dass er in seinem Job nicht mehr glücklich war, hatten ihn längst auch andere Menschen durchschaut. War das etwa auch der Grund dafür, dass seine Karriere stockte?

Er seufzte und schüttelte den Kopf, während er die Tür des Hauses auf der Ecke Klosterstraße/Mauerstraße aufschloss und im Flur direkt den kleinen Fahrstuhl betrat. Jeden Tag nahm er sich vor, lieber die Treppe hochzusteigen, aber nach einem langen Bürotag war er meistens doch zu träge. Dabei täte ein wenig Bewegung seinem untrainierten Körper mehr als gut.

Es kam nur selten vor, dass er hier einen seiner Nachbarn traf, und auch heute stand er ganz allein in dem kleinen, in die Jahre gekommenen Aufzug. Gedankenverloren drückte er den Knopf mit der Nummer drei und wartete darauf, dass sich die Tür hinter ihm wieder schloss.

Behäbig und mit einem Ruckeln setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Manchmal überkam ihn die Phantasie, es würde irgendwo im Keller des Hauses jemand an einer Seilwinde ziehen und den Stahlkasten mit purer Muskelkraft bewegen. Jedenfalls wunderte es ihn, dass der Aufzug bei den knarzenden Geräuschen, die er von sich gab, noch niemals stecken geblieben war.

Auch heute nicht. Der Fahrstuhl stoppte mit einem lauten Schlag, und die Tür öffnete sich. Vor ihm lag der schmale Flur mit den drei Wohnungstüren. Die hinterste auf der linken Seite führte in seine vier Wände.

Fünfundsechzig Quadratmeter, Altbau. Als er vor sieben Jahren hier eingezogen war, bedeutete das eine deutliche Steigerung seiner Lebensqualität. Aber die letzte Sanierung der Wohnung lag bestimmt schon zwanzig Jahre zurück, und trotzdem musste er mittlerweile neunhundert Euro kalt berappen. Schon seit längerer Zeit liebäugelte er deswegen mit dem Kauf einer Eigentumswohnung. Er hatte sich ausgerechnet, dass ihn eine Finanzierung monatlich kaum mehr kosten würde.

Aber würde er überhaupt einen Kredit bekommen? Er hatte nur wenig Geld angespart, das würde die Bank wohl kaum beeindrucken. Und sein Gehalt entsprach bei Weitem noch nicht dem, was er sich selbst wünschte und was die Kreditgeber wahrscheinlich von ihm sehen wollten. Dennoch würde er das Gespräch mit der Immobilienfinanzierungsabteilung der Bank suchen müssen, und das so schnell wie möglich. Es musste doch auch für jemanden wie ihn die Möglichkeit geben, etwas Eigenes zu erwerben.

Im Hintergrund hörte er plötzlich leise Schritte. Jemand, der es offenbar klüger machte und die Treppe nahm. Wahrscheinlich der Nachbar, der letztes Jahr eingezogen war. Ein durchtrainierter Typ, etwa in seinem Alter. Tom arbeitete in einem Fahrradladen in Bahnhofsnähe und hatte mehrfach in der Woche Damenbesuch, allerdings nur selten von ein und derselben.

Es war nicht so, dass er ihn heimlich beobachtete oder eine Strichliste über dessen Besuche führte, das war gar nicht notwendig. Tom und seine Frauen hielten sich regelmäßig auf dem kleinen Balkon auf, der direkt neben seinem lag. Und sie klingelten, wenn ihnen Eiswürfel oder Limetten fehlten. Neulich hatten sie sogar gefragt, ob er nicht dazukommen wolle. Er hatte aber dankend abgelehnt.

Er mochte Tom nicht. Der Mann lebte ein Leben, das ihm für immer verwehrt bleiben würde. Weil er gefangen war in seinen Strukturen, auch im Streben nach Erfolg im Job, der sich jedoch nicht so richtig einstellen wollte. Die Karriere hatte er immer als oberstes Ziel vor Augen. Und lebte gleichzeitig mit der Angst, am Ende doch zu versagen. Sein Vater machte ihm ständig ein schlechtes Gewissen, weil er nicht genug aus seinem Leben mache. Der Kompass, den ihm sein Vater mit Strenge und Unnachgiebigkeit mit auf den Weg gegeben hatte, das, was Sigmund Freud als Über-Ich bezeichnet hatte, beeinflusste ihn am meisten. Und lähmte ihn letztlich.

Er verdrängte die Gedanken und ging rasch in Richtung seiner Wohnungstür, während die Schritte im Hintergrund immer lauter wurden. Hastig fingerte er den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. Er musste Tom heute Abend nun wirklich nicht begegnen, um ihm dann noch ein aufgezwungenes Lächeln zu schenken. Er wollte seine Ruhe, mehr nicht.

Die Schritte kamen immer näher, wurden plötzlich schneller, aber gleichzeitig auch leise, fast schleichend. Als würde jemand die Treppe hinaufhuschen.

Tom war eigentlich niemand, der es eilig hatte. Im Gegenteil, immer wenn er ihn gesehen hatte, wirkte er tiefenentspannt, als hätte er gerade einen Joint durchgezogen. Hektik und Unsicherheit schien dieser Typ nicht zu kennen.

Er brauchte einen Moment, um den richtigen Schlüssel zu finden. Als er ihn endlich ins Schloss gesteckt hatte, waren die Geräusche aus dem Treppenhaus verstummt. Der Flur lag lautlos hinter ihm. Da war offenbar niemand, der ihn heute Abend noch in ein Gespräch verwickeln würde. Erleichtert atmete er durch.

Er drehte den Schlüssel um, bis sich die Tür mit einem kurzen Schnappen öffnete. Genau in diesem Moment erlosch das Licht im Flur.

Es war fast stockdunkel. Auf dem Gang gab es kein Fenster, auch aus dem Treppenhaus drang fast kein Licht hierher. Er tastete an der Wand entlang auf der Suche nach dem Schalter. Eine fast tägliche Situation, schaltete sich die mit einer Zeitschaltuhr gekoppelte Lampe doch immer viel zu früh aus.

Nach ein paar Sekunden hatte er ihn gefunden. Das grelle LED-Licht erhellte den Gang. Während seine Netzhaut sich wieder an die Helligkeit gewöhnte, zuckte er im nächsten Moment zusammen. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Die Schritte im Treppenhaus? Weshalb eigentlich waren sie mit einem Mal verhallt? Und was war das für ein Luftzug, den er plötzlich in seinem Nacken verspürte? Und dann dieses ganz leise Geräusch auf dem ausgetretenen Linoleumboden.

Da war jemand, direkt hinter ihm. Er spürte es. Jemand hatte sich in dem kurzen Moment der Dunkelheit offenbar an ihn herangeschlichen. Etwa Tom, sein Nachbar? Aber der würde ihn wohl kaum derart erschrecken, um mal wieder nach Limetten zu fragen.

Er erstarrte vollends. War unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Oder sich umzudrehen und davonzurennen. Obwohl er ahnte, dass alles besser war, als einfach nur zu verharren.

Ihn überkam ein Gefühl der Panik, das er nicht kannte. Angst hatte er schon des Öfteren in seinem Leben verspürt. Angst davor, dass das, wofür er in seinem Job verantwortlich war, eines Tages auffliegen würde. Angst davor, nicht die Erwartungen seines Vaters erfüllen zu können. Aber das hier war etwas anderes. In diesem Augenblick befiel ihn Todespanik.

Im nächsten Moment bohrte sich etwas Hartes, Metallenes in die Haut oberhalb seiner Schläfe. Aus dem Augenwinkel sah er einen Pistolenlauf, auf den ein kurzer Schalldämpfer geschraubt war.

Er versuchte, den Mund zu öffnen, um etwas zu sagen. Er wollte schreien, in der Hoffnung, dass ihn einer der Nachbarn hörte. Aber er blieb einfach stumm. Die Panik lähmte ihn und hatte jeden Muskel in seinem Körper regelrecht schockgefroren.

Er würde sterben, ohne den Hauch einer Ahnung zu haben, weshalb. Der Gedanke, nicht zu wissen, wer ihm eine Waffe an den Kopf hielt, machte ihm plötzlich mehr zu schaffen als die Tatsache, dass in wenigen Sekunden eine Kugel durch seine Schädeldecke jagen würde.

Er stemmte sich gegen seine Starre, biss die Zähne aufeinander, sodass sie knirschten. Bewegte ganz langsam seine Finger. Dann den rechten Fuß. Mit einer ruckartigen Bewegung wandte er sich schließlich um, bis er der Person, die die Pistole auf ihn richtete, in die Augen sah.

Die Hoffnung, zu verstehen, was vor sich ging, erfüllte sich jedoch nicht. Als er sah, dass der Finger am Abzug zuckte, musste er einsehen, dass es vorbei war. Ohne irgendeine Erklärung.

Kernsegmente

Immer wieder schlug Jan Oldinghaus auf seinen Bruder Cord ein. Seine rechte Faust schmerzte längst, aber noch war er nicht fertig mit ihm. Nicht, bevor die Wut auf ihn verschwand. Nicht, bevor er der Meinung war, nun sei es genug.

Er wechselte die Schlaghand und verpasste Cords Gesicht zwei weitere Haken. Was hätte er dafür gegeben, ihn bluten zu sehen. Seine Schmerzensschreie aus nächster Nähe zu hören. Denn das große Konterfei seines Bruders, das Jan ausgedruckt und auf den ledernen Boxsack gepinnt hatte, war leider nur ein schlechter Ersatz. Und doch sorgte allein das Foto, von dem ihn ein frisch frisierter Cord mit seinem süffisanten Grinsen und diesem überheblichen Blick ansah, für ein ihm bisher unbekanntes Aggressionslevel.

Sein Bruder hatte es tatsächlich nicht für nötig gehalten, ihm persönlich mitzuteilen, dass er seinen Anteil am elterlichen Hof verkauft hatte. Dass er die Drohung auszusteigen tatsächlich so schnell wahr gemacht hatte, war wie Leberhaken und Kinntreffer zugleich gewesen. In einer Nacht- und Nebelaktion hatte Cord sein persönliches Hab und Gut mit einem Lkw und seinem Geländewagen samt Anhänger weggeschafft. Er hatte ihre Mutter, die ihm all die Jahre so wichtig gewesen war, einfach im Regen stehend zurückgelassen und den Hof in den frühen Morgenstunden verlassen. Für immer, wie er ihr noch wütend hinterhergerufen hatte.

Ihm selbst und seiner Schwester Isabel hatte er noch einen kurzen Brief hinterlassen, in dem er ihnen viel Spaß mit ihrem neuen Miteigentümer wünschte. Aus den Worten sprach der pure Sarkasmus. Jan war natürlich klar, dass sein Bruder, mit dem ihn schon seit Kindheitstagen eine innige Feindschaft verband, für einen Teilhaber gesorgt hatte, der ihnen das Leben alles andere als leicht machen würde.

Dass Cord sich gegen ihn und Isabel stellte, hatte Jan keineswegs überrascht. Der Tod ihres Vaters und die überraschende Verkündung seines Nachlasses, in dem geregelt war, dass Jan und sein Bruder zu gleichen Teilen den elterlichen Hof vererbt bekamen, hatten Cord derart aus der Bahn geworfen, dass er binnen weniger Wochen den Entschluss gefasst hatte, mit seiner Familie zu brechen. Es war nicht einmal mehr zu einem Gespräch zwischen ihnen gekommen. Vielleicht wäre Jan ja sogar bereit gewesen, Cord seinen Anteil zu verkaufen. Oder ihm zumindest zu versichern, sich aus allem Geschäftlichen herauszuhalten. Aber sein Bruder hatte nicht mehr mit sich reden lassen.

Ihr Vater, Heinrich Meyer zu Oldinghaus, der Patriarch der Familie, war nicht nur Cords Vorbild, Jans Bruder war auch dessen ganzer Stolz gewesen. Jeder, der bei der Verlesung des Testaments anwesend gewesen war, hatte schwer schlucken müssen. Niemand, vor allem nicht Jan, hatte erwartet, dass sein Vater ihn beim Erbe mit seinem Bruder gleichstellen würde. Nicht nach dem, was er in den vierzig Jahren seines Lebens erfahren hatte. Cord war der Vorzeigesohn gewesen. Alle waren davon ausgegangen, dass er den Hof eines Tages übernehmen würde. Was hatte seinen Vater bloß geritten, dass er in seinem Testament Cord und ihn zu gleichen Teilen berücksichtigt hatte?

Was Jan aber vor allem nicht in den Kopf wollte, war das anschließende Verhalten seines Bruders ihrer Mutter gegenüber. Sie war das Bindeglied der Familie, die sich im Zweifelsfall immer auf Cords Seite geschlagen hatte. Wie oft hatte Jan Situationen erlebt, in denen nicht nur sein alter Herr, sondern auch die Mutter ihn ermahnt hatte, sich doch bitte ein Vorbild an seinem Bruder zu nehmen, der sich so gut um den Hof kümmerte – und auch um seine Eltern. Vor allem nach dem Schlaganfall seines Vaters vor ein paar Jahren.

Dass sich Cord nach der Eröffnung des Testaments nun aber nicht nur von Jan und Isabel, sondern auch von ihrer Mutter abgewendet hatte, belastete die gesamte Familie. Vor allem Isabel hatte sich in den letzten Wochen rührend um ihre Mutter gekümmert. Denn die war nach dem Tod von Heinrich, den sie nur schwerlich verkraftet hatte, und durch Cords überstürztes Verschwinden in ein tiefes seelisches Loch gefallen. Ihr war es besonders wichtig gewesen, dass die Familie jetzt zusammenhielt.

Immerhin jetzt, dachte Jan bitter lächelnd. Nachdem sie in den vielen Jahren zuvor nicht unbedingt dafür gesorgt hatte, dass das Verhältnis zu Jan besonders eng war. Jedenfalls hatte sie niemals eingegriffen, wenn Heinrich und Cord allzu oft deutlich machten, dass sie das Sagen über den Hof hatten und wichtige Entscheidungen in der Familie trafen. Jan hatte das all die Jahre nicht vergessen.

Er ließ sich in der Pferdebox, in der er den Sandsack aufgehängt hatte, ins Stroh fallen und versuchte, sich zu beruhigen. Mit mäßigem Erfolg. Schließlich richtete sich seine Wut nicht nur darauf, dass Cord sie einfach im Stich gelassen hatte, sondern auch auf dessen Entscheidung, wem er seinen Anteil verkaufte.

Hagen Piepenbrock.

Als Jan hörte, wem zukünftig zu gleichen Teilen der Hof gehören würde, hatte er im ersten Moment noch keine klare Vorstellung gehabt. Erst als er über ihn recherchierte, war ihm nach und nach klar geworden, mit wem er es zu tun haben würde.

Bis zum heutigen Tag war er diesem Mann noch nicht persönlich begegnet, dennoch hatte er das Gefühl, bereits mehr über ihn zu wissen, als ihm lieb war. Hagen Piepenbrock war einer der größten Unternehmer Ostwestfalens. Weit über die Region hinaus war der Wurstproduzent bekannt.

Piepenbrock, der zu den größten Fleischverarbeitern des ganzen Landes gehörte, schwemmte mit seiner Firma nicht nur die Supermärkte der Region mit Wurstprodukten, er gönnte sich auch den Luxus, einen ostwestfälischen Handballverein zu sponsern und eine eigene Kunstgalerie zu besitzen. Weshalb er sich nun auch noch für einen landwirtschaftlichen Betrieb zwischen Bielefeld und Herford interessierte, war Jan allerdings noch nicht so richtig klar. Im besten Fall hatte Piepenbrock ein besonderes Faible für Pferde und wollte einfach nur seinem Hobby frönen, aber Jan konnte sich nur schwer vorstellen, dass ein Mann wie er sich ohne finanzielle Hintergedanken bei ihnen eingekauft hatte.

»Darf ich auch mal?«

Jan fuhr hoch. Seine Schwester Isabel hatte den Stall betreten und sah ihn mit einem Grinsen an.

»Cord eine verpassen?«, fragte er provokant. »Nur zu.«

Isabel ließ sich nicht zweimal bitten, ballte ihre rechte Hand und holte aus. Doch kurz bevor sie den Boxsack traf, zog sie zurück.

»Was ist?« Jan richtete sich jetzt vollständig auf. »Erzähl mir nicht, dass du plötzlich Skrupel hast, dir vorzustellen, wie du ihn verprügelst.«

»Nein, das ist es nicht. Ich hätte sogar große Lust dazu.«

»Aber?«

»Ich muss ein wenig aufpassen.«

»Aufpassen?«, fragte Jan argwöhnisch. »Bitte keine falsche Zurückhaltung.«

»Ich habe gehört, dass Philipp und du einen erneuten Versuch unternommen habt, euch auszusprechen.« Isabel ignorierte seine Worte.

Jan nickte, während er sich Stroh aus seiner Kleidung klopfte. Heute Morgen hatte er tatsächlich das Gespräch mit seinem ehemals besten Freund gesucht, obwohl er nach wie vor der Meinung war, dass es an Philipp gewesen wäre, sich bei ihm zu entschuldigen. Zu tief hatte es ihn getroffen, dass Philipp und seine Schwester ihm ihre Beziehung monatelang verschwiegen hatten. Dass sie ihn dann auch noch wegen angeblich unterschiedlicher musikalischer Vorstellungen aus ihrer gemeinsamen Band geworfen hatten, mit der sie vor nicht allzu langer Zeit auf einer ausgiebigen Tournee gewesen waren, war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Die Freundschaft zu Philipp war an diesem Punkt zerbrochen, und auch sein Verhältnis zu Isabel war seitdem längst nicht mehr so innig.

»Habt ihr euer Kriegsbeil denn endlich begraben?«, fragte Isabel.

»Du willst doch nicht ernsthaft so tun, als wüsstest du nicht, worüber wir geredet haben?«

»Philipp hat kaum etwas erzählt«, antwortete sie. »Aber er hörte sich nicht gerade so an, als hättet ihr euch in den Armen gelegen.«

»Nein, davon waren wir in der Tat ziemlich weit entfernt«, sagte Jan nüchtern. »Und ich bin mir auch nicht sicher, ob das jemals wieder der Fall sein wird. Irgendwie hat sich Philipp verändert, seitdem er mit dir zusammen ist.«

»Du meinst also, es liegt an ihm und mir?«

»Nein, sicherlich verhalte ich mich auch anders als früher, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er –«

»Hat er dich also nicht gefragt?«, unterbrach Isabel ihn.

»Was meinst du?«

»Ob er dich um etwas gebeten hat.«

»Um etwas gebeten?«, wiederholte Jan. »Nein, wir haben uns lediglich ein paar Minuten über Belanglosigkeiten unterhalten.«

»Er hat also nicht gesagt, was …« Isabel brach ab.

»Was sollen denn diese Andeutungen? Worauf willst du hinaus?«

Isabel wandte sich ab und trat einen Schritt auf den Boxsack zu. Ihr Blick schien an dem Bild ihres Bruders hängen zu bleiben, im nächsten Augenblick riss sie das Foto aber herunter und zerknüllte es in ihren Händen.

»Ich will einfach nicht mehr über Cord reden«, sagte sie und ignorierte seine Fragen. »Allerdings befürchte ich, dass uns das, was er uns hinterlassen hat, noch große Probleme bereiten wird.«

»Möglich, aber ich werde nicht zulassen, dass dieser Piepenbrock hier alles auf den Kopf stellt«, entgegnete Jan energisch. »Keine Ahnung, was er sich davon verspricht, hier eingestiegen zu sein. Ich werde ihn jedenfalls an allem hindern, was uns nicht gefällt.«

»Ich würde gerne sagen, dass er nur Gutes im Schilde führt, aber das hier spricht wohl leider eine andere Sprache.« Isabel zog einen zusammengefalteten Zettel aus ihrer Jackentasche.

»Was ist das?«

»Ein Brief von seinen Anwälten«, antwortete Isabel. »Er lag heute in der Post. Mama hat ihn mir vorhin gegeben. Wie es aussieht, hat Piepenbrock aktuell noch keine Lust, direkt mit uns zu sprechen. Stattdessen kommuniziert er lieber auf diesem Weg. Und hieraus wird ziemlich deutlich, weshalb er sich ausgerechnet bei uns eingekauft hat. Wie wir schon befürchtet haben, interessieren ihn in erster Linie die Pferde. Für den Rest unseres Betriebes hat er dagegen nicht so viel übrig.«

»Ist einer der größten Wurstproduzenten etwa ein Pferdeliebhaber?«, fragte Jan höhnisch. »Oder will er mit unseren Tieren auch nur Geld machen?«

»Ich schätze mal, eine Mischung aus beidem. Aber lies dir den Brief doch einfach selbst durch.« Isabel reichte Jan das Schreiben und lehnte sich gegen das Gitter der Pferdebox, in der sie standen.

Er faltete den Brief auseinander und erkannte sofort, dass er an ihn adressiert war. Einen Moment lang war er versucht, Isabel zu fragen, weshalb sie ihn einfach geöffnet hatte, aber er schluckte seine Worte hinunter und begann zu lesen.

Sehr geehrter Herr Meyer zu Oldinghaus,

unser Mandant, Herr Hagen Christoph Piepenbrock, hat zum 1. September dieses Jahres die Anteile Ihres Bruders Cord Meyer zu Oldinghaus übernommen. Mit dem notariell beglaubigten Kaufvertrag besitzt unser Mandant nun 50 % der Meyer zu Oldinghaus GmbH und Co. KG.

Zu gegebener Zeit wird Herr Piepenbrock sich mit Ihnen in Verbindung setzen, um die zukünftige Bewirtschaftung des Betriebes im Detail zu besprechen. Unser Mandant bat uns jedoch, Ihnen auf diesem Wege einen Einblick in seine Pläne zu gewähren.

Der ausschlaggebende Grund für den Kauf der Anteile am Hof sind die Perspektiven, die unser Mandant in dem bestehenden Gestüt sieht. Herr Piepenbrock ist ein ausgesprochener Pferdekenner und hat sich umfassend über jedes einzelne Tier und die Entwicklungen in den letzten Jahren informiert.

Er sieht in dem Gestüt ein enormes Potenzial. Dabei möchte er sich auf zwei Schwerpunkte konzentrieren: zum einen den Pferdesport, zum anderen die Pferdezucht. Mit den finanziellen Möglichkeiten, über die unser Mandant verfügt, soll der Hof in den nächsten Jahren in diesen Kernsegmenten ausgebaut und bekannter gemacht werden. Herr Piepenbrock freut sich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.

»Kernsegmente?«, platzte Jan heraus. »Meinetwegen kann er sich mit seiner Wurstfabrik auf Kernsegmente wie Bärchenwurst konzentrieren, aber er soll bitte schön uns und unsere Tiere in Ruhe lassen.«

»Tja, ich befürchte, ganz so leicht werden wir das nicht verhindern können. Vielleicht sollten wir auch erst dann ein Urteil über ihn fällen, wenn wir ihn kennengelernt und die Pläne aus seinem Munde gehört haben.«

»Ich weiß nicht«, sagte Jan. »Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«

»Sieh es mal so«, entgegnete Isabel. »Vielleicht ist das Ganze auch eine Chance. Mutter geht es nicht gut, und sie ist auch längst nicht mehr die Jüngste. Sie wird den Hof in Zukunft nicht allein führen können. Du hast einen Vollzeitjob und wolltest das alles hier sowieso noch nie. Und mit mir ist für die nächste Zeit auch nicht zu rechnen.«

»Wie meinst du das denn jetzt wieder?«

Isabel nickte in Richtung des Boxsacks, doch Jan verstand nicht, worauf sie hinauswollte.

»Der Grund, weshalb ich eben nicht zugeschlagen habe«, erklärte sie vielsagend und lächelte. »Ich darf meinem Körper nicht mehr so viel zumuten, falls du jetzt verstehst, was ich meine.«

Jan zögerte, seine Gedanken fuhren plötzlich Karussell. Dann wanderte sein Blick an Isabels Körper auf und ab, bis er keinen Zweifel mehr hatte. »Welcher Monat?«, fragte er.

»Vierter.«

»Man sieht dir kaum etwas an«, sagte Jan so neutral, wie es ihm möglich war. Denn innerlich brodelte es in ihm. Dass seine Schwester von Philipp nun auch noch schwanger war, kam nicht völlig überraschend, und trotzdem setzte es ihm zu.

»Ich hoffe, du kannst dich mit dem Gedanken anfreunden, dass du Onkel wirst.«

»Offenbarst du mir als Nächstes, dass ich auch noch Philipps Trauzeuge werden soll?«

»Genau deshalb fragte ich vorhin danach, ob er dich um etwas gebeten hat.«

»Dein Ernst?«

»Es wäre unser Wunsch.«

»Nach allem, was vorgefallen ist?«, fragte Jan ungläubig. »Ehrlich gesagt fühle ich mich etwas …« Er brach ab, als sein Handy, das er auf einem Schemel neben sich abgelegt hatte, klingelte. Er sah, dass sein Kollege Cengiz anrief.

»Die Arbeit«, sagte er mit einer entschuldigenden Geste. Er ging an seiner Schwester vorbei. Auf dem Weg aus dem Stall nahm er den Anruf entgegen.

»Wenn du dich um diese Uhrzeit bei mir meldest, kann das nichts Gutes bedeuten.« Auf seinem Telefon hatte Jan gesehen, dass es bereits halb acht war. Die Sonne war längst hinter dem großen Haupthaus des Hofes untergegangen.

»Wärst du wie ich ohnehin noch im Büro, hätte ich einfach zu dir rüberkommen können«, antwortete Cengiz. Er klang genervt, aber Jan wusste, dass diese kleinen Spitzen bei ihm dazugehörten. Unter seiner bisweilen etwas harten Schale steckte ein liebenswerter Kollege. Der beste, den er sich vorstellen konnte.

»Ich bin auf dem Weg in die Stadt«, redete Cengiz weiter. »In einem Mehrfamilienhaus Ecke Klosterstraße/Mauerstraße wurde eine männliche Leiche gefunden. Fabian Sieveking, vierunddreißig Jahre alt, ledig. Offenbar hat das Opfer eine Schussverletzung. Mehr weiß ich aktuell aber auch noch nicht.«

»Bist du allein?«

»Falls du darauf hinauswillst, ob du unbedingt herkommen musst: Ja, sonst hätte ich dich nicht angerufen.«

»Was ist mit Kai oder Lara?«

»Wen würdest du in meiner Situation anrufen?«

»Lara?«

»Davon träumst du vielleicht, aber natürlich wähle ich die Nummer meines Lieblingskollegen. Also würdest du deinen Hintern jetzt bitte sofort in Bewegung setzen?«

Jan versuchte gar nicht erst, sein Stöhnen zu unterdrücken. Er hatte den ganzen Tag im Büro des Polizeipräsidiums in Bielefeld verbracht. Über mehrere Aktenordner gebeugt und vor dem Monitor versunken, auf der Suche nach irgendeinem Ansatzpunkt in einem bereits ein halbes Jahr zurückliegenden Vermisstenfall. Die Suche war erfolglos geblieben, wie schon in den Wochen und Monaten zuvor.

Im Grunde wünschte er sich ja sogar einen neuen Fall, auf den er sich stürzen konnte, ging es ihm durch den Kopf. Nur musste das nun wirklich nicht gerade heute Abend sein. Die Wut auf Cord und dann auch noch die Neuigkeiten, die Isabel ihm gerade eben verkündet hatte, waren nichts, was er so einfach abschütteln konnte. Andererseits wusste er genau, dass ihm sein Job schon ein ums andere Mal dabei geholfen hatte, die komplizierte und manchmal nur schwer zu ertragende Situation in seiner Familie zumindest für eine gewisse Zeit zu verdrängen.

»Ich bin in spätestens zwanzig Minuten da«, sagte er schließlich. »Wer hat die Leiche eigentlich gefunden?«

»Der Nachbar«, antwortete Cengiz. »Offenbar wurde das Opfer vor seiner Wohnungstür erschossen. Die Streife, die zuerst am Tatort war, erwähnte übrigens, dass sich der Nachbar etwas seltsam verhalten hat.«

»Seltsam?«

»Möglicherweise Alkohol oder Drogen.«

»Ist er denn tatverdächtig?«

»Das zu klären dürfte unsere Aufgabe sein«, antwortete Cengiz. »Ich habe die Personalien eben kurz gecheckt. Der Mann heißt Tom Krämer, er ist …«

Jan hörte nicht mehr richtig zu. Die rechte Hand, in der er sein Handy hielt, rutschte vom Ohr.

Tom Krämer. Der ehemalige Sänger ihrer Band, die Underdogs. Sie hatten ihn damals als Ersten aus der Band geschmissen, weil er aufgrund seines Drogenkonsums nicht in der Lage gewesen war, bei einem Konzert aufzutreten. Es war ausgerechnet das Konzert gewesen, bei dem ein Attentäter einen Sprengstoffanschlag verübt hatte. Einer derjenigen Fälle, die Jan bis heute noch nachhingen.

Seit damals hatte er von Tom nichts mehr gehört. Jan wusste nicht, ob er eine neue Band gegründet hatte, sich als Singer und Songwriter durchschlug oder einem ganz anderen Job nachging. Dass Tom ein schwieriger Mensch war, würde wohl jeder aus der Band bestätigen. Vor allem hatte ihn der Drogenkonsum unzuverlässig gemacht. Aber sich vorzustellen, dass Tom einen anderen Menschen kaltblütig erschoss, schien ihm unmöglich. Und doch hatte ihn die Erfahrung als Kriminalkommissar gelehrt, dass es besser war, nichts auszuschließen, solange nicht das Gegenteil bewiesen war.

Gechillt

»Gerade noch rechtzeitig.« Tim Noltes Worte klangen nicht nur vorwurfsvoll. So wie Jan ihn kannte, waren sie auch so gemeint.

Der Leiter des KK 32 Kriminaltechnik und Daktyloskopie saß in der Hocke vor der Leiche und verzichtete darauf, sich zu Jan und Cengiz umzudrehen, als sie den Flur im dritten Stockwerk des Mehrfamilienhauses betraten.

»Wir sind hier gleich fertig. Zum Glück war nicht viel zu tun.« Der glatzköpfige und groß gewachsene Mann begutachtete unbeirrt den auf dem Rücken liegenden Körper. Ihm gegenüber stand eine junge Kollegin, die Jan nicht kannte. Sie fotografierte Details der Schusswunde im Gesicht des Toten. Dabei machte sie mit ihren zu einem Pferdeschwanz gebundenen dunkelbraunen Haaren und der komplett schwarzen Kleidung einen strengen Eindruck. Jan stellte sich einen kurzen Moment vor, sie trüge statt der Kamera eine Waffe in der Hand. Als eiskalte Killerin konnte er sie sich durchaus auch vorstellen.

Jan vermied es, einen detaillierten Blick auf das Gesicht des Toten zu werfen. Vor allem, weil er aus dem Augenwinkel gesehen hatte, dass kaum noch etwas davon übrig war. Der Täter hatte Fabian Sieveking offenbar frontal eine Kugel in den Kopf gejagt.

Stattdessen wanderten seine Augen über die Kleidung des Opfers. Ein dunkelblauer Pullover, darunter ein hellblaues Hemd, dessen Kragen zu sehen war. Eine helle Chino-Hose und die braunen Lederschuhe rundeten das Bild ab. Vermutlich das Outfit, das Sieveking in seinem Job trug. Darauf ließ auch die schmale Ledertasche schließen, die halb verdeckt unter seinem Körper lag. Sie würden sie sich später vornehmen, wenn Nolte hier fertig war.

»Gibt es Spuren, die auf einen Kampf zwischen Opfer und Täter hindeuten?«, fragte Cengiz.

»Nein, gar nichts«, antwortete Nolte. »Keinerlei Stofffasern oder sonstige Partikel auf dem Boden. Auch am Körper des Toten konnten wir bislang keine Kratzer erkennen. Aber das muss in der Rechtsmedizin noch genauer abgeklärt werden. Vielleicht findet man dort unter den Fingernägeln verwertbares Material.«

»Kannst du schon etwas dazu sagen, aus welcher Entfernung die Kugel abgefeuert wurde?«

»Im Gesicht des Opfers und auf dem Hemd haben wir jede Menge Schmauchspuren gefunden. Im Moment würde ich schätzen, dass der Täter bei Schussauslösung auf keinen Fall mehr als einen Meter entfernt stand.«

»Das könnte auch bedeuten, Sieveking wurde im Affekt erschossen«, sagte Jan nachdenklich. »Kann es sein, dass der Täter zuerst bei ihm geklingelt und ihn dann hier auf dem Flur getötet hat?«

»Unwahrscheinlich«, antwortete Nolte. Er hob kurz seinen Kopf und nickte in Richtung Wohnungstür.

Jan erkannte sofort den Schlüssel, der noch im Schloss steckte. Entweder hatte Sieveking seine Wohnung gerade verlassen und abgeschlossen, oder er war nach Hause gekommen, als der Täter aufgetaucht war. Für Letzteres sprach die Kleidung. Aber war es denkbar, dass sich der Täter anschleichen konnte, ohne bemerkt zu werden? Auf diesem schmalen und vergleichsweise kurzen Flur schien ihm das schwer vorstellbar.

»In welcher Wohnung finden wir Tom Krämer?«

Jetzt sah Nolte endlich zu ihm hoch. Er zeigte auf die Tür, die auf derselben Seite wie die von Sieveking lag. Ein Stück weiter in Richtung Treppenhaus.

Jan nickte Cengiz zu, und die beiden entfernten sich vom Tatort. Bevor Jan an der Wohnungstür seines ehemaligen Bandkollegen klingelte, atmete er noch einmal tief durch. Bilder gemeinsamer Jahre auf kleinen und großen Bühnen rauschten an ihm vorbei.

Er brauchte einen Moment, bis er sich sicher war, dass es sich bei dem Mann, der hinter den beiden Streifenpolizisten stand, die ihnen gerade die Tür geöffnet hatten, tatsächlich um Tom handelte. Er war zwar schon damals ein Frauentyp gewesen, mit der typischen Attitüde eines Rocksängers, aber er sah viel frischer aus als zu der Zeit, in der er meistens vollkommen zugedröhnt in ihrem kleinen Tourbus gelegen hatte. Seine noch immer längeren blonden Haare hatte er nach hinten frisiert und zu einer Art Dutt hochgesteckt. Toms Körper schien durchtrainiert zu sein, im Gesicht war er braun gebrannt. Und obwohl ihr Wiedersehen einen unerfreulichen Anlass hatte, grinste er Jan gut gelaunt an.

»Ich hatte schon darauf spekuliert, dass du hier auftauchst«, sagte er und drängte sich an den beiden Beamten vorbei. Er hielt Jan die Hand hin, um mit ihm einzuschlagen. »Wie lange ist das her, dass ihr mich rausgeschmissen habt?«

»Mindestens ein Jahr länger, als sie das Gleiche mit mir getan haben.« Jan schlug jetzt ein und schüttelte Toms Hand.

»Dich haben sie auch abserviert?«, platzte es aus Tom heraus. So laut, dass Nolte ihnen einen genervten Blick entgegenwarf. »Bestimmt ging das von Philipp aus, oder?«

»Egal, nicht so wichtig.« Jan winkte ab, als er spürte, wie aufbrausend Tom wurde. In dessen Pupillen erkannte er, dass er tatsächlich nicht nüchtern war, sondern höchstwahrscheinlich unter Drogen stand. »Wir müssen mit dir über deinen Nachbarn reden. Können wir reinkommen?«

»Die beiden hier haben mich doch schon befragt.«

Jan warf den Kollegen der Streife einen fragenden Blick zu, an deren kurzem Kopfschütteln las er jedoch ab, dass Tom übertrieb und sie wohl nur die Standardfragen gestellt und die persönlichen Daten aufgenommen hatten.

»Dauert nicht lange, aber wir müssen wissen, was hier passiert ist. Und vielleicht kannst du uns helfen, mehr über Fabian Sieveking in Erfahrung zu bringen.«

»Wenn es unbedingt sein muss«, sagte Tom. »Aber hey, dann lass uns dabei wenigstens etwas chillen. So wie damals, falls du verstehst, was ich meine.«

Jan suchte nach den passenden Worten, überspielte die Situation aber stattdessen mit einem Lächeln. Er trat einen Schritt vor, nickte den beiden Kollegen zu und wartete, bis Tom ihn und Cengiz etwas verzögert schließlich hineingeleitete.

Während sie ihm folgten, scannte Jan die Wohnung. Sie machte einen aufgeräumten Eindruck, was ihn überraschte. Er hatte erwartet, auf chaotische Verhältnisse zu treffen. Vier Wände eines Menschen, der sein Leben nicht im Griff hatte. So wie damals. Aber das Gegenteil war der Fall. Alles um ihn herum machte einen aufgeräumten Eindruck. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass Tom auf die schiefe Bahn geraten war. Offenbar hatte er sich seit damals verändert, was allerdings doch dagegensprach, waren die geweiteten Pupillen und sein extrovertiertes Auftreten. Und der zunehmend süßliche Geruch, der Jan in die Nase stieg, je weiter sie in die Wohnung vordrangen.

»Du kommst gut klar, wie ich sehe.«

»Ich war mir sicher, dass du das sagst.«

»Was machst du im Moment beruflich?«

»Ich verkaufe Lastenräder«, antwortete Tom. Als er Jans leicht irritierten Blick wahrnahm, ergänzte er: »Ich arbeite in einem Fahrradladen. Und manchmal abends noch in einer Bar.«

Im Wohnzimmer angelangt, zeigte Tom auf eine kleine Couch und bat Jan und Cengiz, sich zu setzen. Auf dem Glastisch davor erkannte Jan eine Haschischpfeife. Daneben lag auseinandergefaltetes Aluminiumpapier, auf dem sich ein kleines Stück Haschisch befand.

»Möchtet ihr?« Tom machte eine einladende Geste, als würde er ihnen ein paar Kekse anbieten.

»Du kennst mich doch noch ganz gut«, antwortete Jan und nahm Platz. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Cengiz stehen blieb. »Ich wäre zwar gern ein Rockstar, aber bei Drogen bin ich raus.«

»Das sind doch keine Drogen«, sagte Tom und lachte laut auf.

»Lass uns über Fabian Sieveking reden«, wechselte Jan das Thema. »Als du ihn gefunden hast, wie spät war es da?«

»Das war vor etwa eineinhalb Stunden, also ungefähr gegen halb acht.«

»War er bereits tot?«

»Keine Ahnung, ich habe nicht seinen Puls gefühlt. Aber er sah ziemlich tot aus. Sein Gesicht war völlig zerfetzt.«

»Kamst du gerade nach Hause, oder hast du deine Wohnung verlassen?«

»Ich kam nach Hause. War heute viel los im Laden, Lastenräder sind momentan der Renner.«

»Dir ist aber nichts aufgefallen, als du das Haus betreten hast? Personen, die du sonst noch nie gesehen hast? Jemand, der dir vielleicht entgegenkam?«

»Nein.«

»Hast du den Fahrstuhl oder die Treppe genommen?«

»Natürlich die Treppe.«

»Na schön, dann erzähl uns jetzt bitte alles, was dir zu Fabian Sieveking einfällt. Wie gut kanntet ihr euch?«