Sturm über der Ostsee - Jobst Schlennstedt - E-Book
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Sturm über der Ostsee E-Book

Jobst Schlennstedt

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Beschreibung

Eine brutale Mordserie erschüttert die Ostseeküste. Ein schwerer Herbststurm zieht über die Lübecker Bucht. Zwischen Hochwasser und Stromausfällen wird in Grömitz ein Ehepaar ermordet. Das Team der Lübecker Kriminalpolizei um Kommissar Morten Sandt findet schnell heraus, dass die Opfer in dem beliebten Küstenort mehr Feinde als Freunde hatten. Als es in Travemünde zu einem weiteren schrecklichen Verbrechen kommt, stößt auch Birger Andresen wieder zum Team. Doch niemand ahnt, dass die beiden Morde erst der Anfang sind …

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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit 2004 lebt er in Lübeck. Hauptberuflich arbeitet er als Senior Consultant für ein großes dänisches Unternehmen und berät die Hafen- und Logistikwirtschaft. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. »Sturm über der Ostsee« ist sein dreiundzwanzigster Roman im Emons Verlag und der zwölfte Fall mit Kriminalkommissar Birger Andresen und dem Team der Lübecker Mordkommission.

www.jobst-schlennstedt.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Reiseschatzi

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-085-3

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Die Welt mag untergehen,

wenn ich mich nur rächen kann.

Dunkle Wolken

Ein Jahr zuvor

Der Blick aus dem Fenster über die Wiese mit Gänseblümchen und blühendem Klee bis zum weißen Sandstrand und dem Meer, das in der Sonne glitzerte und so blau strahlte, wie er sich die Südsee oder zumindest das Mittelmeer vorstellte, hatte ihn jedes Mal beruhigt. Bei aller Traurigkeit, die das Eingesperrtsein in diesen Gemäuern auslöste, waren diese Momente zwar nur ein schwacher Trost gewesen, aber sie hatten ihm geholfen und die täglichen Torturen ein wenig erträglicher gemacht. Wenigstens etwas Positives zu empfinden, das ihm ermöglichte, einen weiteren Tag zu überstehen. Am Leben zu bleiben und nicht zu kapitulieren vor den Menschen, deren einziges Ziel es offenbar war, ihn zu brechen.

Warum?

Das war die Frage, die ihn damals gequält hatte. In jenen Augenblicken, wenn er durch das Fenster blickte und den weißen Segelbooten nachsah. Diese Freiheit. Einfach davonzufahren. Dahin, wo ihn niemand kannte. Wo diese bösen Menschen ihn niemals finden würden.

Nachts hatte sie ihn besonders gequält. Wenn er im einfallenden Mondschein an die Unterseite des Etagenbetts starrte und die Kerben im Metallgestell zählte, die er seit seinem Einzug hineingeritzt hatte. Als wüsste er nicht sowieso, wie lange er schon dort war.

Am meisten hatte ihm allerdings die Erkenntnis zu schaffen gemacht, dass es niemanden gab, der ihm zur Seite sprang. Niemanden, der ihm half, und sei es nur durch tröstende Worte. Alle hatten weggesehen, selbst die wenigen Freunde, die er hier gefunden hatte. Wahrscheinlich aus Angst, sie würden die nächsten Opfer werden. Also wurde über das, was tagtäglich geschah, der Mantel des Schweigens gehüllt. Lediglich die bisweilen mitleidigen Blicke der anderen hatten erahnen lassen, dass sie doch mit ihm fühlten.

Alles an diesem Ort war grauenhaft gewesen. Was vorher eine Qual gewesen war – hier war es zur Tortur geworden. Die Hölle auf Erden. Einsamkeit, Erniedrigung und das Gefühl, verstoßen worden zu sein, hatten dazu geführt, dass bei den meisten Opfern jede Menschlichkeit verschwunden war. Doch über allem stand das, was niemand erfahren durfte. Das, was sich abspielte, wenn sie unbeobachtet gewesen waren. Wenn sie ihm die Augen verbunden oder einen Sack über den Kopf gestülpt und mit ihm getan hatten, was sie wollten. Stück für Stück saugten sie unter größter Pein dann das letzte bisschen Leben aus seinem Körper.

Niemand von ihnen hatte verkraften können, was ihnen widerfahren war. Die meisten waren mit der Zeit nur noch zu kalten Wesen geworden, manche hatten auch aggressiv reagiert und sich zur Wehr gesetzt. Oder untereinander Wut und Frust abgelassen. Und dann gab es noch diejenigen, die irgendwann keinen anderen Weg gesehen hatten, als sich aus dem Fenster zu stürzen.

Und er selbst?

Er hatte gehofft, jemanden zu finden, der ihm wirklich half. Jemanden, der sich mit ihm verbündete und mit dem zusammen er stärker war als allein. Mit dem er sich zur Wehr setzen konnte. Denn er brauchte, um zu überleben, jemanden, dem es genauso ergangen war wie ihm selbst.

Und tatsächlich hatte es diese eine Person gegeben, die ihm seit der ersten Begegnung das Gefühl gegeben hatte, sie stünde ihm näher als jeder andere hier. Obwohl es Wochen gedauert hatte, bis sie zum ersten Mal ein paar Worte miteinander gewechselt hatten. Jemand, der noch verschlossener als er selbst, dessen Schicksal womöglich noch schlimmer als seines gewesen war.

Bis zu dieser Begegnung war alles um ihn herum fremd und unwirklich gewesen. Eine triste Welt ohne Anker, ohne irgendjemanden, zu dem er eine Verbindung aufbauen konnte. Oder wollte. Niemand, der ein Interesse an ihm gezeigt hatte. Er war von allen verstoßen worden, wie eine lästige Katze, die nicht stubenrein war und sich deshalb ein neues Zuhause suchen musste. Er war das Geschenk eines ungebetenen Gastes gewesen, das man loswerden wollte, ohne dass jemand davon erfuhr.

Er musste kurz schmunzeln. Immer wieder führte er sich Bilder vor Augen, um seine Situation ein wenig erträglicher zu gestalten. Als könnte er sein Schicksal mit schwarzem Humor annehmen, um nicht daran kaputtzugehen. Dabei war doch längst alles zu spät.

Wieder musste er an damals denken. Für eine kurze Zeit hatte sich sein Leben angefühlt, als würde es eine Wendung zum Guten nehmen. Der Junge war ganz anders als er selbst gewesen, aber wenn sie zusammen waren, empfand er dennoch fast so etwas wie Seelenverwandtschaft. Sie hatten sich gegenseitig Halt gegeben und waren füreinander da gewesen, wenn die Dunkelheit wieder über sie hereingebrochen war.

Irgendwann war er dann plötzlich verschwunden. Von einem auf den anderen Tag, einfach weg. Lange Zeit hatte er geglaubt, auch sein Freund und Leidensgenosse hätte es nicht länger ausgehalten und sich das Leben genommen. Was sie mit Sicherheit verschwiegen hätten, so wie immer.

Er war am Boden zerstört gewesen. Der kleine Funken Hoffnung war wie eine Seifenblase zerplatzt. Nach wenigen Stunden war es ihm vorgekommen, als hätte es ihn gar nicht gegeben. Nur ein Geist, der für einige Wochen aufgetaucht war, um ihm etwas Kraft zu schenken, aber nicht bleiben konnte. Es hatte Momente gegeben, da war er sich sicher, er hätte sich das mit diesem Jungen alles bloß eingebildet. Dass er Stimmen gehört hätte, weil der Wahn schon damals Besitz von ihm ergriffen hatte.

Wieder ganz allein zu sein, hatte sich nach ein paar Tagen fast normal angefühlt. Ein Déjà-vu-Moment, der sich durch sein Leben zog wie ein roter Faden, die einzige Konstante.

Noch weitere drei Jahre war der tägliche Horror einfach weitergegangen. Er hatte es ertragen, ohne etwas dabei zu fühlen. Aber irgendwann hatten sie ihn in Ruhe gelassen. Vielleicht, weil er zu alt gewesen war. Weil sie Angst davor hatten, dass er sich zur Wehr setzen würde. Dass das alles aufflog. Als er schließlich in die Freiheit entlassen wurde, hatten die Probleme allerdings erst so richtig begonnen.

Er atmete tief durch. Die Rückblicke wühlten ihn auf. Vor allem, weil in den letzten Jahren so viel passiert war. Er hatte durch Begegnungen und Recherchen so viele schmerzliche Wahrheiten erlebt und herausgefunden, die er entweder längst verdrängt oder niemals in Erfahrung zu bringen geglaubt hatte. Er hatte Antworten gefunden, von denen er sich manchmal wünschte, sie niemals bekommen zu haben. Und unfassbare Parallelen zu dem, was ihm widerfahren war.

Es hatte etwas in ihm in Gang gesetzt. Gefühle, die ihm bislang fremd gewesen waren. Die dafür sorgten, dass er sich vor sich selbst erschreckte, wenn er daran dachte, wozu er fähig wäre, und auf der anderen Seite Zufriedenheit und der Gedanke, das einzig Richtige zu tun. Letzteres überwog. Er musste es tun. Sein Leben geraderücken. Rache nehmen an den Menschen, die dafür verantwortlich waren, dass er seit Jahren auf der Kippe stand, immer kurz davor, auch aus dem Fenster zu springen. So wie es die anderen damals schon getan hatten. Er war am Ende seiner Kräfte.

In den letzten Monaten hatte er einen groben Plan geschmiedet und festgelegt, wer auf seiner Liste stand. Er kannte nun die Reihenfolge und hatte entschieden, wie er vorgehen wollte. Für jeden Einzelnen würde es schmerzhaft werden, nicht nur körperlich. Er wollte sie die gleichen seelischen Qualen spüren lassen, die er erlebt hatte. Wenigstens ein wenig Genugtuung fühlen, auch wenn ihm klar war, dass sie niemals so leiden würden wie er. Denn sie würden mit dem Schmerz nicht weiterleben müssen, wie er es getan hatte, sondern selbst sterben.

Als Nächstes würde er sich um die Details kümmern. Er musste die Abläufe kennen, die Schwachstellen und schließlich einen minutiösen Zeitplan erstellen. Nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben, denn nichts durfte schiefgehen, zumindest solange er nicht hinter jedem Namen auf seiner Liste ein Kreuz gemacht hatte.

Wenn alles nach Plan verliefe, würde er innerhalb weniger Tage sein Ziel erreicht haben. Wobei er wusste, dass es von Mal zu Mal komplizierter werden würde. Das Ende von allem hatte er bislang gedanklich noch weit von sich ferngehalten. Er konnte nicht einschätzen, wie schwer es emotional für ihn werden würde. Eigentlich hatte er diese Art von Gefühlen unter Kontrolle, besser gesagt, sie spielten in seinem Leben keine Rolle mehr. Aber wenn es am Ende so weit war und er ihr gegenüberstand, würde womöglich alles über und unter ihm zusammenbrechen.

Was danach käme, wusste er nicht. Wenn die Polizei nicht dahinterkam, dass er es war, den sie suchten, bestand die Option, die Zelte hier abzubrechen und sein Leben irgendwo auf der Welt noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Obwohl ihm die Phantasie fehlte, wie er all das, was er erlebt hatte, jemals von seiner Festplatte löschen sollte, selbst wenn die Rache seine Seele vielleicht befreit hatte.

Immer wenn er an diesem Punkt seiner Überlegungen anlangte, zogen die dunklen Wolken wieder auf. Dann redete er sich ein, dass es besser gewesen wäre, schon damals zu sterben. Mit Blick auf die blühende Wiese, den weißen Sandstrand und das Meer, das in der Sonne glitzerte und so blau strahlte, einfach aus dem Fenster zu springen.

Ja, es wäre besser gewesen, wenn er sich damals für diesen Weg entschieden hätte. Das hatte er immer gewusst. Und dennoch war er noch hier im Diesseits. Er atmete. Und er hatte einen Plan. Zum ersten Mal in seinem Leben. Einen Plan, den er umsetzen würde. Egal, was oder wer sich ihm in den Weg stellen würde.

Blackout

Alexander Clasen stapfte breitbeinig und mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen durch seinen Garten und stemmte sich gegen die Böen, die im Sekundentakt um das Haus peitschten. Er hatte die Abdeckung seines Gasgrills und die metallene Gießkanne, die von der Terrasse weggeweht worden waren, im kleinen Schuppen am Ende der Rasenfläche in Sicherheit gebracht. Aus den Augenwinkeln sah er, dass ein paar Blumentöpfe umgefallen und kaputtgegangen waren. Aber er würde es Maren erst morgen früh sagen, sie würde sich nur aufregen und ihm Vorwürfe machen, dass er die Töpfe nicht rechtzeitig gesichert hatte.

Der Sturm, der sich draußen über der Ostsee gerade so richtig zusammenbraute, würde kein normaler Novembersturm werden, sondern schwerer als alles, was Norddeutschland in den letzten zwanzig Jahren erlebt hatte, sagten die Meteorologen in Radio und Fernsehen. Aber das behaupteten sie oft, wusste Clasen. Meistens blieb es zum Glück bei solchen Ankündigungen und nicht viel mehr als einem büschen Wind, wie die Leute an der Küste sagten.

Heute war er sich allerdings unsicher, ob sie nicht doch richtig lagen und es schlimm werden würde. Die Böen fegten bereits mit einer solchen Wucht durch Grömitz, dass er für die bevorstehende Nacht ein mulmiges Gefühl hatte. Dazu kam ein fast waagerechter Regen, der in Wellen gegen das Haus peitschte. Es hätte ihn nicht einmal gewundert, wenn es kein Regen, sondern das aufgewirbelte Wasser der Ostsee gewesen wäre, auch wenn das Meer ein paar hundert Meter entfernt war.

Er mochte keine Unwetter. Nicht dass er Angst um sich hatte, aber immer wenn es stürmte oder ein Gewitter über sie hinwegzog, sorgte er sich um die Villa. Dass ihnen womöglich das Dach davonflog oder eine der alten großen Eichen umknickte und das Haus traf.

Alexander ging die Außentreppe zum Keller hinunter und hielt kurz inne. Er war sich sicher, dass er die Tür vorhin hinter sich zugezogen hatte, aber durch den Wind war sie offenbar ein Stück aufgeschlagen. Fröstelnd schob er den Gedanken beiseite und atmete tief durch, als er die Tür schließlich hinter sich schloss. Dann fuhr er sich durch die vom Wind zerzausten Haare und schwor sich, erst dann wieder einen Schritt aus dem Haus zu tun, wenn der Sturm vorbei wäre.

Maren saß im Wohnzimmer und blätterte in einem der Kataloge, die sie von der Messe in München vergangene Woche mitgebracht hatten. Sie war auf der Suche nach Interieurideen für ihr zuletzt erworbenes Objekt, eine Villa direkt an der Kurpromenade in Timmendorfer Strand. Etwas besonders Exklusives, das sie nach erfolgreicher Sanierung zu einem Preis verkaufen würden, der deutlich über dem lag, zu dem sie die Immobilie erworben hatten. Sie kalkulierten in der Regel mit einem Aufschlag von über achtzig Prozent, abzüglich der Investitionen musste immer ein Gewinn von fünfzig Prozent unter dem Strich stehen. Das war ihre eiserne Regel, die bislang bis auf zwei Ausnahmen in der Anfangszeit immer funktioniert hatte.

Das Knarzen der Dachbalken, die dem Sturm trotzten, drang durch das ganze Haus. Das Geräusch war wohlvertraut, doch heute klang es viel bedrohlicher als sonst. In immer schnellerer Abfolge krachten die Böen jetzt gegen das über hundert Jahre alte Gebäude.

»Die nächsten Stunden werden ziemlich ungemütlich«, sagte er beiläufig, als er an Maren vorbei in die offene Küche ging, um sich ein Glas Bordeaux aus der Flasche einzuschenken, die auf der marmornen Arbeitsfläche stand.

»Dann lass uns doch versuchen, sie gemütlich zu machen«, sagte sie, ohne ihren Blick vom Katalog zu heben.

»An was denkst du?«, fragte er überrascht. Wollte sie ihn etwa verführen?

»Du schnappst dir die Flasche und noch ein weiteres Glas und kommst zu mir auf die Couch. Und dann richten wir das neue Haus gemeinsam ein.«

»Dein Arbeitseifer in allen Ehren, aber ich habe heute Abend keine Lust mehr, mir einen Kopf über Böden oder Badezimmerarmaturen zu machen«, entgegnete er enttäuscht. »Die letzten Tage waren anstrengend, und du weißt genau, was morgen auf mich wartet. Das Gespräch mit Sander entscheidet darüber, ob wir so weitermachen wie bislang oder ob wir uns neue Partner suchen müssen.«

»Und du weißt, was ich von Sander halte«, sagte Maren nun bestimmt. »Ich hätte kein Problem damit, wenn du ihm morgen einfach kompromisslos die Pistole auf die Brust setzt. Wenn er sich dann trotzdem weigern sollte, schießt du ihn eiskalt ab.«

»Ich liebe deine direkte Sprache, aber ganz so unkompliziert ist die Sache nun leider nicht. Ich muss dir nicht erzählen, was an der Zusammenarbeit mit ihm alles dranhängt. Mir wäre es lieber, wir einigen uns.«

»Aber nur zu unseren Bedingungen.«

Alexander zuckte mit den Schultern. Er hatte sich eigentlich mit dem Rotweinglas in seinen Design-Loungesessel setzen wollen, doch stattdessen ging er jetzt durch den Raum zurück ins offene Treppenhaus. Vielleicht würde er oben ein Bad nehmen. Der kurze Gang in den Garten hatte ihn ausgekühlt. Obwohl es zehn Grad waren und der Winter noch keine Anstalten machte, an der Küste Einzug zu halten, hatte der kalte Wind ihn frieren lassen. Aber die Wahrheit war wohl vielmehr, dass er überhaupt keine Lust hatte, die neue Immobilie durchzuplanen, wenn schon in Kürze vielleicht alles am seidenen Faden hing.

Wieder knarzten die Dachbalken. Er spürte regelrecht, wie der Sturm das Haus bearbeitete. Mal mit einer kurzen Salve von schnellen Schlägen, dann wiederum mit einem weit ausgeholten Kinnhaken, der alles erbeben ließ.

Alexander nippte an seinem Glas, während er die letzten Treppenstufen hoch ins Dachgeschoss nahm und ins Badezimmer ging, um Wasser in den Whirlpool einzulassen. Er setzte sich auf den Rand, verlor sich in Gedanken und ließ sich vom Rotwein und dem Rauschen des laufenden Badewassers beruhigen. Das war auch nötig, denn die Sache mit Sander setzte ihm zu. Er wusste nicht, wie er die Lage einschätzen sollte, und wenn er eines nicht leiden konnte, war das Unsicherheit. Er brauchte das Gefühl, das Heft des Handelns in den eigenen Händen zu halten.

Maren hatte recht, Sander stellte zunehmend eine Gefahr für sie dar. Er war unberechenbar geworden, es schien fast so, als hegte er Ambitionen, selbst ins Immobiliengeschäft einzusteigen. Dabei konnte er doch froh sein, überhaupt einer der bekanntesten und größten Bauunternehmer in der Lübecker Bucht geworden zu sein. Ohne ihn wäre Sanders Firma wahrscheinlich noch immer eine Dreimannbude, die auf den großen Auftrag wartete. Er hatte Sander doch erst zu dem gemacht, was er heute war, weil er ihn regelmäßig mit Sanierungsarbeiten und Neubauprojekten versorgt hatte. Und jetzt versuchte dieser Mann allen Ernstes, seine Macht und die erreichte Monopolstellung gegen ihn auszuspielen?

Sie waren in den letzten Wochen bereits ein paarmal aneinandergeraten, aber was morgen bevorstand, besaß definitiv das Potenzial für eine Kriegserklärung.

Alexander fuhr zusammen. Wieder eine heftige Böe, die das Dach der Villa so stark erschütterte, dass ihr bestimmt nicht alle Ziegel standgehalten hatten. Im nächsten Moment flackerte das Licht, dann verschwand die Spannung vollständig, und von einem Moment auf den anderen war alles um ihn herum stockdunkel.

Er drehte das Wasser aus und stürzte aus dem Badezimmer. Im Treppenhaus blieb er stehen. Über ihm der Sturm, der mit aller Wucht an seinem Haus rüttelte. Wie auf einem durch die Wellen stampfenden Schiff kam er sich vor, während er sich am Treppengeländer festhielt und nach unten lief.

»Maren? Alles in Ordnung bei dir?«

Keine Antwort.

»Ich befürchte, wir haben einen Stromausfall«, versuchte Alexander sich auch selbst gut zuzureden, spürte aber das Unbehagen, das sich in seinem Körper breitmachte. Vielleicht hatte es das Haus wirklich schwer getroffen.

Er griff nach seinem Handy in der Hosentasche und schaltete die Taschenlampe ein. Vorsichtig versuchte er sich von der Treppe aus zu orientieren.

»In der Schublade der Vitrine liegen Feuerzeuge. Zünd ein paar Teelichter an!«, sagte er laut genug, dass Maren ihn hören musste. »Auf der Fensterbank stehen die beiden kabellosen Lampen, die kannst du einschalten. Ich komme jetzt runter.«

Alexander wartete auf eine Antwort, aber nachdem seine Stimme verklungen war, herrschte wieder nur Stille. Bis sie durch ein helles Geräusch unterbrochen wurde, das wie ein auf Fliesenboden zerspringendes Glas klang.

»Pass auf, dass du dich nicht an den Scherben verletzt«, rief er noch etwas lauter und rannte die Treppenstufen jetzt förmlich hinunter.

Das Unbehagen war längst einer aufkommenden Angst um Maren gewichen. Weshalb reagierte sie nicht? War sie in der Dunkelheit gestolpert und vielleicht nicht bei Bewusstsein, weil sie sich den Kopf angeschlagen hatte?

Nur langsam setzte er nun einen Fuß vor den anderen, bis er wieder den Flur erreicht hatte, der in das große Wohnzimmer mit den hohen Decken, der chilligen Sitzecke aus teuren Sofamöbeln und dem Essbereich mit der langen Tafel führte.

Hier war es stockdunkel. Von draußen drang durch die großen Fenster kein bisschen Licht, offenbar waren auch die Straßenlaternen ausgefallen. Alexander leuchtete in Richtung Fenster in der Erwartung, dass ihn das Taschenlampenlicht auf den Scheiben blenden würde, erkannte aber dann, dass die großen Stoffvorhänge zugezogen waren. Das waren sie noch nie, solange er zurückdenken konnte. Was zum Teufel …?

Wo steckte Maren? Er leuchtete mit der Taschenlampe durch das große Zimmer. Keine Spur von ihr.

Der Lichtkegel zitterte jetzt auf dem Boden. Er spürte, wie er förmlich verharrte, fast in Schockstarre verfiel, nur seine Hand, in der er das Telefon hielt, bewegte sich komplett unkontrolliert.

Auf einmal glaubte er, ein leises Geräusch zu hören. Ein unterdrückter Laut, als versuchte jemand, gegen etwas anzusprechen. Oder vielmehr zu schreien. Kam es aus der Küche?

»Maren?« Seine Stimme klang brüchig, die Angst verhinderte, dass er ihren Namen laut und deutlich rufen konnte.

Er kämpfte gegen die Zuckungen in seinem Arm und richtete die Taschenlampe des Handys langsam in Richtung Küche. Doch der Schein war nicht hell genug, um den ganzen Raum auszuleuchten. Er fiel vorbei an der Kochinsel und dem frei stehenden Retrokühlschrank. Auf dem Fliesenboden erkannte er die Scherben eines zersplitterten Glases. Aber das interessierte ihn in diesem Augenblick nicht, denn jetzt entdeckte er sie. Dort hinten in der Ecke saß sie. Nur schwach im Taschenlampenlicht zu erkennen.

Maren.

Ihm zugewandt auf einem der beiden Barhocker an dem kleinen Bistrotisch, den sie nur selten benutzten. Weshalb antwortete sie denn nicht? Und warum hatte sie die Vorhänge zugezogen?

Obwohl er nicht weitergehen wollte, weil ihm sein Bauchgefühl sagte, dass hier etwas Furchtbares vor sich ging, setzte er einen Fuß vor den anderen. Wie ferngesteuert, als könnte er sich gar nicht dagegen wehren. So wie bei einem Verkehrsunfall, von dem man den Blick nicht abwenden konnte.

Als er nur noch wenige Körperlängen von ihr entfernt war, hielt er plötzlich inne. Maren rührte sich noch immer nicht. Sie saß bewegungslos auf dem hohen Stuhl und blickte offenbar in die Ecke der Küche, in der die große Vitrine und das Weinregal standen.

Und jetzt erkannte er auch den Grund dafür. Die Panik raubte ihm augenblicklich den Atem. Denn direkt hinter Maren stand eine dunkel gekleidete Person mit einer schwarzen Maske über dem Gesicht. In der Hand hielt sie eine Art Schnur. Und die führte zu ihrem Kopf. Genauer gesagt zu einer durchsichtigen Folie oder Tüte, hinter der Maren mit weit aufgerissenen Augen nach Luft schnappte.

»Hinsetzen!« Eine männliche, tiefe Stimme drang plötzlich durch den Raum. Alexander stutzte und verharrte.

»Hinsetzen, habe ich gesagt«, wiederholte der Mann. »Auf den anderen Barhocker gegenüber von ihr. Du hast den besten Platz, um zuzuschauen, wie sie sterben wird.«

Der Anblick von Maren, die unter der Plastiktüte einen verzweifelten Kampf ums Überleben führte, und der dunklen Gestalt verschwamm vor Alexanders Augen. Aber es war nicht die Panik, die dafür verantwortlich war. Etwas anderes beschäftigte ihn seit dem Moment, in dem der Mann angefangen hatte zu reden. Er wusste nicht, woher, aber er kannte diese Stimme, da war er sich sicher.

Marionetten

Dirk Sander hatte eine Viertelstunde zusammengekauert und dem Sturm trotzend vor dem Büro an der Kurpromenade unweit der Grömitzer Welle, des bekannten Meerwasser-Brandungsbads, gewartet. Aber die Tür war verschlossen geblieben und Alexander Clasen nicht wie verabredet aufgetaucht.

An der großen Fensterscheibe hatte er sich die Nase platt gedrückt, in der Hoffnung, jemanden im Innern erkennen zu können. Aber der Raum war nicht nur äußerst spartanisch eingerichtet, alles an ihm wirkte, als wäre Alexander schon seit Langem nicht mehr hier gewesen. Vielleicht, weil die Räumlichkeiten renoviert wurden, zumindest deuteten ein paar Details darauf hin. Auf dem einsam in der Mitte des Büros stehenden Schreibtisch lag nichts außer einem Zollstock. Und weiter hinten sah Sander eine Trittleiter vor einer weißen Wand und Abdeckfolie auf dem Boden.

Hier waren sie in all den Jahren noch nie zusammengekommen. Meistens hatten sie sich in einem der Cafés an der Promenade getroffen, manchmal auch in den Nachbarorten entlang der Küste. Er erinnerte sich auch an einige Treffen in der Villa der Clasens in der Anfangszeit. Er war beeindruckt von dem Haus gewesen und hatte dadurch etwas besser verstanden, wie die beiden tickten. Ihr Leben drehte sich nur um sie selbst und ihren Besitz. Sie waren kinderlos und hatten auch klar geäußert, dass Nachwuchs nicht zu ihrem Lebens- und Karriereplan passte.

In ihrem Haus hatten die beiden alles bis ins letzte Detail durchdesignt. Möbel und Wohnaccessoires waren wohlüberlegt ausgesucht worden, dafür hatte Maren ein Auge. Und Geld schien dabei ohnehin keine Rolle zu spielen. Ganz im Gegensatz zu diesem tristen Büro in einem der älteren Flachdachbauten an der Promenade, vor dem Sander jetzt stand.

Er hatte Alexander angerufen, aber nicht einmal seine Mailbox war angesprungen. Dem Geräusch in der Leitung nach zu urteilen, war sein Handy nicht nur ausgeschaltet, sondern gar nicht mehr erreichbar.

Einfach tot.

Kurzerhand entschied Sander, es bei den Clasens zu Hause zu versuchen. Es war gerade einmal acht Uhr an diesem Dienstagmorgen, sie würden mit Sicherheit noch am Frühstückstisch sitzen. Alexander hatte ihren Termin vielleicht einfach vergessen.

Denkbar, aber doch eher unwahrscheinlich, ging es ihm wiederum durch den Kopf. Alexander Clasen war alles Mögliche, aber niemand, der unpünktlich erschien oder eine Verabredung sogar vergaß. Und schon gar nicht in diesem Fall. Was sie zu besprechen hatten, war wichtig und dringend. Sie mussten endlich den Graben überwinden, der sich in den letzten Wochen immer mehr aufgetan hatte. Aber vor allem musste Alexander verstehen, dass es so nicht weitergehen konnte.

Der Sturm, der vergangene Nacht über die Küste gezogen war, hatte nach einer kurzen Pause in den letzten zwei Stunden wieder an Kraft zugelegt. Der Strand war noch immer zu großen Teilen überspült, überall war Treibgut angeschwemmt worden. Auf der Promenade lagen Abfälle aus umgekippten Mülleimern verstreut. Einige Schilder und Metallverkleidungen von Häusern und Strandbuden waren abgeknickt und herausgebrochen. Am schlimmsten hatte es jedoch die Seebrücke erwischt. Auf einer Strecke von bestimmt fünfzig Metern war der hölzerne Bau zerstört. Viele Holzplanken waren einfach vom Wind und von den Fluten mitgerissen worden. Auch einige Aufbauten schienen schweren Schaden genommen zu haben.

Selbst im Kurpark, der wenige hundert Meter vom Meer entfernt war, sah es schlimm aus. Abgebrochene Äste, wohin das Auge reichte. Eine der großen Eichen auf der Westseite des Parks war sogar entwurzelt worden und zum Glück auf eine freie Rasenfläche gefallen.

Sander kam ein anderer Gedanke. Was, wenn der Sturm die Villa getroffen hatte und Alexander seit Stunden damit beschäftigt war, sich um die Schäden zu kümmern? Ja, das schien ihm eine logische Erklärung zu sein. Ein umgestürzter Baum im Garten, Stromausfall oder herabgestürzte Dachziegel, etwas in der Art. Er würde ihm einfach dabei helfen, die Schäden zu reparieren. Und vielleicht wäre das der beste Weg, ins Gespräch zu kommen, ohne sofort über ihre Pläne, die zweifellos sehr voneinander abwichen, in Streit zu geraten.

Aus der Ferne nahm er unaufhörlich Martinshörner wahr. Die Feuerwehr war seit letzter Nacht im Dauereinsatz. Im Radio hatte er kurz nach dem Aufstehen gehört, dass es durch den Sturm nicht weit von hier auf der A1 einen schweren Unfall mit mehreren Fahrzeugen gegeben hatte.

Alexanders Mercedes G-Klasse stand in der Einfahrt des Hauses. Davor der Fiat 500Abarth seiner Frau. Wahrscheinlich war es so, wie er vermutet hatte. Alexander hatte den Termin einfach verschwitzt, auch wenn ihm das nicht ähnlich sah. Vielleicht hatte er sich wegen des Sturms auch nicht vor die Tür getraut. Doch hätte er ihm dann nicht eine Nachricht geschrieben?

Sander ging die wenigen Stufen hinauf und drückte auf den Messingknopf neben der Haustür. Im nächsten Augenblick drang der Klingelton durchs Haus und bis nach draußen. Das war jedoch auch alles, was aus dem Haus zu hören war. Keine Stimmen und auch keine Schritte auf der großen Holztreppe oder dem Zementfliesenboden im Flur. Er klingelte erneut.

Durch die dicke getönte Scheibe der Tür konnte Sander nur schemenhaft den Flur erkennen. Aber es war genug zu sehen, um sicher zu sein, dass drinnen alles ruhig war.

Offenbar war Alexander tatsächlich nicht zu Hause. Vielleicht hatten Maren und er kurzfristig beschlossen, vor dem seit Tagen angekündigten Sturm einfach abzuhauen. Womöglich waren sie weggeflogen, irgendwohin in den Süden. Er wusste, dass die beiden des Öfteren auf den Kanaren urlaubten. Sie hatten sich bestimmt ein Taxi genommen, um zum Flughafen Fuhlsbüttel zu kommen. Nur wieso hatte er nicht Bescheid gegeben? Sie hätten den Termin noch einmal um eine Woche verschieben können, schlimmstenfalls hätten sie die Angelegenheit auch in einem Videocall geklärt.

Sander schüttelte unzufrieden den Kopf. Das alles passte nicht zu Alexander. Er ging die Stufen zur Haustür wieder hinunter und warf einen Blick an der Fassade hoch. Nirgends ein Fenster, hinter dem sich etwas bewegte. Aber wenn er es richtig erkannte, waren im ersten Stockwerk die Vorhänge zugezogen.

Er bewegte sich nach rechts, wo ein kleiner Schotterweg erst parallel zur Front der Villa verlief und dann seitlich am Haus entlang zum großen Garten im hinteren Bereich führte. Er rannte in gebückter Haltung und stemmte sich mit hochgestelltem Kragen gegen den immer stärker werdenden Wind. Die Hoffnung, draußen im Garten auf Alexander zu treffen, zerschlug sich allerdings schnell. Weit und breit war niemand zu sehen.

Dafür lagen auf der Terrasse und im Garten diverse Gegenstände, die der Sturm umhergewirbelt hatte. Ein paar umgefallene und zerbrochene Tontöpfe, abgebrochene Äste und zwei Gartenstühle, die sich selbstständig gemacht hatten. So wie es aussah, war Alexander heute Morgen noch nicht hier draußen gewesen.

Sander drehte sich im Kreis und sah sich um. Plötzlich verstand er, woher das Geräusch kam, das er unterbewusst seit einigen Sekunden wahrgenommen hatte. Die rückwärtige Tür, die in den Keller des Hauses führte. Sie schlug unaufhörlich auf und wieder zu. Rasch ging er die Treppe hinunter und griff nach der Klinke. Das Gefühl, dass es eigentlich nicht richtig war, die Villa zu betreten, schob er mühelos beiseite. Denn mittlerweile war er sich sicher, dass hier irgendetwas nicht stimmte.

»Alexander?«, rief er, so laut er konnte, nachdem er durch zwei Kellerräume gegangen und die lange Treppe erreicht hatte, die durch das gesamte Haus bis ins Obergeschoss führte. »Ich bin’s, Dirk. Bist du zu Hause?«

Keine Antwort.

Mit jeder Stufe, die er hinaufging, wurde er langsamer. Er musste an zwei sich abstoßende Magneten denken. Unter größter Anstrengung versuchte er sich dagegen zu wehren, wozu ihn irgendwelche unvernünftigen Kräfte in seinem Körper trieben.

Erfolglos. Sander bewegte sich weiter im Haus nach oben. Er passierte das Erdgeschoss, in dem sich der Flur und die Haustür, ein großes Zimmer, das die Clasens für repräsentative Zwecke und Besuche nutzten, sowie zwei Arbeitsräume befanden, und ging weiter hoch bis in den ersten Stock.

Die Vorhänge waren tatsächlich zugezogen. Passte das zu Alexander? Er hatte das Bild eines Mannes im Kopf, der im Bademantel mit Drink und Zigarre in den Händen am offenen Fenster stand.

»Alexander, bist du hier?«, fragte er wieder. Die Worte kamen diesmal jedoch so leise über seine Lippen, als glaubte er schon nicht mehr, dass hier überhaupt jemand war, der sie hören könnte. Und eigentlich wusste er längst, dass dies nicht der Fall war.

Trotzdem ging er weiter, noch vorsichtiger als zuvor. Und nun mit der großen Befürchtung, dass ihn in diesem Haus etwas Schreckliches erwartete.

Viel zu wenig Licht, haderte Sander. Er fingerte sein Handy aus der Jackentasche und schaltete die Taschenlampe an. Sofort erstarrte er. Er registrierte die offene Küche, die jetzt direkt vor ihm lag. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Auf Barhockern hinten in der Ecke saßen zwei Menschen, mit den Köpfen an die Wand gelehnt.

Sander spürte, dass seine Hände zitterten. Er kämpfte gegen das Zähneknirschen an, das plötzlich einsetzte. Ein stechender Schmerz fuhr ihm in beide Schläfen. Obwohl er die Gesichter nicht erkennen konnte, war er sich sicher, dass es sich um Alexander und Maren handelte. Und genauso sicher war er sich, dass die beiden tot waren. Denn ihre Arme und Beine hingen schlaff, wie bei Marionetten, an ihren Körpern hinunter.

Er musste wieder an die letzten Tage und Wochen denken. Die Bilder flogen nur so vor seinem inneren Auge vorbei. Irgendetwas musste vollkommen aus dem Ruder gelaufen sein. Und er konnte nicht einmal ausschließen, dass er etwas damit zu tun hatte.

Arrangement

Es mussten gut und gerne fünf Jahre vergangen sein, seitdem Morten Sandt zuletzt in Grömitz war. Früher war er regelmäßig hier gewesen. Ostsee in Flammen hatte er sich nur selten entgehen lassen. Das spektakuläre Höhenfeuerwerk über der Lübecker Bucht war ihm vor allem deswegen in Erinnerung geblieben, weil er unter sternenklarem Himmel und hell leuchtendem Feuerregen zum ersten Mal ein Mädchen geküsst hatte. Das lag sechzehn Jahre zurück. Er war ziemlich genau halb so alt wie heute gewesen. Ein Junge, noch mitten in der Pubertät, bei dem die Hormone verrücktspielten, und mit dem begehrtesten Mädchen der Schule an seiner Seite.

Es war bei dem einen Kuss geblieben. Am nächsten Tag hatte sie ihm gesagt, dass er zwar ein netter Typ sei, aber niemand, mit dem sie sich etwas anderes vorstellen könne.

Etwas anderes? Er hatte sie nicht gefragt, was sie damit meinte. Vielleicht weil er damals noch etwas zu naiv gewesen war, sehr wahrscheinlich sogar. Bis zu seinem zweiten Kuss und der ersten Beziehung war anschließend noch über ein Jahr vergangen. Was das anging, war er wohl ein Spätstarter gewesen.

Der Abend am Strand von Grömitz war ihm jedenfalls noch heute so präsent, als wäre es erst letzte Woche gewesen. Einer dieser Augenblicke, an die man sich sein Leben lang erinnerte. Die nicht verblassten, ob man wollte oder nicht.

»Pass auf, der Baum!«, schrie Elif plötzlich neben ihm.

Morten riss das Steuer seines Peugeot 208 hastig herum und steuerte den Wagen auf die Gegenfahrbahn der Bundesstraße, um der direkt vor ihnen auf die Straße fallenden Buche auszuweichen.

Als er abbremste und zurück auf seine Spur einscherte, spürte er das Adrenalin, das durch seinen Körper pulsierte. Das war mehr als knapp gewesen. Ohne seine Kollegin hätte er den Baum wohl voll erwischt. »Danke«, sagte er leise.

Der Sturm, der seit gestern Abend über Schleswig-Holstein zog, war der schlimmste, an den er sich erinnern konnte. Auf dem Weg von Lübeck an die Küste waren sie an zahlreichen umgestürzten Bäumen am Straßenrand vorbeigefahren. Schilder waren abgeknickt, Ampeln ausgefallen und zum Teil sogar aus ihren Verankerungen gerissen. Überall flogen Äste und Plastikteile herum. In Lübeck schwappte die Trave längst über ihre Ufer, der Wind drückte das Wasser flussaufwärts in Richtung Stadt.

Im Radio hatten sie davon gesprochen, dass die Pegelstände im Tagesverlauf den höchsten Stand seit mehr als fünfzig Jahren erreichen sollten. Was das für einige Bewohner der Altstadtinsel, insbesondere im Bereich der Obertrave, bedeutete, mochte er sich gar nicht vorstellen.

Unter normalen Umständen wäre er an einem Tag wie diesem im Büro oder am besten gleich im Homeoffice geblieben, was mittlerweile zwar möglich war, aber nur selten von ihm selbst oder den anderen in ihrem Kommissariat genutzt wurde. Die Meldung aus Grömitz, die vor einer knappen Stunde hereingekommen war, stellte allerdings selbst einen schweren Herbststurm in den Schatten. In einer Villa am Kurpark war ein Ehepaar namens Alexander und Maren Clasen tot aufgefunden worden. So wie die Kollegen der Polizeistation Grömitz, die sich gar nicht weit entfernt vom Fundort der Leichen befand, berichtet hatten, musste der Tatort sich ziemlich grauenhaft dargestellt haben. Offenbar waren beide Opfer brutal erdrosselt worden.

Die Position der Toten schien auffällig zu sein, ohne dass die Kollegen näher darauf eingegangen waren. Das sollten sie sich besser mal so schnell wie möglich selbst ansehen, hatte der Grömitzer Polizist gesagt. So etwas Schreckliches hätte es in dem sonst doch eher beschaulichen Badeort noch nie gegeben.

»Mein erster richtiger Einsatz und direkt in Lebensgefahr«, holte Ole, der auf der Rückbank saß, Morten zurück aus seinen Gedanken. »Aber irgendwie anders als gedacht.«

Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Ole schien nicht zu wissen, wohin mit seinen langen Beinen in dem kleinen Auto. Trotzdem hatte er Elif den Vorrang gelassen, vorne zu sitzen. Morten hatte noch kein Gefühl dafür, wie Ole tickte. Er gehörte seit September ihrem Team an, aber bislang hatten sie kaum etwas miteinander zu tun gehabt. Vielleicht lag es daran, dass Ole der Sohn von Kriminalhauptkommissar Birger Andresen war, weshalb Morten ihm mit einer Mischung aus Respekt und Zurückhaltung begegnete.

Die Wahrheit war allerdings auch, dass er kaum Zeit gehabt hatte, ihn besser kennenzulernen. Birger Andresens Rückzug aus dem Tagesgeschehen der Mordkommission hatte eine große Lücke hinterlassen. Obwohl Birger vor nicht allzu langer Zeit wegen eines Sabbatjahrs schon einmal länger abwesend gewesen war, wusste Morten nicht, wie sie ihn und seine Erfahrung dauerhaft ersetzen sollten. Zwar hatte Birger angeboten, falls nötig zu helfen und von außen einen Blick auf festgefahrene Ermittlungen zu werfen, aber Morten bezweifelte, dass es jemals dazu kommen würde. Jedenfalls hatte er ihn seit dem Sommer nicht mehr gesehen, als sie gemeinsam in Scharbeutz einen schwierigen Fall aufgeklärt hatten.

Obwohl die Personallage durch Birgers Weggang angespannt war, hatten sich in den letzten Wochen einige Dinge auch zum Positiven gewendet. Carsten Boy war nicht länger kommissarischer Leiter der Mordkommission – für Morten eine Grundvoraussetzung, überhaupt hier weitermachen zu können. Boy und seine hierarchische Art, das Kommissariat zu leiten, hatten ihn an den Punkt geführt, ernsthaft darüber nachzudenken, Lübeck und vielleicht sogar der Kriminalpolizei den Rücken zu kehren.

Auch wenn es nicht Birger Andresen war, der den Posten von Boy übernommen hatte, war er dennoch froh über die Neubesetzung. Morten kannte Ida-Marie Berg noch aus der Phase, bevor sie in Elternzeit gegangen war. Sie hatten damals in seiner ersten richtigen Mordermittlung zusammengearbeitete. Auch von den Kollegen, die bereits länger Teil der Kripo waren, hatte er nur Gutes über sie gehört. Er war dennoch überrascht gewesen zu erfahren, dass sie vor fast zehn Jahren schon einmal die Leitung innegehabt hatte. Offenbar war der Posten in der Vergangenheit einige Male neu besetzt worden. Er wusste nicht viel darüber, und wenn er ehrlich war, wollte er das auch gar nicht.

Jedenfalls hatte Morten in den letzten Wochen eine ganz neue Atmosphäre auf dem Flur im vierten Stock des Polizeihochhauses in der Possehlstraße erlebt. Plötzlich spürte man so etwas wie Teamgeist. Und ihnen wurde viel mehr Vertrauen in die eigenen Stärken und die Verantwortung, die jeder Einzelne übernehmen sollte, entgegengebracht. Etwas, das ihm besonders wichtig war.

Bislang hatte er seine neue Chefin als das komplette Gegenteil von Carsten Boy kennengelernt. Morten war guter Dinge, was die Zukunft des Teams anging, in dem er, obwohl selbst noch gewissermaßen ein Anfänger, mittlerweile verrückterweise einer der erfahrensten Ermittler war.

Was ihn allerdings etwas irritierte, war die offenbar besondere Verbindung zwischen Ida-Marie und Ole Andresen. Er wusste nicht, was es damit auf sich hatte, vermutete aber, dass es mit ihrem Verhältnis zu seinem Vater zu tun hatte. Alles, was mit Birger Andresen zusammenhing, schien irgendwie kompliziert zu sein. Meistens begleitet von einem Rattenschwanz voller weiterer Probleme, hatte er manchmal das Gefühl. Und obwohl Birger so wichtig für ihr Team war und er die meisten Mordfälle in Lübeck und Umgebung in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr oder weniger im Alleingang aufgeklärt hatte, gab es bei ihm auch diese andere Seite, mit der viele anscheinend ihre Schwierigkeiten hatten. Auch wenn Morten erst seit zweieinhalb Jahren dabei war, hatte er mehr als eine leise Ahnung, was dahinterstecken könnte.

Er parkte in zweiter Reihe hinter mehreren Streifenwagen und dem BMW von Harald Seelhoff, dem Leiter der Kriminaltechnik. Vor dem Haus, in dem sich offenbar zwei Morde ereignet hatten. Wortlos gingen sie an einigen Kollegen vorbei und betraten die stattliche Villa.

Im Eingangsbereich wurden sie von einer sehr jungen Kollegin empfangen und die Treppe hinauf in ein großes Wohnzimmer geführt. Mortens Blick kreiste durch den Raum, jedes Detail sah edel und teuer aus. Wer auch immer für die Innenausstattung verantwortlich gewesen war, hatte einen ausgesprochen exquisiten Geschmack und einen prall gefüllten Geldbeutel. Elif und Ole hatten das Wohnzimmer bereits verlassen, ehe auch er schließlich dem leisen Stimmengewirr in die offene Küche folgte.

Alexander und Maren Clasen saßen einander zugewandt auf zwei modernen Barhockern. Die ganze Szenerie wirkte wie gestellt, was sie offenkundig auch war. Schließlich waren die beiden tot und hätten sich unter normalen Umständen so nicht auf den Stühlen halten können, aber ihre Körper lehnten seitlich an einer Wand, vor der auch ein kleiner Tisch stand.

Morten wandte seinen Blick rasch wieder von den beiden ab. Eigentlich war er niemand, der ein Problem mit dem Anblick von Mordopfern hatte. Aber dieser Tatort überstieg auch seine Grenzen.

Die Gesichter der Clasens waren dunkelrot bis lila verfärbt und kaum noch als solche zu erkennen. Bei der Frau waren zudem die Augäpfel stark hervorgetreten. Im Halsbereich der beiden erkannte Morten deutliche Anzeichen dafür, dass sie stranguliert worden waren.

Harald Seelhoff stand etwas abseits und war in ein Gespräch mit Siederdissen, einem seiner erfahrensten Mitarbeiter, vertieft. Mit beiden war Morten bislang noch nicht richtig warm geworden. Vielleicht lag es daran, dass sie als alte Hasen einem jungen Kollegen weniger aufgeschlossen gegenübertraten. Aber wenn er ehrlich war, fiel auch ihm selbst der Umgang mit deutlich älteren Kollegen wesentlich schwerer als mit gleichaltrigen.

Zum Glück hatte sich auch die Kriminaltechnik verjüngt. Seit dem Spätsommer arbeitete Jannik Unger in Seelhoffs Team. Er und Morten kannten sich aus der gemeinsamen Zeit ihrer Polizeiausbildung in Eutin. Jetzt gerade war er damit beschäftigt, mögliche Spuren auf der langen Arbeitsplatte zu sichern. Morten trat auf ihn zu und räusperte sich leise.

»Meinen Eltern hat es letzte Nacht das Dach weggeweht«, sagte Jannik, ohne hochzublicken. »Und anstatt ihnen zu helfen, muss ich mir das hier antun. So ein kranker Scheiß.«

»Augen auf bei der Berufswahl«, sagte Morten trocken. »Wenn ich mich richtig erinnere, wolltest du anfangs doch in den Bereich Cyberkriminalität. Dann wäre dir so etwas erspart geblieben.«

»Dann hätte ich andere Dinge gesehen, auf die ich gut und gerne verzichten kann«, antwortete Jannik genervt. »Willst du dir nicht lieber anschauen, was passiert ist, anstatt mir ungefragt Ratschläge zu geben?«

»Eigentlich hatte ich gehofft, du erzählst es mir.«

»Alles, was ich weiß, ist, dass da drüben zwei Menschen tot auf ihren Küchenstühlen sitzen, weil irgendein Wahnsinniger sie auf brutalste Weise zu Tode gequält hat. Ansonsten gibt es kaum Spuren. Aber ich bin ja leider auch noch nicht fertig.«

Morten verzichtete darauf, Jannik noch weitere Fragen zu stellen. Deutlicher konnte man nicht zum Ausdruck bringen, dass man schlecht gelaunt war und keine Lust auf ein Gespräch hatte. »Tut mir leid, dass du deinen Eltern nicht helfen kannst«, sagte er und wandte sich von ihm ab.

Morten sah, dass Elif und Ole direkt vor den beiden Barhockern standen und die Opfer inspizierten. Er atmete einmal tief durch und stellte sich dann neben sie. »Warum auf diese Weise?«, fragte er leise. »Es sieht fast danach aus, als hätte der Täter das absichtlich so arrangiert.«

»Ich würde sagen, daran besteht gar kein Zweifel«, sagte Elif entschieden. »An deinem Blick vorhin habe ich schon gesehen, dass du dasselbe denkst wie ich. Spannend finde ich allerdings etwas anderes.«

Morten sah sie interessiert aus den Augenwinkeln an.

»Der Tatort ist gestellt«, fuhr Elif fort. »Aber auf diese Weise kann der Mörder unmöglich beide gleichzeitig getötet haben.«

»Du meinst, einer der beiden musste mitansehen, wie der andere zuerst starb?«

»Könnte zumindest sein. Ich wüsste jedenfalls nicht, wie sonst …«

»Kann ich euch kurz stören?«, unterbrach Ida-Marie die beiden. Sie musste gerade erst eingetroffen sein, zumindest hatte Morten weder sie noch ihr Auto vor dem Haus gesehen.

Ohne dass Morten und Elif überhaupt reagieren konnten, redete ihre Chefin weiter. »Es wäre gut, wenn ihr euch mit dem Mann unterhaltet, der die beiden gefunden hat. Er wartet in einem Café an der Promenade.«

»Also ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, mir das hier auch nur eine Sekunde länger anzusehen«, sagte Morten.

»Ist es so entscheidend, dieses Gespräch jetzt sofort zu führen?«, fragte Elif etwas irritiert. »Ich würde das hier gerne noch besser verstehen.«

»Es handelt sich offenbar um einen Geschäftspartner und guten Bekannten von Alexander Clasen. Ich halte es für wichtig, schnellstmöglich mit ihm zu reden, um mehr über die Opfer zu erfahren. Besser, als uns hier gegenseitig auf den Füßen zu stehen.« Ida-Marie blickte die beiden mit unmissverständlicher Miene an.

Morten wunderte sich über den angespannten Tonfall seiner Chefin, so kannte er sie nicht. Aber eines schien klar zu sein: Widerspruch war in diesem Moment zwecklos. Und im Gegensatz zu Elif war er ganz froh darüber.

Luxusresort

Der Sturm tobte auch am späten Vormittag noch immer über Grömitz. Die Promenade war von Menschen leer gefegt, auch weil die Gischt der Wellen meterhoch bis an die Häuserfront spritzte.

Morten und Elif liefen in gebückter Haltung bis zu dem kleinen Café gleich in der Nähe der Seebrücke. Dass es trotz des Wetters geöffnet hatte, wunderte Morten, allerdings war mit Ausnahme von dem Mann, der die Clasens heute Morgen gefunden hatte, auch kein anderer Gast anwesend.

Sein Name war Dirk Sander. Er war Bauunternehmer aus Timmendorfer Strand, und wenn er Ole vorhin richtig verstanden hatte, war sein Geschäft in den letzten Jahren zu einem der führenden Betriebe im Bereich Neubau und Sanierung von Luxusimmobilien in der Region herangewachsen.

Er saß am Tresen des Cafés und trug eine dicke Winterjacke mit Fellkragen. Seine Hände schien er an einem heißen Getränk zu wärmen. Morten räusperte sich und wartete darauf, dass Sander sich zu ihnen umdrehte, aber er reagierte nicht und sah stoisch auf einen imaginären Punkt hinter der Theke.

Er gab Elif ein Zeichen, dann traten sie von beiden Seiten neben den Mann mit dem vollen blonden Haar und stellten sich vor.